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Sklaven des mittleren Forts

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Nr. 407

Sklaven des Mittleren Forts

In den Händen des Meisterträumers

von Peter Terrid

Als AtlantisPthor, der durch die Dimensionen fliegende Kontinent, die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht – also den Ausgangsort all der Schrecken, die der Dimensionsfahrstuhl in unbekanntem Auftrag über viele Sternenvölker gebracht hat –, ergreift Atlan, der neue Herrscher von Atlantis, die Flucht nach vorn.

Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zu­kommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an.

Nach gefährlichen Abenteuern auf Enderleins Tiegel, dem Schrottplaneten, auf Xu­don, dem Marktplaneten, und bei den Insektoiden von Gooderspall wirkt sich die Be­gegnung mit dem Spezialkurier beinahe tödlich für den Arkoniden und seine Gefähr­ten aus.

Jedenfalls werden Atlan und die Mitglieder seiner Gruppe zu Gejagten – und das planetarische Ziel, das Sicherheit vor den Verfolgern verspricht, erweist sich als teuf­lisch schlaue Falle der Scuddamoren.

Atlan und Thalia geraten in die Gewalt der Kämpfer der Schwarzen Galaxis – und man macht sie zu SKLAVEN DES MITTLEREN FORTS …

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Die Hautpersonen des Romans:Xandärmaran - Kommandant der DADIERA.Atlan und Thalia - Der Arkonide und seine Gefährtin in einer Traumwelt.Yärling - Kommandant des Mittleren Forts von Breisterkähl-Fehr.Länerth - Ein Meisterträumer.Banjar und Päär - Zwei junge Männer des Brückenvolks.

1.

»Ich werde mich auf den Weg machen.« Banjar sprach die feierliche alte Formel

genau so, wie er sich das vorgestellt hatte – mit Ruhe und einer Stimme, die Kraft und Überlegung verraten sollte. Andere an seiner Stelle hatten Kiekser nicht vermeiden kön­nen oder waren gar in furchtbares Pathos verfallen. Beides waren schlechte Aussich­ten für einen Weg, der in die Dunkelheit führte. Banjars Vater hatte nur genickt. Ban­jars Mutter tupfte sich eine Träne aus dem Auge.

»Ich habe damit gerechnet, Junge«, sagte sie.

Ein bißchen Schluchzen gehörte dazu, so war es Tradition. Auch daß sich Banjars Va­ter nicht weiter um seinen Ältesten beküm­merte, entsprach der Tradition. Es gab viele Traditionen auf diesem Abschnitt der Brücke. Anders als im benachbarten Wärter­bunker, wo es recht toll zugehen sollte.

»Wohin willst du gehen?« fragte die Mut­ter.

Banjar hatte mit dieser Frage gerechnet. Jedem, der sich auf den Weg machte, wurde diese Frage gestellt.

»Nach Schbura«, erklärte Banjar. »Heiliger Ozean«, stieß die Mutter her­

vor. »Junge, du wirst doch nicht …« »Ich weiß, was ich tue«, sagte Banjar. Banjar sah, daß die Mundwinkel seines

Vaters zuckten. Jetzt wurde auch der alte Mann von Rührung ergriffen.

»Ich habe es nie soweit gebracht«, sagte Banjars Vater. »Obwohl ich mein Bestes versucht habe, und ich war nicht schlecht. Mein Schwert hat manchen in die finsteren Gründe geschickt.«

»Ich werde es schon schaffen«, sagte Banjar. Der Abschied begann nun auch an seinen Nerven zu zerren.

»Andere haben es auch geschafft«, sagte Banjar trotzig. Er wertete, durchaus zu recht, das Schweigen seiner Eltern als Kritik an seinem Entschluß. »Mein Bündel ist ge­packt, ich mache mich auf den Weg.«

Er drehte sich auf dem Absatz herum, griff nach dem Bündel und warf es sich über die Schulter. Ohne sich noch einmal umzu­drehen, verließ er den Raum.

Er hatte es ein wenig eilig. Der Transport wurde gerade zusammengestellt, und viel­leicht hatte er wider alles Herkommen doch eine Chance mitzufahren. Die Kutscher nah­men eigentlich nie Fußgänger mit, schon gar nicht Fußgänger ohne Diplom. Mindestens Beifahreranwärter hätte Banjar sein müssen, um eine reelle Chance haben zu können. Er versuchte es dennoch.

Er stieg die Stufen hinauf, die an die Oberfläche führten. Schon zwei Stockwerke unterhalb der Plattform war das Heulen und Brüllen zu hören.

»Schöne Aussichten«, murmelte Banjar. »Der Weg fängt gut an.«

»Wohin willst du?« Banjar drehte sich um. Hinter ihm hastete

ein Junge die Treppen hinauf. Auch er trug ein Bündel über der Schulter. Er hatte sich also auch auf den Weg gemacht, viel zu früh, wie Banjar urteilte.

Banjar sah nicht ein, warum er den Grün­schnabel über seine Pläne aufklären sollte.

»Richtung Schbura«, sagte er. »Mal se­hen, wie weit ich komme.«

Der Junge zog die Stirn in Falten. »Kein Selbstvertrauen?« fragte er mit

deutlich hörbarem Spott. »Ich will versu­chen, nach Schbura zu kommen, und ich

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werde Schbura auch erreichen.« »Wie heißt du eigentlich, du Brückenmei­

ster!« Banjar pflegte Spott mit Spott zu vergel­

ten, und er war nicht schlecht auf diesem Gebiet.

»Päär«, sagte der Junge. »Und du?« »Banjar.« »Wollen wir uns zusammentun?« Diesmal war die Reihe an Banjar, die

Stirn in Falten zu legen. Was hatte er davon, wenn er mit dem Jungen zusammenarbeite­te? Ganz abgesehen davon sprach diese Be­merkung dafür, daß der Junge vorlaut, an­maßend und überheblich war, also das ge­naue Gegenteil von dem, was sich Banjar als Reisegefährten wünschte.

»Was hätte ich davon?« Der Junge grinste. »Ich kann viel, und was ich noch nicht

kann, das werde ich lernen. Ich bin ganz si­cher, daß ich einmal Brückenmeister sein werde.«

»Und dann wirst du in den Adelsstand er­hoben«, spottete Banjar.

Die beiden setzten den Aufstieg fort. Sie mußten ihre Stimmen etwas heben, um das Heulen des Sturmes zu übertönen.

»Allein wirst du dort oben nicht durch­kommen«, sagte Päär, und damit hatte er na­türlich recht, das sah Banjar ein. »Und du hoffst doch wohl nicht, daß dich ein Zug mitnimmt? Kannst du bezahlen?«

»Natürlich nicht«, gab Banjar zurück. »Ich bin Fußgänger ohne Diplom.«

Sie erreichten die Oberfläche.

*

Das erste war der Wind. Er war schnei­dend kalt, naß und heulte ohrenbetäubend laut – wie immer. Banjar war insgesamt fünfmal mit seinem Vater an der Oberfläche gewesen, und jedes Mal hatte es gestürmt. Fast konnte man glauben, es stürme immer an diesem Brückenabschnitt.

»Elendes Wetter!« schimpfte Päär. Banjar diagnostizierte mangelnde Selbstbeherr-

Peter Terrid

schung. Allerdings fand auch Banjar das Wetter

scheußlich, und die Vorstellung, bei diesen Verhältnissen einen Fußmarsch antreten zu müssen, waren alles andere als ersprießlich.

»Ganz schön gefährlich«, sagte Päär. »Was ist, willst du dein Glück versuchen?«

Er deutete auf den Zug, der abfahrbereit auf der Plattform stand. Banjar sah die grob­stolligen Vierlingsreifen, die zusätzlichen Panzerketten, den bläulich schimmernden Stahl der Außenhaut, nur ab und zu durch­brochen vom Reflex eines Fensters aus Pan­zerglas. Der Zug war mindestens achthun­dert Meter lang.

»Wahrscheinlich fährt er nur ein paar Bunker weit«, überlegte Päär laut. »Für einen Kontinentaltransport nehmen sie ge­wöhnlich größere Einheiten.«

Eines der Glieder, aus denen sich der Zug zusammensetzte, hatte besonders viele klei­ne Fenster aufzuweisen. Vermutlich war das der Passagierraum.

Bisher kannte Banjar solche Dinge nur vom Hörensagen. Er konnte sich beim be­sten Willen nicht vorstellen, was es hieß, als Passagier in einem Zug mitzufahren. Ein ge­radezu unvorstellbarer Reichtum gehörte da­zu, soviel Aufwand und soviel Müßiggang zu treiben, denn die Passagiere brauchten während der ganzen Fahrt keinen Hand­schlag zu tun. So hieß es jedenfalls, aber Banjar war erwachsen genug, dieses Mär­chen nicht zu glauben. Vielleicht mußten die Passagiere weniger arbeiten, aber gar nichts … das war ausgeschlossen.

Auf der Plattform waren Wachen zu er­kennen. Etwa fünfzig Mann Spezialwachen. Sie sollten die Passagiere und die Ladung schützen. Mancher narbenbedeckte Krieger war darunter. Banjar nickte entschlossen. Er stemmte sich gegen den Wind, als er zu dem Zug hinüberging. Es war ein angenehmes Gefühl, sich gegen den Wind zu lehnen, ihn förmlich abzureiten. Banjar hatte es schon früh ziemlich weit gebracht in dieser Kunst, auf der Sturmschule war er einer der besten gewesen.

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Er bemühte sich, möglichst neutral drein­zuschauen, als er zum Zugführer hinüber­ging.

An dem dunkelblauen Helm mit den gol­denen Schwingen war der Zugführer leicht zu erkennen. Es war ein großer Mann, sehr kräftig gewachsen. Er stand neben dem Cockpit des Zuges und gab seine Anweisun­gen.

»Wenn mir die Getreideladung ins Rut­schen kommt, Leute, dann werde ich euch jedes Glied einzeln ausreißen. Habt ihr ver­standen, ihr Hohlköpfe?«

Der Umgangston an Bord von Zügen war nicht eben freundlich, Banjar wußte das. Er wunderte sich daher auch nicht über die Art, in der er angesprochen wurde.

»He, du Bunkerratte! Was willst du?« »Braucht Ihr noch einen Mann, Herr?« Der Zugführer kniff die Augen zusammen

und musterte Banjar von oben bis unten. »Dein Diplom?« »Ich habe noch keines, Herr.« Der Zugführer machte eine wütende Ge­

ste. »Scher dich zum Teufel, Bursche. Ich

kann keine Anfänger brauchen, sie würden mich nur behindern.«

Banjar trollte sich um so weniger gern, als er genau auf das grinsende Gesicht von Päär zugehen mußte. Zu Banjars Überraschung verkniff sich der Junge aber jeden bösartigen Kommentar.

»Ich wußte es«, sagte Päär. »Selbst ganz hervorragende Leute haben bei denen keine Chance. Wir werden uns wohl doch erst be­währen müssen, bevor man uns auf einen Zug läßt.«

Banjar wandte sich um. Mit Blicken lieb­koste er förmlich den Zug. »Eines Tages«, schwor er sich, »eines Tages werde ich einen solchen Zug führen, ja sogar einen größeren.«

Päärs Gesicht bekam einen Anflug von Mitleid.

»Glaubst du wirklich, du könntest so hoch steigen?«

»Wir werden sehen«, sagte Banjar. Er

wandte sich um und sah Päär an. »Also gut, wir gehen zusammen. Aber nur unter einer Bedingung …«

»Ich weiß«, sagte der Jüngere und winkte ab. »Wenn ich Unsinn mache, läßt du mich am Weg zurück. Das wolltest du doch sa­gen, nicht wahr?«

Banjar mußte lachen. Der Junge schien sich und seine Umwelt ziemlich genau ein­schätzen zu können. Vielleicht verbarg sich doch ein ganzer Kerl hinter der Maske, dachte Banjar. Er nahm sein Bündel wieder auf.

»Also nach Schbura?« fragte Päär und folgte Banjars Beispiel.

»Nach Schbura!« bestätigte Banjar. Er ging voran. Zunächst einmal mußten

die beiden die Plattform verlassen. Jeweils rechts und links von der eigentlichen Fahr­bahn der Brücke gab es an jedem Wärter­bunker eine Plattform. Dort wurden die Zü­ge aufgetankt, das Personal ausgewechselt, dort wurden Waren und Nachrichten umge­schlagen. Nur an diesen Stellen durften sich Züge überholen – theoretisch, in der Praxis sah das anders aus.

Als Fußgänger ohne Diplom durften die beiden Jungen natürlich nicht auf die Fahr­bahn. Für Fußgänger war ein Seitenstreifen zwischen Plattform und Fahrbahn gedacht. Auf diesen Streifen steuerte Banjar zu.

Die beiden brauchten zwei Stunden, bis sie den Rand der Plattform erreicht hatten. Sie hatten sich in östliche Richtung ge­wandt, nach Schbura.

»Donnerwetter«, staunte Päär, als sie ihr erstes Teilziel erreicht haben. »Ich habe in der Schule nie so recht aufgepaßt, aber das hier …«

Betroffen starrte Banjar auf den Weg. In der Schule hatte es geheißen, daß neben je­der Normalfahrbahn für Züge zwei Klein­straßen verliefen, auf denen sich kleinere Fahrzeuge bewegen durften. Und neben die­sen Fahrspuren wiederum sollte es an jedem Rand der Brücke einen fünfhundert Meter breiten Streifen geben, der ausschließlich Fußgängern vorbehalten war. Und wie die

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gesamte Fahrbahn der Kontinentalbrücke sollte dieser Fußgängerweg aus bestem, hochverdichtetem Stahl bestehen. Aber von einem vernünftigen Weg konnte keine Rede sein.

Die Straße erwies sich als ein schlüpfriges Etwas, von Meeresgrün überzogen, mu­schelbewachsen an einigen Stellen und un­glaublich angerostet.

»Nun?« Was wollte Banjar auf diese kurze Frage

antworten? »Haben wir eine andere Möglichkeit?« Sie setzten sich in den Windschatten einer

Strebe, um zu rasten, zu essen und nachzu­denken. Banjar bot Trockenfisch an, Päär hatte Graulagenbrot vorzuweisen. Zusam­men mit Tranbutter ergab das eine reichhal­tige Mahlzeit.

»Wir haben zwei Möglichkeiten, sogar drei«, zählte Päär auf. »Erstens, wir bleiben einfach hier.«

Banjar starrte seinen Gefährten entgeistert an.

»Bist du irre?« rief er. »Wir würden keine Heiratslizenz bekommen, wir bekämen kei­ne Dauerunterkunft, die Verpflegung wäre ungenießbar … und wir müßten wie Aussät­zige leben.«

»Ich wollte keine Möglichkeit auslassen«, entschuldige sich der Jüngere. »Zweitens, wir versuchen es an einer anderen Einmün­dung. Vielleicht ist dies hier das einzige schlechte Teilstück der Brücke.«

»Glaubst du ernsthaft daran?« fragte Ban­jar zurück. Der Anblick des Wegs hatte ihn ernüchtert. Auf diesem Weg zu gehen, war lebensgefährlich – und der nächste Wächter­bunker lag präzise einhundert Kilometer ent­fernt. Das hieß, wenn wenigstens der Bunker dort war, wo er dem Unterrichtsplan nach hingehörte. Inzwischen hatte Banjar zu zweifeln begonnen, ob er mit dem in der Schule Gelernten würde bestehen können.

»Und die dritte Möglichkeit?« »Wir machen uns nach dem Essen auf den

Weg und hoffen, daß wir durchkommen werden. Immerhin muß es eine Möglichkeit

Peter Terrid

geben, den nächsten Bunker zu erreichen. Fast jeder aus unserem Deck hatte zumin­dest ein Fußgängerdiplom vorzuweisen, dar­unter einige Gesellen … also über deren körperliche und geistige Fähigkeiten möchte ich mich lieber nicht verbreiten.«

Banjar mußte lachen. Er erinnerte sich, daß es auch in seinem Wohnbereich etliche diplomierte Fußgänger gegeben hatte, deren Dummheit schon sprichwörtlich gewesen war.

»Ich bin dafür, daß wir den Versuch wa­gen«, schlug Banjar schließlich vor. »Und diese Stelle scheint mir so gut wie jede an­dere zu sein.«

»Einverstanden«, sagte Päär. Er betrachte­te nachdenklich einen Brocken Graualgen­brot, dann schüttelte er den Kopf und steckte den Rest in sein Bündel zurück.

Banjar stand auf und machte einige Schritte, um Beweglichkeit in die Glieder zu bringen.

Sobald er den schützenden Bereich ver­ließ und sich der Gewalt des Sturmes aus­setzte, wurde die Sache anstrengend. Banjar war sich klar darüber, daß es gefährlich wer­den konnte, vielleicht sogar lebensgefähr­lich. Auf der anderen Seite aber sah er keine Alternative zu diesem Risiko. Es war üblich unter den Bunkerleuten, daß jeder junge Mann, wenn er sich reif dazu fühlte, einen möglichst langen Marsch die Brücke entlang unternahm. Sein Rang innerhalb der Gesell­schaft hing wesentlich davon ab, wie viele Wärterbunker er im Lauf seiner Wanderung aufsuchte.

Der Bunker, in dem Banjar und Päär auf­gewachsen waren, hieß HennerTheel und lag auf der Äleas-Seite der Brücke. Banjar hatte keine Ahnung, wie viele Bunker es zwi­schen Henner-Theel und Schbura gab, aber er wußte, daß er ein gemachter Mann sein würde, wenn er es schaffte, den Kontinent zu erreichen. In der Regel gelang das nur ei­nem unter zehntausend – und dieser Ausnah­merang entsprach Banjars Selbsteinschät­zung.

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2.

Ich wußte sofort, was er von mir wollte. Wenn man jemanden in eine Energiekabine steckt, ihn praktisch von der Außenwelt ab­schneidet, ihn unablässig optisch und aku­stisch überwacht, wenn man jemanden so perfekt als Gefangenen hielt wie mich, dann hatte eine Vorladung stets nur eines zu be­deuten: Verhöre. Ich stand ihm wieder ge­genüber – das hieß, wenn ich ihn recht er­kannte. Ich sah nur den Schattenschild, mehr nicht. Aber ich wußte, daß mein Gegenüber Xandärmaran hieß und ein Scuddamore war. Mithin stellte er so etwas dar wie meinen Erzfeind. Die Scuddamoren waren die Elite­truppe des Gegners, in dessen Hände ich ge­fallen war.

»Atlan«, sagte Xandärmaran. Es hörte sich an, als spucke er den Namen aus. Ich hatte einen erbitterten Feind vor mir. Dem Scuddamoren juckte es in den Fingern – so­fern er welche hatte – mich in die Mangel zu nehmen.

Ich hatte gelernt, solche Verhöre durchzu­stehen. In zehn Jahrtausenden Menschheits­geschichte war ich etlichen Folterknechten in die Hände gefallen. Es gab kaum etwas, was ich nicht hatte aushalten müssen. Vor­läufig konnte mich der Scuddamore nicht er­schrecken.

»Wer genau bist du? Wo kommst du her, und warum kämpfst du gegen uns?«

Es gab noch eine Reihe anderer Fragen, ebenso naheliegend wie die erwähnten. Bis­lang hatte ich keine dieser Fragen beantwor­tet.

Es gab in der Psyche von Folterern eine gewisse psychologische Schwachstelle – nämlich ihren beruflichen Ehrgeiz. Wer überleben wollte – und ich wollte überleben –, der mußte sich diese Schwachstelle zunut­ze machen.

Der Trick bestand darin zu schweigen, sich nichts abpressen zu lassen.

»Glaube mir, Fremder«, sagte Xandärma­ran. »Du wirst dich noch glücklich preisen,

mir alles erzählen zu dürfen.« Ich behielt meine Haltung bei und

schwieg. Drei Schritte von mir entfernt stand Tha­

lia, auch sie gefesselt. Sie hatte sich zur glei­chen Taktik durchringen können. Sie schwieg ebenfalls.

Noch war mit dieser Strategie kein sehr großes Risiko verbunden. Einstweilen wur­den wir nur verhört, aber ich kannte mich in der Wirklichkeit des Universums genügend aus, um zu wissen, daß es nicht mehr sehr lange bei bohrenden Fragen bleiben würde.

»Ich habe mir überlegt«, sagte der Scud­damore, »daß ihr merkwürdigen Wesen ein gewisses Verbundenheitsgefühl untereinan­der habt. Wenn ich dein Schmerzempfinden nicht beeinträchtigen kann, Atlan – viel­leicht empfindest du mehr, wenn wir uns deine Gefährtin vornehmen.«

Na also, dachte ich. Es hätte mich gewun­dert, wäre er nicht auf diesen Einfall gekom­men. In dieser Lage galt das gleiche Patent­rezept wie sonst auch. Ich half Thalia kei­neswegs, wenn ich weich wurde – sie verlor damit jeden eigenen Wert für unsere Folte­rer.

»Laßt sie in Ruhe«, ließ sich eine Stimme vernehmen. »Das Verhör werden andere an­stellen.«

»Ruhe!« brüllte der Scuddamore. »Ich bin der Kommandant.«

»Dennoch«, ließ sich wieder die gleiche Stimme vernehmen. »Leidenschaft ist jetzt unangebracht. Außerdem kommt Breister­kähl-Fehr in Sicht.«

Der Scuddamore stieß einen unverständli­chen Laut aus. Ich brauchte nicht erst mei­nen Extrasinn zu befragen, um herauszufin­den, daß er geflucht hatte. Es war immerhin beruhigend zu wissen, daß sich auch die Scuddamoren aus der Fassung bringen lie­ßen. Das konnte uns unter Umständen das Leben retten.

Angesichts unserer Lage war dieser Ge­danke ziemlich optimistisch. Wir wußten, daß Breisterkähl-Fehr die Hauptwelt der Scuddamoren war – mit entsprechend vielen

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Feinden mußten wir rechnen. Mit einer Welt von Feinden, wie mir in diesem Augenblick klar wurde. Ich hatte diese Formulierung auf der Erde schon gehört, aber sie war nie so buchstäblich gemeint gewesen.

Ich wandte langsam den Kopf und sah Thalia an. Das Gesicht der Odinstochter wirkte maskenhaft starr. Sie verhielt sich wie ich.

»Bringt sie zurück.« Wir wurden aus der Zentrale der DADIE­

RA geführt. Thalia sah mich fragend an, ich bewegte die Brauen. Was hätte man mehr sagen wollen in dieser Situation.

*

Deutlich zu spüren war der Ruck, mit dem das Organschiff auf dem Boden des Planeten aufsetzte. Wir waren am Ziel dieser Reise angekommen. Es war ein schlechtes Gefühl, das mich in diesem Augenblick beschäftigte. Gelandet waren wir, aber würden wir jemals wieder diesen Planeten verlassen können? Auf geheimnisvolle Weise lag über dieser ganzen Schwarzen Galaxis eine Aura der Bedrückung, der Angst, die jeden gefangen­nahm. Ich fragte mich, ob diese Aura künst­lichen Ursprungs war oder ein Naturphäno­men. Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich, während ich darauf wartete, abgeholt zu werden. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als ich wieder aus meiner Energiekabine geführt wurde.

»Wohin werden wir gebracht?« Ich vermutete, daß Thalia die Frage weni­

ger stellte, um eine Antwort zu bekommen – was hätte sie auch mit einer Ortsbezeichnun­ganfangen können? – sondern vielmehr, um mir zu verstehen zu geben, daß sie hinter mir von den Wachen geführt wurde.

»Ins Mittlere Fort«, sagte eine der Wa­chen. »Und dort … ihr werdet es erleben.«

Der Situation nach konnte es sich dabei nur um eine Drohung handeln. Ins Mittlere Fort also wurden wir geführt. Folgte daraus, daß es ein rechtes oder linkes Fort gab, oder ein oberes oder unteres Fort? Oder handelte

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es sich bei dieser Information um eine ge­zielte Fehlinformation, mit der wir verunsi­chert werden sollten?

Was fragst du? spottete der Logiksektor. Wer sollte dir antworten? Du machst dich nur selbst nervös.

Ich ignorierte den Hinweis. Es konnte nicht schaden, wenn ich mir den Kopf zer­brach und über jede Möglichkeit nachdach­te, wie wir unsere Lage verbessern konnten.

An Positivem hatten wir nur aufzuweisen, daß ich noch immer das Goldene Vlies trug und, in meiner Kleidung versteckt, die Große Plejade. Ich ahnte, daß mir in abseh­barer Zeit vor allem die Große Plejade wür­de hilfreich sein können, auch wenn ich jetzt noch nicht genau abschätzen konnte, wie und wann das der Fall sein sollte.

Von der DADIERA bekam ich nicht viel zu sehen, als ich aus dem Schiff geführt wurde. Auf den Gängen des Organschiffs hasteten die Scuddamoren durcheinander, und ihre Schattenschilde verdeckten, was ich gerne gesehen hätte. Ich war sicher, daß ich längst noch nicht alles wußte, was mit die­sem eigentümlichen Schiffstyp zusammen­hing.

Ein halbes Dutzend Scuddamoren hatte uns in die Mitte genommen, an Flucht war, wenn sie kein Selbstmordversuch sein sollte, nicht zu denken.

»Gebt auf die Ärgetzos acht«, hörte ich jemanden gebieterisch rufen. Ich folgerte daraus, daß die Ärgetzos von Bord gebracht wurden. Von Breisterkähl-Fehr aus wurden sie, so vermutete ich, mit einem Kurierschiff zu ihrem eigentlichen Bestimmungsort transportiert.

Einer der Scuddamoren ließ sich herab, mir zu sagen, wo wir uns befanden.

»Das Mittlere Fort!« sagte er. Das erste, was ich von der Befestigung zu

sehen bekam, war Stahl, bläulich schim­mernder, hochverdichteter Stahl. Ich schätz­te die Mauer, auf die wir zumarschierten, auf mindestens sechzig Meter Höhe, und wenn die anderen Maße diesem einen Bei­spiel entsprachen, hatte ich es mit einem

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Stahlfort zu tun, das im Universum schwer­lich seinesgleichen hatte.

Vierzig Kilometer Durchmesser, gab der Extrasinn bekannt.

Ich verzichtete darauf, mir die ganze An­lage vorzustellen. Sie war gigantisch, eine Zusammenballung von Technik, Waffen und Macht.

Der Boden, auf dem wir gingen, bestand aus Stahl. Es schien sehr viel aus Stahl zu bestehen auf dieser Welt, unter anderem auch die Gemüter unserer Wachen. Sie leg­ten ein flottes Tempo vor, und wenn wir uns nicht rabiate Püffe und Knüffe einhandeln wollten, mußten wir uns diesem Tempo an­passen. Die Schwerkraft entsprach in etwa dem, was ich gewohnt war zu ertragen. Für einige Zeit war ich sicherlich in der Lage, einen solchen Marsch durchzuhalten.

Aus der Ferne trug der Wind Gerüche zu uns her, ein dumpfes, fauliges Geruchsge­misch. Es erinnerte mich an ausgedehnte Sumpflandschaften. Zu sehen war von dem Land nichts. Wir marschierten auf einer wahrscheinlich meterdicken Plattform aus verdichtetem Stahl. Sie war mindestens einen Quadratkilometer groß, bot also Platz genug für etliche Organschiffe. Ein halbes Dutzend war im Osten gelandet, ein weiteres startete gerade.

»Ein entsetzlicher Anblick«, sagte Thalia hinter mir.

Sie bezog sich wahrscheinlich auf das Mittlere Fort, dessen Wandung wir uns nä­herten. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Eindruck der Düsternis und Bedrohung, der von den glatten, fugenlosen Wänden des Forts ausging. Es schien, als sei die ganze Außenwand aus einem einzigen, riesenhaf­ten Guß hergestellt, ein massive Gebirge aus bestem Stahl.

Wie würde es im Innern aussehen? Noch düsterer, noch beklemmender?

Es gab eine Straße, die von der Plattform zu dem Fort hinüberführte, auch sie aus Stahl. Dutzende von kleinen und großen Transportfahrzeugen bewegten sich eilig auf vorgezeichneten Bahnen. Man gab sich ge­

schäftig, offenbar hatten die Scuddamoren viel zu tun.

Was ich gerochen hatte, war Sumpf gewe­sen. Ich konnte es sehen, als wir den Verbin­dungssteg betraten. Er führte über den Sumpf hinweg. Graugrün lag das Land unter uns, feucht, mit fetten Gewächsen bestan­den, deren Blätter flach auf dem tückisch schillernden Wasser lagen.

Nichts regte sich. Nicht die kleinste Blase stieg aus dem Wasser auf. Der Sumpf war tot, völlig ohne höheres organisches Leben.

Angesichts der Tatsache, daß die Natur selbst die absonderlichsten, engsten ökologi­schen Nischen mit Leben geradezu vollstop­fen konnte – es gab Bakterien, die in 200 Grad heißem Pech leben konnte –, wirkte der Sumpf noch geheimnisvoller und be­drohlicher, als er es ohnehin schon war. Eine Landschaft des Grauens, über der Nebel wallten, die sich zu gespenstischen, bizarren Gestalten formten.

Und inmitten dieser Landschaft lag das Landefeld der Flotte der Scuddamoren, jene Ebene aus tauschwarzem, kaltem Stahl. Dar­auf lagerten die Organschiffe der Scudda­moren, jene befremdlichen Gebilde aus or­ganischem Material, gesteuert von Lebewe­sen, deren grauenvolles Schicksal seines­gleichen suchte, befehligt von Lebewesen, die selbst dem Abgebrühtesten Angstschau­der verschaffen konnten.

All dies zusammen aber wirkte einladend und freundlich, verglichen mit der monströ­sen Eiseskälte, die von der Wand des Mittle­ren Forts ausging. Lieber wäre ich durch den grausigen Sumpf marschiert, als die wenigen Schritte in diese titanische Gruft zu tun. Zehn Meter dick war die Mauer aus Stahl, ich konnte es sehen, als sich in dieser un­durchdringlich scheinenden Wand ein Schott öffnete. Ein Tresor des Entsetzens tat sich für uns auf, eine Gruft des Grauens schloß sich hinter uns, als mit einem kaum hörbaren Geräusch das Schott hinter uns zuging.

Es gab zuwenig Licht in diesem Reich aus Stahl und Schweigen, aus Kälte und Grauen, in das wir geführt worden waren. Schwei­

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gend marschierten wir über Stahl, an Stahl vorbei. In düsterem Licht lagen die Stollen dieser Festung, die einem Grabgewölbe ähn­licher schienen als einem Aufenthaltsort für lebende Wesen.

Wer lebte hier? Wer richtete sein Zuhause derart her, daß ein Toter hier das Gruseln lernen konnte?

Laß dich nicht zu schnell beeindrucken! warnte der Logiksektor.

Ich konnte das Geräusch meiner Schritte nicht hören. Fast schien es, als ob jegliches Geräusch abgesaugt würde. Es war entsetz­lich still im Innern des Mittleren Forts.

Mir begann zu ahnen, daß sich das Wort Mittlere auf eine Art Rangordnung bezog. Was wir betraten hatten, war nur die Vorhöl­le – es gab, auch wenn das schwer vorstell­bar war, Schlimmeres.

»Wartet!« Einer der Scuddamoren gab den Befehl,

und die anderen befolgten ihn sofort. Wir blieben stehen. Im Stollen öffnete sich ein Schott, der Scuddamore verschwand darin und ließ uns auf dem Gang zurück.

Der Boden unter unseren Füßen vibrierte ein wenig. Angesichts der Mengen von Stahl, die in diese Festung hineingearbeitet worden waren, ließ sich ohne Mühe ausrech­nen, was für Maschinen da unten laufen mußten, wenn sie so stark waren, daß sie selbst diese gigantische Masse Stahl zum Schwingen bringen konnten.

»Wer ist der Befehlshaber dieser Fe­stung?« fragte ich eine meiner Wachen.

Wie nicht anders zu erwarten war, bekam ich keine Antwort. Eine deutliche Sprache aber redeten die Waffen, die auf uns gerich­tet waren. Ich drehte mich langsam herum. Ich wollte Thalia sehen. Die Odinstochter war bleich. Ich suchte den Blickkontakt mit Thalia. Ich lächelte ihr aufmunternd zu, ob­wohl mir weit anders zumute war. Die Stille war erschreckend. Immer mehr verstärkte sich der Eindruck, als stünden wir in einer gigantischen Gruft, und der Eindruck war so stark … hier konnte der Tod selbst sein Zu­hause haben. Auch die Wesen, die sich auf

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den Gängen bewegten, paßten in dieses dü­stere Bild hinein. Man brauchte wahrhaftig keine ausschweifende Phantasie, um in den seltsamen Wesen mit ihren Schattenschilden die Wachmannschaft des Todes zu er­blicken.

Was mich noch stärker beeindruckte, war die nüchterne und klare Überlegung, daß wir mit dieser Befestigung den Mittelpunkt der Macht noch lange nicht erreicht hatten. Wir waren nicht wichtig genug, als daß man uns an das Zentrum der Macht herangeführt hät­te.

Wenn aber dies nur einer von vielen Stützpunkten war, ein kleines Außenfort in der galaxisumspannenden Befestigung der Schwarzen Galaxis – wie sah dann das Zen­trum aus? Welche Macht steckte hinter all dem, hinter diesen gespenstischen Truppen, hinter dem Mittleren Fort?

Wer hatte die Organschiffe erschaffen, und welche Absicht verband man mit dieser befremdlichen Schiffskonstruktion?

Man ließ mir Zeit, mich selbst mit Fragen zu quälen, Fragen, auf die ich keine Antwort wußte und auch so bald keine bekommen würde. Es war üblich, nicht nur in den Au­ßenbezirken der Schwarzen Galaxis, Besu­cher warten zu lassen, damit sie im eigenen Saft sich selbst gleichsam garschmorten. Normalerweise wäre mir mit diesem sim­plen psychologischen Trick nicht beizukom­men gewesen.

Aber hier …? Ich war aufrichtig erleichtert, als sich das

schwere Schott wieder öffnete und ein Scud­damore auf den Gang trat. Ich glaubte, Xan­därmaran zu erkennen.

Die eigentümlichen Schattenschilde ver­hinderten – das war vermutlich Zweck der Sache –, daß man den eigentlichen Scudda­moren zu Gesicht bekam. Alles, was sich dem Auge darbot, war eine schwärzliche, fließende Silhouette, aus der sich bestenfalls entnehmen ließ, daß der Besitzer des Schat­tenschildes ungefähr mannsgroß sein mußte. Von Gliedmaßen und Gesichtszügen war nicht das geringste zu erkennen. Trotzdem

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war ich mir in den meisten Fällen sicher, mit wem ich gerade redete – die Formen der Schattenschilde waren zwar fließend und wechselnd, aber auf geheimnisvolle Art schienen sie so eindeutig zu sein wie festste­hende Gesichtszüge.

»Folgt mir!« bestimmte der Scuddamore. Wenn ich den Tonfall richtig zu deuten ver­stand, dann war Xandärmaran außerordent­lich mißgestimmt – und nach allem, was wir mit dem Scuddamoren erlebt hatten, konnte uns das eigentlich nur lieb sein. Es hieß, daß er offenbar Befehl bekommen hatte, uns nicht zu quälen – was er ganz offenkundig vorgehabt hatte.

Unser trauriger Zug setzte sich wieder in Marsch, Xandärmaran vorneweg, dahinter ich, danach Thalia, wir beide waren von Scuddamoren begleitet, die jeden Fluchtver­such im Ansatz ersticken würden.

Vergeblich versuchte ich, irgendwelche interessanten Einzelheiten zu erkennen. Al­les, was ich zu sehen bekam, war Stahl – und Scuddamoren, und dieser Anblick war nicht viel angenehmer.

Dann aber erreichten wir eine Halle. Ich sah es schon von weitem glänzen und im Näherkommen immer heller werden. Der Stollen mündete offenbar in ein größeres Gewölbe.

Am Eingang wartete jemand auf uns, ein weiterer Scuddamore.

»Der Kommandant des Mittleren Forts«, sagte Xandärmaran, und daß er sich über die Übergabe freute, war zum einen deutlich zu hören und zum anderen besorgniserregend. Der Kommandant des Mittleren Forts stellte sich sogar vor.

»Ich heiße Yärling«, sagte er. Es klang wie eine Drohung.

3.

Auf den ersten Toten stießen sie bereits nach drei Stunden. Banjar wechselte einen raschen Blick mit Päär, dann marschierten beide auf den Leichnam zu.

Es war das erste Mal, daß Banjar einen

Toten sah, und der Anblick erschütterte ihn. Der Mann, der an der Grenze zwischen

Geh und Fahrbahn lag, war alt, ausgemergelt und vermutlich auch krank gewesen. Das Gesicht zeigte eine wächserne Bleiche, von rötlichen Flecken durchsetzt. Die Zähne fehlten zur Hälfte. Die Augen des Toten wa­ren auf den Fahrweg gerichtet.

»Was für ein Unsinn«, sagte Päär. »Ihn hätte doch niemand mitgenommen.«

Banjar starrte auf den Leichnam hinab. Die Hände des Toten waren auf dem Metall des Trenngitters festgefroren, der ganze Leichnam steif und unbeweglich. Das Ge­sicht war von tagealten Bartstoppeln be­deckt. Obwohl er warm angezogen war, be­gann Banjar zu frösteln.

»Ob wir auch so enden werden?« fragte er leise.

Päär, der die Taschen des Toten nach Nahrung untersucht hatte, richtete sich auf. Er zuckte mit den Schultern.

»Was weiß ich?« fragte er. »Der Alte ist verhungert, keinen Krümel hat er mehr in den Taschen. Hier, seine Papiere!«

Flüchtig streifte Banjars Blick über die Identitätskarte. Der Mann hatte Jurnol gehei­ßen, ein diplomierter Fußgänger war er ge­wesen. Zu mehr hatte er es nicht gebracht.

»Er ist irgendwann einmal aufgebro­chen«, sagte Banjar. »Wie wir. Und hier ist er geendet.«

»Keine trüben Gedanken«, sagte Päär ha­stig. »Was machen wir mit ihm.«

»Wir setzen ihn bei«, sagte Banjar. »Und die Karte geben wir im nächsten Bunker ab, wie es sich gehört.«

»Es sind mindestens fünfhundert Meter bis zum Rand«, protestierte Päär. »Und au­ßerdem ist dieser Abschnitt löchrig. Wir werden mindestens zwei Stunden brau­chen.«

»Möchtest du, daß dein Leichnam eines Tages so liegenbleibt?«

Banjars Frage kam schnell und scharf. Päär stutzte, wiegte den Kopf und breitete

dann die Arme aus. »Also gut«, sagte er. »Ich nehme die Bei­

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ne.« Jurnol, der diplomierte Fußgänger, war

schon seit Tagen tot. Sein Leichnam war brettsteif. Die beiden jungen Leute hatten viel Mühe mit dem Toten.

Nicht nur, daß der Leichnam auf dem Weg immer schwerer zu werden schien, nicht nur, daß sein Anblick vor allem Banjar immer wieder schaudern ließ – obendrein mußten die beiden auch den zahlreichen Rostlöchern ausweichen, die es gerade in diesem Abschnitt der Kontinentalbrücke in riesigen Mengen gab, vor allem natürlich auf dem Fußgängerabschnitt. Wenn man die Löcher betrachtete, konnte man fast auf den Gedanken kommen, die Brücke selbst habe keine lange Lebensdauer mehr – obwohl al­lein der Gedanke schon völlig absurd war. Die Brücke bestand seit undenklichen Zei­ten, und sie würde für alle Zeiten bestehen. An beidem konnte und durfte nicht der ge­ringste Zweifel bestehen. Wovon hätten die Brückenleute denn sonst leben sollen, wenn nicht von dem Ertrag der immerwährenden Reparaturarbeiten, die von den Benutzern der Brücke bezahlt wurden. Und zudem: wo, wenn nicht auf und in der Kontinental­brücke, hätten sie leben sollen?

Die Brückenleute – Banjar und Päär ge­hörten zu diesem Volk – wurden auf der Brücke geboren, sie wuchsen dort auf, sie arbeiteten dort. Und sie würden dort auch sterben.

Wie der Alte, dessen Leichnam die beiden jungen Leute mühsam transportierten.

»Können wir ihn nicht einfach hier …?« Päär deutete auf ein besonders großes

Rostloch. In diesem Loch hätte ein kleiner Zug verschwinden können.

»Zu gefährlich«, wehrte Banjar ab. »Gefährlich? Für wen? Er ist doch bereits

tot …?« »Für uns, du Narr! Wo hört denn das

Loch auf? Wo ist fester Boden, auf dem wir stehen können? Oder willst du mit ihm …«

Er deutete in die Tiefe. »Brrrr!« machte Päär. »Also gut, machen

wir weiter!«

Peter Terrid

Sie brauchten mehr als eine Stunde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Das Geländer sah außerordentlich stabil aus. Überhaupt war dieser Bereich der Brücke am wenigsten rostzerfressen, und das war eigentlich ver­wunderlich.

»Hörst du es brüllen?« sagte Päär schau­dernd.

Banjar nahm allen Mut zusammen. Er beugte sich über das Geländer und spähte hinab.

Er sah es toben, schäumen und wüten. Tief unter sich, die graugrüne Oberfläche vom weißen Muster der Gischt überzogen. Das Meer raste wieder, obwohl es keinen Sturm gab. Das Meer raste immer, es peitschte seine Wasser gegen die Pfeiler der Brücke, es füllte die Luft mit salziger Nässe, die am Stahl nagte.

»Faß mit an!« bestimmte Banjar. Sie wuchteten den Leichnam auf das Geländer. Ein sanfter Stoß …

»Fahre wohl …« Päär sprach die alte Formel. Sie beugten

sich über das Geländer, sahen zu, wie der Körper in die Tiefe stürzte, kleiner wurde und schließlich ganz verschwand. Den Auf­prall der Leiche auf dem Wasser konnte man nicht sehen, dafür war die Brücke zu hoch.

Sie standen und sahen dem Abschied des Alten zu und fröstelten, wenn sie daran dachten, daß auch sie eines Tages …

Banjar faßte sich als erster. Er sah nach oben, versuchte durch die dichte Wolken­decke hindurch den Sonnenstand zu schät­zen.

»Es wird Zeit«, sagte er. »Wir müssen einen Ruheplatz finden.«

Päär sah sich um. »Bleiben wir an der Kante?« fragte er.

»Die Brücke ist hier stabiler.« »Aber auch gefährdeter«, versetzte Ban­

jar. »Wir kampieren anderswo. Ich gehe vor­an.«

Der Boden war glatt und schlüpfrig. Al-gen bedeckten den Stahl der Brücke, über die die beiden wanderten. Banjar wußte, daß der Bunker, in dem er aufgewachsen war,

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höchstens vier Kilometer hinter ihm lag. Sechsundneunzig Kilometer fehlten noch, dann erst war der nächste Wärterbunker er­reicht – und vorher gab es keinen sicheren Unterschlupf.

Während es langsam dunkel wurde, mar­schierten die beiden jungen Leute die Brücke entlang. Einmal hörten sie – schwach und sehr weit entfernt –, wie ein großer Zug vorbeiheulte, wahrscheinlich ei­nes von den Interkontinentalfahrzeugen. Es mußte herrlich sein, damit zu fahren. Zehn Kilometer und mehr schafften die giganti­schen Maschinen der Züge pro Stunde, eine unvorstellbare Geschwindigkeit.

»Bleiben wir hier!« schlug Banjar vor. Jeder Ort war grundsätzlich geeignet als

Nachtquartier. An dieser Stelle gab es einen dreißig Meter hohen Pfeiler. Wenn die bei­den ihre Schlaftücher geschickt in der Ver­strebung spannten, dann hatten sie ein trockenes, windgeschütztes Nachtquartier gefunden.

Päär verstand sich bestens darauf, sein Schlaftuch zu spannen. Sein Tuch war von der besten Qualität, groß, wasserfest und na­hezu unzerreißbar.

Er half auch Banjar, und als beide ihre Arbeit beendet hatten, bildeten die beiden Schlaftücher ein nicht sehr geräumiges, aber immerhin bequemes Zelt. Es war auf jeden Fall besser, als sich einfach auf den Boden zu legen, in das Schlaftuch gewickelt.

»Wie lange, glaubst du, werden wir brau­chen?« fragte Päär.

Der Marsch hatte ihn angestrengt, und wenn er sich auch Mühe gab, das zu verber­gen, so entging Banjar dennoch nicht, daß der Jüngere den Anblick des Toten noch nicht verkraftet hatte. Päärs Optimismus hat­te gelitten, er begann ernsthafter zu werden.

»Zwei Jahre, drei Jahre, was weiß ich?« murmelte Banjar. Er schlug seine Zähne in das Graualgenbrot. Noch war die Masse trocken, bröckelte ein wenig und hinterließ im Mund ein angenehmes Aroma. Banjar wußte aber, daß sich selbst das beste Graual­genbrot im Lauf einer Wanderung mit

Feuchtigkeit sättigte und dann eine üble, klebrige Masse ergab, die zu verzehren eine Qual war.

»Schlaf jetzt«, forderte er den Jüngeren auf. »Der Tag morgen wird hart sein.«

Er selbst schwieg, und nach kurzer Zeit verrieten die regelmäßigen Atemzüge neben ihm, daß Päär tatsächlich sofort eingeschla­fen war. Der Tag hatte den Jungen ziemlich belastet. Banjar hatte sich auf den Rücken gelegt. Unter seinen Schulterblättern spürte er das sanfte Vibrieren der Kontinental­brücke. Der Sturm, der hörbar über dem kleinen Zelt pfiff, rüttelte an der riesigen Brücke. Er erzeugte die Vibrationen. Wenn dieses beständige Zittern eines Tages aufhö­ren sollte, dann war der Tag des Gerichts ge­kommen, das Ende der Welt – so sagten es die Alten, und Banjar glaubte daran. Lang­sam dämmerten seine Gedanken hinüber. Er träumte fürchterliche Dinge.

*

Als er erwachte, war es um ihn herum fin­ster. Banjar schüttelte den Kopf, um die letz­ten Reste der Müdigkeit aus den Gliedern zu bekommen. Ein Sturm tobte, aber das konn­te ihn nicht geweckt haben – es stürmte fast ununterbrochen, nicht nur in diesem Ab­schnitt der Brücke. Irgend etwas war anders als bei andern Stürmen. Banjar überlegte, aber er fand nichts. Im Innern des Zeltes war es einigermaßen warm. Das Schlaftuch war absolut wasserfest, die Feuchtigkeit auf dem Boden hatte andere Gründe. Der Boden der Brücke war eigentlich immer ein wenig feucht, und jetzt kam die Atemfeuchtigkeit der beiden Schläfer dazu, die sich auf dem kalten Metall des Bodens niederschlug.

Banjar stieß seinen Gefährten an. »Ja?« Päär erwachte schnell, rieb sich die Au­

gen und war im Nu hellwach. »Warum weckst du mich?« fragte er unwillig. »Was gibt es? Haben wir nicht wenig genug Gele­genheit zum Schlafen?«

»Etwas stimmt nicht«, murmelte Banjar. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«

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»Ich auch«, schimpfte Päär. »Es nennt sich Müdigkeit.«

Banjar winkte ab. Da war etwas, und die­ses Etwas war hochgefährlich. Banjar lauschte auf das Orgeln des Sturmes.

»Allmächtiger!« stieß er hervor. »Ein Re­sonanzsturm!«

Er sah Päär erbleichen. Resonanzstürme waren Unwetter, die ge­

eignet waren, die gesamte Brückenkonstruk­tion zu gefährden. Resonanzstürme strichen mit einer gefährlichen, sehr genauen Ge­schwindigkeit über die Brücke hinweg – wie ein gigantischer Bogen aus Wind über eine Saite aus Stahl. Das Gefährliche war, daß bei einer nicht genau meßbaren Zusammen­setzung der Schwingungen die Brücke als Resonanzkörper funktionierte, die Schwin­gung nicht nur mitmachte, sondern sie auch verstärkte.

Resonanzstürme stellten die ganze Kon­struktion in Frage. Sie gehörten zum Gefähr­lichsten, was Brückenleute überhaupt erle­ben konnten.

»Kein Wunder, daß mir nicht wohl ist«, stieß Banjar hervor. Hastig packte er seine Sachen zusammen. »Wer rechnet schon mit so etwas?«

Banjar kannte Resonanzstürme nur vom Hörensagen, und er pries sich glücklich da­für, obwohl er jetzt diesem Phänomen hilf­los gegenüberstand.

»Wohin willst du?« fragte Päär. Er half, die wenigen Habseligkeiten zu verstauen, die die beiden besaßen.

»Zur Fahrbahnmitte«, rief Banjar. Er mußte seine Stimme heben, um den Sturm übertönen zu können. »Nur dort sind wir si­cher. Ich habe noch nie gehört, daß die große Fahrbahn bei einem Resonanzsturm zusammengebrochen wäre.«

Päär stieß ein bitteres Lachen aus. »Glaubst du, daß wir das schaffen werden?«

Banjar spornte ihn mit heftigen Gesten zur Eile an. Er selbst rollte die Schlaftücher zusammen, verschnürte sie und warf sich das schwere Bündel über die Schulter.

»Vorwärts!« schrie er.

Peter Terrid

Der Sturm wurde heftiger. Der Wind feg­te über den Stahl der Brücke, peitschte Was­ser über die Bahnen, zerstäubte die Feuch­tigkeit an den metallenen Streben und durch­näßte nach kurzer Zeit alles und jedes. Ban­jar hatte ein Gefühl, als müsse er gegen eine dicke Wand aus feuchter Watte seinen Weg Schritt für Schritt erkämpfen. War es am Morgen noch herrlich gewesen, den Körper gegen den kräftigen Wind zu stemmen, wur­de es nun lebenswichtig, von den Böen nicht von den Beinen gerissen zu werden.

Es war finster, man konnte fast nichts se­hen. Banjar mußte sich am Geräusch orien­tieren. Der Sturm wehte natürlich aus Süden. Alle Stürme kamen aus der Südregion. Wenn es auf dieser Welt etwas Verläßliches gab, dann dies. Die Brücke verlief von Ost nach West, es war also sehr einfach, sich an­hand des Windes zurechtzufinden. Dennoch mußte Banjar höllisch aufpassen. Der Boden der Fußgängerbahn war ein einziges Sam­melsurium von Löchern, Roststellen und al­genbewachsenen Schlüpfrigkeiten. Ein Fehl­tritt konnte Banjar ausrutschen lassen, ein weiterer ihn an einer rostschwachen Stelle einbrechen lassen, der dritte Fehltritt konnte ihn durch eines der zahlreichen Löcher in der gähnenden Tiefe verschwinden lassen. Und aus dem Meer gab es keine Wieder­kehr.

Der einzige Hinweis auf den Zustand der Straße war das Windgeräusch. Es veränderte sich, wenn es über Rost strich. Es klang an­ders, wenn die Luft über einem Loch in der Straße heulte. Die Unterschiede waren ge­ring, und in dem Lärm, den der Wind ganz allgemein verursachte, waren sie kaum aus­zumachen. Banjar war in diesem Fach nie sonderlich gut gewesen, er hatte sich darauf verlassen, daß er Stürme notfalls durchsitzen konnte.

Resonanzstürme aber waren etwas ande­res. Die beiden jungen Brückenleute beka­men es bald zu spüren.

Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu bewegen.

Die Brücke geriet ins Schwingen. Eine

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Masse aus Stahl, die sich nach Millionen Tonnen bemaß, wurde vom unermüdlichen Wind sanft angestoßen, und wieder gestoßen und wieder und wieder. Und jeder Stoß war – Laune des Zufalles – genau so berechnet, daß er den ersten Stups ein klein wenig ver­stärkte. Die zunächst unmerklichen Bewe­gungen schaukelten sich auf, wurden stär­ker. Und der Sturm blies weiter.

Banjar stieß einen Fluch aus. Er hatte den Halt verloren, war auf einer algenbewachse­nen Stelle ausgerutscht. Päär hinter ihm schrie gellend auf.

»Hilfe!« Banjar hörte genau hin. Er ließ das Bün­

del fallen und ruderte mit beiden Händen, um nicht den Halt zu verlieren. Die Brücke tanzte immer heftiger.

»Ich bin eingebrochen, Banjar! Hilf mir!« Banjar orientierte sich an dem Geschrei.

Danach hing Päär zwei Schritt westlich von ihm im Boden. Banjar legte sich flach auf den Stuhl, um sein Gewicht auf eine größt­mögliche Fläche zu verteilen, dann bewegte er sich langsam auf Päär zu.

»Schrei weiter, daß ich dich hören kann«, forderte Banjar den Gefährten auf. »Hast du sicheren Halt?«

»Die Hände ja«, schrie Päär. »Nur die Fü­ße baumeln frei. Beeile dich, ich werde mich nicht lange halten können!«

Banjar ahnte, daß Päär unmittelbar in der Nähe war. Er tastete um sich, spürte etwas an der linken Hand, robbte vor, griff zu … er bekam Päärs Hand zu fassen.

»Aufgepaßt!« rief der Ältere. »Ich ziehe dich auf festen Boden.«

»Fest?« höhnte Päär ungeachtet seiner La­ge.

Und wirklich hatte Banjar alle Mühe, sei­nen Gefährten auf die Brücke hinaufzuzie­hen. Der Boden unter ihm schien förmliche Wellenbewegungen auszuführen. Er beweg­te sich auf und ab, er schwang auch zur Sei­te. In der Luft lag ein Laut, der eigentümlich das Heulen und Brüllen des Sturmes durch­schnitt – das Klingen des zum Zerreißen ge­spannten Metalls.

Die beiden Brückenleute tasteten sich zu ihrem Gepäck zurück. Aufzustehen war un­möglich geworden. Die wie wahnsinnig sich windende Brücke hätte sie sofort von den Beinen geworfen. Robbend bewegten sie sich über den scharfkantigen Boden, der un­ter ihren Leibern zuckte wie ein verwunde­tes Tier.

»Himmel und Wolken«, stöhnte Päär auf. »Ich fürchte … sie wird brechen, Banjar.«

Es war einmal – ungefähr vierhundert­achtzig Generationen waren seither vergan­gen – zu einem Einsturz eines kompletten Brückensegments gekommen. Zehn Genera­tionen lang war danach gebaut worden, bis die Verbindung zwischen den beiden Konti­nenten wieder hergestellt war. Myriaden von Brückenleuten hatte der Zusammenbruch das Leben gekostet, zehnmal mehr waren beim Neubau verunglückt.

»Ich glaube, sie wird halten«, schrie Ban­jar.

Es war ein bloßer Wunsch, mehr nicht. Der Brückenboden vollführte Bewegungen, die Banjar in seinen schlimmsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Die Brücke wand sich wie eine todwunde Schlange. Un­möglich, auf dem peitschenden Segment fe­sten Halt zu bewahren. Banjar spürte, daß er den Kontakt zu Päär verloren hatte. Er flog durch die Luft, landete auf dem Stahl, der unter ihm knirschte. Banjar überschlug sich. Die Brücke schleuderte ihn meterhoch in die Luft, wo ihn die Gewalt des Sturmes traf und wie mit Fäusten bearbeitete.

Banjar hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Er war zu keiner Regung mehr fähig. Er schrie nur noch vor Angst, während die Natur mit ihm spielte, ihn über den Boden der Brücke wirbelte wie eine Gliederpuppe. Ein Schemen raste an Banjar vorbei, dunkel mit zahlreichen Leuchtpunk­ten besetzt, und durch das Heulen des Stur­mes vernahm Banjar das infernalische Krei­schen überlasteter Maschinen.

Dann spürte Banjar nur noch einen rasen­den Schmerz, der von der rechten Schulter ausging und ihm mit furchtbarer Gewalt in

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das Land undurchdringlicher Schwärze schickte.

4.

Es war wirklich und wahrhaftig die Son­ne, die Banjar weckte. Zunächst spürte er nur Schmerz, dann durchzuckte ihn die Angst vor dem Resonanzsturm. Er riß die Augen auf, spannte die Muskeln an, um wegzulaufen – und stellte fest, daß er auf trockenem Boden lag und daß die Sonne gelb und warm auf ihn herabschien.

Im ersten Augenblick war Banjar wie be­täubt vor Glück, daß er die letzte Nacht le­bend überstanden hatte. Dann meldeten sich seine Gliedmaßen, und ihre Nachrichten ent­hielten Erschöpfung und Schmerz. So ange­nehm es war, in der Sonne zu liegen – wann schien schon einmal die Sonne auf die Brücke herab – so dringend war für Banjar das Problem, herauszufinden, wo er sich be­fand.

Vorsichtig zog er sich in die Höhe. Be­reits der erste Blick lehrte ihn erneut das Gruseln.

Woran er sich hochzog, war das äußerste Geländer der Brücke. Es hatte also nicht viel gefehlt, und er wäre über den Rand hinab in die Tiefe gestürzt …

Banjar rappelte sich auf. Leicht schwan­kend ging er an dem Geländer entlang, auf das Loch zu. Der Zustand des Geländers, die Bruchstellen, die verdrehten Stäbe … alles bewies, daß das Geländer erst vor kurzem beschädigt worden war. Ein großer Gegen­stand mußte die Absperrung durchschlagen haben, und Banjar ahnte, was für ein Ding das gewesen war. Ihn schauderte.

Langsam bewegte er sich auf das Loch im Geländer zu. Ja, auch die Abmessungen stimmten – hier war der Kontinentalzug in die Tiefe gerast. Selbst die unermeßlichen technischen Kräfte eines solchen Zuges wa­ren nichtig gewesen im Vergleich zu den Gewalten des Resonanzsturms.

Banjar beugte sich über den Rand. Er spähte in die Tiefe hinab. Das Meer war

Peter Terrid

graugrün, glasklar und ruhig, auch dies ein kleines Wunder, wie die strahlende Sonne.

»Bist du zufrieden, Bestie?« murmelte Banjar schaudernd. Wie fast alle Brücken­leute empfand er eine fast panische Angst vor dem Meer, das seinen Kampf gegen die Brücke, ihre Erbauer und Bewohner niemals aufgegeben hatte – und das in diesem Kampf immer neue Opfer forderte.

Banjar richtete sich auf. Von seiner Ausrüstung war praktisch

nichts übriggeblieben, nur die Kleidung, die er am Leib trug. Festes Leder, das in einem komplizierten Verfahren überaus geschmei­dig gemacht worden war.

Keine Nahrung, kein Schlaftuch – Banjar brauchte nur eine Minute für die Bilanz und eine Sekunde für die Konsequenzen: er war praktisch hilflos.

Der junge Brückenmann richtete sich auf und holte tief Luft.

»Nun denn«, murmelte er. »Wenn es schon sein muß …«

Er nahm sich vor, so weit wie nur irgend möglich zu marschieren. Man sollte ihn – seinen Leichnam, verbesserte er sich – nicht in unmittelbarer Nähe des heimischen Brückenbunkers finden. Das wäre auch für seine Sippe eine Demütigung gewesen.

Banjar machte sich auf den Weg. Die Richtung stand fest – es ging nach Schbura. Es war angenehm, in der Sonne zu wandern. Ihr Schein wärmte die Glieder, und Banjar freute sich an den glitzernden Reflexen auf den zahlreichen Pfützen, die der Sturm hin­terlassen hatte. Die Brücke lag so ruhig, als hätte es nie einen Resonanzsturm gegeben. Banjar überlegte, ob er sich mehr brücken­einwärts orientieren sollte, entschied sich dann aber, am Rand der Brücke zu bleiben. Von hier aus hatte er eine gute Übersicht über das Meer, und wenn es zum Äußersten kam – er brauchte sich nur über das Gelän­der zu schwingen. Dann würde er dort lan­den, wo der alte Mann gelandet war, wo der Zug geendet hatte, wo Päär …

Banjar senkte den Kopf. Es tat ihm leid, daß er den Jungen über­

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haupt mitgenommen hatte. Päär war viel zu jung für eine solche Wanderung gewesen – und viel zu schwach. Er hatte sich gegen die Urgewalten des Sturmes noch weniger zur Wehr setzen können als Banjar, der von je her als besonders kräftig und muskulös ge­golten hatte.

»Nun«, murmelte Banjar, »vielleicht hat er es leichter gehabt als ich.«

Der Gedanke stimmte ihn ein wenig tröst­lich. Banjar setzte seinen Marsch fort, bis er den ersten heftigen Hunger verspürte. Er legte eine Pause ein, in der er seine Taschen durchwühlte. Vergebens, er trug nichts Eß­bares bei sich. Zu seinem Glück fand er in Vertiefungen am Boden genügend Wasser, um seinen Durst zu stillen.

Banjar marschierte, bis der Himmel all­mählich sein normales Aussehen anzuneh­men begann. Er überzog sich mit Wolken, die beständig finsterer wurden und ein mit­telschweres Gewitter signalisierten.

Banjar schätzte, daß er knapp zwanzig Ki­lometer zurückgelegt haben mochte, als das Gewitter losbrach. Wie ein grelles Gespinst standen die Blitze am nachtschwarzen Him­mel, tauchten das Meer und die Brücke in fahlen Schein und ließen dann ein Donnern folgen, das die Grundfesten des Himmels zu erschüttern schien. Banjar sah zu, daß er ir­gendwo ein regensicheres Plätzchen fand, bevor sich zu dem Gewitter Sturmböen ge­sellten, deren Kälte selbst die beste Klei­dung wie mit Messern durchschnitt.

Banjar sah sich um. Zu sehen war nur die Brücke, breit und

gewaltig lagerte sie über dem Wasser des Meeres. Je nach Bauabschnitt schwankte die Breite zwischen fünf und siebenundzwanzig Kilometern. Überblicken konnte Banjar da­von bestenfalls ein Zehntel, das schmale Band, das für Fußgänger reserviert war.

Banjar entschloß sich, sein Glück an der kleinen Fahrbahn zu versuchen, dort, wo die Privatfahrzeuge fahren durften – deren es keine gab, wie er sehr wohl wußte. Diesen Luxus konnte sich niemand leisten – oben­drein war es gefährlich.

Banjar brauchte für die Strecke vom Brückenrand bis zur Begrenzung der Privat­spur etwas mehr als eine halbe Stunde. Als er die knapp mannshohe Begrenzung der Privatfahrzeugbahn erreicht hatte, war er bis auf die Haut durchnäßt, hungrig und durch­froren, und es ärgerte ihn, daß er ausgerech­net an diesem Abschnitt herausgekommen war. Anderswo waren von der Begrenzung nur noch Spuren zu finden, hier schien sie noch unversehrt. Banjar jedenfalls hatte große Mühe, mit seinen klammen Fingern über die Absperrung hinwegzuturnen. Das Brückenmaterial war längst wieder ausge­kühlt. Hätte Banjar keine Handschuhe getra­gen, hätte er seine Haut an der Begrenzung lassen müssen – bei solchen Minustempera­turen fror die Haut an Metall fest.

Als er auf der anderen Seite ankam, erleb­te Banjar eine Überraschung.

Knapp vierhundert Meter entfernt lag eine große dunkle Masse auf der Privatfahrbahn und rührte sich nicht. Es sah aus, als sei dort ein Teilstück eines großen Zuges gestrandet.

Banjar witterte Hilfe in höchster Not. Er machte sich auf den Weg zu der dunklen Masse. Im Näherkommen schälte sich her­aus, daß es sich tatsächlich um ein Teilstück eines großen Kontinentalzugs handelte. Die dunklen Scheiben zeigten, daß es im Innern keine Energie mehr gab.

Banjar überlegte, wie lange die Kabine hier wohl gelegen haben mochte? Der letzte Trupp aus seinem Wächterbunker war vor einem Vierteljahr unterwegs gewesen, und dieser Streckenabschnitt gehörte zu diesem Bunker. Das Metall des Zuges wies weder Rostflecken noch Algenbewuchs auf. Das sprach eigentlich dafür, daß das Trümmer­stück noch nicht lange hier lag. Im Näher­kommen erkannte Banjar eine Gestalt, die sich an dem Zug zu schaffen machte. Sofort ging Banjar in Deckung. Das hatte ihm gera­de noch gefehlt – Räuber! Banjar überlegte, was er tun sollte. Er konnte einen Haken schlagen und die Sache auf sich beruhen las­sen. In diesem Fall, das wurde ihm er­schreckend deutlich, hatte er sich zum Tode

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verurteilt. In seinen Eingeweiden wühlten Hunger und Durst nach frischem Wasser. Und gerade die Tatsache, daß sich Räuber an dem Trümmerstück zu schaffen machten, bewies ja, daß im Innern des verunglückten Zuges Wertvolles zu holen war.

Auf der anderen Seite war Banjar unbe­waffnet. Räuber aber genossen bei den Brückenleuten einen außerordentlich schlechten Ruf. Das Risiko, daß man ihn tot­schlug, war nicht von der Hand zu weisen.

Banjar entschloß sich, näherzuschleichen. Bislang hatte er nur einen einzigen Räuber gesehen. Das war zwar unüblich, gab ihm aber Hoffnung – mit einem Gegner traute er sich fertig zu werden.

Banjar drückte sich gegen die Trennwand, an der das Zugstück hängengeblieben war. Langsam schob er sich auf den Zug vor.

Das Teilstück war knapp fünfzig Meter lang, es bestand aus vier Gliedern mit insge­samt achtundzwanzig Rädern. In der Höhe maß der Zug etwas über vier Meter, die Breite mochte zehn Meter betragen.

Die Dicke der Wände betrug fast zwei Handspannen. Daß ein solches technisches Wunderwerk überhaupt beschädigt werden konnte, erschien Banjar fast schon als Frevel wider die Natur. Und doch lag das Trüm­merstück auf der Brücke, drohend und ver­lockend zugleich.

Banjar entschloß sich zu einem Flanken­angriff. Er kletterte hastig über die Absper­rung und rannte auf der sichtgeschützten Seite an der Unglücksstelle vorbei. Danach kehrte er auf die Fahrbahn für Fahrzeuge zu­rück und pirschte sich erneut an den Zug heran. Er wollte versuchen, den Zug zu er­klettern und seinem Widersacher in den Nacken zu springen.

Dreimal rutschte Banjar auf dem glatten Metall des Zuges ab, dann aber bekam er ei­ne Leiste zu fassen und zog sich daran hoch. Wenig später hatte er das Dach des Zuges erreicht. Von diesem Standpunkt aus ließ sich die Umgebung ein wenig besser ins Au­ge fassen. Indes sah Banjar nirgendwo An­zeichen, die auf einen Überfall hindeuteten.

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Aber unter sich, im Innern des Trümmer­stücks, konnte er Schrittgeräusche verneh­men. Irgend jemand spazierte in der Höh­lung des Zuges herum, und dieser Jemand näherte sich – Banjar konnte es deutlich hö­ren – dem Ausgang des Zugabteils. Banjar schob sich auf dem Dach an die Öffnung heran. Er spannte die Muskeln.

Eine Gestalt tauchte unter ihm auf, erst der Kopf, dann die Schultern … und dann sprang Banjar.

Er bekam den Fremden am Genick zu fas­sen, genau, wie er es sich gewünscht hatte. Dann aber krachte er mit dem Gesicht gegen den Hinterkopf des Fremden, und er hatte das Gefühl, sein Nasenbein zersplittern hö­ren zu können. Etwas Hartes traf seine Zäh­ne, und dann kippte der Fremde um und riß Banjar im Fallen mit sich, und Banjar krach­te mit dem Schädel auf den Boden der Brücke.

Banjar überschlug sich, weil er instinktiv den Griff gelockert hatte. Er rollte über den Boden und blieb halbbetäubt liegen.

»Verfluchter Bandit!« hörte er eine Stim­me rufen, dann sah Banjar ein Schemen auf sich zufliegen, und wieder krachte etwas ge­gen seinen Schädel.

»Banjar!« rief dann jemand. »Wo bei al­len Meermaiden kommst du her?«

Banjar langsam sich entwirrende Sinne verrieten ihm, daß Päär der Sprecher war. Mühsam richtete sich Banjar auf. Seine Na­se blutete fürchterlich, seine Zähne schmerz­ten höllisch, und in seinem Hinterkopf ging es zu wie in einer Waffenschmiede.

»Ooohhh!« jammerte Banjar und faßte sich an den Schädel.

Es war tatsächlich Päär, der mitleidig auf ihn herabsah. Der Junge machte einen er­staunlich frischen Eindruck.

»Tut mir leid, alter Freund«, sagte Päär teilnehmend.

Banjar zuckte nur mit den Schultern. Er wußte nur zu gut, daß seine Blessuren nicht dem Kampfvermögen des Jüngeren, sondern vielmehr der fehlgeleiteten eigenen Tapfer­keit verdankte. Banjar kam auf die Beine,

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Päär half ihm dabei. »Wo kommst du her?« wollte Banjar wis­

sen. Seine Rede war undeutlich, seine Nase

war blutverstopft, und seine Lippen schwol­len immer mehr an.

»Der Sturm hat mich fortgeweht«, gab Päär zu.

Er tupfte das Blut von Banjars Oberlippe. »Und als ich wieder zu mir kam, habe ich dieses Ding hier gesehen. Es gehört zu ei­nem Kontinentalzug. Warum bist du eigent­lich so über mich hergefallen?«

»Ich habe dich für einen Räuber gehal­ten«, gestand Banjar. Er kam sich unglaub­lich gedemütigt vor. Er hatte sich angestellt wie ein kompletter Narr.

»Ja, dann …«, sagte Päär verständnisvoll. »Aber hier hat sich noch kein Räuber sehen lassen. Der Zug kann erst gestern verun­glückt sein.«

»Woher willst du das wissen?« »Ein Kalender im Innenraum. Wahr­

scheinlich gehört er zu dem Zug, der gestern hier vorbeigekommen …«

»… und ins Meer gestürzt ist«, ergänzte Banjar. »Ich habe ihn vorbeirasen gehört, und die Stelle, wo er das Geländer durchbro­chen hat, habe ich auch gesehen.«

»Dies ist das Schwanzstück von dem Zug«, wußte Päär zu berichten. »Und du glaubst nicht, was es da alles gibt. Es ist un­wahrscheinlich, sagenhaft, ganz toll.«

Banjar mußte trotz seiner Schmerzen la­chen. Päär zeigte sich in höchstem Maß be­geistert, wie sein Ausbruch bewies.

»Also, was gibt es darin?« fragte Banjar. Seine Nase schwoll langsam zu gewaltiger Größe an, passend zu den Lippen. »Was für Dinge kann man finden?«

»Waffen!« schrie Päär. »Unglaublich vie-le Waffen. Hunderte von Schwertern und Messer, ganz hervorragende Bögen – aus dem Konther-Bunker, weißt du, wo sie die besten Bögen überhaupt machen.«

»Dergleichen hört man gern«, murmelte Banjar.

»Und es gibt jede Menge zu essen«, plap­

perte Päär weiter. »Sachen, wie ich sie noch nie gesehen habe, ganz in ein durchsichtiges Zeug verpackt. Es sieht aus, als wäre es Glas, aber dann dürfte es kaum brechen.«

Banjar schüttelte verwundert den Kopf. Päärs Erzählung hörte sich reichlich wun­dersam an.

»Hast du etwas zu trinken gefunden?« fragte Banjar. »Ich könnte einen großen Schluck frischen Wassers gut gebrauchen. Ich habe den ganzen Tag über aus Pfützen getrunken.«

Päär machte ein ratloses Gesicht. »Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Ich habe

mich umgesehen, und ich habe nur ein biß­chen Wasser gefunden – und das habe ich inzwischen selbst getrunken. Es ist noch et­was da, aber ob man das trinken kann … ich weiß nicht recht. Es scheint mir verfault zu sein, obwohl es ganz klar und rein aussieht.«

»Verfaultes Wasser?« »Es ist auch in dieses durchsichtige Zeug

verpackt«, wußte Päär zu berichten. »Und es wirft Blasen, wenn man es bewegt, ganz vie-le kleine Blasen. Wenn du davon etwas ha­ben willst …?«

»Bring her«, schnaubte Banjar. »Hauptsache, es ist flüssig.«

Er hatte seine Zweifel, ob Päär noch rich­tig bei Verstand war, aber er mußte feststel­len, daß sich der jüngere tatsächlich nicht geirrt hatte. Was er heranschleppte war ein Behälter aus einem durchsichtigen Material – wahrscheinlich handelte es sich um ein zerbrechliches Spezialglas, auch wenn nicht ganz einsichtig war, weshalb man das Glas zerbrechlich gemacht hatte. Und die Flüssig­keit darin warf tatsächlich kleine Blasen.

»Was mag das sein?« fragte Päär zaghaft. »Ob es giftig ist?«

Banjar fackelte nicht lange. Es stand kein Hinweis auf dem Behälter, der auf irgendei­ne Gefahr hingedeutet hätte. Obendrein war der Behälter nur mit einer Kappe aus dün­nem Metall verschlossen. Banjar drehte den Verschluß ab – und wurde im gleichen Au­genblick von einer Fontäne schäumender Flüssigkeit überströmt.

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Er war geistesgegenwärtig genug, den Be­hälter in der Hand zu halten. Die Flüssigkeit brannte nicht auf der Haut, geruchlos war sie auch – und auch nahezu geschmacklos, wie Banjar mit einer kleinen Probe feststellte. Nach dieser Probe kannte er keine Hemmun­gen mehr. Was er trank, war Wasser, ein seltsames Wasser zwar, aber erfrischend und angenehm kühl. Banjar leerte drei der Be­hältnisse, dann war sein Durst gelöscht. Er machte sich zusammen mit Päär daran, das Innere des Zuges zu untersuchen.

Der Junge hatte keineswegs übertrieben. Der Zug enthielt tatsächlich eine An­

sammlung von Köstlichkeiten, die Banjar ei­gentlich nur vom Hörensagen kannte. Fleisch von wildlebenden Tieren und von solchen, die speziell dafür auf dem Festland gezüchtet wurden. Banjar wußte, daß es so etwas gab, aber er hatte nie davon probieren dürfen. Bunkerleute ernährten sich grund­sätzlich aus dem Meer.

»Waffen«, freute sich Banjar, als er in die zweite Abteilung trat. »Du hattest recht, Päär – dies ist das reinste Arsenal. Damit könnte man einen ganzen Bunker ausrü­sten.«

Er kam aus dem Staunen nicht mehr her­aus, so viele verschiedene Waffen gab es in dem Zug. Schwerter und Messer, Stricke und Keulen, Äxte und Wurfmesser, die Liste schien kein Ende nehmen zu wollen.

Und dann entdeckte Banjar noch etwas. Ganz hinten im Wagen lag eine ver­

krümmte Gestalt, offenbar ein Verletzter, wie das Blut an seinem Schädel bewies.

Banjar griff nach einem der Schwerter und ging auf den Körper zu. Die sachte Be­wegung des Oberkörpers verriet ihm, daß der Fremde noch lebte. Ob er schlief oder bewußtlos war, konnte Banjar nicht feststel­len.

Er stieß den Reglosen mit dem Fuß an. »Heda, wach auf!« Der Fremde drehte sich ein wenig auf die

Seite. Banjar konnte das Gesicht sehen, so­weit es nicht von verkrustetem Blut bedeckt war. Der Mann gefiel ihm.

Peter Terrid

»Aufwachen!« Diesmal schrie Banjar. Der Fremde rührte

sich. Banjar trat einen Schritt zurück, das Heft des Schwertes fest in der Hand. Hinter sich wußte er Päär mit einer dornengespick­ten Keule.

Der Fremde öffnete die Augen. »Wo, zum Teufel, bin ich?« fragte er. Er

rieb sich die Augen und betrachtete danach die Blutspuren an seiner Hand. Der Fremde schien verwundert.

»Und wer seid ihr beide?« »Banjar«, stellte Banjar sich vor. »Und

das hier ist Päär. Wir sind Fußgänger.« »Ach?« sagte der Fremde. Er wirkte kon­

sterniert. »Und mein Name ist Atlan.« »Fußgänger? Oder Beifahrer? Oder gar

…« Der Fremde zuckte mit den Schultern. »Es wird sich herausstellen«, sagte er dü­

ster. »Es wird sich ohnehin einiges heraus­stellen müssen.«

5.

»Das Herz des Mittleren Forts«, erklärte uns Yärling.

Wenn ich seinen Tonfall richtig interpre­tierte, sprach er mit verhaltener Freude.

Er mochte Grund haben, sich zu freuen. Wir nicht.

Der Raum, in dem wir standen, hätte die Bezeichnung Felsendom verdient gehabt. Es war eine riesenhafte Halle aus Metall und Gestein, die sich mindestens einhundert Me­ter hoch wölbte.

Dom war allerdings der mit weitem Ab­stand unpassendste Ausdruck für diese Ört­lichkeit. Hier geschah nichts Weihevolles oder gar Heiliges. Wenn hier ein Gottes­dienst zelebriert wurde, dann wurde dem Bösen geopfert, der Sadismus verehrt, das Entsetzen gepriesen.

Von der Halle selbst war nicht sehr viel zu sehen. Erkennbar war nur, daß die Halle angefüllt war mit Kabinen. Es waren längli­che Behältnisse, durchsichtig, gerade groß genug, um ein lebendes Wesen aufzuneh­

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men. Daß die Wesen lebten, ging aus den

Zuckungen hervor, die wir deutlich sehen konnten. Ob man den Zustand Leben nennen wollte, stand auf einem anderen Blatt.

Yärlings perverser Stolz ließ uns Zeit. Wir konnten uns das Schreckliche in Muße ansehen. Es gab – der Extrasinn lieferte eine erste Schätzung – mindestens eintausend­fünfhundert Kabinen dieser Art; eine zweite Schätzung lag in der Nähe von fast viertau­send Kabinen.

Sie waren gestapelt wie Brennholz, eine über der anderen. Sie reichten bis unter die Decke, und zwischen den Stapeln war nur wenig Platz. Und jede dieser Kabinen in die­sem entsetzlichen Stapel war besetzt, in jede dieser gläsernen Zelle steckte ein Lebewe­sen. Die Zellen waren von innen her er­leuchtet, man konnte die Gestalten in Umris­sen sehen. Es war seltsam still in diesem Ar­senal des Grauens, nur ein leises Summen war zu hören. Ich führte das Geräusch auf die Kabel, Drähte und Leitungen zurück, die als Gespinst über die gesamte Anlage gelegt waren. Ich konnte erkennen, daß von jeder Kabine eine solche Leitung ausging.

Waren die Insassen dieser schrecklichen Lichtkabinen bewußtlos, zuckten sie unter der Qual von Stromstößen, die ihnen durch die Leitungen zugefügt wurden?

»Dies ist nur eine von vielen Hallen«, sagte Yärling stolz. »Sie steht mit einer Zen­trale in Verbindung. Jede der Halle ist mit einer Zentrale verbunden, jeder Besucher ist solcherart mit mehreren Zentralen verbun­den. Das erleichtert das Arbeiten.«

Ihm zuzuhören war eine Qual. Ich spähte über meine Schulter. Thalia war blaß gewor­den. Sie hatte mit Übelkeit zu kämpfen.

War das unser Ende? Sollten wir … »Weiter!« bestimmte Yärling. Er schien

der Meinung, daß wir genug gesehen hatten. Darin hatte er recht.

Sehr bald sollte sich herausstellen, daß von meinen Schätzungen die höhere, grau­envollere gestimmt hatte. Die Halle war tat­sächlich bis auf den letzten verfügbaren

Platz mit Lichtkabinen gefüllt, und ich hatte in dieser Halle nicht einen einzigen freien Platz entdeckt.

Was wollten die Scuddamoren mit den Unglücklichen? War dies eine Art vollauto­matischer Folterkammer?

Yärling ließ sich Zeit. Er führte uns durch ein halbes Dutzend

solcher Arsenale, was er damit bezweckte, war mir unklar. Mir wurde aber langsam klar, daß die Arsenale kreisförmig um ein Areal herum angeordnet waren, das wir einstweilen noch nicht betreten hatten.

Doch auch dies blieb uns nicht erspart. Yärling ging voran, und wieder erklärte er uns, was wir sahen.

»Dies ist eine Zentrale«, sagte Yärling. Zu sehen bekam ich eine Ansammlung

von technischen Geräten, deren Aufbau und Struktur ich nicht begriff.

»Alles wird von Rechnern gesteuert«, wußte Yärling zu berichten. »Natürlich ist der Rechner nur Hilfe, mehr nicht.«

Die Zentrale war ebenfalls rund, und mit­ten in dieser Welt aus Bildschirmen saß ein Scuddamore, offenbar eine Art Spezialist für dieses grausige Handwerk.

In welchem exakten Zusammenhang die Zentrale mit den Lichtkabinen standen, wur­de mir allerdings nicht klar.

Auf den Bildschirmen liefen Filme ab, Szenen, die zu vielschichtig waren, als daß ich sie hätte deuten können.

Ich nahm an, daß die Filme die Erinnerun­gen der Gefangenen darstellten. Vermutlich wurden die Erinnerungen der Opfer ange­zapft und vom Computer ausgewertet. Der Spezialist hatte dann nur noch die Aufgabe, das Ausmaß des Verhörs zu steuern und die Zielrichtung der Computerbefragung festzu­legen. So stellte ich mir den Zusammenhang vor.

»Wir betreten jetzt die Zentrale des Mei­sterträumers Länerth!« erklärte uns Yärling.

Noch immer gingen hinter uns die Scud­damoren mit schußbereiten Waffen. Sie folgten uns auch, als wir eine weitere Zen­trale betraten, die der vorangegangenen in

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jeder Beziehung glich. Meisterträumer? Ich konnte mit dem Wort nicht viel anfan­

gen, aber mir dämmerte, daß die Scuddamo­ren möglicherweise ein Verfahren gefunden hatten, die Träume ihrer Opfer abzuhören und aufzuzeichnen.

In der Hand eines kundigen Psychoanaly­tikers wäre dieses Verfahren sicherlich ein Segen gewesen, so aber gewißlich nicht.

Die Aussichten waren entsetzlich. Wer die Träume seines Gegenübers kann­

te, wer sie zu lesen und zu deuten verstand, der besaß eine Macht über seine Opfer, die kaum zu brechen war. Denn der wahre In­halt der Träume wurde dem Schläfer nie be­wußt. Träume waren, so lehrte die Psycholo­gie, Verarbeitung von Tatsächlichem, mehr symbolisch als konkret, stark verschlüsselt, manchmal gar unverständlich. Jeder Traum aber hatte einen manifesten Trauminhalt der sich – mühsam und schmerzlich für den Be­troffenen – rekonstruieren ließ. Hatten die Scuddamoren diese Kunst zur Perfektion entwickelt? Wenn ja, dann gab es kaum ein Mittel gegen ihre gnadenlose Herrschaft.

»Willkommen«, sagte der Meisterträumer und machte ein Geräusch, das nach einem bösartigen Lachen klang. »Wir werden gut zusammenarbeiten.«

*

Banjar betrachtete den Fremden, der sich Atlan nannte, mit größtem Mißtrauen. Nicht, daß an ihm etwas außergewöhnlich gewesen wäre; Atlan war offenkundig ein Brücken­mann, wenn auch auffällig groß und breit­schultrig. Was Banjar aber skeptisch stimm­te, war der Umstand, daß der Fremde offen­bar den Verstand verloren hatte. Er schien nicht zu wissen, wo er sich befand und wer er überhaupt war.

Atlan stand auf und sah sich um. »Teufel auch«, sagte er. »Wie um alles in

der Welt bin ich hierhergeraten?« »Er muß sich eine Kopfverletzung einge­

handelt haben«, murmelte Päär. »Das wäre

Peter Terrid

nicht verwunderlich, wenn man sich ansieht, was der Sturm aus dem Zug gemacht hat.«

»Sturm? Zug?« Atlan sah die beiden jungen Leute zwei­

felnd an. Er betastete seinen Kopf und sah auf der Handfläche nach, ob eine seiner Ver­letzungen noch blutete. Er schien zufrieden zu sein, als er nur trockenes Blut fand.

Die Bewegungen des Mannes Atlan gefie­len Banjar nicht. Er hätte nicht sagen kön­nen, was ihn an den Körperbewegungen At­lans störte, aber er war sicher, daß man sich so einfach nicht bewegte. Der Kleidung nach zu schließen, war Atlan von niederem Rang, bestenfalls Beifahrer ohne Diplom – er bewegte sich aber, das wurde Banjar in diesem Augenblick erschreckend klar, als ob er Zugführer oder gar Höheres wäre.

Ohne sich um Päär und Banjar zu küm­mern, verließ Atlan das Trümmerstück. Er sah sich skeptisch um, als er das Freie er­reicht hatte. Über die Brücke strich ein unre­gelmäßiger Wind, der die Haare des Frem­den durcheinanderwirbelte.

»Nun ja«, sagte Atlan. »Man wird sehen.« Er schien nicht die geringste Angst vor

den beiden jungen Männern zu haben. Atlan schien überhaupt sehr wenig Angst oder Re­spekt zu kennen. Die Art, in der er sich in dem Trümmerstück umsah, verriet, daß er von diesem Anblick nicht beeindruckt war.

»Wohin wollt ihr beiden?« fragte Atlan, während er kritisch die vorhandenen Waffen musterte.

»Richtung Schbura«, sagte Banjar. »Aha«, sagte Atlan. Er steckte sich ein

Schwert an den Gürtel, dazu einen Dolch. Von den Keulen schien er nicht viel zu hal­ten. Ab und zu betastete er seinen Kopf. Wahrscheinlich litt er noch unter den Nach­wirkungen des Unfalls.

»Willst du uns begleiten?« fragte Päär. Der Junge schien einen Narren an dem Fremden gefressen zu haben. »Zu dritt ha­ben wir bessere Aussichten.«

Atlan dachte nach. »Ich wüßte nicht, was ich hier sollte«,

sagte er dann. »Mir fehlt jede Erinnerung,

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wie ich überhaupt hierhergekommen bin. In Schbura werden wir weitersehen.«

»In Schbura? Du meinst wohl auf Schbu­ra?«

Der Mann mit Namen Atlan schien sein Gedächtnis völlig verloren zu haben. Anders ließen sich seine Fehler nicht erklären.

Päär versuchte den Sachverhalt klarzustel­len.

»Schbura ist der eine Kontinent«, sagte er hastig. »Äleas ist der andere, der Ozean da­zwischen heißt Puer, und wir stehen auf der Kontinentalbrücke.«

Der Fremde stieß einen Pfiff aus und nickte anerkennend. Langsam bekam Banjar es mit der Angst zu tun. Atlan war womög­lich übergeschnappt.

»Dann wollen wir uns auf den Weg ma­chen«, schlug Atlan vor. »Oder gibt es trifti­ge Gründe hier zu bleiben?«

Banjar schüttelte den Kopf. Es paßte ihm nicht, daß dieser Atlan sofort das Komman­do an sich riß. Vor kurzer Zeit hatte er noch besinnungslos in einem Winkel gelegen, und jetzt hatte er ohne großes Aufhebens das Kommando übernommen. Banjar wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Ihm fiel auch auf, daß Atlan in einen höchst merkwürdi­gen Anzug gekleidet war. Er deutete mit dem Finger darauf.

»Was ist das für ein Gewand?« wollte er wissen. Atlan sah an sich herab.

Seinen Gesichtszügen nach zu schließen, sah er den Anzug zum ersten Mal. Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte er leichthin. »Wird sich herausstellen. Und nun vorwärts, Freunde!«

Sie machten sich auf den Weg. Banjar schätzte, daß bis FarthGan noch mindestens siebzig Kilometer zurückzulegen waren. An­gesichts dieser Entfernung schlug Atlan ein außerordentlich hohes Tempo an. Er wirkte überhaupt sehr kräftig; seine Verletzungen schienen ihn keineswegs zu hindern.

»Merkwürdiger Bursche«, flüsterte Banjar in Päärs Ohr. Die beiden blieben knapp drei­ßig Meter hinter dem Fremden zurück, der

sich gar nicht erst die Mühe machte, sich nach Päär und Banjar umzusehen.

»Geheimnisvoll«, gab Päär leise zurück. »Ich möchte wissen, was er in dem Trüm­merstück zu suchen hatte. Ob er ein Pirat ist?«

Banjar kicherte unterdrückt. »Piraten sehen anders aus«, sagte er spöt­

tisch. »Häßlicher, mit blutunterlaufenen Au­gen, und außerdem sind Piraten anders ge­kleidet und immer schwer bewaffnet.«

»Hast du schon einen gesehen?« »Nein«, mußte Banjar zugeben. »Keinen

echten, nur Filme.« »Ich habe auch Filme über die Brücke ge­

sehen«, sagte Päär trocken. »Und da sah die Brücke auch ganz anders aus als in Wirk­lichkeit.«

Banjar konnte ein Frösteln nicht unter­drücken. Päärs Einwand war zweifelsohne zutreffend, und die Vorstellung, in Beglei­tung eines Piraten zu reisen, verschaffte Banjar eine Gänsehaut. Die Piraten waren ein blutrünstiges Gesindel, und wer ihnen in die Hände fiel …

»Ich glaube nicht, daß er ein Pirat ist«, flüsterte Banjar schließlich. »Er hätte uns sonst sicherlich schon getötet. Außerdem – was hätte er besinnungslos in dem Trüm­merstück zu suchen gehabt?«

»Was weiß ich«, gab Päär zurück. »Ich traue diesem Atlan jedenfalls nicht über den Weg. Der Mann ist gefährlich.«

»He, ihr beiden? Könnt ihr nicht schneller oder wollt ihr nicht?«

Atlan war stehengeblieben und hatte sich nach den beiden jungen Männern umge­dreht. Er winkte ihnen auffordernd zu.

Banjar beschleunigte seine Schritte. Auf der einen Seite hatte er, wenn er ganz ehr­lich war, Angst vor diesem Fremden. Auf der anderen Seite aber schien es ihm ratsam, an Atlans Seite zu bleiben. Wenn dieser Mann ein Freund und Verbündeter war, dann war er in dieser Eigenschaft zweifel­sohne besonders wertvoll.

»Wie lang ist diese Brücke eigentlich?« wollte Atlan wissen, als die beiden zu ihm

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aufgeschlossen hatten. »Dich scheint es wirklich sehr übel erwi­

scht zu haben«, kommentierte Päär. »Du weißt ja nicht einmal die einfachsten Din­ge.«

Atlan zuckte mit den Schultern und mach­te eine Handbewegung, die Verlegenheit ausdrückte.

»Ich kann nichts dafür«, gab er zu beden­ken. »Und mein Schädel brummt derart, daß mich der Gedächtnisverlust gar nicht ver­wundert.«

»Die Brücke ist siebzehn Bunker lang«, erklärte Banjar. »Soll ich dir die Namen der einzelnen Bunker nennen?«

»Um Himmels willen, nein«, stieß Atlan hervor. Banjar hatte die Bemerkung noch nie gehört. Das Rätsel um den Fremden wur­de dichter. »Und wo stecken wir im Augen­blick?«

»Zwischen Henner-Theel und Farth-Gan«, erläuterte Banjar. »Wir sind in Hen­ner-Theel zu Hause. Und du?«

»Thäär-Rha«, sagte Atlan ohne langes Nachdenken. Banjar sah ihn verblüfft an.

»Mann!« rief er dann aus. »Wenn du von dort bis hierhergekommen bist, dann mußt du mindestens ein Fußgängerdiplom haben. Mindestens!«

»Muß ich das?« Banjar rechnete es ihm vor. »Thäär-Rha ist der erste Wärterbunker

von Schbura aus gesehen, und Henner-Theel, woher wir kommen, ist der siebtletz­te. Folglich mußt du bereits zehn Bunker­strecken hinter dich gebracht haben.«

»Kaum zu glauben«, warf Päär ein. Ban­jar konnte ihm nur beipflichten. Atlan war zweifelsfrei von mittlerem Alter. Und er hat­te – wenn seine Angaben zutrafen – bereits eine Strecke zurückgelegt, von der andere nur träumten. Zehn Bunkerstrecken, dafür hatten andere Jahrzehnte gebraucht. »Nun ja«, sagte Atlan leichthin. »Ich kann es nicht beurteilen.«

»Warst du vielleicht Zugbegleiter?« woll­te Banjar wissen. »Schaffner oder Wäch­ter?«

Peter Terrid

Atlan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Und je

mehr ich darüber nachdenke, um so schwindliger wird mir.«

»Das wird sich alles finden«, sagte Päär. »Warum gehst du zur Seite?«

»Eine Roststelle«, sagte Atlan. »Wo?« »Genau dort. Wir wären durchgebrochen,

wären wir geradeaus gegangen.« Banjar zwinkerte verblüfft. Der Boden

sah an der Stelle, die Atlan bezeichnet hatte, ganz normal aus. Ein wenig Algenbewuchs war zu sehen, aber nicht die kleinste Spur von Rost.

»Ich sehe keinen Rost«, sagte Banjar. »Hast du das öfter, Atlan?«

In diesem Augenblick tat ihm der Fremde leid. Atlan zuckte hilflos mit den Schultern.

»Irgend etwas hat mich gewarnt«, sagte er. »Eine innere Stimme sozusagen.«

Banjar schluckte. Sein Verdacht, daß es sich um einen gemeingefährlichen Geistes­kranken handelte, erhielt neue Nahrung.

»Das wird sich nachprüfen lassen«, sagte er und marschierte gradlinig auf die Stelle zu, die Atlan vermieden hatte.

Er hatte noch keine fünf Schritte gemacht, als er es knistern hörte. Und dann spürte Banjar, wie sich der Boden unter seinen Fü­ßen zu bewegen begann. Einen Herzschlag lang zögerte er angsterfüllt, dann spürte er eine stahlharte Hand, die ihn zurückriß. Ban­jar schrie erschreckt auf. Er überschlug sich zweimal und kam wieder auf die Beine.

In der Fußgängerbahn klaffte ein Loch, groß genug, um einen Zug darin verschwin­den zu lassen. Und an den Rändern des Lo­ches war zu erkennen, daß der Boden an die­ser Stelle von unten her völlig durchgerostet war.

Banjar kam auf die Beine. Er sah, daß Päär grün vor Schreck geworden war, und daß Atlan mindestens so fassungslos war wie er selbst.

»Was sagt man dazu?« murmelte der Fremde. Er grinste schwach. »Die innere Stimme hat recht behalten.«

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25 Sklaven des Mittleren Forts

6.

»Geduld«, sagte der Meisterträumer. »Wir müssen Geduld haben.«

Länerth verstärkte die Energiezufuhr. Er wußte, daß der Kommandant hinter ihm stand, aber Länerth hätte keine Angst vor Yärling. Er kannte seinen eigenen Wert ent­schieden zu gut, um vor irgend jemand Angst zu haben – abgesehen natürlich von den Herren, denen zu dienen Länerth als an­genehme Pflicht empfand.

»Sie sind doch gesichert?« Länerth deutete auf die beiden Lichtkabi­

nen. Die Körper darin waren gut zu erken­nen, auf dem Bildschirm zeichneten sich die Konturen deutlich ab. Sowohl Atlan als auch Thalia waren untergebracht und mit dem Sy­stem verbunden.

»Ist dir jemals zu Ohren gekommen, daß einer aus der Kabine herausgefunden hätte?«

Yärling schwieg zu dieser Frage, die er hätte verneinen müssen. Länerth kannte sei­nen Vorgesetzten gut genug, um zu wissen, daß er Yärling mit dieser Gegenfrage nach­drücklich in die Schranken gewiesen hatte.

»Was hast du mit den beiden vor?« Länerth deutete auf den Hauptschirm, auf

dem vorläufig nicht viel mehr als schäumen­de Wogen zu erkennen waren.

»Ich habe beide in das Puer-Szenarium eingeführt«, erklärte der Meisterträumer. »Das braucht natürlich seine Zeit.«

»Wäre es nicht schneller gegangen, für die beiden ein eigenes Szenarium zu entwer­fen?«

»Es hätte weniger Zeit gekostet.« Eine kurze Pause entstand. Länerth ließ

sich jede Antwort aus der Nase ziehen, nicht ohne Grund. Der Meisterträumer empfand stilles Vergnügen bei Dialogen dieser Art. Sie bewiesen ihm, wie die Machtverhältnis­se auf Breisterkähl-Fehr tatsächlich gelagert waren.

»Und warum hast du das nicht getan?« »Das Puer-Szenarium war bereits in vol­

lem Gang. Ich hätte es desintegrieren müs­

sen. Wäre das dein Wille gewesen, hättest du es sagen müssen.«

»Wie viele Personen sind in das Puer-Szenarium integriert?«

»Mehr als siebzehnhundert«, antwortete Länerth. »Und der Aufbau ist weit fortge­schritten. Ein Abbruch oder eine Verzöge­rung hätte Todesfälle zur Folge gehabt – un­nötige Todesfälle.«

Yärling machte eine Geste, die Verach­tung ausdrücken sollte.

Länerth haßte ihn dafür. Was bildete sich dieser Yärling eigentlich ein? Wer war auf Breisterkähl-Fehr Herr über Leben und Tod? Wer gab die Anordnungen, erteilte Befehle und gebot souverän über das Leben vieler Hunderte?

»Diese beiden haben Informationen«, sag­te Yärling hart. »Wir brauchen diese Infor­mationen dringend.«

»Mag sein«, gab Länerth zu. »Aber eine Information ist längst nicht alles. Wichtig ist nicht nur das Faktum, wichtig ist vor allem die emotionale Besetzung.«

»Sprich deutlicher.« »Es geht nicht nur darum, daß sich die

beiden erinnern«, versuchte Länerth zu er­klären. »Es geht vor allem darum, den Stel­lenwert zu finden, den eine bestimmte Erin­nerung in der Gesamtpersönlichkeit des Be­treffenden einnimmt. Wir wissen, daß zwi­schen den beiden Gefangenen eine affektive Beziehung besteht, aber wir wissen nicht, in welche Detailgefühle sich diese Beziehung gliedert.«

»Mit meinen Mitteln …« Länerth nahm sich die Freiheit, Yärling

ins Wort zu fallen. »Man kann auch die Wahrheit lügen«,

sagte er. »Eine Psyche ist zu vielgestaltig, als daß man sie durch Folter ergründen könnte.«

»Lächerlich«, schnaubte Yärling. »Wie lange wird das Theater noch dauern? Ich brauche die Daten!«

»Nicht sehr lange«, berichtete Yärling. »Der Gefangene Atlan bekommt gerade das Basiswissen, das er für das Szenarium

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braucht.« »Kann man nicht …« »Nein«, antwortete Länerth, bevor Yär­

ling seine Frage vollständig ausgesprochen hatte. »Man kann diesen Vorgang nicht be­schleunigen. Es braucht seine Zeit, bis ein Szenarium vollständig ist. Wir haben noch nicht alle technischen Probleme gelöst, aber wir arbeiten daran.«

»Deshalb nennt man euch ja auch Mei­sterträumer«, spottete Yärling. »Nun denn, zeige mir, was du kannst.«

Länerth machte eine einladende Geste. »Wenn du zusehen willst …!« Yärling

winkte ab. »Ich habe Wichtigeres zu tun«, stieß er

hervor. »Informiere mich, wenn der Daten­rückfluß beginnt. Und noch eines …!«

Er machte eine Pause. »Ich wünsche«, sagte er dann mit aller

Schärfe, die ihm zu Gebote stand, »daß spä­testens in zwei Tagen handfeste Informatio­nen vorliegen. Du hast ausdrücklichen Be­fehl, zur Beschaffung aller Informationen nötigenfalls das gesamte Szenarium zu zer­stören.«

»Das würde die Arbeit eines Jahres ver­nichten«, wagte Länerth einzuwenden.

Die Antwort des Kommandanten kam kalt und schneidend.

»Das Gegenteil wäre deine Vernichtung, Meisterträumer!«

Yärling entfernte sich aus der Zentrale und überließ es Länerth, sich einen Reim auf diese Bemerkung zu machen.

*

Noch zweimal an diesem Tag meldete sich die geheimnisvolle innere Stimme des Mannes Atlan. Einmal warnte sie vor einer weiteren unsichtbaren Roststelle, ein weite­res Mal erkannte Atlan einen angreifenden Sturmvogel so früh, daß Banjar zweifelte, ob es überhaupt Augen gab, die so weit und scharf sehen konnten.

Ab und zu wechselten Päär und Banjar hastige Blicke, die ihnen wechselseitig ver-

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rieten, daß beiden recht unwohl in ihrer Haut war. Banjar war sich nun einigermaßen si­cher, daß es sich bei Atlan nicht um einen Ir­ren handelte. Was der Fremde tat und sagte, hatte Sinn und Verstand. Indes nahm dieser Umstand dem Mann Atlan nichts von der Aura des Geheimnisvollen, die ihn umgab.

»Wie weit wollen wir heute noch gehen?« fragte Päär schließlich. »Ich glaube ich kann nicht mehr weiter.«

Atlan blieb stehen und sah sich um. »Hm«, machte er. »Der Platz ist so gut

wie jeder andere. Bleiben wir hier.« Er ließ das Bündel fallen, das er sich aus

den Beständen des verunglückten Zuges zu­sammengestellt hatte. Nicht ohne ein gewis­ses Neidgefühl hatte Banjar festgestellt, daß Atlan erheblich mehr getragen hatte, als er zu schleppen imstande war.

»Schade, daß man kein Feuer anmachen kann«, seufzte Päär.

In der beginnenden Dämmerung sah Ban­jar, wie Atlan nickte. Es wurde ziemlich rasch dunkel, hauptsächlich, weil sich der Himmel wieder mit dichten Wolkenbänken bedeckt hatte. In der Nacht würde es mit Si­cherheit wieder stürmen.

Die drei machten es sich so bequem, wie dies auf diesem Brückenabschnitt nur mög­lich war. Sie hatten sich den ganzen Tag über im Grenzbereich zwischen Fußgänger­spur und Fahrbahn aufgehalten. Die Trenn­wand zwischen beiden Bereichen sollte Schutz vor den Nachtwinden bieten.

Banjar aß vergnügt von seinen Vorräten. Es schmeckte ihm. Immerhin stand er noch am Beginn seiner Wanderung, und die Nah­rung war frisch. Auch Päär legte mit sichtli­chem Appetit zu.

Nur Atlan kaute mit deutlichem Mißbeha­gen auf dem Algenbrot herum und beäugte zweifelnd die Fischbällchen in der Dose, de­ren Duft sich über den improvisierten Rast­platz gelegt hatte.

»Ihr seid sicher, daß man so etwas essen kann?«

»Selbstverständlich«, antwortete Banjar. »Kammfisch ist eine Delikatesse, oder weißt

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du auch das nicht?« »Doch, doch«, beeilte sich Atlan zu versi­

chern. »Mein Gedächtnis ist halt nicht das beste.«

Langsam begannen in Banjar Zweifel zu keimen, ob Atlan überhaupt ein Gedächtnis hatte. Von dem, was sich im Lauf des Tages ereignet hatte, wußte Atlan noch jede Klei­nigkeit – von den Dingen vor seinem Auf­finden aber schien er nicht mehr das gering­ste zu wissen.

Immerhin fand er aber nach einer Kost­probe Gefallen an dem Fisch, und das wie­derum beruhigte Banjar leidlich. Er sprach noch ein kurzes Gebet, dann rollte er sich zum Schlafen zusammen. Päär hatte die er­ste Wache.

*

Banjar erwachte, weil ihn jemand mit dem Fuß in die Seite trat.

»Wach auf«, flüsterte jemand. »Und kein Geräusch. Feinde!«

Banjar reagierte schnell. Er blieb liegen und griff nach seinem Schwert. Er hatte Päärs aufgeregte Stimme erkannt.

»Feinde?« flüsterte er. »Wo? Und vor al­lem – wer?«

Päär half ihm auf die Beine. »Atlan hat sie entdeckt«, sagte er sehr lei­

se. »Dort hinten, auf der anderen Seite der Sperre.«

Banjar spähte in die Dunkelheit. Der Wind pfiff feuchtkalt über die Brücke und ließ ihn frösteln.

Tatsächlich, ganz weit entfernt war Feuer­schein zu erkennen. Irgend etwas brannte, und das war mehr als ungewöhnlich. Und dann trug der Wind, der oft sprang, Waffen­lärm herüber und Geschrei.

»Was ist los?« wollte Banjar wissen. »Ich nehme an, daß Piraten einen Zug

überfallen haben«, raunte Päär. »Atlan ist losmarschiert. Er will nachsehen, was sich dort tut.«

Banjar überlegte nicht lange. »Wir folgen ihm«, sagte er hastig.

Päär hielt ihn zurück. »Was haben wir davon?« wollte der Jün­

gere wissen. »Die Piraten sind wahrschein­lich in der Überzahl. Sie werden uns töten.«

»Wir werden uns die Sache ansehen«, sagte Banjar. »Und wenn wir eine Chance haben, werden wir in den Kampf eingreifen. Versteh doch – wenn wir helfen, einen Pira­tenüberfall zurückzuschlagen, bekommen wir wahrscheinlich sofort ein Fußgängerdi­plom, vielleicht sogar eines erster Klasse!«

Die Aussicht verschlug Päär die Sprache. Er schlug Banjar auf die Schulter und lachte laut.

»Natürlich«, rief er. »Los, vorwärts, beei­len wir uns. Wir kommen vielleicht noch zu spät.«

Die beiden machten sich auf den Weg. Sie hielten sich an die Sperre zwischen den bei­den Bereichen. Dort waren sie einigermaßen sicher vor Rostlöchern. Der Feuerschein war weiter entfernt, als Banjar vermutet hatte. Das lag daran, daß das Feuer entschieden größer war, als sich hatte abschätzen lassen.

»Langsam«, raunte Päär. »Wir wollen erst Atlan finden.«

Sie duckten sich in den Sichtschatten der Begrenzung. Das Prasseln des Feuers war jetzt deutlich zu hören, überlagert von Waf­fenklang und gellendem Geschrei. Einzel­heiten wurden erkennbar. Eine Horde Pira­ten hatte einen Zug überfallen, auf dem – das Geschrei war eindeutig – Weiber trans­portiert wurden.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelte Päär. Im Widerschein des lodern-den Feuers bekam sein Jungengesicht harte Konturen.

»He, ihr beiden …« Banjar fuhr herum. Atlan war hinter ihm

aufgetaucht, lautlos wie sein Schatten. Seine Züge wirkten – wahrscheinlich dank der wechselnden Beleuchtung – fast majestä­tisch. Banjar spürte, wie sich seine Faust um das Heft des Schwertes krampfte.

»Wer von euch kann mir sagen, was hier gespielt wird?« fragte Atlan.

»Piraten«, stieß Banjar hervor. »Sie über­

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fallen den Zug.« »Piraten, auf einer Brücke?« »Sie kommen vom Meer, von den Inseln

des Schreckens«, sagte Banjar. »Gleichviel«, antwortete Atlan. »Wollen

wir uns einmischen? Ich habe etwas mehr als fünfzig Piraten gezählt, und die Verteidi­ger zählen höchstens dreißig Mann.«

Ein großer, bedeutsamer Transport konnte das nicht sein, sagte sich Banjar. Auf der an­deren Seite genügten aber fünfzig Piraten sehr wohl, einen solchen Zug zum Stoppen zu bringen und auszurauben, der Panzerung zum Trotz.

»Sie sind in der Überzahl«, stellte Päär fest.

»Nicht mehr lange«, erklärte Atlan. »Kommt mit.«

Vorsichtig schlichen sie sich an den Schauplatz des Kampfes heran. Die Szenerie war bestens zu überblicken. Im Hintergrund war ein Teil des Zuges in Brand geraten, und das Feuer spendete genügend Licht, um Einzelheiten erkennen zu lassen.

»Fürchterlich«, stöhnte Päär auf. Es war Sitte, daß sich die Piraten vor je-

dem Angriff bemalten. Sie sollten scheuß­lich aussehen, durch die Bemalung allein den Widerstandswillen der Zugbesatzungen brechen. Und an diesem Tag hatten sie of­fenbar ihr Bestes gegeben. Ihre Gesichter sa­hen aus wie Fratzen, zu Grimassen des Grauens verzerrt. Blut lief ihnen über die verzerrten Gesichter, die von schlechtver­heilten Narben übersät waren. An den leder­nen Gürteln baumelten abgehackte Hände, langhaarige Köpfe stießen gegeneinander.

»Weg von hier«, murmelte Päär. »Um al­les in der Welt, weg von hier. Gegen die ha­ben wir keine Chance. Sie werden uns mas­sakrieren.«

»Das bleibt abzuwarten«, stieß Atlan her­vor. »Los, Männer, nehmt eure Schwerter zur Hand, und dann – drauf und dran.«

Banjar hatte nicht die geringste Lust, je­manden abzuschlachten, am wenigstens sich selbst, und daher registrierte er mit Erstau­nen, daß er sein Schwert ergriff, das Gesicht

Peter Terrid

verzerrte und dann auf den Kampfplatz rannte. Er hörte sich selbst laut schreien, ne­ben ihm kreischten Päär und Atlan um die Wette, und dann tauchte vor Banjar eine hü­nenhafte Gestalt auf, die widerlich grinste und ein blutbesudeltes Beil hob und schwang, und Banjar duckte sich wie auto­matisch zur Seite und rammte dem Piraten das Schwert in den Leib, und der Pirat fiel.

Banjar kam nicht dazu nachzudenken, was sich um ihn herum abspielte, was er tat. Er sah nur, wie Atlan einem Piraten mit ei­nem fürchterlichen Schwerthieb Helm und Haupt spaltete, und wie Päär einem anderen Piraten ein Bein stellte.

Banjar sah einen Angreifer auf sich zu­kommen, in der Linken eine Keule, in der Rechten ein Schwert, schartig und blutbe­deckt vom Kampf. Banjar parierte – er wuß­te selbst nicht wie – den ersten mörderischen Hieb des Piraten. Er trat zur Seite, fintierte und schlug zu. Treffer, der Pirat verlor die Hand samt der Keule. Eine blitzschnelle Drehung, weggeduckt und noch im Drehen zugeschlagen – der Mann, der Banjar von hinten hatte angreifen wollen, ließ die Waffe fallen und taumelte zurück, die Hände vor das Gesicht gepreßt.

Banjar fuhr wieder herum. »Hierher!« Es war einer der Zugbegleiter, der den

Schrei ausgestoßen hatte. Er wurde von zwei Piraten bedrängt, war an der Schulter ver­letzt. Banjar machte einen Schritt auf den Wächter zu, rutschte auf dem Boden aus, der schlüpfrig war von einer Flüssigkeit, und spürte im gleichen Augenblick einen bren­nenden Schmerz, der von der linken Schläfe ausging. Das Klirren, mit dem das Messer auf dem Metall des Zuges aufprallte nahm Banjar nicht wahr.

Er stöhnte auf und warf sich zur Seite. Im Fallen sah er, wie die Kampfaxt eines Pira­ten auf den Boden traf und dann brach. Oh­ne auf den Schmerz zu achten, warf sich Banjar nach vorn; er erwischte den Mann mit der Spitze des Schwertes an den Beinen und setzte ihn außer Gefecht. Irgendwo im

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Hintergrund ertönte Frauenkreischen. Banjar schnappte nach Luft. Er sah sich

um. Päär trat einem Piraten in den Unterleib, Atlan trieb drei Piraten wie Spielzeugfiguren vor sich her, bedrängte sie und setzte sie nacheinander außer Gefecht.

Der Kampf schien eine kurze Zeitlang un­entschieden, dann aber erholten sich die Pi-raten von ihrer anfänglichen Überraschung. Mit verbissener Wut setzten sie ihren An­griff fort. Die Reihen der Zugwachen, ohne­hin erschüttert, begannen zu wanken.

Banjar richtete sich auf, kam auf die Füße und wollte sich gerade wieder nach vorne werfen, als eine neue Gestalt auf dem Feld auftauchte.

Beleuchtet vom Flackern des Feuers er­schien sie im Eingang des Zugabteils, hoch­gewachsen und schlank. Banjar hatte nie ein schöneres Weib gesehen, und er war sich si­cher, daß er auch nie wieder eine schönere Frau zu Gesicht bekommen würde.

Einen Augenblick lang stockte der Kampf, alle Beteiligten starrten zu der Frau hinüber. Dann aber brüllten die Piraten auf, stürzten sich mit unwiderstehlicher Wut auf die Verteidiger, die im gleichen Augenblick von Panik erfaßt wurden und auseinanders­toben.

Banjar wich zurück, bis er hinter sich das Metall des Zuges spürte. Weiteres Auswei­chen war nicht mehr möglich, aber auch nicht notwendig – sein Gegner tat nicht mehr als nötig war, ihn zu beschäftigen.

Ein halbes Dutzend Piraten stürzte sich auf die wenigen Wachen, die noch versuch­ten, ihre Herren zu schützen. Nach wenigen Augenblicken waren sie niedergemacht oder hatten die Flucht ergriffen.

Atlan focht wie ein Rasender, das Gesicht rauchgeschwärzt und blutbedeckt, nur die Zähne blitzten und die Klinge seines Schwertes.

Banjar sah, wie die Frau gepackt wurde. Sie wehrte sich nicht, als sie aufgenommen und fortgeschleppt wurde, auf den Rand der Brücke zu. Banjar wußte, daß dort die Ha­ken zu finden waren. Mit Raketen hatten die

Piraten sie auf die Brücke geschossen, an den daran hängenden Seilen waren sie hin­aufgeklettert. So konnten die Räuber jeder­zeit an jeder Stelle der Brücke angreifen und waren selbst nie zu fassen.

»Bis zum nächsten Mal«, höhnte Banjars Gegner.

Die Piraten lieferten nur ein Rückzugsge­fecht. Der Kampf war gewonnen, und die Überlebenden hatten offenbar kein Interesse an weiterem Blutvergießen.

Banjar sah, während er dem Piraten nach­setzte, daß Päär aus einer Hüftwunde blu­tend auf dem Boden lag. Und er sah auch, wie die Mehrzahl der Piraten über die Brü­stung hinwegkletterte. Die Seeräuber ließen sich an den langen Seilen auf das Meer hin­ab, wo ihre Boote warteten.

»Ergebt euch, ihr Narren, oder wir ma­chen euch nieder!«

Banjar sah sich um. Er und Atlan standen allein noch aufrecht. Von einem Dutzend Pi-raten bedrängt, hatten sie keine Chance mehr. Banjar ließ die Waffe sinken, desglei­chen Atlan. Stumm und wütend sahen sie zu, wie sich die Piraten endgültig absetzten. Als der letzte verschwunden war, wollte Banjar die Seile mit dem Schwert zer­hacken. Er stellte aber fest, daß die Klinge an dem Stahldraht nur schartig wurde, und das Seil anzuheben, war er nicht stark ge­nug. Er konnte die Piraten sehen, als er sich über die Brüstung beugte; wie sie hinabklet­terten, auf die schaukelnden Boote hinab.

»Pech gehabt«, sagte Atlan. Er säuberte sein Schwert. »Wen oder was haben wir da eigentlich zu verteidigen versucht? Ich habe die Frau gar nicht richtig zu Gesicht bekom­men.«

Düster sagte Banjar: »Um so besser für dich. Diese Frau war

die Urenkelin von Dirigent Habos Matera, der über Schbura gebietet, versprochen dem Herrscher von Äleas, Keschmal Schado, und unterwegs, dessen Weib zu werden, das achtunddreißigste genauer gesagt.«

Atlan steckte sein Schwert in die Scheide zurück.

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»Von dieser Heirat hängt ab, ob der Brückenvertrag zwischen Schbura und Äleas verlängert wird – und von diesem Vertrag hängt unser aller Existenz und Zukunft ab. Und jetzt, da Thalia geraubt worden ist …«

»Wie heißt die Frau?« »Thalia«, wiederholte Banjar. Entgeistert

stellte er fest, daß der Fremde im höchsten Maß erregt war.

Und dann machte der Fremde ein paar ha­stige Schritte, drehte sich, lief an, machte einen gewaltigen Satz und verschwand über den Rand der Brücke hinweg in die Tiefe.

7.

Der Meisterträumer war betroffen. Nicht, daß etwas Außergewöhnliches ge­

schehen wäre. Für einen Meisterträumer, der diesen Namen verdiente, gab es keine Au­ßergewöhnlichkeiten. Es kam schlimmsten­falls zu programmatischen Aberrationen oder datentechnischen Inkongruenzen, aber mehr war nicht möglich.

Daß sich der Gefangene so verhielt, hatte Länerth dennoch ein wenig in Verwunde­rung gesetzt.

Die Integration des neuen Gefangenen in das Puer-Szenarium war verblüffend schnell vonstatten gegangen. Atlan hatte sich außer­ordentlich rasch mit den Gegebenheiten des Szenariums vertraut gemacht und sie verar­beitet. Zu Länerths Leidwesen hatte Atlan allerdings bisher nur wenig Datenmaterial von sich aus in das Szenarium eingefügt – obwohl genau das der Sinn des ganzen Ma­növers war.

Dennoch war der Meisterträumer mit dem bisherigen Ablauf in dem von ihm entworfe­nen und kontrollierten Szenarium sehr zu­frieden.

Eines der wichtigen Probleme zur Beur­teilung der beiden neuen Probanden war die Frage gewesen, ob ein emotioneller Verbund zwischen Atlan und Thalia bestand – und wenn ja, welche Intensität dieser Affekt hat­te.

Was Länerth überrascht hatte, war der

Peter Terrid

Umstand, daß die Handlungsweise des Ge­fangenen Atlan auf einen Affekt schließen ließ, der jenseits der natürlichen Grenze der Todesfurcht angesiedelt schien.

Länerth selbst hatte seine eigenen Gefühle natürlich vollkommen unter Kontrolle, an­dernfalls hätte er es nicht einmal zum Träu­meraspiranten gebracht. Seiner überragen­den Intelligenz verdankte er es, daß er sich in artfremde Psychen bestens hineinverset­zen konnte.

Indes half ihm nicht einmal diese Intelli­genz zu verstehen, was eine derartige Ge­fühlsexplosion in Atlan ausgelöst haben konnte. Zwar hatte Länerth Paarverhalten und Brutinstinkte bei vielen Arten von Lebe­wesen studieren können, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen.

Der Meisterträumer überlegte, ob er Yär­ling über das absonderliche Verhalten des Probanden Atlan in Kenntnis setzen sollte. Er kam zu dem Entschluß, den Sachverhalt erst einmal näher zu untersuchen, bevor er den arroganten Yärling alarmierte und ihm erklärte, daß der Meisterträumer den Pro­banden nicht völlig unter Kontrolle hatte.

Unter Meisterträumern war dies nur eine Information, ein kleines Versehen, das man, zähneknirschend zwar aber dennoch offen, eingestand. Yärling gegenüber kam eine sol­che Eröffnung einem Eingeständnis gleich, und die Schwärze konnte wissen, welche Schlußfolgerungen ein Scuddamore von Yärlings beschränktem Zuschnitt daraus zog.

Nein, Länerth beschloß, das Experiment weiterzutreiben.

Dazu war allerdings ein Eingriff in das Szenarium vonnöten.

Länerth kalkulierte die Angelegenheit durch.

Er konnte Atlan folgen und ihn zwangs­weise in das Szenarium zurückholen. Diese Lösung aber widerstrebte dem Instinkt des Meisterträumers, so grobe Eingriffe wider­sprachen seinem beruflichen Ethos.

Nein, wenn es schon eines Eingriffs be­durfte, dann mußte er anders vorgenommen

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werden. Länerth überlegte kurz, dann war er zu ei­

nem Ergebnis gekommen. Er konzentrierte sich auf das Szenarium …

*

»Ihm nach!« rief Banjar. Päär stand wie festgebannt. Hilflos schüt­

telte er den Kopf. »Bist du übergeschnappt?« schrie er Ban­

jar an. »Willst du dich unbedingt umbringen wie dieser Wahnsinnige?«

»Er ist nicht von Sinnen«, rief Banjar zu­rück. »Er weiß, was er tut.«

»Unfug«, rief Päär, aber er beeilte sich, an Banjars Seite zu bleiben. »Es geht hier min­destens fünfhundert Meter in die Tiefe, und selbst wenn es taghell wäre, könnten wir nicht einmal die Gischtsäule sehen, die er beim Aufprall hervorrufen wird – und das ist alles, was von ihm noch zeugen wird.«

Banjar hatte inzwischen den Rand der Brücke erreicht. Ein Dutzend Haken war an dem Geländer festgekrallt. Banjar ruckte und rüttelte daran. Die Haken saßen fest, die Stahlseile waren straff. Die Piraten brauch­ten mehr Zeit, sich fünfhundert Meter tief abzusetzen als der Selbstmörder, für den Päär Atlan hielt.

Banjar befestigte das Schwert am Gürtel. »Bleib hier«, rief Päär; einige der Wäch­

ter näherten sich und machten Handzeichen. »Bleib hier, Junge!« rief ein alter, narben­

bedeckter Mann. Er blutete aus einer Wunde am Hals. »Niemand kann die Prinzessin ret­ten. Es wird dein Tod sein.«

Mit solchen lächerlichen Einwänden konnte man Banjar nicht beeindrucken. Ban­jar sah Päär an. Der Junge senkte unter der Kraft von Banjars Blick den Kopf. Er war überzeugt.

»Ich folge dir«, sagte er dann, hob den Kopf und sah Banjar strahlend an.

»Nichts anderes hatte ich erwartet«, sagte Banjar gelassen.

Er schwang sich auf den Rand der Brücke. Tief unter ihm lag das Meer, von

dem er nichts sehen und hören konnte. Vier Lichtpunkte, die sich heftig bewegten, ver­rieten ihm, daß die Schiffe der Piraten noch da waren.

Banjar griff nach dem Stahlseil. Das Me­tall fühlte sich gut an, verstärkte das Gefühl von Macht und Größe, das Banjar durch­strömte.

Eine schnelle Bewegung des Körpers, dann hing Banjar in der Luft. Päär, dank des noch immer brennenden Zuges als Schatten zu erkennen, zögerte einen Augenblick lang, dann folgte er Banjars Beispiel.

Hand über Hand ließ sich Banjar an dem Seil herab. Fünfhundert Meter war keine kurze Strecke, aber Banjar war erfüllt von Zuversicht und Selbstvertrauen.

Bereits nach kurzer Zeit war weder vom Meer noch von der Brücke etwas zu sehen. Die beiden jungen Männer waren allein.

»Banjar?« Banjar hörte in Päärs Stimme einen Un­

terton von Angst, der ihm selbst fremd war. Er lächelte milde.

»Ich höre!« »Was hast du eigentlich vor?« fragte eine

beklommen klingende Stimme. Die Laut­stärke verriet Banjar, daß Päär nur knapp fünf Meter über ihm hing und in gleichmäßi­gem Tempo folgte.

»Wir werden Atlan auffischen und dann die Prinzessin befreien, das ist doch selbst­verständlich.«

Mehr gab es nicht zu sagen. Päär schwieg. Die beiden setzten stumm den Abstieg fort, der sich in die Länge zog, da beide nicht über die Spezialhandschuhe verfügten, die von den Piraten verwendet wurden. Da Ban­jar damit rechnete, die Besatzung eines Boo­tes niedermachen zu müssen, brauchte er ge­sunde Hände, die das Schwert führen konn­ten. Er mußte also langsam absteigen und Rücksicht auf seine Handflächen nehmen. Minuten vergingen.

Der Abstieg war kräftezehrend, aber auch das konnte die Zuversicht Banjars nicht trü­ben. Die Tatsache, daß er zwischen Himmel und Erde hing, von der rettenden Brücke so

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32

weit entfernt wie vom windgepeitschten Meer, allein von der Kraft seiner Muskeln abhängig, kümmerte ihn so wenig wie der Umstand, daß am Ende dieser Kletterei eine Horde des blutgierigsten Gesindels auf ihn wartete, das jemals eine Waffe in die Hand genommen hatte. Furcht war Banjar fremd.

Noch immer tief unter sich sah er, daß die Bewegungen von dreien der vier Lichtpunk­te schwächer wurden. Banjar folgerte dar­aus, daß die Piraten diese Boote bereits be­mannt hatten. Durch das Gewicht der Besat­zungen wurden die Bewegungen der Boote im Wasser gedämpft. Das vierte Boot aller­dings ruckte noch immer recht heftig – Ban­jar folgerte daraus, daß es noch unbemannt war.

Tiefer und tiefer stiegen die beiden herab. Das Geräusch des Meeres drang an ihre Oh­ren, ein stetes Wogen und Rauschen.

Banjar mußte eine Pause einlegen. Der Wind zerrte und zog an ihm, ließ das Seil tanzen. Wahrscheinlich war das Seil, das mit dem Boot verbunden gewesen war, von den Piraten gelockert worden. Das Ende tauchte jetzt wahrscheinlich ins Wasser.

Banjar verschwendete keinen Gedanken daran, daß oben auf der Brücke vielleicht haßerfüllte Wachen auf den Gedanken ver­fallen konnten, die Haken samt den Seilen zu lösen – und noch hing Banjar nach eige­ner Schätzung, mindestens einhundert Meter über der Wasseroberfläche.

Aber die Distanz wurde geringer und auch die Gefahr. Banjar konnte sehen, daß sich drei der Piratenboote langsam entfernten. Die Piraten mußten gegen den kräftigen Wind aufkreuzen, das ließ ihre absolute Ge­schwindigkeit recht gering werden.

»Leise!« flüsterte Banjar in die Höhe. »Auf dem Wasser ist Schall weithin zu hö­ren.«

Päär gab einen halblauten Pfiff von sich, der anzeigen sollte, daß er den Hinweis ge­hört hatte und zu befolgen gedachte.

Näher kam das Meer. Das Geräusch wur­de lauter. Stimmen wurden hörbar. Zur Gän­ze verlassen war das vierte Boot also nicht.

Peter Terrid

Banjar ließ sich davon nicht beeindrucken. Er vertraute auf seinen Verstand, die Kraft seiner Arme und die Schärfe seines Schwer­tes.

»Jetzt!« rief Banjar mit lauter Stimme. Er ließ sich fallen, hörte den erschreckten

Aufschrei der Piraten unter ihm, dann schlug etwas hart gegen seine Füße. Banjar fiel nach vorn, rollte ab und kam wieder hoch. Einen Herzschlag später hielt er sein Schwert in der Hand.

Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Beleuchtung der Hecklampe. Er konnte vier Piraten sehen, von denen einer bleich und blutend am Boden lag, zwei andere beugten sich über den Toten oder Verwundeten. Der vierte wurde unversehens von den Beinen gerissen, als Päär, Banjars Beispiel folgend, aus der Höhe herabstürzte.

»Ergebt euch!« rief Banjar. »Die Waffen nieder, oder ich lasse mein Schwert spre­chen …«

Nur der aufrecht stehende Bandit wagte Widerstand und büßte ihn bitter. Banjar zwang ihn mit kraftvollen Schwerthieben zurück, dann fintierte er kurz, schlug zu, ein Schrei, etwas klatschte ins Wasser – und der Pirat starrte aus gläsernen Augen auf den Stumpf seines Schwertarms.

»Noch einer?« schrie Päär. Seine Wangen waren gerötet.

Die Piraten wechselten rasche Blicke, dann ließen sie die Waffen fallen.

»Gib acht auf die Lumpen«, befahl Ban­jar. »He du, rühre dich!«

»Er ist tot, Herr!« wagte einer der Piraten zu sagen. »Er brach sich das Genick beim Abstieg.«

Banjar achtete nicht darauf. Er legte die Hände vor den Mund.

»Atlan!« rief er mit höchster Stimmkraft. »Atlan, her zu uns!«

Finsternis lagerte über dem Wasser, wei­ßer Nebel schimmerte im Schein des Feuers. Der Lichtschein reichte nicht weit, er riß nur einen Kreis von knapp zwanzig Meter aus dem Dunkel. Aber in diesen Kreis schob sich mit langsamen, kraftvollen Schwimm­

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bewegungen eine Gestalt, am langen Haar und dem eigentümlichen Anzug unschwer als Atlan zu erkennen.

»Bei allen Heiligen«, stieß Päär hervor. »Er lebt tatsächlich.«

Banjar lächelte selbstsicher, und sein Lä­cheln verstärkte sich, als er die schreckens­bleichen Gesichter der Piraten sah.

»Warum sollte er nicht?« fragte Banjar. »Hierher, Atlan. Gib mir die Hand. Ich ziehe dich an Bord.«

Eine halbe Minute später stand der Schwimmer sicher auf den Planken des Boo­tes und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren. Atlan war völlig unverletzt.

»Da wären wir«, sagte Päär. »Und was nun?«

Atlan deutete in die Ferne. »Dorthin!« sagte er entschieden. Banjar folgte mit den Augen und sah weit

voraus in der Dunkelheit Lichtpunkte auf­tauchen und wieder verschwinden, in regel­mäßigem Auf und Ab. Es waren die Heck­feuer der abziehenden Piratenschiffe.

»Wir müssen ihnen nach«, bestimmte At­lan. »Macht rasch.«

»Und ihr Bluthunde, ihr werdet uns hel­fen«, sagte Banjar rauh. »Packt an, oder ihr werdet es büßen.«

Die Piraten machten sich stumm an die Arbeit. Mit wenigen Griffen, die lange Übung verrieten, lösten sie das Seil von der Abschußvorrichtung am Bug des Bootes. Banjar konnte unschwer erkennen, daß im Vorschiff noch drei Raketen bereit lagen. Eine Rückkehr auf die Brücke war also durchaus möglich.

Päär sah verdrießlich drein, und nach kur­zer Fahrzeit begriff Banjar, was dem Jungen zu schaffen machte. Päär war gewohnt, auf festem Stahl zu gehen, das schwankende Gefährt der Piraten war seine Sache nicht, das Auf und Ab verschaffte ihm Übelkeit. Banjar war gegen solche Anfechtungen ge­feit, er interessierte sich nicht für die Bewe­gungen des Schiffes mit Ausnahme der Fahrt nach vorn, auf die Flottille der Piraten zu, die in nächtlichem Dunkel zu entschwin­

den drohte. Die Piraten hißten die Segel und drehten

das Heck in den Wind. Sie verstanden etwas vom Steuern, das Boot machte rasche Fahrt. Atlan hatte sich am Bug aufgestellt und spähte nach vorn. Ab und zu öffnete und schloß sich seine Hand wie im Krampf.

Die Fahrt zog sich in die Länge. Auch die Verfolgten besaßen gute Schiffe, wie fast al­le Piraten. Das Raubgesindel des Ozeans be­wies im Schiffsbau großes Geschick, der Unterschied zwischen den einzelnen Schif­fen war nur gering. Einzig aus der Tatsache, daß die Voransegelnden sich auf dem Ozean sicher wähnten und nicht an Verfolger dach­ten, ergab sich ein kleiner Vorteil für das Boot, das Atlan, Banjar und Päär trug. Ban­jar ließ es sich nicht nehmen, die Gefange­nen zu höchster Eile anzustacheln, und wi­derwillig erfüllten die Piraten seine Befehle.

Eine Stunde verstrich, eine zweite. Banjar wurde zusehends ungeduldiger. Immer hefti­ger bewegte sich das Boot. Tief tauchte der Bug ins Wasser, Gischt sprühte auf, der wei­ße Schaum der Brecher spülte durch die Bil­ge, wenn das hölzerne Boot fast zu versin­ken drohte. Banjar spürte das Wasser um seine Knie spülen, und ihm entging auch nicht, daß Päärs Gesichtsfarbe sich zu wäch­serner Bleiche wandelte.

Ab und zu sah Banjar zum Himmel hin­auf. Dort war nichts zu erkennen, die Sterne waren von Wolkenbänken verdeckt. Es ließ sich nicht einmal abschätzen, wann die Son­ne aufgehen würde.

Das einzige Licht in dieser Nacht kam von dem Feuer am Heck des Schiffes. Ein kleines Faß, mit einer brennbaren Flüssig­keit gefüllt, lieferte den Brennstoff, der in einem gläsernen Zylinder weithin leuchtend verbrannte, vor Wind und Wasserfeuchte ge­schützt. In seinem Schein saßen die Piraten stumm und verzweifelt auf den Bänken. Päär hielt nach Banjars Befehl das Steuer, und Atlan stand, unverwandt nach vorne blickend, am Bug, den linken Arm um den Hals des grausig grinsenden Drachens ge­legt.

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Ab und zu ging Banjar nach vorn, um selbst nach der Flottille Ausschau zu halten. Jedesmal schien ihm das Ziel ein Stück nä­her gerückt, aber immer noch nicht nahe ge­nug. Und während die Minuten verstrichen und sich zu qualvoll langen Stunden sam­melten, wurde der Wind wechselhaft. Schon begannen die Taue leise zu singen, spürte Banjar den Druck des Windes auf der Haut. Ein Sturm kündigte sich an.

»Wann werden wir die Boote erreicht ha­ben?« wollte Päär wissen.

Er mußte sich anstrengen, um das Boot auf Kurs halten zu können.

»Bald«, sagte Banjar nach einem Blick nach vorn. »Lösche das Hecklicht.«

Päär wartete noch einen Augenblick lang, dann drehte er den Hahn zu. Das Licht er­losch. Finsternis breitete sich über das Boot. Vor dem Bug tanzten die Lichter der ande­ren Boote. Noch ahnten die Besatzungen nicht, daß eine kleine Gruppe Verwegener ihnen auf den Fersen war.

8.

Länerth traute seinen Augen und Ohren nicht. Was er sah und hörte, durfte es nach seinem Wissensstand einfach nicht geben.

Es verstand sich von selbst, daß der Mei­sterträumer den Selbstmordversuch des Ge­fangenen Atlan vereitelte. Länerth war nicht damit gedient, daß der Gefangene vor Sehn­sucht nach seinem Partner seinem Leben ein Ende bereitete, indem er in die Tiefe sprang.

Indes war es dem Meisterträumer ratsam erschienen, Atlan einen kleinen Denkzettel zu verabreichen. Ganz ohne Schaden sollte er nicht davonkommen.

Zu seinem größten Erstaunen aber trug der Selbstmörder nicht die kleinste Schram­me davon.

Länerth stoppte den Vorgang. Er nahm sich Zeit, das Phänomen zu un­

tersuchen. Zum einen stellte er fest, daß der Gesichtsausdruck Atlans in der Sekunde vor dem Sprung keineswegs von Verzweiflung geprägt war, auch wenn sich Länerth in der

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Mimik dieser Spezies noch nicht gut aus­kannte, so schien ihm diese Beobachtung doch sicher. Nein, die Gesichtsmuskulatur des Gefangenen drückte einen Geisteszu­stand aus, den Länerth für sich als wütende Entschlossenheit definierte. Das aber paßte wenig in das Bild eines Selbstmörders.

Länerth überlegte, ob er in den Geist des Gefangenen einbrechen sollte. Er verwarf diesen Gedanken jedoch. Die Ergebnisse waren zu unsicher. Vor allem lief Länerth Gefahr, bei der Aufklärung dieses an sich nebensächlichen Problems wichtige Infor­mationsquellen zu beschädigen oder gar zu vernichten.

Das aber hätte Yärling sehr übelgenom­men, und nicht einmal zu Unrecht. Wider­willig mußte sich Länerth dazu entschließen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Er hatte keine andere Wahl, er mußte abwarten, bis der Gefangene Atlan die Informationen, die Länerth zu erhalten entschlossen war, frei­willig in das Szenarium einspeiste.

Immerhin, die Integration des Individu­ums Atlan war voll und ganz gelungen, die­sen Tatbestand konnte Länerth vorläufig verbuchen.

Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß Atlan sich beim Aufprall auf das Wasser des Ozeans hätte sämtliche Knochen mehr­fach brechen müssen. Länerths Eingreifen in das Szenarium hätte lediglich zur Folge ge­habt, daß diese Verletzungen nicht gar so schwerwiegend ausgefallen wären.

Länerth dämpfte den Sturz daher ab – und mußte feststellen, daß Atlan den Sturz un­versehrt überstand.

Daraufhin minderte Länerth in einer ra­schen Wiederholung des Sturzes sein Ein­greifen ab – das Ergebnis blieb das gleiche.

Ein weiterer Eingriff, der Sturz von der Brücke fiel um ein Zehnfaches härter aus als beim ersten Mal – und wieder fiel der Mann ins Meer und brach sich keinen einzigen Knochen.

In der letzten Variante aber, in der Lä­nerth auf jeden Eingriff verzichtete, über­stand Atlan aber auch diesen Aufprall völlig

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unbeschadet. Dieser Tatbestand war genaugenommen

wichtig genug, Länerth zum vorläufigen Ab­bruch des Experiments zu bewegen. Yärling mußte über den Sachverhalt informiert wer­den, das wäre Länerths Pflicht gewesen.

Auf der anderen Seite betrachtete der Meisterträumer diese Abweichung des von ihm entworfenen und kontrollierten Szenari­ums als eine Art Herausforderung, und er handelte danach. Diese Angelegenheit woll­te er selbst bereinigen – außerdem, was hätte der grobschlächtige Yärling schon unterneh­men sollen, um das Szenarium in Ordnung zu bringen?

Länerth entschloß sich daher, die Zusam­menkunft der beiden Gefangenen Thalia und Atlan zu beschleunigen. Es verstand sich von selbst, daß Länerth in die Dinge nicht grob hineingriff sondern es bei subtilen Ver­änderungen bewenden ließ. Die Kunst des Meisterträumers bestand darin, zur Steue­rung eines Szenariums ein Minimum an Ein­griffen und Veränderungen zu benötigen. Und von diesem Szenarium war Länerth fas­ziniert. Er vertiefte sich immer mehr in die Problematik des Falles. Es war eine kniffli­ge, verzwickte Angelegenheit.

Denn der Gefangene Atlan setzte sich – natürlich nur unbewußt – gegen das Szenari­um zur Wehr, und nichts konnte Länerth mehr reizen als solcher Widerstand.

So verdrießlich die ganze Angelegenheit war, wenn man sie unter Yärlings Nützlich­keitsstandpunkt betrachtete, so ersprießlich war der Fall, wenn es darum ging, Länerth zu höchster Meisterschaft anzuspornen.

Der Meisterträumer erlaubte sich eine Ge­ste des Vergnügens. Die Sache begann ihm zu gefallen. Ja, er spürte sich – überraschend für einen so emotionskontrollierten Scudda­moren – förmlich angezogen von dem Puer-Szenarium.

*

»Noch einige Minuten, dann haben wir sie«, raunte Banjar, heiser vor Aufregung.

Er wandte sich an die überlebenden Pira­ten.

»Ein Warnruf von euch, und wir schicken euch zu den Fischen.«

Von den Bänken kam keine Antwort. Die schier selbstmörderische Entschlossenheit er drei Verfolger war mehr, als die Piraten zu ertragen gewohnt waren. Vermutlich hielten sie Banjar, Päär und Atlan für eine Art Brückenteufel, denen man sich besser nicht widersetzte, wenn man das ewige Heil nicht verspielen wollte.

Die Lichter der Flottille schienen zum Greifen nahe.

Stimmen waren zu hören, heisere Befehls­rufe, schnapsgeschwängerter Gesang.

»Wehe!« murmelte Atlan, der links von Banjar stand. »Wehe ihnen, wenn sie es wa­gen.«

Er schien mit seinen Gedanken bei der Prinzessin von Schbura zu sein, und das fand Banjar nicht verwunderlich – wenn auch recht wirklichkeitsfremd. Die Frau war wunderschön, wie sich Banjar erinnern konnte. Aber sie war eine Prinzessin, und bei aller Verehrung – was sollte eine Prin­zessin mit einem Fußgänger anfangen, noch dazu ohne Diplom?

Es sah nicht so aus, als sei Atlan auf die fürstliche Belohnung aus, die der Dirigent Habos Matera für die Wiederbeschaffung seiner Urenkelin sicherlich aussetzen würde. Es hatte vielmehr den Anschein, als sei At­lan unmittelbar an der Prinzessin interessiert – und Banjar fand, daß Atlan sich mit eben­so guten Aussichten in den Dirigenten selbst hätte verlieben können.

Einen Augenblick lang war es still. Nur das stete Heulen des Windes war zu hören, das Singen der straffgespannten Taue und das Arbeiten des Holzes. Deutlich schälten sich die Stimmen aus diesem Gebräu heraus.

»Sie ist im vorderen Boot«, erklärte Päär. »Ich kann die Stimme deutlich erkennen. Hört ihr?«

Tatsächlich war, wenn man die Ohren nur genügend spitzte, Gesang zu hören. Eine klare Frauenstimme sang etwas. Der Text

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wurde vom Wind davongetragen und ver­stümmelt – aber an der Klangfarbe konnte kein Zweifel bestehen.

»Etwas abfallen«, bestimmte Atlan ruhig. Das Boot hielt sich ein wenig seitlich. Es

war nicht so schwer beladen wie die Piraten­boote und machte daher ein wenig mehr Fahrt. Da sich die Seeräuber obendrein ziemlich viel Zeit ließen, konnte Atlan sei­nen Plan in Ruhe aushecken und in Szene setzen.

»Und jetzt – scharf steuerbord!« sagte At­lan mit gedämpfter Stimme. »Banjar, Päär, haltet euch bereit. Und ihr Burschen könnt nachher eure Kameraden aus dem Wasser fi­schen und euch davonmachen.«

»Danke, Herr«, murmelte einer der Pira­ten.

Banjar behielt die Lichter der Flottille im Auge. Das Boot kam der Backbordseite des­jenigen Bootes näher, in dem die Frau ver­mutet wurde. Banjar hielt sein Schwert in der Faust, bereit, mit einem Satz an Bord des fremden Schiffes zu springen.

Während die Geräusche an Bord des Pira­tenschiffs lauter wurden, schob sich Atlans Boot rasch, aber stumm an das Fahrzeug heran. Gespannt wartete Banjar auf den Au­genblick, da die Piraten entdecken mußten, daß jemand ohne Positionslichter auf sie zu­gesegelt kam.

Atlan flüsterte seine Kommandos, die von den gefangenen Piraten gehorsam befolgt wurden.

An Bord des Piratenschiffs schien nie­mand die heranjagende Gefahr zu bemerken. Der Bug schob sich in den Lichtkreis des Pi­ratenschiffs, und noch sah niemand auf.

Ein kurzer, scharfer Befehl ließ Atlans Boot herumschwenken. Während es sich ne­ben das Piratenschiff legte, hob einer der In­sassen den Kopf. Er hatte Atlans Ruf gehört.

Die Reaktion kam zu spät. »Auf sie!« schrie Banjar. Er spannte seine Muskeln an. Ein Schritt

brachte ihn von einer Bordwand zu anderen, ein weiterer ließ ihn auf einer Ruderbank stehen. Banjar trat zu. Ein Schwert flog aus

Peter Terrid

einer tätowierten Hand und landete im Was­ser, der Mann taumelte, schrie und fiel dann über Bord.

Die Piraten waren schreckgelähmt. Wie Nachtdämonen fielen die drei Männer über sie her, und obwohl sie drei gegen zwanzig kämpften, war die Auseinandersetzung rasch beendet.

In ihrer wahnsinnigen Angst sahen die Seeräuber ihr Heil in der Flucht, ein Teil warf sich über die Bordwand, ohne auch nur den Kampf aufgenommen zu haben. Andere hoben zwar die Schwerter, verloren die Waffen aber beim ersten Schlag und suchten dann ebenfalls das Weite.

»Päär – ans Ruder. Banjar, den Großbaum herum!«

Atlan schwang das Schwert und trieb zwei Piraten vor sich her. In die Enge getrie­ben, ließen sich beide nach kurzem Kampf über die Bordwand fallen. Sie konnten schwimmen wie Fische, und es gab genü­gend Boote in der Nähe. Banjar wußte, daß sie überleben würden. Es verdroß ihn, das Gesindel am Leben zu lassen, aber Atlans Kommandos ließen ihm keine Wahl.

Päär schlitzte mit einem blitzschnellen Hieb dem Rudergänger den rechten Arm halb auf. Heulend vor Schmerz ließ sich der Mann über die Bordwand fallen.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Ban­jar, daß die Frau sich eines der Schwerter nahm und in den Kampf eingriff. Sie kam Atlan zu Hilfe, der nun von drei Gegnern gleichzeitig bedrängt wurde.

Den wie besessen fechtenden Atlan vor sich, eine gleichfalls rasende Frau im Nacken – die Piraten gaben sich nach kurz­em Gefecht geschlagen und warfen sich au­ßenbords.

»Rammt die Hunde!« hörte Banjar eine vor Erregung heisere Stimme rufen. »Rammt sie in den Grund des Meeres!«

»Abfallen«, bestimmte Atlan. »Löscht das Licht, und dann – ganz leise. Ich will keinen Laut hören.«

In dem Augenblick, in dem das Licht er­losch, konnte Banjar noch sehen, daß die

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Schlacht gewonnen war. Kein Pirat hielt sich mehr an Bord auf, und aus dem Rufen und Flüchen, die über das Wasser hallten, konnte Banjar folgern, daß die Seeräuber ge­nug damit zu tun hatten, ihren Schreck zu überwinden und nach ihren Kameraden zu suchen. An eine Verfolgung war vorläufig nicht zu denken.

Das Boot mußte gegen den kräftigen, stürmisch werdenden Wind aufkreuzen, und man konnte die Hand vor Augen nicht se­hen. Es war kein schönes Gefühl, sich sol­cherart über das Meer zu bewegen – lieber hätte Banjar einen Resonanzsturm abgewet­tert.

Die Flucht aber war nach kurzer Zeit von Erfolg gekrönt. Päär, der sich hatte überwin­den können, am Drachenhals des Schiffes hinaufzuklettern und Ausschau zu halten, konnte nach relativ kurzer Zeit melden, daß von den Piratenbooten nichts mehr zu sehen war.

»Willkommen in der Freiheit, Prinzes­sin«, sagte Banjar in die Dunkelheit hinein. »Das Gesindel verzichtet wohlweislich dar­auf, uns nachzusetzen. Ihr seid frei.«

»Ich habe zu danken«, erklang die Stim­me der Frau aus dem Dunkel. »Wer aber hat mich aus der Gefangenschaft dieser Bandi­ten befreit?«

»Banjar ist mein Name, der Mann am Bug ist mein Freund Päär. Und jener Verwegene, der dieses Unternehmen in die Wege geleitet hat, nennt sich Atlan.«

Einen Augenblick lang war es still. Dann erklang wieder die Stimme der Prinzessin.

»Der Name kommt mir bekannt vor. Ken­nen wir uns, Atlan?«

Leicht heiser klang die Stimme des Man­nes aus dem Dunkel zurück. »Wohl mög­lich, Odinstochter.«

*

Länerth zuckte zusammen. Das war der erste brauchbare Hinweis.

Natürlich kannten sich die beiden, aber es gehörte zu den Spielregeln des Szenariums,

daß sie einander ein zweites Mal kennen­lernten – dabei sollten sie nach Länerths Wunsch und Willen alle gemeinsamen In­formationen austauschen. Hinter diesen In­formationen war der Meisterträumer her, sie waren das Ziel seiner Bemühungen – wenig­stens was die beiden neuen Personen anbe­traf. Für das gesamte Szenarium und seine Arbeit waren beide vergleichsweise unbe­deutend.

Odinstochter, so hatte Atlan die Frau ge­nannt. Der Name schien bedeutungsvoll zu sein. Was steckte dahinter?

Länerth griff in das Szenarium ein.

*

»Odinstochter? Ich denke …« »Noch niemand hat mich Tochter Odins

geheißen«, sagte die Prinzessin ruhig. »Wie kommst du zu dem Namen?«

Thalia hatte auf Banjars Zwischenruf gar nicht geachtet. Sie schenkte dem jungen Mann wenig Aufmerksamkeit. Um so inter­essierter schien sie an Atlan, der sich mit seiner Antwort Zeit ließ.

»Nun«, sagte er schließlich. »Es fiel mir so ein. Meine innere Stimme nannte dich so.«

»Seltsam«, antwortete Thalia. »Ich höre den Namen zum ersten Mal, und doch er­scheint er mit vertraut. Weißt du nicht mehr darüber?«

Wieder zögerte Atlan. Die Wechselrede hatte etwas Gespenstisches. Rede und Ge­genrede kamen langsam und zögernd, die Worte tropften gleichsam in das Dunkel der Nacht.

»Nein«, sagte Atlan. »Wohin sollen wir dich bringen? Wie überhaupt fielst du in die Hände der Piraten?«

Wieder kam die Antwort erst nach einer Pause.

»Ich will nach Äleas. Könnt ihr mich zum nächsten Wärterbunker in dieser Richtung bringen?«

»Willst oder mußt du?« Banjar verschlug soviel Dreistigkeit fast

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den Atem. Nicht allein war die Frage mehr als zudringlich – für das vertrauliche Du hät­te der Frechling geköpft werden können. Doch – seltsam genug – Thalia schien daran nichts Verwerfliches zu finden.

»Warum interessiert dich das?« Banjar schüttelte im Dunkel den Kopf.

Nicht nur Atlan benahm sich außergewöhn­lich, auch das Betragen der Prinzessin spot­tete dem Herkommen und der Sitte. Atlan gab auf die Frage keine Antwort.

»Ich bin bestimmt, das Weib von Ke­schmal Schado zu werden«, sagte Thalia schließlich. »Auf der Reise von Schbura nach Äleas ließ ich mein Abteil abkoppeln vom großen Zug. Es war mir zu lästig, mit der ganzen Dienerschaft und dem Gepäck zu reisen. Die elenden Seeräuber müssen davon gewußt haben – anders kann ich mir nicht erklären, wieso sie ausgerechnet den kleinen Zug überfielen und nicht den großen.«

»Sie werden es auf Euch abgesehen ha­ben, Prinzessin«, wagte Päär zu bemerken. Banjar, der seinen Gefährten zu kennen glaubte, hörte tiefen Respekt in der Stimme mitschwingen. Päär jedenfalls war sich des fundamentalen Rangunterschieds zwischen einem Fußgänger ohne Diplom und einer leibhaftigen Prinzessin sehr wohl bewußt. »Reiche Lösung durften sie erwarten.«

»Von wem?« fragte Thalia. Sie kicherte halblaut. »Von meinem verarmten Vater? Oder von meinem Bräutigam, der schon sehr viel für mich hat zahlen müssen?«

Atlan hatte sich unterdessen an der Lampe zu schaffen gemacht. Banjar schloß geblen­det die Augen, als das Licht plötzlich auf­flammte und das Innere des Bootes in seinen Leuchtkreis tauchte. Zum ersten Mal bekam Banjar die Prinzessin in Ruhe zu Gesicht, und der Eindruck, den er bei der ersten Be­kanntschaft gewonnen hatte, verstärkte sich.

Sie war die schönste Frau, die sich Banjar vorstellen konnte, und wenn er Päärs weit aufgerissene Augen und den halboffenen Mund betrachtete, wußte er sich in dieser Bewunderung nicht allein. Ungerührt zeigte sich allein Atlan. Er betrachtete Thalia mit

Peter Terrid

sichtlichem Wohlgefallen, aber keineswegs respektvoll, wie es sich gebührte. Er trug vielmehr eine Haltung zur Schau, als sei er den gleichberechtigten Umgang mit Prinzes­sinnen gewohnt. Und überraschenderweise ging Thalia auf diesen Umgangston ein. Sie behandelte Atlan, als sei er ihr ranggleich; Atlan wiederum redete mit Thalia, als sei sie so intelligent und umsichtig wie ein Mann – beides wirkte auf Banjar gleichermaßen be­fremdlich.

»Der nächste Bunker in Richtung Äleas wäre Henner-Theel«, sagte Päär stotternd. »Sollen wir Euch dorthin bringen?«

»Ich wäre euch verbunden«, antwortete Thalia gleichmütig. »Ich hoffe, daß der Hauptzug mittlerweile dort eingetroffen ist.«

Banjar wurde schmerzlich bewußt, daß er und Päär schon seit einiger Zeit unterwegs waren, um ein Fußgängerdiplom zu erwer­ben – und daraus wurde natürlich nichts, wenn sie jetzt unverrichteter Dinge nach Henner-Theel zurückkehrten. Sie würden Spott und Verachtung dafür ernten.

Auf der anderen Seite … Banjar betrachtete Thalia. Er hoffte heim­

lich, daß die Prinzessin sich für ihre Erret­tung erkenntlich zeigen würde.

»Und wenn wir dort angelangt sind …?« »Das Weitere wird sich finden«, sagte At­

lan.

9.

Meisterträumer Länerth wußte nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte.

Auf geheimnisvolle, befremdliche, ja be­sorgniserregende Weise war das gesamte Szenarium aus dem Konzept geraten. Das Schlimmste war, daß Länerth nicht zu sagen wußte, von wo diese Störung ausging, wer sie hervorrief und wie dem abzuhelfen sei.

Selbstverständlich dachte Länerth sofort an die beiden Gefangenen, die er auf Yär­lings Gebot in das bereits fertige Szenarium eingearbeitet hatte – mit nicht geringer Schwierigkeit. Auf der anderen Seite hatte Länerth ähnliche Aufgaben stets souverän

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zu lösen gewußt. Die Vermutung, zwei her­geschleppte Gefangene wären in der Lage, sein Szenarium ins Wanken zu bringen, hät­te er im Ton höchster Entrüstung von sich gewiesen.

Wenn Länerth aber logisch nachdachte, und er war gewohnt stets sehr logisch zu denken, dann gab es in der Gesamtkonzepti­on des PuerSzenariums nur einen externen Faktor, den er neu eingeschaltet hatte – und das waren Atlan und Thalia. Das war eine höchst unbequeme und unerquickliche Tat­sache, aber nichtsdestotrotz schwerlich aus der Welt zu schaffen.

Länerth überdachte, was zu tun sei. Am liebsten wäre er seinem Gefühl ge­

folgt, das ihm empfahl, der Sache ihren Lauf zu lassen. Szenarien waren empfindliche Angelegenheiten, die teilweise auf Unwäg­barkeiten beruhten. Ganz und gar hatten die Meisterträumer die Szenarien noch nicht im Griff – Länerth war ehrlich genug, sich das einzugestehen.

Auf der anderen Seite aber – hinter Lä­nerth stand Yärling. Sich mit ihm ohne trifti­gen Grund anzulegen, erschien Länerth un­klug.

Es gab in der Praxis nur eine Möglichkeit. Länerth mußte seinen Einfluß auf das ge­

samte Szenarium ein wenig drosseln, um die Kontrolle über einen Ausschnitt verstärken zu können. Das barg Risiken in sich … Lä­nerth, der sich nicht zu Unrecht Meisterträu­mer nennen lassen wollte, entschloß sich zu einem kühnen Griff.

Er wollte sich selbst in das Szenarium in­tegrieren …

*

Am frühen Morgen einer langen, in Schweigen verbrachten Nacht kam der Wär­terbunker in Sicht.

»Henner-Theel«, sagte Banjar. Zum ersten Mal sah er einen Wärterbun­

ker aus dieser Perspektive. Wenn es einen Anblick gab, der mit dem der Brücke an Größe, Vollkommenheit – ja, Majestät –

wetteifern konnte, dann die gigantische Masse aus grauem Beton, die sich scharf ge­gen einen feinen Nebel abzeichnete. Senk­recht ragte der Bunker in die Höhe, Hunder­te von Metern ragte er über die wildbeweg­ten Fluten hinauf – und Banjar wußte, daß die Bunker auch tief in das Wasser hinab­reichten.

Der Ozean war an dieser Stelle – deshalb stand die Brücke dort und nirgendwo anders – extrem flach; hieß es. Banjar wußte, daß es mindestens zweihundertsiebenundvierzig Stockwerke jenseits der Wasser/ Luft-Scheidelinie gab, und jedes Stockwerk hatte eine Mindesthöhe von drei Metern. Rechnete man dazu, daß der Riesenbau der Verankerung im Meeresgrund bedurfte, so ergab sich ein Gebilde von riesenhafter Aus­dehnung.

»Unglaublich«, murmelte Atlan. »Dergleichen habe ich nirgendwo gesehen.«

Banjar runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Atlan kein Brücken­mann war. Aber selbst wenn er vom Fest­land kam – wo wollte er überhaupt etwas anderes gesehen haben, wenn schon nichts von gleichem Wert? Der Mann redete ja, durchfuhr es Banjar, als käme er von einer anderen Welt.

»Wie kommen wir dort hinauf?« wollte Thalia wissen.

Banjar hatte bereits eine Antwort vorbe­reitet.

»Als erstes werden wir eine Botschaft schreiben und an einem der Haken befesti­gen«, erklärte er und deutete dabei auf die Abschußvorrichtung am Bug des Schiffes. Der lange Hals des Bugdrachen bildete eine Art Zielvorrichtung für das Raketengeschoß.

»Danach werden wir das Seil in die Höhe schießen. Es wird sich am Geländer der Brücke festkrallen – und wir können daran in die Höhe klettern.«

Erst in diesem Augenblick kam Banjar die ungeheure Verwegenheit der Piraten zu Be­wußtsein. Fünfhundert und mehr Meter an einem zitternden Stahlseil in die Höhe zu turnen, ohne Gewißheit darüber zu haben,

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ob nicht oben auf der Brücke jemand An­stalten machte, das Seil zu durchtrennen – dazu gehörten wahrlich eiserne Nerven und eine unglaubliche Unerschrockenheit.

»Und wenn man oben einen Piratenan­griff vermutet?«

Mit Päärs Einwand hatte Banjar gerech­net.

»Dafür ist die Botschaft bestimmt«, sagte er schnell. »Außerdem hab ich noch nie ge­hört, daß Piraten so verwegen gewesen sein sollen, einen Bunker anzugreifen.«

»Alles geschieht eines Tages zum ersten Mal«, versetzte Atlan trocken. »Aber wir sollten nach deinem Vorschlag handeln, Banjar.«

Päär machte das Seil klar und die kleine Rakete. Atlan sah ihm dabei zu und schüttel­te ab und zu den Kopf. Banjar wagte nicht zu fragen, denn der Gesichtsausdruck seines Begleiters verriet, daß Atlan nicht gestört sein wollte. Atlan schien in Gedanken ver­sunken, mit irgendeinem Problem beschäf­tigt. Vielleicht hört er wieder seiner inneren Stimme zu, überlegte Banjar.

Es dauerte noch eine Weile, bis das Boot nahe genug an dem Bunker im Wasser trieb. Die Segel waren gerefft worden, nur die Strömung bewegte noch das Boot.

Ein Streifen von knapp fünfzig Meter Hö­he an der Außenwand des Wärterbunkers war mit dichtem Grün bewachsen. Algen und Muscheln hatten sich an dem Beton festgesetzt, und die Höhe dieses Bewuchses zeigte, wie weit hinauf die Wellen tobten, wenn ein richtiger Orkan über Puer hinweg­brauste. Kein Wunder, dachte Banjar, daß man sich angesichts dieses Wütens der Na­tur dazu entschlossen hatte, eine Kontinen­talbrücke zu bauen.

Banjar erschrak. Was waren das für Gedanken? Wieso

überhaupt erbaut? Die Brücke hatte es im­mer schon gegeben, und es würde sie über alle Zeiten und Ewigkeiten hinweg geben – jeder andere Gedanke war schon Ketzerei. Wie war er auf diesen verrückten, absurden Einfall gekommen, jemand könnte etwas so

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Phantastisches wie die Kontinentalbrücke erbaut haben?

Atlan wandte den Kopf. Er sah Thalia an und lächelte, und die Prinzessin lächelte zu­rück. Das flegelhafte Betragen des Mannes Atlan schien sie nicht zu befremden.

»Was ist das für ein Anzug, den du da trägst?« fragte sie.

Atlan sah an sich herab, wie damals, dachte Banjar, als man ihm die Frage zum ersten Mal gestellt hatte.

»Ach, das ist nur das Goldene Vlies«, ant­wortete Atlan und lächelte breit.

Banjar konnte mit der leichthin gegebe­nen Antwort nicht viel anfangen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, daß die Prinzessin aus diesem Satz schlau wurde. In­des gab sie sich mit dieser nichtssagenden Antwort zufrieden.

»Feuer!« bestimmte Atlan plötzlich. Das Boot hatte die rechte Stelle erreicht.

Päär zündete eine Schnur an, die funken­sprühend abbrannte und dann im Innern der Rakete den Brennsatz zündete.

Es zischte, eine dunkle Qualmwolke legte über das Boot, und aus dieser Wolke sah Banjar ein feuriges Etwas in den Himmel zi­schen. Surrend folgte das dünne Stahlseil.

Banjar sah dem Projektil nach, wie es im Grau des wolkenbedeckten Himmels zu ver­schwinden schien. Nach kurzer Zeit war das Feuer des kleinen Treibsatzes nicht mehr zu sehen – nur das gleichmäßig surrende Seil verriet, daß sich der Haken noch bewegte.

Düster und drohend lag der Schatten der Brücke auf dem Wasser. Banjar, der die Brücke nur aus anderer Sicht kannte, konnte sich eines Fröstelns nicht erwehren.

Auf seltsame Weise kam er sich vor wie ein Zuschauer bei dem Versuch eines Grö­ßenwahnsinnigen, mit der Natur wetteifern zu wollen. Diese Brücke war nicht der Ver­such, sich den Launen der Natur anzupassen, sich ihrer zu bedienen, das Wechselspiel der Kräfte zu belauern und zu benutzen – die Brücke setzte der Urgewalt der Natur die brutale Härte moderner Technik entgegen. Die Brücke sollte sich nicht durchmogeln

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auf dem Weg von Schbura nach Äleas – sie sollte offenkundig diesen Weg ertrotzen.

Die Piraten hatten den anderen Weg ge­wählt. Sie fuhren auf schwankenden Booten über das Meer, seinen Unbilden ausgesetzt, aber stets auf der Lauer, jede sich bietende Chance zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Brücke aber … sie erschien Banjar plötzlich als Herausforderung, als eine Art Kriegser­klärung an die Natur.

»Kontakt!« rief Päär. Der Haken hatte seinen Flug beendet. In

der Abstiegsphase öffnete sich automatisch der Haken. Von dem Gewicht des Seiles ge­zerrt, mußte er über den Boden der Brücke schleifen, bis er irgendwo sicheren Halt fand.

Es plätscherte, als einige Meter Stahlseil ins Meer zurückfielen. Schon befürchtete Banjar, der Haken habe womöglich keinen Halt gefunden, als die Abwärtsbewegung des Seiles auch schon aufhörte.

Der Weg nach oben war frei. Päär stieß ein Triumphgeheul aus.

Atlan und Thalia lächelten, etwas gering­schätzig, wie Banjar fand. Atlan befestigte das Seil an dem Haken, der am Bug dafür bestimmt war. Geschickt paßte er eine hohe Welle ab, um den Knoten zu schlagen. Beim Ablaufen des Wasser sackte das Boot natür­lich ab und straffte dabei das Stahlseil.

»Wer geht zuerst?« Banjar hob die Hand. »Ich gehe voran«, sagte er energisch. Er

griff nach dem Seil.

*

Die Piraten brauchten für ihr mörderi­sches Gewerbe nicht nur Mut und Geschick­lichkeit. Sie brauchten vor allem eine Kör­perkraft, die keinerlei Erschöpfung kannte.

Fünfhundert Meter an einem dünnen Stahlseil in die Höhe zu klettern, das war ein halber Selbstmord. Das Stahlseil schnitt in die Hand, selbst durch die Spezialhandschu­he durch, die sich im Boot gefunden hatten.

Vor allem aber gab es für die Kletterer

nicht die geringste Verschnaufpause, sie mußten die fünfhundert Meter in einem Zug durchklettern.

Sie schafften, was sie sich vorgenommen hatten. Sie brauchten acht Stunden dafür, die einfach kein Ende zu nehmen schienen, aber sie schafften es.

Die Angst, jemand könne sie mit Piraten verwechseln, war unbegründet. Niemand auf der Plattform schien die Haken gesehen zu haben.

Als Banjar sich mit letzter Kraft über das Geländer hinweg auf den Boden der Brücke fallen ließ, war keine Menschenseele zu se­hen. Völlig erschöpft blieb Banjar auf dem kühlen Stahl liegen. Er nahm kaum wahr, wie nach ihm Päär über die Brüstung kroch und ebenfalls zusammenbrach. Auf den Bei­nen hielt sich lediglich Atlan, und das war um so verwunderlicher, als er der Frau beim Aufstieg behilflich gewesen war und seine Kräfte mehr als jeder andere beansprucht hatte. Immerhin, so erschöpft war auch er, daß er sich gegen die Brüstung lehnen und erst einmal nach Luft schnappen mußte. Mi­nuten vergingen, in denen sich die Kletterer von den Strapazen des Aufstiegs zu erholen versuchten. Banjar kam mühsam wieder auf die Beine, und er ruhte nicht, bis er die Ha­ken gelöst und das Seil über die Brüstung geworfen hatte.

»Fort damit«, rief er erleichtert, nachdem das Andenken an die letzten Ereignisse die Fahrt in die Tiefe angetreten hatte. »Und nun auf zu neuen Abenteuern.«

Atlan runzelte die Stirn. »So verwegen kenne ich dich gar nicht«,

sagte er unvermittelt. Banjar fühlte sich beleidigt. »Was soll das heißen?« fragte er scharf.

»Suchst du einen Kampf mit mir?« »Verzeih«, sagte Atlan. Er wischte sich

über die Augen. »Ich wollte nicht an deinem Mut zweifeln. Mir schien nur, du wärest frü­her nicht ganz so ungestüm gewesen. Nun, wahrscheinlich trügt mich die Erinnerung.«

»Das wird es sein«, warf Päär ein, der den Disput mit Sorge verfolgt hatte.

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In diesem Augenblick tat Atlan dem Brückenmann leid. Der Gesichtsausdruck und die Gestik Atlans gehörten nicht zu dem verwegenen Kämpfer, den Banjar kannte. Sie drückten vielmehr Zweifel, Ratlosigkeit und Verwirrung aus – ja sogar Hilflosigkeit. Es hatte den Anschein, als hätte Atlan einen schweren inneren Kampf durchzufechten.

»Wo können wir einen trockenen, war­men Platz finden?« fragte Thalia.

Sie war nicht nur vom Spritzwasser des Meeres durchnäßt; der größte Teil der Feuchtigkeit, die ihre Kleidung durchtränk­te, hatte seine Quelle in den Strapazen des Aufstiegs. Auch Banjars Kleidung war schweißnaß. Nur der seltsame Anzug des Mannes Atlan wies keine Schweißflecken auf. Auch das befremdete Banjar, aber er verkniff sich die Fragen – Antworten würde man später bekommen, da war er sich si­cher.

»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann gibt es im Südosten einen Ein­stieg in den Bunker.«

»Dann werden wir diesen Einstieg suchen und benutzen«, entschied Atlan. »Ich habe Hunger, und ich vermute, daß auch du hun­gerst, Thalia?«

Die Frau nickte nur. Banjar drehte sich beinahe der Magen um.

Er vermutete, daß der Rest von Thalias Hochzeitszug in der letzten Nacht Henner-Theel erreicht hatte, samt Troß, Wachmann­schaft und Gepäck. Früher oder später muß­ten Banjar, Päär und Atlan die Prinzessin dort abliefern – auch wenn das offensicht­lich Atlan nicht sonderlich behagte. Wenn er im Kreis der Hofleute aber eine ähnliche dreiste Sprache führte, dann saßen Banjars, Päärs und Atlans Köpfe nicht fester auf den Hälsen als ein Stäubchen Halt hatte im Sturm.

Banjar entschloß sich, Atlan beizeiten auf sein unmögliches Benehmen aufmerksam zu machen. Der Mann schien keine sehr gute Kinderstube genossen zu haben.

Die Gruppe ließ sich nun Zeit. Zwar war es unterdessen dämmerig geworden, aber

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von den Marschierern hatte keiner mehr die Kraft, ein flottes Tempo einzuschlagen.

Banjar ging voran, da er sich in diesem Gebiet am besten auskannte. Das war zwar einigermaßen übertrieben, aber Banjar fühlte sich in dieser Führungsrolle wohl. Päär hatte sichtlich Mühe mit seinen Waffen. So stolz er früher auf seine Ausrüstung gewesen war, so mühselig wurden ihm die Kampfgeräte nach Stunden des Schleppens.

Atlan marschierte schweigend. Nur ab und zu murmelte er etwas, das niemand ver­stand. Sein Gesicht wirkte abwesend, als spräche er wieder mit seiner inneren Stim­me, dachte Banjar.

Auf dem Boden der Plattform waren bei beginnender Dämmerung die Richtungsmar­kierungen zu sehen. Vom salzigen Wind rasch abgetragen, wurden sie in monatlichen Abständen erneuert. Auch das gehörte zu den vielfältigen Funktionen der Wärterbun­ker.

Anhand der Fahrbahnmarkierung war es recht einfach, sich zu orientieren. Banjar schlug zielgewiß die Richtung ein, die ihn zu seinen Eltern führen mußte, obwohl ihm bei dem Gedanken fröstelte, mit leeren Hän­den nach Henner-Theel zurückkehren zu müssen.

Es war bereits Nacht, als sich das erste Zeichen von Leben zeigte.

Banjar sah Lichter glühen, weit voraus und in regelmäßigen, kurzen Abständen. Es war nicht schwer, darin die Lichter eines Zu­ges zu vermuten. Banjar brauchte auch nicht viel Zeit, herauszufinden, um was für einen Zug es sich handelte – angesichts der Ab­messungen konnte dies nur der Brautzug von Thalia sein.

Die Lichterkette schien sich von Horizont zu Horizont zu erstrecken. Das war zwar ei­ne optische Täuschung, aber es verdeutlich­te, welche Abmessungen der Transport hatte – Thalias Vater hatte sich nicht lumpen las­sen. Banjar hatte nie zuvor einen derart großen Zug gesehen.

Atlan stieß ein unwilliges Knurren aus, als er erkannte, was da in Marschrichtung zu

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sehen war. Thalias Reaktion war für Banjar nicht erkennbar. Sie schwieg.

»Ich hätte Lust …« »Ja?« Banjar drehte sich herum. Thalias gemur­

melte Bemerkung kam ihm gerade recht. Ir­gendwie mißfiel auch ihm der Gedanke, auf diesen Zug loszumarschieren – angesichts solcher Riesentransporter mit ihren unge­heuer großen Besatzungen kam Banjar sich klein und schäbig vor.

»Laßt nur«, murmelte Thalia. »Mir war nur … irgendwie ist dies alles hier schreck­lich fremd für mich.«

Banjar entging nicht, daß Atlan scharf die Luft einzog. Was hatte das nun wieder zu bedeuten, fragte sich Banjar.

Die Gruppe mußte um den Zug herum­marschieren, danach war der Weg leicht zu finden – er führte an den leuchtenden Bullaugen des Zuges entlang. Aus dem In­nern des Gefährts erklangen, stark gedämpft durch den zentimeterdicken Stahl der Hülle, Musik und Gesang.

Thalia nickte grimmig. »So habe ich mir das auch vorgestellt«,

sagte sie finster. »Ich gelte als tot und ver­mißt – aber meine Begleitung feiert. Wenn dies Freunde sind, dann möchte ich keine Feinde haben.«

»He, ihr da? Was wollt ihr hier? Und wo kommt ihr her?«

»Wir bringen die Prinzessin«, rief Banjar von weitem.

Er konnte hören, wie die Posten mit ihren Waffen klapperten. Seine Auskunft schuf in den Reihen der Zugbegleiter hörbar Verwir­rung.

»Bleibt stehen, oder ihr bekommt einen Bolzen zu schmecken.«

Atlan murmelte eine Verwünschung. »Genau so habe ich mir das vorgestellt«,

kommentierte Päär bitter.

10.

Der Meisterträumer konnte mit der Ent­wicklung der Dinge zufrieden sein.

Zum einen verhielten sich die beiden neu-en Gefangenen, Atlan und Thalia, so, wie sie sich nach den Bedingungen des Szenariums zu verhalten hatten. Zum anderen war Lä­nerth die Selbstintegration in das Szenarium so leicht und einfach geglückt, wie er sich das vorgestellt hatte.

Natürlich barg diese Vorgehensweise Ri­siken in sich.

Eines dieser Risiken wurde Länerth ziem­lich bald bewußt. Er hatte es versäumt, in das Szenarium einige wichtige Stressoren einzuführen, die er für unabdingbar erachte­te, um den latenten Widerstandswillen der störrischen Gefangenen zu überwinden.

Zu Länerths Betrübnis hatten sich Atlan und Thalia zwar dem Szenarium eingefügt, sie arbeiteten aber so eng auf der Ebene des Szenariums mit, daß sie nicht dazu kamen, ihre eigenen Informationen in das Szenari­um einzuarbeiten.

Dergleichen war dem Meisterträumer noch nie untergekommen.

In der Regel – und Länerth kannte genü­gend Fälle, um hinlänglich gesicherte empi­rische Regeln aufstellen zu können – rebel­lierten die Gefangenen gegen das Szenari­um.

Die Kunst des Meisterträumers bestand nun unter anderem darin, diesen Widerstand ins Leere laufen zu lassen. Im gleichen Maß, in dem der Gefangene tobte, verriet er, was er geheimhalten wollte – und bekam die Ge­heiminformationen ersetzt durch die Daten des Szenariums. Im Fall der beiden neuen Gefangenen wollte dieser Trick nicht ver­fangen. Sie wehrten sich einfach nicht ge­nug. Statt dessen paßten sie sich vordergrün­dig den Gegebenheiten des Szenariums an und behielten ihre wichtigen Informationen für sich. Es würde einer subtilen Technik be­dürfen, die Geheimnisse aus den beiden förmlich herauszukitzeln.

Länerth freute sich schon auf diese Auf­gabe. Er war sicher, das Problem Atlan/ Thalia in kurzer Zeit gelöst zu haben. Zu­nächst aber desintegrierte er sich aus dem Szenarium und programmierte in den Ablauf

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der Geschehnisse einige markante Stresso­ren ein, deren Eigentümlichkeiten er einem früheren Szenarium entnommen hatte. Da­mals hatten sich diese Stressoren als durch­aus wirksam erwiesen, warum nicht auch im Puer-Szenarium. Der Haken bestand zwar darin, daß diese Stressoren so markant wa­ren, daß sie das Leben kosten konnten, aber das traf nur für die normalen Bewohner des Szenariums zu, nicht für den Meisterträu­mer. Länerth konnte sich jederzeit blitz­schnell aus Ort und Zeit der Gefahr entfer­nen – und damit waren auch die besonders wichtigen Gefangenen geschützt, auf deren Schicksal Länerth jederzeit massiv Einfluß nehmen konnte.

Bevor er in das Szenarium zurückkehrte, überdachte Länerth noch einmal seine Stra­tegie.

Er stellte eine Verbindung mit Yärling her – vorsichtshalber. Es konnte nie schaden, wenn man sich vor einer kitzligen Entschei­dung Rückendeckung durch Vorgesetzte holte, auch wenn diese Vorgesetzten Schwachköpfe waren.

»Nun?« fragte Yärling knapp. »Ergebnisse?«

»Nicht sehr viele, Kommandant«, gab Lä­nerth zu.

»Es mißfällt mir, das zu hören«, sagte Yärling scharf. »Wird meine Hilfe ge­braucht?«

»Ich muß mich entscheiden«, sagte Lä­nerth. »Ich habe das Gefühl, daß wir in der gewünschten Schnelligkeit nur dann an die wichtigen Informationen herankommen, wenn wir entweder zu rabiaten Mitteln grei­fen …«

»… was ich schon von Anfang an vorge­schlagen habe«, warf Yärling ein.

»… oder aber, wir arbeiten mit Emotio­schocks. In diesem Fall müßten wir nur ei­nes der beiden Exemplare opfern. Habe ich dazu die Erlaubnis? Nicht, daß ich das für unabwendbar halte – aber ich möchte für al­le Eventualitäten vorbereitet sein.«

»Welches Exemplar wollen sie opfern?« Länerth hatte die Antwort vorbereitet.

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»Zunächst einmal ein paar Dutzend der bereits vor längerer Zeit integrierten aus dem Puer-Szenarium. Ich halte das für das geringste Opfer. Vor allem gefährdet es das Gesamtszenarium nicht.«

»Und danach, wenn dieses Mittel ver­sagt?«

Länerth zögerte einen Augenblick lang. »Nun«, sagte er dann gedehnt. »Bei den

beiden handelt es sich offenbar um lebend­gebärende Lebewesen. Dabei scheint das Exemplar Thalia das austragende Exemplar zu sein. Aus mir unerfindlichen Gründen scheinen in der Welt dieser Lebendgebärer die Austragenden als geringwertiger angese­hen zu werden.«

»Sie wollen also das mindere Exemplar opfern, Thalia?«

Länerth machte eine Geste der Zustim­mung.

»Ich würde nur ungern dazu greifen«, sagte er hastig. »Das Mittel erscheint mir nicht subtil genug. Das ist nicht meine Me­thode, aber wenn schnelle Arbeit gefordert wird …«

»Die Erlaubnis wird erteilt«, sagte Yär­ling nach kurzem Zögern. »Ich erwarte Mel­dung, wenn es wichtige Veränderungen gibt.«

Yärling trennte die Verbindung. »Wichtigtuer«, murmelte Länerth. Dann

machte sich der Meisterträumer wieder an die Arbeit.

*

Die Wachen trugen Armbrüste. Die Fin­ger hatten sie an den Abzugshebeln, auf den gespannten Waffen lagen die Bolzen schuß­bereit. Der Anblick der gefährlichen Waffen verstärkte noch die Wirkung der abweisend grimmigen Mienen der Wachen.

Banjar wußte, daß gegen diese fürchterli­chen Waffen keine Tapferkeit der Welt half. Bislang kannte Banjar solche Waffen nur vom Hörensagen, jetzt sah er sie zum ersten Mal mit eigenen Augen, und der Anblick war wahrhaft beängstigend – obwohl es

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hieß, daß diese besonderen Waffen das Ende aller Kriege und Konflikte bedeuten sollten.

Denn, so fragten zu Recht die Vertreter dieser These, was sollte gegen einen Bolzen helfen, der mit solcher Gewalt auf einen ab­geschossen wurde? Wer immer dem Arm­brustschützen gegenübertreten mußte – er war von vorneherein verloren.

Der einzige, der sich von diesem Anblick weder verwirren noch beeindrucken ließ, war Atlan. Während Päär nicht verhindern konnte, daß er blaß wurde, würdigte Atlan die Armbrustträger kaum eines Blickes. Auch Thalia zeigte sich unbeeindruckt.

»Was wollt ihr?« fragte der Wachhaben­de, ein hünenhafter Mann mit einer finger­breiten Narbe über der rechten Wange.

»Ich bin Thalia«, sagte die Frau ruhig. Der Soldat sah sie zweifelnd an. »Seeräuber haben meinen Zug überfallen

und mich verschleppt. Diese Männer haben mich gerettet.«

Der Soldat grinste breit. »Was nicht gar?« höhnte er. »Aus der

Hand der Seeräuber befreit, einfach so?« Seine Brauen zogen sich drohend zusam­

men. »Redet keinen Unfug, der euch den Kopf

kosten kann. Gebt es zu, ihr seid eine ver­hungerte Bande von Wegelagerern.«

»Das verhungert kann stimmen«, sagte Atlan lächelnd. »Und Durst haben wir auch.«

»Kerl!« brüllte der Wachhabende so laut, daß seine Soldaten erschraken. »Was fällt dir ein, du Lump. Ich werde dir das Fell von den Knochen gerben lassen, wenn du nicht endlich die Wahrheit sagst und dich gebüh­rend beträgst.«

Atlan zog nur eine Braue in die Höhe, ei­ne unnachahmliche Geste der Verachtung.

»Wo ist mein Gefolge?« fragte Thalia. Sie streckte die linke Hand aus. Am Zeigefinger glänzte ein mattgoldener Ring. Die Kamee darauf zeigte Thalias Gesichtszüge.

Der Posten sah das Schmuckstück, riß die Augen auf und erstarrte förmlich.

»Bei allen Meerteufeln …«, stotterte er

plötzlich. »Ihr seid …« »Ich sagte es bereits«, erklärte Thalia ge­

lassen. »Und jetzt würde ich gerne etwas zu mir nehmen.«

»Heda, sputet euch, Leute!« Der Offizier klatschte in die Hände. Er

wirkte plötzlich sehr eilfertig, fand Banjar. Ein großes Maul hatte er wohl nur, wenn er sich überlegen dünkte.

Die Soldaten spritzten förmlich auseinan­der und kehrten nach kurzer Zeit mit Nah­rungsmitteln und einem Krug Bier zurück. Das Bier war ein wenig säuerlich, ließ sich aber trinken, stellte Banjar fest.

Die Situation behagte ihm. Selbst der An­führer der Armbrustschützen behandelte ihn mit einem gewissen Respekt.

Banjar ließ es sich schmecken. Er hatte sich im Eingang des Zuges ein Plätzchen ge­sucht. Man hatte eine Seitenwand des Zuges hochgeklappt und an den Kanten Leinwände festgemacht. Auf diese Weise war ein geräu­miges Zelt entstanden, windgeschützt und trocken, aus dem Innern des Zuges mit Warmluft geheizt. Einmal mehr beneidete Banjar die Besatzungen der großen Konti­nentalzüge um die Annehmlichkeiten ihres Lebens. Dort mitfahren zu dürfen – das reine Paradies, dachte Banjar.

»Ich sah dich nie unter meinen Wachen«, erklärte Thalia nach einigen Bissen. Sie aß sehr langsam, sich ihrer hohen Stellung be­wußt. Und Atlan hielt sich, wie Banjar mit leichtem Grimm feststellte, offenbar auch für vornehm und tat es ihr nach.

»Das liegt vielleicht daran«, sagte der Wachhabende und verneigte sich, »daß ich nicht die Ehre habe, zu Eurer Hoheit Wach­mannschaft zu gehören.«

»Nicht?« Banjar runzelte die Stirn. »Ist denn dies nicht mein Zug? Ich wun­

derte mich schon, daß keine meiner Jungfern mir die Ehre geben will.«

Der Wachhabende lachte laut. »Wenn Ihr in diesem Zug eine Jungfer

finden solltet, Prinzessin, dann sagt es mir … Verzeihung.«

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Thalia winkte ab. »Ich wollte …«, stotterte der Wachhaben­

de, der sich schlagartig darüber klargewor­den war, daß man in der Gegenwart einer Prinzessin dergleichen Anzüglichkeiten bes­ser unterließ, wenn man seinen Hals nicht mit des Seilers Tochter bekannt machen wollte.

»Wem gehört dieser Zug?« Thalias Frage war knapp, freundlich aber

bestimmt. »Nun, wenn Ihr die Prinzessin Thalia

seid, die Tochter des Dirigenten Habos Ma­tera …«

»Urenkelin«, verbesserte Thalia gelassen. »… dann solltet Ihr es eigentlich wissen.

Also dies ist der Zug von Keschmal Schado, dem Superintendenten von Äleas, seiner Ho­heit, der …«

»Keschmal reist mir entgegen?« Der Soldat hustete. Er war es offenbar

nicht gewohnt, daß man von seinem Herrn so lapidar sprach.

»Er wollte Euch bereits auf der Brücke in Empfang nehmen«, sagte der Wachhabende. »Zum Zeichen, welchen Wert er dieser Hei­rat beimißt. Vielleicht wollte er auch nur …«

Der Mann lief wieder rot an. Er schien ei­ne sehr schmutzige Phantasie mit einem übermäßig entwickelten Schamgefühl zu verbinden, eine ausgesprochene Seltenheit, dachte Banjar spöttisch. Er grinste innerlich, als er Päärs entgeisterte Miene sah. Für den Jungen waren solche Wortwechsel natürlich noch befremdlich.

»Wo ist Schado?« Atlans Stimme klang scharf. Der Posten

wandte sich um. »Wer ist der Kerl, daß er so redet?« fragte

der Wachhabende. »Ich sollte ihn in Ketten legen lassen.«

»Beantwortet seine Frage«, bestimmte Thalia.

Der Wachhabende zögerte. Er mußte zwangsläufig in Thalia die zukünftige Gattin des Superintendenten sehen – aber dieser Superintendent besaß bereits siebenunddrei-

Peter Terrid

ßig Ehefrauen. Von den Frauen, denen er zur linken Hand angetraut war, wollte der Wachhabende gar nicht erst reden.

Thalias Blick bedeutete dem Posten, daß sich diese Frau in der langen Reihe nicht hinten anstellen würde – Thalia würde sich mit keinem anderen Rang als der der ersten Frau zufriedengeben.

»Er ist unten«, sagte der Wachhabende schließlich. »Soll ich Euch zu ihm führen?«

Thalia sah zur Seite. Atlan hatte die Lip­pen aufeinandergepreßt und ballte die Fäu­ste. Banjar entging beides nicht, und beides erfüllte ihn mit nicht geringer Sorge.

Dieser Bursche Atlan, nun, mochte er mit dem Gedanken spielen, der Prinzessin zu ge­fallen, aber er würde doch wohl nicht ernst­lich so verrückt sein, einem Keschmal Scha­do die Frau streitig zu machen …

»Oh nein«, seufzte Banjar kaum hörbar. Er würde.

»Führt uns!« »Alle?« Thalia nickte, der Wachhabende zuckte

mit den Schultern. »Nicht ohne Bedeckung«, sagte er dann.

»Ihr beide kommt mit.« Er deutete auf zwei seiner Untergebenen,

die sofort zu ihren Armbrüsten griffen. Vor Thalia mochten die beiden großen Respekt haben; Banjar einen Bolzen in den Leib zu schießen, würden sie schwerlich zögern, das war ihren Gesichtern zu entnehmen.

Der Wachhabende ging voran. Der Eingang ins Innere des Wärterbun­

kers Henner-Theel war bald erreicht, der Zug Keschmal Schados hatte in unmittelba­rer Nähe angehalten. Breite Treppen führten in den Bunker hinab – aber sie waren, Ban­jar verwunderte sich sehr darüber, nicht be­wacht.

Im ersten Deck unter der Oberfläche war nicht ein einziger Bewohner des Bunkers zu finden, nicht einmal ein Nachtwächter. Ban­jar bekam es mit der Angst zu tun. Seine Be­sorgnis gründete sich nicht zuletzt darauf, daß in den Decks unmittelbar unter der Oberfläche Güter gelagert wurden, Stückgut

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von geringem Wert, Massenware, aber im­merhin.

Banjars Sorgen verstärkten sich, als er auch in den beiden nächsten Etagen keinen Bekannten traf. Dabei wurden in diesen Stockwerken wertvolle Dinge gelagert, edle Tuche, Spezereien, Geschmeide, Kostbar­keiten aller Art. Mit dem letzten Transport waren fünfzig Mannlasten Räucherwerk ge­liefert worden, und nicht einmal diese Fracht wurde bewacht – es sei denn, man wollte die grinsenden Soldaten mit dem Abzeichen Ke­schmal Schados auf der Brust als Wachen ansehen.

»Etwas ist faul«, murmelte Banjar. »Ruhe!« knurrte der Wachhabende. Immer tiefer stieg die Gruppe in den Bun­

ker hinab. Wo war die Besatzung geblieben, wo die Menschen, die hier lebten und arbei­teten? Die Wärterbunker waren beinahe aut­ark, nur wenige Dinge mußten von weither herangeschafft werden. Der weitaus größte Teil der Produktionsstätten lag knapp über dem Meeresniveau, und bis dahin war es noch weit. Die Tatsache aber, daß sich im oben gelegenen Drittel von Henner-Theel kein bekanntes Gesicht zeigte, rief in Banjar ein immer größer werdendes Gefühl der Be­klemmung hervor.

»Wo sind die Leute geblieben, die hier le­ben?«

Päär hatte die Frage gestellt. Der Offizier verzog das Gesicht zu einem

bösartigen Lächeln. »Sie feiern«, sagte er spöttisch. »Sie sit­

zen unten zusammen mit seiner Hoheit und feiern seine Ankunft.«

Banjar konnte den Spott gleichsam kör­perlich fühlen. Dann aber ertönte im Trep­penhaus Gesang, der allmählich lauter wur­de. Sollte der Posten die Wahrheit gesagt ha­ben?

Sie mußten fast dreißig Decks in die Tiefe steigen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Ban­jar wußte, daß auf diesem Niveau die große Festhalle zu finden war.

Der Boden vibrierte leicht, und über die Gänge klang Stimmenlärm. In der Luft hing

ein unverkennbarer Geruch von Alkohol. Musik wurde gespielt, mehr laut als gut, aber ein Zeichen mehr, daß tatsächlich ge­feiert wurde.

Fanfaren wurden gespielt, als die großen Bronzetüren geöffnet wurden. Der Wachha­bende hatte den Zeremonienmeister des Su­perintendenten rechtzeitig informiert.

Banjar stand links hinter Atlan, der sich beharrlich an Thalias rechter Seite hielt. Zwischen den beiden hindurch konnte Ban­jar in den Saal hineinsehen. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Es hörte sich so an, und es sah auch alles danach aus – hier wurde ein großes Fest ge­feiert, und die Mienen der Gäste bewiesen, daß kein Zwang nötig gewesen war, obwohl …

An den Wänden standen Keschmal Scha­dos Elitesoldaten, die Pikeniere und Arm­brustschützen, mit versteinert wirkenden Gesichtern. Am hinteren Ende des riesenhaf­ten Saales, dort wo bei den großen Feiern den Göttern geopfert wurde, hatte man einen Baldachin errichtet, darunter stand, im Licht der Deckenbeleuchtung glitzernd von Ge­schmeide, ein Sessel. Der zweite Sitz, etwas kleiner, zur Linken des ersten, war wohl für die Prinzessin bestimmt.

»Ihre Hoheit, Thalia«, trompetete der Ze­remonienmeister und fügte eine endlos er­scheinende Liste von Ehrentiteln und würdi­gen Vorfahren an, die Banjar sofort wieder vergaß.

Die Gäste hatten sich erhoben. Weit ent­fernt sah Banjar seine Eltern, sie sahen gut aus. Banjar atmete erleichtert auf, er konzen­trierte sich auf das Geschehen um seine Be­gleiter.

Durch den breiten Mittelgang schritten die Besucher auf Keschmal Schado zu. Er hatte sich erwartungsvoll erhoben.

Er war fett, einäugig, schwarzhaarig und stank nach Schweiß und Parfümen. Seine Zähne waren löchrig wie die Kontinental­brücke. Keschmal Schado stellte das wider­lichste, häßlichste, abstoßendste Exemplar Mensch vor, das Banjar jemals gesehen hat­

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te. Die Vorstellung, daß dieses Scheusal … »Willkommen«, sagte Keschmal Schado

mit einer Stimme, die fettgetränkt und parfü­miert klang. »Ich harrte Eurer voller Sehn­sucht, deshalb eilte ich Euch entgegen. Nehmt Platz, Teuerste.«

Wie betäubt schritt Thalia die sechs Stu­fen zu Keschmal Schado hinauf.

Banjar glaubte spüren zu können, wie sein Herz stehenblieb.

Atlan geleitete Thalia hinauf. Keschmal Schado stand einen Augenblick

lang starr, dann grinste er in einer Weise, die einem Zuschauer den Magen umdrehen konnte.

»Bursche«, sagte Keschmal Schado. »Du scheinst gute Manieren und Frechheit zu verwechseln. Solch ein Bubenstück wagte noch keiner mit Keschmal Schado.«

Er sprach leise und höflich, im Hinter­grund seiner Stimme aber grollte der ver­nichtende Sturm. Und Keschmal Schados Stimme wurde lauter.

»Wer bist du, daß du solches wagst? Wie nennst du dich, du Hund? Rede, du Stück Aas, rede, bevor ich dich mit deinen Einge­weiden werde erdrosseln lassen. Rede,

Peter Terrid

Mann, rede – wer wagt es, seine verdreckte Hand auf die meines Weibes zu legen? Wel­chem Meeresscheusal verdankst du dein nichtswürdiges Leben.«

Keschmal Schado unterbrach sich. Atlan stand ruhig vor ihm, öffnete den Mund. Kalt und scharf, aber ruhig und fest, stand seine Stimme klar im Raum.

»Ich bin Atlan, Kristallprinz des Großen Imperiums, Sohn und Erbe seiner Allesse­henden, Tausendäugigen Erhabenheit Gono­zal des VII. Wer die Hand wider mich aus­streckt, ist des Todes.«

Keschmal Schado lachte. »Erfreut, Erhabener«, sagte er und deutete

eine Verbeugung an. »Ich bin beglückt, eure Bekanntschaft zu machen.«

*

Den Meisterträumer durchströmte ein warmes Gefühl der Freude. Gefangen. Er hatte den Gimpel im Netz. Man mußte ihn nur noch rupfen.

E N D E