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Shaftesbury Ein Brief über den Enthusiasmus Die Moralisten Meiner Philosophische Bibliothek · BoD

Shaftesbury Ein Brief über den Enthusiasmus Die Moralisten · Shaftesburys »Brief über den Enthusiasmus« kann als eine Grundschrift des Aufklärungszeitalters, des »Zeitalters

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Shaftesburys »Brief über den Enthusiasmus« kann als eine Grundschrift des Aufklärungszeitalters, des »Zeitalters der Kritik«, angesehen werden. In dieser Schrift, die der Kritik des Fanatismus gewidmet ist, reflektiert Shaftesbury den Zusam-menhang von Politik, Wissenschaft und Kritik; zugleich schlägt er mit dem »test by ridicule« ein Verfahren kritischer Prüfung von Überzeugungen, Glaubenswahrheiten und Meinungen vor. In dem Werk »Die Moralisten«, das Shaftesbury mit Überle-gungen zum Philosophiebegriff einleitet, bilden Tugend, Natur und das Problem des Schönen die zentralen Themenkreise.Daß Shaftesbury hier gegenüber der objektivierenden Naturbe-trachtung den Gedanken eines sympathetischen Verstehens der Natur erneuert, das die Natur als Grund der eigenen Existenz erinnert und zu einer »ästhetischen Gesamtansicht der Welt« (Cassirer) führt, begründet die nachhaltige und tiefgreifende Wirkung des Werks (vor allem Wieland, Herder und Goethe wären zu nennen).

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ShaftesburyEin Brief über den EnthusiasmusDie Moralisten

Meiner111

ISBN 978-3-7873-0511-7

Philosophische Bibliothek · BoD

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SHAFTESBUR Y Anthony Ashley-Cooper, Earl ofShaftesbury

Ein Brief über den Enthusiasmus

Die Moralisten

In der Übersetzung von

MAX FRISCHEISEN-KÖHLER

mit einer Einleitung neu herausgegeben von

WOLFGANG H.SCHRADER

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 111

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in

der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra phi ­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.ISBN 978­3­7873­0511­7 ISBN eBook: 978­3­7873­2593­1

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1980. Alle Rechte vor­behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleich tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

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INHALT

Einleitung. Von Wolfgang H. Sehrader . . . . . . . VII Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIV

Shaftesbury (Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury)

Ein Brief über den Enthusiasmus (A letter concerning Enthusiasm ). An Lord Sommers

Erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Dritter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vierter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Fünfter Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Sechster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Siebenter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Die Moralisten (The Moralists ). Eine philosophische Rhapsodie -Eine Wiedergabe gewisser Unterhaltun-gen über Natur und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 7 Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Philokles an Palemon Erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Dritter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Philokles an Palemon

Erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

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VI Inhalt

Dritter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Vierter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Fünfter Abschnitt ........................ 130

Dritter Teil ............................... 143 Philokles an Palemon

Erster Abschnitt ......................... 143 Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Dritter Abschnitt ........................ 201

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Namen- und Sachregister .................... 213

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EINLEITUNG

Shaftesburys Essay "A Letter concerning Enthusiasm, to My Lord Somers" erschien erstmals im Jahre 1708; unmittelbar darauf, im Januar 1 709, veröffentlichte Shaftesbury die Schrift "The Moralists, A Philosophkai Rhapsody - being a Recital of certain Conversations on Natural and Moral Subjects". Das zuletzt genannte Werk erschien allerdings in erster Auflage bereits 1705, jedoch unter einem anderen Titel: "The Sociable Enthusiast; a Philosophical Adventure Written to Palemon".

Obwohl der Ausdruck "The Sociable Enthusiast" im Titel der Erstausgabe von "The Moralists" auf den the-matischen Zusammenhang der beiden hier in der Über-setzung von Frischeisen-Köhler* erneut abgedruckten Werke Shaftesburys hinweist, scheinen beide Schriften ihrer Intention nach eher entgegengesetzt: Während der "Brief" sich weitgehend als eine Kritik am Enthusiasmus und seinen Erscheinungsformen liest, erreicht die Dar-stellung in "The Moralist" ihren Höhepunkt im Natur-hymnus des Theokles, der -in einem Zustand göttlicher Inspiration - in enthusiastischer Rede die Schönheit und Vollkommenheit der Natur preist.

Dem entspricht eine Zweideutigkeit im Begriff des Enthusiasmus selbst, die wohl auch den Anlaß ftir die spätere Titeländerung bildete: Während der Begriff in "The Moralists" im Sinne Platons verwendet wird und den Zustand der "poetischen Ekstase" (181 )1 , "das wahre Gefühl einer göttlichen Gegenwart" (34), bezeich-net, nimmt Shaftesbury im "Brief" den Ausdruck "En-thusiasmus" in der Bedeutung auf, die seine Verwen-dungsweise im 1 7. und am Anfang des 18. Jahrhunderts

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VIII Wolfgang H. Sehrader

weithin bestimmte: als Synonym für "Fanatismus"2 •

Von daher wird die Aufgabenstellung des "Briefs" ver-ständlich: Er soll gegenüber den Ansprüchen des Fana-tismus die Forderung nach Freiheit der Kritik rechtferti-gen und begründen und mit dem "test by ridicule" zu-gleich ein Verfahren kritischer Prüfung bereitstellen, das es erlaubt, nicht nur den fanatischen, die Grundlagen der Humanität zerstörenden Enthusiasmus in Überzeu-gungen und Verhaltensweisen aufzudecken und bloßzu-stellen, sondern auch den ,falschen' vom ,edlen' Enthu-siasmus zu scheiden (vgl. 34f.). In "The Moralists" dage-gen erscheint der Enthusiasmus als der gesteigerte Aus-druck eines "neuen Naturgeftihls"3 ; in der "poetischen Ekstase" wird die Einheit, Ordnung und Schönheit der Natur als eines tätigen Ganzen vergegenwärtigt und zur Anschauung gebracht. Statt wie der Fanatismus auf un-mittelbarer Gewißheit zu beharren, sucht dieser ,edle Enthusiasmus' seine Beglaubigung im kritischen, die Gründe ftir eine solche enthusiastische Weltbetrachtung rechtfertigenden Gespräch. In ihm bekundet sich eine gewandelte Einstellung des Menschen zur Natur. Entge-gen der frühneuzeitlichen Naturbetrachtung, der die Na-tur zum bloßen Objekt wissenschaftlicher Forschung wurde und die auf Herrschaft über die Natur abzielte4 ,

geht es Shaftesbury um den Nachweis der Notwendig-keit eines sympathetischen Verstehens der Natur, in dem die Natur als Grund der eigenen Existenz erinnert und die klassische Formel "vivere secundum naturam" neu bestimmt wird.

Den äußeren Anlaß für die Niederschrift des "Letter Conceming Enthusiasm" bildete das Auftreten nach England geflüchteter französischer Protestanten, die den ,.Geist des Märtyrertums" über den ,.Geist der Liebe und Menschlichkeit" gestellt hatten ( 16 f 1 7) und deren

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Einleitung IX

"exaltiertes Wesen Störungen des öffentlichen Lebens"5

(vgl. II, 20) hervorrief. Statt durch obrigkeitliche Maß-nahmen die Ordnung wiederherzustellen, sollte man je-doch - so der Rat Shaftesburys - .,diesen enthusiasi-stischen Propheten die Ehre der Verfolgung versagen", durch die sie "in ihrem eigenen Lande (den Geist der Märtyrerschaft) erstaunlich lebendig gemacht" hätten (17). Nicht Strafe, sondern Spott sei das geeignete Mit-tel, den Fanatismus zu bekämpfen (vgl. 8). Denn der Spott decouvriere nicht nur falsche Prätensionen, er sei zugleich auch ein Kriterium für den Wahrheitsgehalt von Oberzeugungen: Nur derjenige, bei dem "keine Unauf-richtigkeit weder in seinem Charakter noch in seinen Meinungen herrschte" (20), wird den "test by ridicule" unbeschadet bestehen. Vor der wahrhaften und deshalb zu rechtfertigenden Überzeugung und der ihr entspre-chenden Haltung wird der Spott selbst zuschanden (vgl. 6)6.

Der Vorschlag Shaftesburys, den "test by ridicule" auch in Angelegenheiten der Religion anzuwenden und den Wahrheitsgehalt religiöser Überzeugungen am "Pro-bierstein" des Spotts 7 zu überpriifen, trug Shaftesbury friihzeitig scharfe Kritik ein. Das belegt beispielhaft die Rezeption des Shaftesburyschen Werks in Deutschland. Während die "Inquiry Conceming Virtue and Merit", das "Soliloquy", der Essay "Sensus Communis" und vor allem "The Moralists" begeistert aufgenommen und emphatisch gefeiert wurden, begegnete man dem "Brief" eher aus einer Position kritischer Distanz. So etwa warnt Lessing, der in seiner "Minna von Bamhelm" vom "test by ridicule" durchaus Gebrauch macht8 , doch zugleich vor Shaftesbury als dem "gefahrlichsten Feind der Reli-gion, weil er der feinste ist"9 • Und Shaftesbury selbst ge-steht ruckblickend in "Miscellaneous Reflections" zu, der Autor des "Briefs" habe "the high airs of scepticism" angenommen, wenngleich er einschränkend hinzufügt, "he (our author) proves hirnself at the bottom a real dogmatist, and shows plainly that he has his privat

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X Wolfgang H. Sehrader

opmwn, belief, or faith, as strong as any devotee or religionist of them all" (II, 238). Daß diese Einschrän-kung keineswegs nur rhetorisch gemeint ist, zeigt sich spätestens dann, wenn Shaftesbury erklärt, daß nur "ein schlecht gearteter Mensch ... gegen die Existenz Gottes sein könnte" (24 ), oder wenn er- im.fünften Abschnitt des "Briefs" - einen ,Beweis' für die Güte Gottes zu führen versucht (vgl. auch 100, 139): Weder an der Existenz noch an der Güte Gottes kann ernsthaft ge-zweifelt werden, und es wäre nach Shaftesbury auch we-nig sinnvoll, den Wahrheitsgehalt jener Überzeugungen durch die Anwendung des "test by ridicule" zu überprü-fen, denn Spott "am falschen Ort" wird selbst lächer-lich. Die für den "Brief" charakteristischen "high airs of scepticism" scheinen vereinbar mit dem unbedingten Festhalten an Überzeugungen und Glaubensgewißheiten. Wenn aber durch den "test by ridicule" keineswegs die Wahrheiten der Religion als solche in Frage gestellt wer-den sollen und folglich sein Gebrauch nicht zu einem grundsätzlichen Skeptizismus in Religionsangelegenhei-ten führt, wird der Vorbehalt Lessings gegen Shaftes-bury, dieser sei einer der "gefährlichsten Feinde der Re-ligion", fragwürdig. Um den Grund für jenes Mißver-ständnis aufzuhellen, müssen wir der Frage nachgehen, welche Funktion dem "test by ridicule" zukommt, des-sen Empfehlung als eines ,Probiersteins' der Wahrheit Shaftesbury den Ruf eines ,Freigeistes' einbrachte.

Der eigentliche Differenzpunkt zwischen Lessing und Shaftesbury läßt sich kurz bezeichnen: Während Lessing die Gefährlichkeit des von Shaftesbury vorgeschlagenen "test" darin begründet sah, daß Glaubenswahrheiten als solche dem Spott preisgegeben werden sollten, geht es Shaftesbury - wie der Anlaß für die Niederschrift des "Briefs" deutlich werden läßt -um ein Verfahren zur Überprüfung des Anspruchs und der Glaubwürdigkeit von Heilslehrern und ,Propheten'. Durch den Spott wird die ,Aufrichtigkeit in Charakter und Meinung', die Zu-sammenstimmung von Lebensführung und geäußerter

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Einleitung XI

Oberzeugung erprobt (vgl. auch 24 ). So könne - wie Shaftesbury im Kontext seiner Reflexionen über die Gü-te Gottes erklärt - nur der verstehen, "was wahre Güte ist und was die Attribute bedeuten, welche wir mit so viel Beifall und Ehre der Gottheit zuschreiben" (21 ), der sich selbst in der richtigen "Lebensverfassung" befinde. Denn im Unterschied zu "anderen Eigenschaften, die wir wohl verstehen können, obwohl wir sie nicht besit-zen", können wir "keine leidliche Idee von Güte haben, ohne selbst leidlich gut zu sein" (27/28; vgl. 95)10 • Das aber bedeutet letztlich, daß allein derjenige glaubwürdig Meinungen und überzeugungen, die grundlegende Le-bensfragen des Menschen betreffen, beurteilen oder äus-sern kann, der selbst gut ist. Als Beispiel für einen sol-chen Menschen, der sich durch "unbesiegbare Güte", durch Aufrichtigkeit seines Charakters und seiner Mei-nungen auszeichnete, nennt Shaftesbury Sokrates, den "göttlichste(n) Mann, der jemals in der heidnischen Welt erschienen ist" (20). Deshalb konnte auch die öf-fentliche Verspottung des Sokrates durch Aristophanes weder dessen Ansehen mindern noch die sokratische Philosophie unterdrücken, sondern sie bewirkte, "daß vielmehr beide desto mehr erstarkten" (20). Dagegen wäre der Versuch, durch ernste und "feierliche Gewich-tigkeit" die Glaubwürdigkeit vorgetragener Oberzeugun-gen und Meinungen bekräftigen und sie gegen Witz, Spott und mögliche Kritik von vornherein abschirmen zu wol-len, ein Hinweis auf "Betrug"; denn es gehe ja gerade darum, allererst die "wahre Wichtigkeit, den wahren Ernst von dem falschen zu unterscheiden" (6/7). Daß wir den falschen vom wahren Ernst unterscheiden kön-nen, ist nach Shaftesbury allein deshalb möglich, weil "wir beständig den Maßstab ((der jene Unterscheidung erlaubt)) in uns tragen, und ihn nicht nur auf die Dinge um uns, sondern auch auf uns selbst anwenden" (7). Darum sei es notwendig, daß wir uns selbst verstehen (35) 11 und das "Maß ftir uns selbst" (7) nicht verlieren; nur dann könnten wir herausfinden, "was wahrhaft

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XII Wolfgang H. Sehrader

ernst, was wahrhaft lächerlich ist" (7 ). Sobald wir bloß "in einem Punkte ... posieren" und uns nicht von "lee-rer Förmlichkeit" freihalten, "welche Sicherheit können wir ((dann)) gegen leere Formen in allen Dingen haben" (7)? Kritische Selbstprüfung und ein Leben gemäß dem "Maß für uns selbst" sind daher die Voraussetzungen für ein rechtes Urteil über die "Natur der Dinge" (7). Ein Anzeichen dafür, daß wir mit uns selbst in Übereinstim-mung sind, ist die Abwesenheit von "Melancholie, wel-che jeden Enthusiasmus begleitet" (8) 12 und das Vor-herrschen jener "richtigen Stimmung" (good humour), in der wir "mit Freiheit und Vergnügen" nachdenken und urteilen können (14/15).

Was folgt nun aus diesen Überlegungen für den "test by ridicule"? Wie und worauf ist er anzuwenden? Zu-nächst und vor allem gilt, daß wir ihm uns selbst stellen müssen, um unser "Recht auf Urteil" vor uns rechtferti-gen zu können, um zu prüfen, ob wir nicht "in dem Dün-kel großer Ernsthaftigkeit selbst höchst lächerlich ge-worden sind" (7; vgl. 21, 35). Denn da wir die Dinge, die wir beurteilen, gemäß unserem eigenen ,;Naturell" beurteilen (7), müssen wir auf Grund aufrichtiger Selbst-prüfung sicher sein können, frei von falschen Präten-tionen zu sein. Indem wir den "test by ridicule" auf uns selbst anwenden, distanzieren wir die eigene Unmittel-barkeit, das unreflektierte Befangensein in Meinungen und Überzeugungen, und gewinnen jene "Freiheit des Geistes" (12), die uns das Richtige erkennen und uns nicht zu "furchtsamen Streitern" werden läßt, "die bei jedem Einwurf, den man gegen ihre Meinung oder ihren Glauben vorbringt, zittern" (120). Zugleich verlieren für den, der durch jene Selbstprüfung hindurchgegangen ist, der Witz und Spott anderer über ihn und seine Überzeu-gungen ihre verletzende Schärfe; dagegen "fürchtet der Unaufrichtige ((nichts)) mehr als Scherz und Humor" (20). Jene Furcht ist daher ein sicheres Indiz für Unauf-richtigkeit und Betrug, und der Gebrauch von Witz und Spott im Gespräch oder in der öffentlichen Auseinan-

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Einleitung XIII

dersetzung ein geeignetes Mittel, "wahre Wichtigkeit" vom "falschen Ernst" zu trennen.

,Feierliche Gewichtigkeit' und ,falscher Ernst' sindje-doch nicht nur in religiösen Streitigkeiten Hinweiszei-chen auf Fanatismus und ,Betrug'. Ebenso wie der Reli-giöse steht auch der Philosoph und Künstler in der Ge-fahr, einem falschen Enthusiasmus zu verfallen. In der Dichtung ist es die blinde Nachahmung der Alten, die sich in "enthusiastische(m) Gebaren" (1) äußert und dem Kunstwerk die Glaubwürdigkeit nimmt; durch die unvermittelte, der Dichtung äußerlich bleibende Über-nahme antiker Topoi verschwindet der erforderliche "Anschein von Wirklichkeit", so daß dem Werk der "Charakter von Natürlichkeit" (2) verlorengeht13 • In ähnlicher Weise ist nach Shaftesbury auch die moderne Philosophie durch ,Wirklichkeitsverlust' gekennzeichnet.

Ursprünglich verstand sich die Philosophie als ein "Ge-gengewicht gegen den Aberglauben" (11). Daß gleich-wohl schon in der Antike "einige Sekten, wie die Pytha-goreer und sie späteren Platoniker, den Aberglauben und den Enthusiasmus ihrer Zeit aufnahmen", blieb dennoch ohne schädliche Folgen, weil andere - die Epikureer und Akademiker - "alle Kraft des Witzes und des Spot-tes gegen sie gebrauchten. Und so hielten sich die Dinge in einem glücklichen Gleichgewicht; die Vernunft hatte freien Spielraum; die Wissenschaften blühten" (11). Zwar wurden dadurch weder Aberglauben noch Enthu-siasmus vernichtet, aber sie "verwilderten" nicht. Erst eine "neue Art von Politik, welche sich auf eine andere Welt erstreckt und mehr das künftige Leben und Glück des Menschen betrachtet als das gegenwärtige", hat die-sen Zustand verändert und "uns die Grenzen von Natur und Menschlichkeit überschreiten lassen" (11). Die Ver-leugnung des "irdischen Interesses" in der Politik und deren Ausrichtung auf das Jenseits hat "uns auf alle Ewigkeit einen wechselseitigen Haß aufgebürdet ... Und nun betrachtet man die Gleichartigkeit in den Anschau-ungen als das einzige Mittel gegen dieses übel" ( 11 ). Die

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XIV Wolfgang H. Sehrader

Philosophie der "modern projectors" (I, 78) ist nach Sbaftesbury ein Reflex dieser Situation. Statt die menschliche Natur in ihrem Lebenszusammenhang ver-stehen und darstellen zu wollen, geht es ihnen darum, das die Natur des Menschen bestimmende Prinzip aufzu-suchen und die Lebensvollzüge des Menschen als Funk-tionen dieses Prinzips auszuweisen. Damit wird die Phi-losophie ihrer vornehmsten Aufgabe, "vitae dux, virtute indagatrix" (I, 149) zu sein, beraubt und erscheint selbst als Ausdruck von Fanatismus: "Modern projectors, I know, would . . . new frame human heart, and have a mighty fancy to reduce all its motions, balances and weights to that one principle, and foundation of a cool and deliberate selfishness" (I, 78, 79; vgl. 129). Eine sol-che Philosophie ist nicht nur deshalb "schlechte Philo-sophie" (12), weil sie nicht länger in angemessener Weise den Menschen in seiner Stellung als Teil der ihn umgrei-fenden Natur verstehen und das Naturverhältnis des Menschen selbst nur funktionalistisch (Natur als Mittel der Selbsterhaltung) deuten kann; vielmehr versperrt sie in ihrer Konsequenz den "einzige(n) Weg des Men-schen, Vernunft zu retten oder überhaupt den Geist auf Erden zu bewahren" (12). Denn eine Folge dieses An-satzes, der für Shaftesbury durch das Hobbessche System repräsentiert wird, sei letztlich die zur Aufhebung der Philosophie führende Forderung an den politischen Sou-verän, um der Selbsterhaltung willen die Freiheit der Kritik, die sich in Witz und Spott äußert und die die Vor-aussetzung für die "Freiheit des Geistes" ist (12), zu un-terbinden. Dadurch werden nicht nur Kunst und Wissen-schaft eingeschränkt und in ihrer Entwicklung gehin-dert, auch die Bildung eines für das Bestehen des gesell-schaftlichen Ganzen konstitutiven "public spirit" (I, 72), in dem sich der Konsens der Bürger hinsichtlich ihrer Le-bensform ausdrückt, erscheint als ausgeschlossen: "where absolute power is, there is no public" (I, 72). Denn ab-solute Herrschaft, die sich durch die Unterdrückung öf-fentlicher Kritik auszeichnet, führt dazu, daß diejenigen,

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Einleitung XV

die unter ihr leben und die gelernt haben "to admire its power as sacred and divine, are debauched as much in their religion as in their morals" (I, 72). Tyrannei, Aber-glaube und Verfall der Sitten, denen die verschiedenen Formen des (politischen, religiösen und philosophi-schen) Fanatismus entsprechen, verweisen aufeinander und stützen sich wechselseitig. Allein in einer "freien Nation, in der der "Betrug kein Privileg" hat, weil es eine "unparteiische und freie Kritik der Sitten" gibt (B 5 ), "morality and good government go together" (1, 72). Und nur unter dieser Voraussetzung kann sich in den Bürgern "a social feeling or sense of Partnership with human kind" (1, 72) entwickeln. Das aber ist erforder-lich für das Entstehen eines sich im "public spirit" arti-kulierenden Konsenses der Bürger, der nur auf Grund der Freiheit der Kritik möglich und der zugleich deren Garant ist.

Aber obwohl Freiheit der Kritik für die Kultivierung des Menschen und für die Ausbildung der Wissenschaf-ten und Künste unerläßlich ist, kann sie dennoch nicht die "Betrachtung der echten Natur der Dinge" (7) er-setzen. Allein eine solche Betrachtung gibt letztlich in zureichender Weise Aufschluß über die Richtigkeit oder Falschheit von Oberzeugungen oder Meinungen; ihr ge-genüber erscheint der "test by ridicule" lediglich als ein ad-hoc-Verfahren, durch "Versuch und Erfahrung" (6) herauszufinden, welches "das rechte Maß von jedem Ding" sein mag (6 ). Aber nicht nur das. Auch das von Shaftesbury vorgeschlagene Testverfahren selbst erfor-dert zu seiner Rechtfertigung und Begründung eine sol-che Betrachtung. Denn um Witz und Spott richtig hand-haben zu können, bedarf es ja eines inneren ,Maßstabes', eines ,Maßes für uns selbst', an dem sich der "wahre Ernst", die "wahre Wichtigkeit" einer Sache erweist. Worin aber besteht dieser Maßstab, wie ist er zu bestim-men? Eine Antwort auf diese Fragen, die eine grundsätz-liche Reflexion auf die Natur und die Bestimmung des Menschen verlangt hätte, gibt Shaftesbury im "Brief"

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XVI Wolfgang H. Sehrader

nicht. Auskunft über diese Thematik erhalten wir erst in der Schrift "The Moralists, A Philosophical Rhapsody", von der es im Untertitel heißt, sie sei "A Recital of cer-tain Conversations on Naturaland Moral Subjects". Die-sem Werk, das insofern als ein notwendiges Komplement des "Briefs" erscheint, werden wir uns nun zuwenden.

II

Im Zusammenhang mit Reflexionen über "The Mora-lists" äußert sich Shaftesbury in "Miscellaneous Reflec-tions" über die Aufgabe der Philosophie: "the sum of philosophy is, to learn what is just in society and beauti-ful in Nature and the order of the world" (II, 255 ). Da-mit ist zugleich das Problemfeld bezeichnet, dem er sich in "The Moralists" zuwendet: Tugend, Natur und Welt-ordnung bilden die zentralen Themenkreise der Schrift; hinzu kommen Erörterungen über die Religion, - vor allem über das Verhältnis von Religion und Moral -, und über die Schönheit. Die Überlegungen werden in Gesprächsform, in Rede und Gegenrede, vorgetragen, wenn auch nur in indirekter, vermittelter Weise: das Werk selbst präsentiert sich als eine Aufeinanderfolge von Briefen, in denen Philocles zunächst (Teil I) ein Ge-spräch mit Palemon erinnernd wiederholt, um dann (Teil 11, III) seine Dialoge mit Theokles über die zuvor mit Palemon besprochenen Gegenstände mitzuteilen. In-sofern würde der Versuch, einleitend einen kursorischen überblick über die einzelnen Teile der Schrift zu geben, zu thematischen Wiederholungen führen, ohne daß in der gebotenen Kürze die gedankliche Entwicklung der Dialoge hinreichend nachgezeichnet werden könnte. Die folgenden Ausftihrungen werden deshalb die drei Teile des Werks nicht gesondert vorstellen. Statt dessen soll zunächst das Problem der Darstellungsform selbst be-handelt und im Anschluß daran die vor allem im dritten Teil vorgetragenen grundlegenden Reflexionen zum Ver-

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Einleitung XVII

hältnis von Tugend, Natur und Weltordnung kurz skiz-ziert werden.

Die Gründe, die für den Dialog als Darstellungsform philosophischer Betrachtungen sprechen, nennt Shaftes-bury selbst: Indem der Dialog die Adressaten von Rede und Gegenrede unmittelbar vorstellt, trete -so Shaftes-bury in dem Essay "Soliloquy or Advice to an Author" - der Gegensatz zwischen Autor und Leser zurück, die Aufmerksamkeit des Lesers wird nicht vom Gegenstand auf den Autor abgelenkt (vgl. I, 132): "The self-interest-ing parties both vanish at once. The scene presents itself as by chance and undesigned. Y ou are not only left to judge coolly and with indifference of the sense delivered, but of the character, genius, elocution, and manner of the persons who deliver it" (I, 132). Damit leistet der Dialog zweierlei: er veranlaßt den Leser zu einer auf-merksamen, interessefreien Betrachtung des besproche-nen Sachverhalts, und er ist zugleich - sofern der Autor die Gesprächspartner als "his fellow-moderns . . . in their proper manners, genius, behaviour and humour" (I, 133) charakterisiert -ein Spiegel (mirror or looking-glass ), in dem der Leser sich und die Zeitgenossen wie-dererkenntl4. Aber gerade weil der Dialog nicht nur für die "Darstellung ernster Fragen ... sehr geeignet und vorzüglich" (43 ), sondern zugleich ein Spiegel des Zeit-geistes ist, habe er in der Gegenwart seine Bedeutung ver-loren: "Thus the dialogue is at an end. The ancients could see their own faces, but we cannot" (I, 134). Nicht nur sei es unschicklich, sich in "guter Gesell-schaft'' in "moralische Untersuchungen einzulassen" (41/42), und "so viel Vernunft in eine Unterhaltung zu legen, daß sie auch nur für etwa eine Stunde mit Klar-heit und Zusammenhang fortgeführt werden möchte" (43 ); auch bei den Philosophen selbst habe sich von der "Kunst des Dialogs" und der "Geduld in den Debatten und vernünftigen Unterhaltungen ... so gut wie nichts mehr erhalten" (46). Statt die Bereitschaft aufzubrin-gen, das eigene Urteil zu suspendieren und in ein Ge-

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XVIII Wolfgang H. Sehrader

spräch einzutreten, wird sofort Partei genommen (44 ), werden Hypothesen aufgestellt und Gewißheit vorge-täuscht (45 ). Verständlich wird diese Haltung allerdings dann, wenn sie als Ausdruck einer das Zeitalter kenn-zeichnenden ursprünglichen und "leidenschaftlichen Be-gier" verstanden wird, "den Kunstgriff oder das Geheim-nis des Naturgeschehens zu ergründen" (44 ). Sie läßt den Philosophen auf spekulativem Wege anstreben, "was unsere Alchemisten auf einem praktischen Wege wol-len": "Herr der Natur" zu werden (B 44). Dieses Inte-resse an Herrschaft ist nach Shaftesbury letztlich auch der Grund dafür, daß wir "so dogmatisch in der Philo-sophie sind" (45).

In einer solchen Situation wird ein Philosoph, der ent-gegen dem Zeitgeist versuchen sollte, der philosophi-schen Reflexion ihren ursprünglichen Rang als "vitae dux, virtutis indagatrix" (1, 149) zurückzugeben und der darum "seine Philosophie für etwas darstellt, das un-mittelbar in der Unterhaltung hervortritt" (43 ), selbst zu einer Zielscheibe des Spotts werden und sich lächer-lich machen. Nicht der unvermittelte, Spott und Witz provozierende Rekurs auf die Darstellungsform des Dia-logs ist deshalb geboten, sondern der Versuch einer Er-neuerung der "Kunst des Dialogs", der zugleich die Be-dingungen, unter denen der Diskurs steht, mitbedenkt und sichtbar werden läßt. Um diesem Anspruch zu ge-nügen, wählt Shaftesbury für "The Moralists" die litera-rische Form des Briefs, in dem über Dialoge berichtet wird. Denn anders als im reinen Dialog können im Brief einleitend die Voraussetzungen für den Diskurs explizit ausgesprochen und zugleich die Mißverständnisse, denen der Dialog auf Grund des Zustands der zeitgenössischen Philosophie und Gesprächskultur ausgesetzt ist, thema-tisiert und damit auch neutralisiert werden. Aber nicht nur durch die ausdrückliche Reflexion auf die Diskurs-bedingungen, sondern auch indirekt, durch die Verge-genwärtigung des für die jeweilige Diskurssituation cha-

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rakteristischen Ambiente, wird der Leser auf den im Brief dargestellten Dialog vorbereitet. Zu nennen wären hier vor allem die Landschaftsschilderungen, mit denen Shaftesbury häufig einzelne Dialoge einleitet (oder aus-klingen läßt)15 • Ihnen kommt für das Verständnis der Schrift grundlegende Bedeutung zu: Die Vergegenwärti-gung der Schönheit der Natur soll den Leser einstimmen auf die im Verlauf der Gespräche zu entwickelnde Be-trachtung der "echten Natur der Dinge" (7), der es nicht um Herrschaft über die Natur, sondern um ein sympa-thetisches Verstehen ihrer Einheit und Ordnung gehtl 6 •

Daß eine solche Haltung der Natur gegenüber auch von den (fiktiven) Dialogpartnern selbst geteilt wird, über deren Unterredung die Briefe berichten, zeigt be-reits das im ersten Teil von" The Moralists" dargestellte Gespräch zwischen Palemon und Philocles. Palemon -scheinbar ein Misanthrop (49), der in "übergroßer Ernst-haftigkeit" (58) die menschliche Gesellschaft der Falsch-heit und ausschweifenden Lasterhaftigkeit schmäht -wird von Philocles im Verlauf der Unterredung, die zu-gleich ein Beispiel für den rechten Gebrauch von Witz und Spott ist, zu dem Eingeständnis gezwungen, daß er zwar an der "Schönheit unserer ((des Menschen)) Art" zweifle, wohl aber mit ihm übereinstimme in der Bewun-derung der Schönheit der Natur (46/4 7; vgl. 38). Und von Theokles berichtet Philocles, er sei "frei, offen und unverstellt wie die Natur selbst. Seine Liebe galt der Na-tur; die Natur besang er, und wenn man von jemandem sagen darf, daß er einer ehrlichen Herrin zugehört, so gilt das wahrlich von meinem Freunde, dessen Herz der-art gefesselt war" (63 ). Erst ein solches nicht durch das Interesse an Herrschaft über die Natur, sondern durch die Bereitschaft zu sympathetischer Naturbetrachtung gekennzeichnetes Verhalten, eröffnet nach Shaftesbury die Möglichkeit eines Philosophierens, das nicht dogma-tisch Gewißheit beansprucht, sondern Meinungen und Überzeugungen im Gang von Rede und Gegenrede der kritischen Prüfung unterzieht und philosophische Ein-

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sieht als das erscheinen läßt, "das unmittelbar in der Unterredung hervortritt" (43).

Daß jenes unvermittelte Gewahren der Schönheit der Natur, das zugleich den Zugang zu einem verstehenden Begreifen der Einheit und Ordnung der Natur erschließt, noch in einer anderen, fundamentaleren und ursprüngli-cheren Weise konstitutiv für den Dialog ist, wird im drit-ten und letzten Teil von "The Moralists" deutlich. Denn es ist nach Shaftesbury ein Indiz dafür, daß "die Begriffe und Grundsätze des Schönen, Rechten und Edlen nebst den übrigen Ideen dieser Art eingeboren" (189), daß sie kein "Werk der Kunst", sondern der Natur sind (189). Da allerdings in der Neuzeit die Rede von "eingeborenen Ideen" in Mißkredit geraten sei und Anlaß gegeben habe zu "one of the childishest disputes that ever was"17 , will Shaftesbury statt von "eingeborenen Ideen" von "In-stinkt" sprechen, wobei "Instinkt" das genannt wird, "was ohne alle Kunst, Kultur oder Erziehung die Natur lehrt" (190). Zur Kennzeichnung dieses vor aller metho-dischen Begriffsbildung gegebenen ursprünglichen ,Wis-sens' um das, was gut, schön und nützlich ist, gebraucht Shaftesbury unterschiedliche Ausdrücke, -je nachdem, ob er auf die Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit je-nes ,Wissens' hinweisen oder aber dessen präkognitiven Charakter betonen will: So heißt es unmittelbar im An-schluß an die oben zitierten Äußerungen, wir verfügten über "Vorempfindungen des Schönen und Reizenden" (190), auf Grund deren wir die "natürliche Schönheit" (191) von Figuren, Farben, Tönen und Bewegungen un-mittelbar wahmehmen18 ; an anderen Stellen dagegen wird der Ausdruck "Vorempfindungen" ersetzt durch "preconceptions" (rrpo>.:r'/l/l€t<;), "natural idcas" (II, 288; II 76/77; I, 286 f.) oder auch "connatural ideas"19 •

Daß dem Menschen ein solches Vermögen ursprüng-lichen Gewahrens von Schönheit eignet, läßt sich nicht andemonstrieren; wohl aber wird der, der in der ,richti-gen Stimmung' (good humour) sich auf sich selbst be-sinnt, dieser seiner Fähigkeit inne werden. Kommt aber

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ein solches instinkthaftes ,Wissen' um das Gute, Schöne und Nützliche dem Menschen von Natur zu, dann wird die vornehmste Aufgabe der Kunst des Dialogs darin be-stehen, jenes Wissen zu verdeutlichen und hinzuführen zur Einsicht in das "Prinzip, die Quelle, ... (den) Ur-sprung alles Schönen" (187). Insofern ist, wie Shaftes-bury in Erinnerung an Sokrates formuliert, die Kunst des Dialogs im eigentlichen Sinne Hebammenkunst; "denn da die Seele selbst sich schwängert, kann man ihr ... nur bei der Geburt beistehen. Ihre Befruchtung ist ein Werk der Natur" (189)20 •

Was das in concreto heißt, verdeutlicht wiederum bei-spielhaft das Einleitungsgespräch in "The Moralists" zwischen Palemon und Philocles. Um die Bereitschaft für das Gewahren von Schönheit zu wecken, versucht Philocles zunächst die Vormeinungen des Palemon, die sich zu Vorurteilen über den moralischen und geistigen Zustand der Menschheit verhärtet haben, aufzudecken und in ihrer Fragwürdigkeit einsichtig zu machen. Das geschieht durch die bereits oben skizzierten Reflexionen auf den gesellschaftlichen Zustand der Zeit und dessen Konsequenzen für die Stellung der Philosophie (1. Ab-sehn.), durch die kritische, mit Witz und Humor geführ-te Auseinandersetzung mit Palemons scheinbar misan-thropischen Neigungen und die daran anschließende "kühle Unterhaltung über die Natur, die Ursachen des Bösen im allgemeinen" (51) und schließlich durch den Nachweis, daß Palemons Haltung selbst noch Ausdruck seines Befangenseins im rationalistischen Geist des Zeit-alters sei, daß er als "Rationalist" sich bei "jedem Schritt auf Vernunftgründe" stützen und "alles wissen, dagegen wenig oder gar nichts glauben" wolle (56) (2. Abschn.). Aber auch Philocles selbst präsentiert sich in diesem Ge-spräch als ein dem Zeitgeist verhafteter ,fellow-modern', wenn er durch einen "vorsichtigen Skeptizismus" die Position Palemons zu erschüttern versucht, dabei aller-dings - wie Palemon bemerkt - die grundlegende Un-terscheidung zwischen "Wahrheit und Falschheit, zwi-

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sehen Recht und Unrecht" in seinen Argumentationen aufzugeben scheint (56). Indem Philocles jedoch den Vorwurf bestreitet, dieser "schlimmsten Art des Skepti-zismus" anzuhängen, der "alle Prinzipien, auch die mo-ralischen und göttlichen, umstürzt" (56), und statt des-sen mit Nachdruck behauptet, er wolle gerade die "Hauptgriinde des Atheismus" (57) beseitigen und die Berechtigung des Glaubens und die Wahrheit der Reli-gion verteidigen, ist das Interesse Palemons an einer Dar-stellung des Zusammenhangs von Tugend, Natur und \\'eltordnung geweckt. Der im dritten Abschnitt des er-sten Teils anschließende "philosophische Hymnus" (58) des Philocles vergegenwärtigt diesen Zusammen-hang und bringt damit ans Licht, worauf Palemon in seiner Ernsthaftigkeit abzielte, denn zweifellos lag "auch ihr Liebe zugrunde, aber eine Liebe, die edler ist, als die, welche gewöhnliche Schönheiten erregen" (58). In die-sem Hymnus, mit dem Philocles Palemon beistehen will bei der "Geburt dessen, was von Natur in der Seele an-gelegt" ist, wird zugleich die Thematik der anschließen-den beiden Teile von "The Moralists" im Umriß vorge-zeichnet: Die "hohe Seele", heißt es, bleibe durch die "Freude an dem Schönen in seiner Vereinzelung" unbe-friedigt, sie suche "verschiedene Schönheiten zu verei-nen", betrachte deshalb "Gemeinschaft, Freundschaf-ten, Verbindungen und Pflichten", und erwäge, "wie die allgemeine Harmonie aus der Harmonie der Einzelnen entsteht, und wie das Wohl des Ganzen erreicht werde" (59). Da aber die Hoffnung, ihr "Bedürfnis nach Schön-heit und Güte" des Ganzen befriedigt zu sehen, "eitel und vergeblich wäre, wenn kein universaler Geist über allem herrschte, ... so bemüht sich hier der edle Geist, die versöhnende Ursache zu erforschen, welche alles zu-sammenhält, für das Beste des Ganzen sorgt und die Schönheit der Dinge und die universale Ordnung unter-hält" (59/60). Deshalb sei auch dort, wo die Natur scheinbar Sinnloses schafft, zu unterstellen, jene Hervor-bringungen seien ebenso "weise und vorhersehend" ent-

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standen wie ihre "besten Werke"; denn die Ordnung und Schönheit der Welt "griindet sich auf Gegensätze. Und aus so verschiedenen und einander widerstrebenden Grundlagen entspringt die Harmonie des Ganzen" (60).

An den mit Leidenschaft vorgetragenen Hymnus schließt nicht eine themenorientierte Auseinanderset-zung zwischen Palemon und Philocles an, sondern es folgen Reflexionen über die Haltung des Philocles, der offenbar seine kritische Einstellung aufgegeben, seinen Charakter geändert und - vom Skeptizismus "geheilt" - sich scheinbar zu einem Enthusiasten gewandelt habe (62/63). Philocles gesteht, daß jener Wandel durch den Umgang mit Theokles bewirkt worden sei und er nach seinen Gesprächen mit diesem Freund zunächst gedacht habe, er sei von seiner "Oberflächlichkeit" befreit und werde "niemals mehr so leichtherzig über so ernsthafte Dinge reden und spotten" (62). Der Aufforderung Pa-lemons, über seine Gespräche mit Theokles zu berich-ten, begegnet Philocles jedoch mit dem Hinweis, er ,fürchte' sich, davon zu sprechen, da er durch jene Un-terhaltung zwar "fast" von seinem Skeptizismus geheilt worden sei, es aber "geschehen ((sei)) durch etwas, was ich für noch ärger halte, nämlich durch einen hinreißen-den Enthusiasmus" (63).

Der Vorbehalt Philocles' gegenüber der Position des Theokles ist in doppelter Hinsicht bedeutsam: Wenn Philocles sich trotz seines vorsichtigen Skeptizismus, den er sich auch nach den Unterredungen mit Theokles be-wahrt hat, hinreißen läßt zu einem "Hymnus" über die Ordnung der Natur, den Zusammenhang von Tugend und Schönheit und ein Prinzip der Einheit des Ganzen, der die Gedanken des Theokles in nuce entfaltet, dann legt er damit Zeugnis ab ftir die Eindringlichkeit und Oberzeugungskraft jenes Denkens. Dariiberhinaus aber wird auch deutlich, daß ein Enthusiasmus, der sich in Rede und Gegenrede bewährt und selbst einen Skeptiker zu überzeugen vermag, keineswegs ein Fanatismus sein kann.

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Seinen vollkommensten Ausdruck findet dieser wahr-hafte Enthusiasmus des Theokles in dem großen, von Herder21 nachgedichteten Naturhymnus des dritten Teils von "The Moralists": Auf einem Morgenspazier-gang mit Philocles beginnt Theokles, vom "Genius des Ortes" (145) überwältigt, mit einer hymnischen Rede über die Schönheit, Vollkommenheit und Unermeßlich-keit der Natur, deren Anblick die Gedanken mit Harmo-nie erfülle und die er "frei, ohne künstlichen Bau der \\'orte" (146/4 7) feiern wolle. Aber schon bald - "wie aus einem Traume erwachend" - unterbricht Theokles seine Rede mit der Frage: "sagen Sie mir, wie erschien ich Ihnen in meinem Paroxysmus? War es eine vernünfti-ge Art von Wahnsinn, wie jene Ekstasen, die wir unsern Dichtern erlauben? oder war es wahre Raserei" (147)? Und als Philocles, der zunächst ganz im "Genuß dieser herrlichen Vision" gefangen war, daraufhin eingesteht, er fange an, "tausend Schwierigkeiten zu finden", ent-steht ein Gespräch zwischen beiden über die Gründe, die zur Vorstellung des Universums als eines einzigen wohl-geordneten Ganzen berechtigen. Indem sich Theokles den skeptischen Einwänden des Philocles stellt, setzt er seinen Enthusiasmus der Bewährungsprobe aus; durch sie soll sich zeigen, ob seine Rede durch "Inspiration", dem "wahre(n) Gefühl einer göttlichen Gegenwart" (34 ), geleitet wurde oder ob sie Ausdruck eines falschen Enthusiasmus, eines Fanatismus, ist. Bewährt sich der Enthusiasmus des Theokles im kritischen Diskurs und läßt sich die seiner "ästhetische(n) Gesamtansicht der Welt"22 zugrundeliegende Oberzeugung von der Einheit, Ordnung und Schönheit des Universums rechtfertigen, dann ist damit zugleich auch eine Rechtfertigung der Gesamtkonzeption von "The Moralists" gelungen, da das in diesem Werk sich artikulierende und es in seinem Aufbau bestimmende ,neue Naturgefühl'23 selbst ein Re-flex jener Überzeugung ist.

Theokles leitet die Unterredung mit Philocles ein, in-dem er den von Philocles erwähnten "tausend Schwie-