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Siegert und Vogl: Europa. Kultur der Sekretäre. Vorwort

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Europa. Kultur der Sekretäre. Vorwort

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Vorwort

Das ist aus meiner Sicht das Erstaunlichste an uns: welche Ausdehnung besitzt der innere

Raum des Ohres, wo der Strom aller Wahrnehmungen des Gehörs zusammenfließt? Wer

sind die Sekretäre, um die Reden aufzunehmen, die in die Ohren eindringen?

Gregor von Nyssa,

De officio hominis,

Kap. 10.

Eine Grundregel unserer Schriftkultur besagt seit dem Ende des 18. Jahrhun-

derts, dass ein Autor immer anderes und immer mehr sei als ein bloßer Schreiber.

Diese Regel hat Werke und Schulen, Texte und Kommentare hervorgebracht.

Und diese Regel hat vergessen gemacht, was stets den Boden dieser repräsen-

tativen Kulturarbeit bereitet: ein unaufhörliches Aufschreiben, Abschreiben,

Verzeichnen, Registrieren und Archivieren. Ausgehend von einer Überlegung

dieser Art geht es in dem vorliegenden Band um eine eher verborgene und apo-

kryphe ›Kultur der Sekretäre‹ – um eine Kultur, die in die Namenlosigkeit von

Diskursen und in die Anonymität von institutionellen und bürokratischen Ver-

arbeitungstechniken zurückführt.

Eine europäische Kultur der Sekretäre wird dabei historisch und thematisch im

weitesten Sinne begriffen. Sie schließt den apostolischen Auftrag als Sekretariat

göttlichen Worts ebenso ein wie die graue Arbeit der Kanzlisten im Dienste

eines abendländischen Gerichtswesens; sie reicht von den Archivaren und

Bibliothekaren der neuzeitlichen Gedächtnisbürokratie bis hin zum Stand der

Sekretärin im modernen Büro; sie wird von der unermüdlichen Arbeit mittelal-

terlicher Kopisten ebenso geprägt wie von der neueren Machtfigur des General-

und Parteisekretärs; und sie arbeitet – wie Goethes Sekretäre – an der Fabrika-

tion literarischer Autoren und Werke ebenso, wie sie – in Melvilles

Bartleby

oder

in Kafkas Texten – selbst zum Thema und Modell von Literatur geworden ist.

In all diesen Fällen lässt sich die Gestalt des Sekretärs ganz allgemein als eine

Schaltstelle, als Umschlagplatz und als ein Medium von Daten und Botschaften

begreifen, das die grundsätzliche Fremdheit aller Rede in die autorisierten For-

men des Befehls und der Rechtsprechung, der Wahrheitsrede und der Kunst

übersetzt. Das Imaginäre einer europäischen Kultur wird ermöglicht und über-

liefert durch das Reale einer sekretären Politik – als einer Politik der Namen und

Taten, der

res gestae

im weitesten Sinn.

Der Titel des Sekretärs verweist demnach nicht einfach auf eine Geschichte

von unterschiedlichen Funktionären, Berufsgruppen und Karrieren, er versam-

melt vielmehr ein Ensemble aus – politischen, administrativen, technischen,

diskursiven – Operationen, mit denen die abendländische Schriftkultur zur

Basistechnologie für die Verwaltung von Dingen und Leuten, ihrer Verhältnisse

und ihrer Verkehrsformen geworden ist. Was seit dem 15. Jahrhundert

secretarius

oder

Sekretär

heißt, dokumentiert zunächst einen geheimen, gleichermaßen ver-

borgenen wie vertrauten, mithin unheimlichen Umgang mit politischer Macht

und situiert sich auf einer Schwelle, an der sich die Inszenierung fürstlicher Herr-

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schaft ganz konsequent um die systematische Produktion regierungstechnischen

Arkanwissens zu verdoppeln beginnt (vgl. die Beiträge im Kapitel

Schauplatz der

Macht

). Der Sekretär übernimmt die Nachfolge des gebildeten Rhetors ebenso

wie die Übersetzung und Transmission herrschaftlichen Willens, er institutiona-

lisiert sich als Schrift-Steller besonderer Art und verbindet die Pflege der politi-

schen Schauseite mit der Sorge um jenen Schriftverkehr, der zur Keimzelle von

neuzeitlichen Bürokratien, von Staatsapparaten und Staatsmaschinen gerät. In

der Nähe zu Souveränen und regierenden Instanzen hat sich seit der frühen

Neuzeit eine Spielart politischer Macht formiert, die professionelles Schreiber-

tum mit Verwaltungsakten verknüpft und sich in Kanzleien, Büros und Regist-

raturen eine eigene Adresse verschafft.

Es gibt daher gute Gründe dafür, sekretäre Figuren und Praktiken als Leitfossi-

lien für eine Geschichte zu betrachten, in der sich Aufschreibeweisen und gou-

vernementales Handeln zu einer neuen Ordnung der Dinge verschränken (vgl.

die Beiträge im Kapitel

Walten, Verwalten

). Apodemiken und

enquêtes

, Staatsbe-

schreibungen und Statistiken begleiten die Entstehung eines neuzeitlichen

Staats, der sich als umfangreiches Erhebungswissen konstituiert und spätestens

seit dem 16. Jahrhundert anfängt, sich selbst, seine Bewohner, Territorien und

Reichtümer zu inventarisieren. Sie stehen für einen politischen Prozess, der die

Verbesserung Europas nach dem Stand seiner Zivilisierung, d.h. seiner internen

Kolonisierung bemisst. Tabellen, Formulare, Diagramme, Register und Kata-

loge erzeugen dabei den Geltungsraum einer ontologischen Differenz, mit der

sich die seienden Dinge und Wesen von denjenigen unterscheiden, die bloß

möglich, wahrscheinlich oder gar unmöglich sind. Das Verzeichnis aller ab-

gezählten Existenzen koinzidiert nun mit dem Horizont einer Welt, deren

Wirklichkeit und Verwirklichung vom Programm ihrer erschöpfenden Darstel-

lung abhängt. Ein gutes Leben ist ein gut verwaltetes Leben; und nichts gibt es,

was nicht geschrieben steht.

Mit Sekretären und Sekretariaten hat sich damit ein Expertentum dafür entwi-

ckelt, was Schrift, Auf- und Abschreiben bedeuten. In all diesen Praktiken steckt

auch eine poietische Aktivität, ein Verfertigen und Hervorbringen, das elemen-

tare Auskunft darüber gibt, wie das Geschriebene mit dem Schreiben, das Ver-

zeichnete mit der Ordnung von Verzeichnissen zusammenhängt, und das heißt:

was passiert, wenn man

litterae

zu Literaturen aneinander reiht. Das führt zur

Frage nach einer

Sekretärspoetik

(vgl. die Beiträge im dritten Kapitel), die sich in

der Stille von Schreib- und Schreibtischszenen überhaupt formiert. Schon in den

Gattungen von Tagebuch und

journal intime

, in Haushaltslisten und Register-

arien lässt sich ein Sekretärsbegehren erkennen, das von Bürokratien in private

Lebensführung übergewechselt und an der Buchführung moderner Subjekte

beteiligt ist; und man hat es hier zugleich mit einer Autorschaft zu tun, die um

so besser Bescheid über sich weiß, als sie sich von jenen Überschätzungen

absetzt, mit denen seit dem 18. Jahrhundert Genies, Originale und auktoriale

Schöpfer ein Privileg schreibenden Handelns beansprucht haben. Wenn ein

sekretäres Schreiben tatsächlich in die moderne Literatur hinüberführt, so sind es

eben geborgte Reden, durchgestrichene Ichs und die vielen Stimmen der Ande-

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ren, die deren Poetik bestimmen. Die Literatur von Schreibern und Sekretären

spricht stets ›im Namen von‹.

Das ist nicht zuletzt ein technologisches Problem und stellt die – nietzscheani-

sche – Frage danach, wie das

Schreibzeug

das Schreiben, das Geschriebene und

seine Effekte erzeugt (vgl. die Beiträge im vierten Kapitel). Was nämlich seit

dem späten Mittelalter mit Buchführung und Rechnungswesen beginnt und die

abgeschlossene Einheit von Büros überhaupt ermöglicht, muss als Probe auf jene

Materialitäten und Operationen erscheinen, die garantieren, dass

graphè

und

gramma

haltbare Einschreibungen und eben nicht Unordnung, sondern Ord-

nung produzieren. Die grundlegenden Verfahren von Speichern, Adressieren

und Übertragen verflechten die ›Kultur der Sekretäre‹ mit einer Geschichte von

Schrifttechnologien, die von den Linien auf weißem Papier über die verschie-

denen ›-graphien‹ des 19. Jahrhunderts bis hin zu jenen Maschinen verläuft, in

denen Schreiben nur unter der Bedingung von Schreibprogrammen funktio-

niert. Sekretärsarbeit siedelt sich damit nicht nur in einer politisch relevanten

Zone an, in der die Verwaltung von Schriften, Daten und Dateien mit dem

Walten von Verwaltungen überhaupt zusammentrifft; sie weiß vielmehr auch

um ein Unbewusstes der Kultur, das das Unbewusste der Maschinen ist.

Der Sekretär und seine nahen und ferneren Verwandten werden also in diesem

Band vor allem als Figuren vielfältiger Übergänge begriffen. Am Beispiel ihrer

Geschichte(n) stoßen die Schauseiten politischer Macht mit sekretem Regieren,

öffentliches Sprechen mit soufflierter Rede, Leute mit Apparaten und die Gel-

tung symbolischer Ordnungen mit deren Infrastrukturen zusammen. Welche

Titel, welche kleinen oder großen Posten man auch immer für sie bereit gehal-

ten hat: sie haben ihren Weg in die folgenden Texte über eine Liebe des und

eine Liebe zum Sekretär gefunden, mit der er immer wieder die – guten und

schlechten – Träume seiner Autoren geträumt hat.

Die Beiträge des vorliegenden Bands gehen fast ausnahmslos auf eine Tagung

zurück, die 1999 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Literaturforschung

(Berlin) und dem Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik an

der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar stattgefunden hat. Diesen

Institutionen sei für ihre Unterstützung gedankt; ebenso Sabine Schimma für

redaktionellen Beistand. Ohne das große Engagement von Michael Heitz und

Sabine Schulz (Verlag diaphanes) hätte dieser Band nicht erscheinen können;

nicht zuletzt ihnen gilt die Dankbarkeit der Herausgeber.

Bernhard Siegert

Joseph Vogl

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