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Seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen nach § 35a SGB VIII Möglichkeiten und Grenzen professioneller Hilfe Pia Büscher veröffentlicht unter den socialnet Materialien Publikationsdatum: 21.11.2017 URL: https://www.socialnet.de/materialien/27953.php

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  • Seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen nach § 35a SGB VIIIMöglichkeiten und Grenzen professioneller Hilfe

    Pia Büscher

    veröffentlicht unter den socialnet MaterialienPublikationsdatum: 21.11.2017URL: https://www.socialnet.de/materialien/27953.php

  • Fachbereich Sozialwesen Studiengang Soziale Arbeit BA

    Bachelorarbeit zur staatlichen Abschlussprüfung

    Seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen nach § 35a SGB VIII.

    Möglichkeiten und Grenzen professioneller Hilfe

    Vorgelegt von: Pia Büscher

    Matrikel-Nr.: 1035788

    [email protected]

    Semester: WS 2016/2017

    Erstleser: Herr Prof. Dr. Holger Hoffmann

    Zweitleserin: Fachlehrerin Frau Hildegard Schumacher-Grub

    Bielefeld, 07.12.2016

  • 1. Einleitung ............................................................................................................ 3

    2. Klärung des Begriffes „seelische Behinderung“ .............................................. 4

    3. Rechtliche Grundlagen des Leistungsanspruches für seelisch behinderteKinder- und Jugendliche .................................................................................... 6

    3.1. Voraussetzung für die Anwendung des § 35a SGB VIII .............................. 7

    3.1.1. Störungsbilder der ICD – 10 .................................................................. 7

    3.1.2. Verfahren zur Feststellung der Abweichung von der seelischen Gesundheit .............................................................................................. 9

    3.1.3. Ärztliche Musterstellungnahme ........................................................... 12

    3.1.4. Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung ........................................... 13

    3.2. Aufgabe und Ziel der Eingliederungshilfe des SGB VIII in Bezug auf weitere Sozialgesetzbücher ......................................................................... 15

    4. Geschichtliche Hintergründe für die Einführung des § 35a SGB VIII ....... 17

    5. Entwicklungs-/ Verhaltensauffälligkeit, oder seelische Behinderung? ....... 19

    6. Möglichkeiten und Grenzen professioneller Hilfen nach § 35a SGB VIII .. 22

    6.1. Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII im System der Erziehungshilfe . 22

    6.2. Handlungsmöglichkeiten auf der Grundlage von § 35a SGB VIII ............. 23

    6.3. Grenzen und Problemlagen des § 35a SGB VIII ........................................ 26

    6.4. Der Hilfeplan gemäß § 36 SGB VIII ........................................................... 29

    7. Diskussion und Ausblick .................................................................................. 31

    7.1. Menschenbild der UN-Behindertenrechtskonvention ................................. 31

    7.2. Änderungsvorschläge zur Optimierung der Gesetzeslage ........................... 33

    7.3. Die „inklusive Lösung“- der neue Gesetzesentwurf und seine Folgen für die Praxis ........................................................................................................... 35

    8. Fazit.................................................................................................................... 40

    9. Literatur- und Quellenverzeichnis .................................................................. 43

    10. Anlage ................................................................................................................ 47

  • 3

    1. Einleitung

    Im Jahr 2013 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 10,2 Millionen

    Menschen mit Behinderung, was einen Anteil der Gesamtbevölkerung von 13%

    ausmacht.

    Von einer Behinderung können Menschen jeder Altersklasse betroffen sein, das

    heißt Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche. Die Zuständigkeit für Kinder

    und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung liegt bei der So-

    zialhilfe (SGB XII). Neben einer geistigen und körperlichen Behinderung, gibt es

    auch seelische Behinderungen. Die seelische Behinderung bei Kindern und Jugend-

    lichen bildet im deutschen Rechtssystem einen Sonderfall, da die Zuständigkeit für

    Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung nicht im SGB XII, son-

    dern im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) liegt. § 35a SGB VIII regelt die Ein-

    gliederungshilfe für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung.

    In den letzten Jahren wurde in der Sozialpolitik vermehrt über das Thema der Be-

    hindertenhilfe in der Jugendhilfe debattiert. Insbesondere befasst sich die Politik, auf

    Forderung der UN - Behindertenrechtskonvention, mit der Gleichberechtigung von

    Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung.

    Begründet mit der Aussage, dass die Trennung der Zuständigkeit zwischen Sozial-

    hilfe und Kinder - und Jugendhilfe für junge Menschen mit Behinderungen viele

    Probleme mit sich bringe, wird nun in einem Gesetzesentwurf zur Reform des SGB

    VIII ein einheitliches Leistungssystem für behinderte Kinder und Jugendliche gefor-

    dert. Dessen Ziel ist es, die soziale Inklusion für alle Kinder und Jugendliche zu

    verwirklichen.

    Die folgende Arbeit befasst sich mit seelischer Behinderung. Es geht darum heraus-

    zustellen, was eine seelische Behinderung ist und welche Leistungsansprüche für

    beeinträchtige Kinder und Jugendliche im deutschen Rechtssystem vorliegen. Zent-

    rale Frage ist, welche Möglichkeiten und Grenzen einer professionellen Hilfe für

    seelisch behinderte Kinder und Jugendliche bestehen. Um zu einer Antwort zu ge-

    langen, werden die rechtlichen Grundlagen mit den bestehenden Handlungsmög-

    lichkeiten der Praxis in Verbindung gebracht. Außerdem wird der Gesetzesentwurf

  • 4

    zur Reform des SGB VIII erläutert werden um einen möglichen Blick in die Zukunft

    zu geben.

    Neben der Vermittlung von rechtlichen Grundlagen soll diese Arbeit auch dazu die-

    nen, den Blick auf Kinder und Jugendliche mit (seelischer) Behinderung in unserer

    Gesellschaft zu sensibilisieren. Wünschenswert ist es, so Ideen zur Förderung ihrer

    Teilhabe in der Gesellschaft für die Praxis zu schaffen.

    Für diese Arbeit wurden über die Literaturrecherche hinaus zwei Experteninterviews

    mit Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Bielefeld geführt. Im Jugendamt der Stadt

    Bielefeld existiert seit dem 01.04.2014 eine Fachstelle, die sich ausschließlich mit

    der Eingliederungshilfe befasst. Das erste Interview wurde mit einer Mitarbeiterin

    geführt, welche im Bereich der ambulanten Eingliederungshilfen arbeitet, das zweite

    Interview mit einer Mitarbeiterin aus dem Bereich der stationären Eingliederungshil-

    fen. Die im Interview gestellten Fragen sind dieser Arbeit als Anlage angehängt, die

    geführten Interviews liegen als Audiodateien bei. Erkenntnisse aus den Interviews

    fließen an gekennzeichneten Stellen in die gesamte Arbeit mit ein.

    Der Einfachheit halber wird der § 35a SGB VIII im Folgenden mit § 35a abgekürzt.

    2. Klärung des Begriffes „seelische Behinderung“

    Im Kinder- und Jugendhilfegesetz bestimmt § 35a die Eingliederungshilfe für see-

    lisch behinderte Kinder und Jugendliche. Doch was genau bedeutet „seelisch behin-

    dert“?

    Als erkannt wurde, dass es psychische Krankheiten ohne Einschränkung der intel-

    lektuellen Fähigkeiten gibt und dass Verhaltensstörungen nicht grundsätzlich auf

    defizitärer Erziehung beruhen, kam der Begriff der seelischen Behinderung auf. So-

    mit ist seelische Behinderung die jüngste differenzierte Behinderungsform.1

    1 Lempp, 2006, S.20.

  • 5

    Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert2 beschreibt seelische Behinderung als

    Folge- oder Begleitzustand einer psychischen Erkrankung, welcher Schwierigkeiten

    in der Bewältigung von Alltagsaufgaben als auch in sozialen und kommunikativen

    Beziehungen mit sich zieht. Seiner Ansicht nach können grundsätzlich alle psychi-

    schen Störungen des Kindes- und Jugendalters zu einer seelischen Behinderung füh-

    ren.

    Gemäß Münder und Trenczek3 ist seelische Behinderung ein andauernder Folgezu-

    stand einer psychischen Erkrankung, der die Ausübung sozialer Funktionen und

    Rollen beeinträchtigt.

    Allerdings existiert bis heute keine vollständig objektive Definition von seelischer

    Behinderung. Da sich diese Arbeit mit der Eingliederungshilfe in der Kinder- und

    Jugendhilfe befasst, bezieht sich seelische Behinderung folglich auf die rechtliche

    Definition: Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, „wenn ihre körper-

    liche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrschein-

    lichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab-

    weicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie

    sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“.

    Grundvoraussetzung zur Feststellung einer (drohenden) seelischen Behinderung ist

    die Gefährdung der psychosozialen Integration und der Entwicklung des Kindes

    oder Jugendlichen. Eine seelische Behinderung liegt nur dann vor, wenn die Funkti-

    onsbeeinträchtigung des Kindes oder Jugendlichen dessen Teilnahme am Leben in

    der Gesellschaft einschränkt.

    In § 35a Abs. 3 wird auf einzelne Bestimmungen des SGB XII verwiesen. Zur Aus-

    führung dieser Bestimmungen wurde die Verordnung nach § 60 SGB XII, die Ein-

    gliederungshilfe- Verordnung, erlassen. Dementsprechend nimmt § 35a zur Be-

    stimmung des Begriffes „seelische Störung“ indirekt Bezug auf die Eingliederungs-

    hilfe- Verordnung. Gemäß § 3 dieser Verordnung sind seelische Störungen, die eine

    wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit haben können:

    2 1996, S. 34. 3 2015, Rn. 427.

  • 6

    1. körperlich nicht begründbare Psychosen

    2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Ge-

    hirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen

    Beeinträchtigungen

    3. Suchtkrankheiten

    4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen 4

    Dieser Katalog der seelischen Störungen ist jedoch sehr grob, er orientiert sich an

    psychiatrischen Krankheitsgruppen, die vorwiegend auf Erwachsene zugeschnitten

    sind. Der Forderung nach einem zeitgemäßen Katalog von Störungsbildern kam der

    Gesetzesgeber nach, indem nach § 35a Abs. 1a S.2 die seelische Störung auf Grund-

    lage der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD) festzustellen ist.5

    Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Behinderung dennoch kein objektivierbarer

    Tatbestand ist, sondern die Wahrnehmung einer Situation beinhaltet und eine Frage

    der jeweiligen Interpretation und Einschätzung ist.6

    3. Rechtliche Grundlagen des Leistungsanspruches für see-

    lisch behinderte Kinder- und Jugendliche

    Die in § 35a genutzte Formulierung des Begriffes Behinderung bezieht sich grund-

    sätzlich auf die Definition von Behinderung gemäß § 2 Abs.1 SGB IX, wie sie oben

    bereits erläutert wurde.

    Bezüglich einer drohenden Behinderung trifft § 35a jedoch strengere Regeln, da der

    Begriff „seelische Behinderung“ von Beginn an umstritten war. So sind Kinder und

    Jugendliche gemäß § 35a Abs. 1 S.2 nur dann von Behinderung bedroht, wenn die

    Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zu

    4 Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 35a Rn. 6. 5 Kepert/ Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.) 2016, § 35a Rn. 11; ebenso Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 35a Rn. 6. 6 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenzcek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 17.

  • 7

    erwarten ist. Eine hohe Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn die Behinderung mit ei-

    ner Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50% zu erwarten ist.7

    3.1. Voraussetzung für die Anwendung des § 35a SGB VIII

    Der rechtliche Anspruch auf Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche gemäß

    § 35a ist nach Abs. 1 S. 1 an zwei Tatbestandsmerkmale gebunden.

    Zum einen muss die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem

    für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Zum anderen muss aufgrund des-

    sen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt, oder eine solche Be-

    einträchtigung zu erwarten sein. Um die Zweigliedrigkeit des Behinderungsbegrif-

    fes zu verdeutlichen, hat der Gesetzgeber die beiden Tatbestandsmerkmale durch

    zwei Nummern voneinander getrennt. Dennoch sind die Tatbestandsmerkmale kau-

    sal miteinander verbunden und müssen kumulativ erfüllt sein. Dies bedeutet, dass

    sich die Abweichung der seelischen Gesundheit und die Teilnahme am gesellschaft-

    lichen Leben gegenseitig beeinträchtigen müssen.8

    Gemäß § 35a Abs. 1a S. 1 ist für die Feststellung, ob eine Abweichung der seeli-

    schen Gesundheit vorliegt, die Stellungnahme eines Arztes oder eines Kinder- und

    Jugendpsychotherapeuten einzuholen. Eine Abweichung im Sinne dieses Satzes ist

    anzunehmen, wenn eine seelische Störung vorliegt.9 Diese Stellungnahme ist nach

    §35a Abs. 1a S. 1 auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten

    (ICD - 10) zu erstellen.

    3.1.1. Störungsbilder der ICD – 10

    Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD - 10) dient zur Diag-

    nose und Klassifizierung von Krankheiten und wurde von der Weltgesundheitsorga-

    7 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013 § 35a Rn. 46. 8 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, §35 a Rn. 6; ebenso Münder/ Trenczek (2015), Rn. 424. 9 Kepert/Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.), 2016, § 35a Rn. 11.

  • 8

    nisation (WHO) erstellt. Sie wird regelmäßig nach neuen Erkenntnissen aktualisiert.

    Die Zahl „10“ beschreibt ihre zehnte Revision.10

    Da das Jugendamt für die Entscheidung über Hilfegewährung nach § 35a zuständig

    ist, ist die Kenntnis der Grundzüge der ICD - 10 unverzichtbar. In Kapitel V (F00-

    F99) der ICD - 10 werden psychische Störungen und Verhaltensstörungen beschrie-

    ben. Demzufolge können als seelische Behinderung nach § 35a alle psychischen

    Störungen im Kindes- und Jugendalter zusammengefasst werden, die sich „einerseits

    als Entwicklungsstörungen gegenüber der geistigen Behinderung abgrenzen lassen

    und als chronische Störungen […] die psychosoziale Entwicklung und Integration

    des Kindes und Jugendlichen nachdrücklich beeinträchtigen.“11

    Zu den Krankheitsbildern, die eine Teilnahmebeeinträchtigung vermuten lassen,

    werden vor allem Suchtkrankheiten (F1) 12, Schizophrenie (F20), affektive Störun-

    gen (F3), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6) sowie emotionale Störun-

    gen des Kindesalters (F93), Anpassungsstörungen (F43.2) und depressive Episoden

    (F32) gezählt. 13

    Für Fachkräfte aus dem Jugendamt ist es wichtig, die Störungsbilder nach ICD - 10

    grundlegend zu kennen, um darauf bezogen Angaben zur Einschränkung der Teilha-

    be machen zu können und individuelle Handlungspläne zu erstellen.

    Bei Schizophrenien und affektiven Störungen beispielsweise, handelt es sich um

    körperlich nicht begründbare Psychosen. Bei diesen Erkrankungen bleiben in der

    Regel nach der akuten Erkrankungsphase psychosoziale Einschränkungen bestehen.

    Die Teilhabebeeinträchtigung ist stark vom individuellen Verlauf der Krankheit ab-

    hängig. Es sind jedoch häufig starke Beeinträchtigungen durch verminderte Aktivi-

    tät, Passivität und Initiativmangel der Jugendlichen zu vermerken. 14

    Persönlichkeitsstörungen können aufgrund der nicht abgeschlossenen Persönlich-

    keitsentwicklung im Kindes- und Jugendalter nicht mit Sicherheit gestellt werden.

    10 vgl. Münder/ Trenczek, 2015, Rn. 425. 11 Lempp, 2004, S. 26 12 Die ICD-10 ist in verschiedene Kapitel aufgeteilt. Kapitel V (F00-F99) umfasst psychische und Verhal-tensstörungen. 13 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 13. 14 Fegert in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 50.

  • 9

    Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind vor allem dissoziale oder emotional

    instabile Persönlichkeitsstörungen von Bedeutung. Jugendliche mit diesen Störungs-

    bildern fallen oft durch Missachtung der Regeln auf und haben unter anderem eine

    hohe Reizbarkeit und eine geringe Frustrationstoleranz. Die Beeinträchtigung der

    Teilhabe wird in diesen Fällen meist durch die scheinbare Unfähigkeit Beziehungen

    einzugehen, verstärkt. Die Eingliederungshilfe soll an dieser Stelle ansetzen, um den

    Aufbau stabiler Beziehungen zu unterstützen und die soziale Funktionsfähigkeit

    (wieder) herzustellen. 15

    Aus dem Experteninterview mit der Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshil-

    fe ist hervorgegangen, dass im Jugendamt Bielefeld zwei Psychologen arbeiten,

    welche „oftmals mit in schwierigen Fällen involviert“ (05:35) sind, und dass die

    Mitarbeiter der Fachstelle durch den Austausch mit den Psychologen „sehr viel über

    die Störungsbilder“ (07:10) lernen. Es scheint also ein gutes Konzept zu sein, für die

    Eingliederungshilfe eine Fachstelle in den Jugendämtern einzurichten, da die Mitar-

    beiter und Mitarbeiterinnen, die sich ausschließlich mit dieser Thematik befassen,

    geschulter im Umgang mit seelischen Behinderungen sind.

    3.1.2. Verfahren zur Feststellung der Abweichung von der seelischen Gesund-

    heit

    Das in § 35a Abs. 1a beschriebene Verfahren zur Feststellung einer Abweichung

    von der alterstypischen seelischen Gesundheit, schreibt in S.1 den Kreis der Gutach-

    ter vor und in S. 2 die Basis der Begutachtung vor. Das Gutachten muss aktuell sein.

    Gutachter können Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, oder approbierte

    Kinder- oder Jugendpsychotherapeuten sein. Das Jugendamt hat darüber zu ent-

    scheiden, ob der Gutachter dem in S.1 genannten Kreis der Berufe angehört. Zur

    Mitwirkung bei der der Einholung der Stellungnahme sind die Leistungsberechtigten

    verpflichtet. 16 Gemäß § 35a Abs. 1 S. 4 soll die Eingliederungshilfemaßnahme nicht

    vom Gutachter, bzw. der Einrichtung welcher er angehört, erbracht werden. So wer-

    den Interessenskollisionen vermieden.

    15 Fegert in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 63, 66. 16 Kepert/ Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.), 2016, § 35a Rn. 14.

  • 10

    Da die Diagnostik einer psychischen Störung zu Leistungen der gesetzlichen Kran-

    kenversicherung (SGB V) gehört, kann sie über die Krankenkasse des jungen Men-

    schen, bzw. dessen Eltern als gesetzliche Vertreter, abgerechnet werden. Wenn kei-

    ne gesetzliche Krankenversicherung besteht, gibt es zwei weitere Möglichkeiten. So

    könnte erstens bei Vorliegen eines schriftlichen Auftrages zu einem Gutachten, die-

    ses über das Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG) nach dem Satz für

    „Einfache gutachterliche Beurteilungen“ abgerechnet werden. Um Konflikte zu um-

    gehen, bildet die zweite Möglichkeit eine direkte Absprache mit dem Jugendamt,

    dass ein spezifischer Erstattungsbetrag für die Stellungnahme vereinbart wird.17

    Grundlage der Begutachtung muss gemäß § 35a Abs. 1a S. 2 die ICD - 10 in der

    vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausge-

    gebene deutsche Fassung sein.18

    Für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD - 10 wurde ein

    multiaxiales Klassifikationsschema eingeführt, welches sechs Achsen umfasst:

    Achse I: Klinisch- psychiatrisches Syndrom Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörung Achse III: Intelligenzniveau Achse IV: Körperliche Symptomatik oder Krankheiten aus anderen Kapiteln der

    ICD - 10 Achse V: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände Achse VI: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Adaption/

    Beeinträchtigung). 19

    Zur Diagnostik ob ein klinisch- psychiatrisches Syndrom (Achse I) vorliegt, sind die

    wissenschaftlich ankerkannten Verfahren wie beispielsweise Persönlichkeitstests,

    Interaktionsbeobachtungen, Fragebogen und Schätzskalen zur psychischen Entwick-

    lung auszuwerten. 20

    17 Fegert u.a., 2008, S. 181. 18 Kepert/ Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.), 2016, § 35a Rn.15. 19 Meysen in: Münder/ Meysen/ Tenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 21. 20 ebd. § 35a Rn. 22.

  • 11

    Die in Achse II umschriebenen Entwicklungsstörungen haben die Merkmale, dass

    ihr Beginn in der frühen Kindheit liegt, eine Einschränkung oder Verzögerung eini-

    ger Funktionen vorliegt, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verknüpft

    sind, und dass sie einen stetigen Verlauf nehmen. 21

    Das Intelligenzniveau (Achse III) wird gemessen und in acht Kategorien von weit

    überdurchschnittlicher Intelligenz- IQ über 129 bis zur schwersten Intelligenzminde-

    rung/ intellektuellen Behinderung- IQ unter 20, eingeteilt. Bei einem IQ unter 70

    liegt in der Regel eine geistige Behinderung vor. 22

    Körperliche Symptomatik oder andere als psychiatrische Erkrankungen werden auf

    Achse IV kodiert. Auch selbstverletzende Handlungen oder Selbsttötungsversuche

    sollen auf dieser Achse klassifiziert werden.23

    Assoziierte aktuelle abnormale psychosoziale Umstände wie beispielsweise körper-

    liche Misshandlung, sexueller Missbrauch, abnorme Erziehungsmethoden, eine iso-

    lierte Familie, gesellschaftliche Belastungsfaktoren oder belastende Lebensereignis-

    se werden in Achse V kodiert. Diese Faktoren sind auch von den sozialpädagogi-

    schen Fachkräften im Jugendamt zu überprüfen. 24

    Kodierungen zur Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus werden

    auf Achse VI vorgenommen. So können psychologische, soziale und schulisch- be-

    rufliche Funktionen zur Zeit der klinischen Untersuchung gespiegelt werden. Diese

    Achse betrifft Funktionsbeeinträchtigungen, welche als Konsequenz einer psychi-

    schen Störung, einer intellektuellen Beeinträchtigung oder einer spezifischen Ent-

    wicklungsstörung entstanden sind.25

    Ebenso wie Achse V liefert auch Achse VI eine Hilfe zur Feststellung der sozialen

    Beeinträchtigung und der Teilhabe eines jungen Menschen am gesellschaftlichen

    Leben und ist der Überprüfung durch das Jugendamt zugänglich. Achse VI differen-

    ziert zwischen folgenden Stufen:

    21 ebd. § 35a Rn. 23. 22 ebd. § 35a Rn. 24, 25. 23 Remschmidt/ Schmidt/ Poustka (Hrsg.), 2011, S. 14. 24 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.) 2013, § 35a Rn. 25, 26. 25 Remschmidt/ Schmidt/ Poustka (Hrsg.), 2011, S. 15.

  • 12

    0 Herausragende/ gute soziale Funktionen (z.B. gute zwischenmenschliche Beziehungen mit Familie und Gleichaltrigen; gutes Spektrum an Freizeitakti-vitäten und Interessen; kann sich mit allen üblichen sozialen Situationen ef-fektiv auseinandersetzen)

    1 Mäßige soziale Funktion (nur vorübergehende oder geringere Schwierigkei-ten in nur ein oder zwei Bereichen)

    2 Leichte soziale Beeinträchtigung (in ein oder zwei Bereichen, z.B. Schwie-rigkeiten mit Freundschaften)

    3 Mäßige soziale Beeinträchtigung (in mindestens ein oder zwei Bereichen, z.B. Schwierigkeiten mit dem Schulbesuch; wenig soziale Aktivitäten)

    4 Ernsthafte soziale Beeinträchtigung (in mindestens ein oder zwei Berei-chen, z.B. Unfähigkeit, mit neuen sozialen Situationen zurecht zu kommen; Schulbesuch nicht mehr möglich; erheblicher Mangel an Freundschaften)

    5 Ernsthafte durchgängige soziale Beeinträchtigung (in den meisten Berei-chen)

    6 Funktionsunfähig in den meisten Bereichen (nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen; benötigt ständig Aufsicht zur Alltagsbewältigung; …)

    7 Schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigung (schwere Beeinträch-tigung in allen Bereichen der Kommunikation; manchmal unfähig für eine minimale Körperhygiene; ...)

    8 Tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung (völliges Fehlen von Kommunikation; ständig unfähig für eine minimale Körperhygiene; …) 26

    3.1.3. Ärztliche Musterstellungnahme

    Im Interview berichtete die Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshilfe, dass

    die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten noch ausbaufähig sei und es

    nicht immer leicht sei, „in den Austausch zu kommen“ (06:38). Dass in der Praxis

    „Defizite in der Zusammenarbeit“ zwischen Ärzten und sozialpädagogischen Fach-

    kräften bestehen, wird auch in einer veröffentlichten Stellungnahme zur Eingliede-

    rungshilfe beschrieben. 27

    Um dieses Defizit aufzulösen, hat die Kommission Jugendhilfe der kinder- und ju-

    gendpsychiatrischen Fachgesellschaften eine von der Klinik für Kinder- und Ju-

    gendpsychiatrie der Universität Ulm entwickelte Musterstellungnahme überarbeitet.

    26 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 27. 27 Fegert u.a., 2008, S. 181.

  • 13

    Diese verbindet die nach dem SGB VIII geforderten Eingangsvoraussetzungen mit

    kinder- und jugendpsychiatrischen Standards wie der bereits vorgestellten multiaxia-

    len Diagnostik.28

    In dieser Stellungnahme wird angegeben, ob eine anspruchsbegründende Störung

    vorliegt und ob diese Störung der gesetzlich geforderten Abweichung von mindes-

    tens sechs Monaten unterliegt. Die Diagnosen können den jeweiligen Kapiteln im

    ICD - 10 zugeordnet und angekreuzt werden. Dem multiaxialen Diagnosesystem

    entsprechend, werden auch körperliche Störungen, Mehrfachbehinderungen und

    Intelligenzminderungen angegeben. Durch die Angabe psychosozialer Belastungs-

    faktoren (Achse V) und des psychosozialen Funktionsniveaus (Achse VI), wird eine

    ärztliche Einschätzung über die Teilhabebeeinträchtigung dokumentiert.

    Außerdem kann unter dem Punkt „andere Hilfen“ aufgelistet werden, welche zusätz-

    lichen Hilfemaßnahmen, die über Maßnahmen des SGB VIII hinausgehen, wie bei-

    spielweise Medikation oder kinder- und jugendpsychiatrische Betreuung, wichtig

    sind. Das Jugendamt entscheidet selbstständig über die Gewährung von Hilfen und

    ist bei seiner Hilfeplanung an keine der ärztlichen Empfehlungen gebunden29, jedoch

    soll die Musterstellungnahme dazu dienen, ärztliche Stellungnahmen den Mitarbei-

    tern in der Kinder- und Jugendhilfe verständlich zu machen und eine bessere Ver-

    ständigungsebene zwischen den Disziplinen herzustellen.30

    3.1.4. Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung

    Aus einer Störung ergibt sich nicht zwangsläufig eine seelische Behinderung. Wie

    oben erwähnt, ist die Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe ein Tatbe-

    standsmerkmal des § 35a SGB VIII. Der Begriff Teilhabe wurde 2001 im SGB IX

    eingeführt und bedeutet nach der Definition der WHO „das Einbezogensein in eine

    Lebenssituation“31. Während die Beurteilung, ob die seelische Gesundheit von dem

    für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, Aufgabe vom Arzt oder Psychothe-

    28 siehe Anlage. 29 Fegert u.a., 2008, S. 180. 30 Fegert u.a., 2008, S. 186. 31 vgl. Grampp u.a., 2013, S. 17

  • 14

    rapeuten ist, ist die Beurteilung einer Teilhabebeeinträchtigung Aufgabe der sozial-

    pädagogischen Fachkräfte.32

    Eine Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe als Tatbestandsmerkmal des §

    35a liegt vor, wenn aufgrund des andauernden Folgezustandes der psychischen Er-

    krankung, die Ausübung sozialer Funktionen und Rollen beeinträchtigt sind33.

    Auch die UN - Behindertenrechtskonvention (UN - BRK) hat die „inklusive soziale

    Teilhabe“ als Ziel formuliert. Die UN - BRK ist ein multinationaler, völkerrechtli-

    cher Vertrag, welcher die Rechte von Menschen mit Behinderungen festhält. Im spä-

    teren Verlauf dieser Arbeit34 wird detaillierter auf die allgemeinen Ziele und das

    Menschenbild der UN - BRK eingegangen. Deutschland hat die Konvention am 24.

    Februar 2009 ratifiziert und ist daher gesamtstaatlich an ihre Bestimmungen gebun-

    den. Laut der UN - BRK ist Teilhabe „ein Gegenbegriff zu sozialer Ausgrenzung“,

    welcher die gesellschaftliche Entwicklung aus Perspektive des Menschen bewerten

    lässt. 35

    Zur fachlichen Beurteilung der Teilhabemöglichkeiten und der sozialen Beeinträch-

    tigung braucht es eine einzelfallbezogene Bewertung von einer sozialpädagogischen

    Fachkraft. Dabei werden die unmittelbaren Lebensumstände und die emotional per-

    sönliche Situation beurteilt.36

    Neben der freien Erfassung einer Teilhabebeeinträchtigung durch Gespräche mit den

    Betroffenen oder dem Umfeld, gibt es auch standardisierte Erfassungsinstrumente.

    So kann zum Beispiel die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be-

    hinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF - CY) genutzt wer-

    den.37 Die ICF - CY ist ähnlich der ICD - 10 und klassifiziert die Funktionsfähigkeit

    des Menschen, womit alle Körperfunktionen und die Teilhabe verstanden werden.

    Der Begriff „Behinderung“ steht in der ICF - CY für alle Schädigungen und Beein-

    trächtigungen der Aktivität und die Beeinträchtigung der Teilhabe. Die Funktionsfä-

    32 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 48. 33 Münder/ Trenczek, 2015, Rn. 427 34 siehe Kapitel 7.1. 35 Welke (Hrsg.), 2012, S. 81 f. 36 Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 20. 37 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 35.

  • 15

    higkeiten werden dabei aus individueller als auch gesellschaftlicher Perspektive dar-

    gestellt und in Bezug zum Lebensalter gesetzt.38 Als Indikatoren für die Teilhabebe-

    einträchtigung junger Menschen werden die sozioökonomische Lebenslage, Integra-

    tion, Beziehungsqualitäten, Selbstkompetenzen und Leistung beschrieben.39

    Letztlich gibt § 35a keine genauen Richtlinien vor, sodass es in der Praxis unter-

    schiedliche Arbeitsweisen der Fachkräfte im Jugendamt zur Erfassung einer Teilha-

    bebeeinträchtigung gibt.40 Im Interview erzählte die Mitarbeiterin der ambulanten

    Eingliederungshilfen, dass „bestimmte Standards in der Zusammenarbeit mit der

    Psychologin [welche im Jugendamt arbeitet] entwickelt“ (06:43) wurden, jeder Mit-

    arbeiter aber einen eigenen Stil entwickelt habe. Darüber hinaus sagte die Mitarbei-

    terin der stationären Hilfen, dass in Fachkonferenzen oftmals gemeinsam beurteilt

    werde, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt (10:50). Es sei „ein großer Balan-

    ceakt, der zum Teil sehr schwierig“ (11:05) sei, darüber zu entscheiden, welchem

    Personenkreis die Klienten zuzuordnen seien und ob eine Anspruchsberechtigung

    auf § 35a bestünde.

    3.2. Aufgabe und Ziel der Eingliederungshilfe des SGB VIII in Bezug

    auf weitere Sozialgesetzbücher

    In § 35a werden Aufgabe und Ziel der Eingliederungshilfe nicht beschrieben. Statt-

    dessen verweist § 35a Abs. 3 bezüglich seiner Rechtsfolgen auf das SGB XII. Somit

    hat die Eingliederungshilfe gemäß § 35a Abs.3 i.V.m. § 53 Abs. 3 SGB XII zwei

    Aufgaben. Zum einen soll sie einer drohenden Behinderung vorbeugend begegnen,

    bzw. eine bereits vorhandene Behinderung beseitigen oder mildern. Zum anderen

    wird durch eine Eingliederung in der Gesellschaft die Verbesserung der Teilhabe

    angestrebt. § 54 Abs. 1 S.1 SGB XII listet die Hilfeformen auf und verweist weiter

    in das SGB IX. Demnach gelten für § 35a die Vorschriften über die Leistungen zur

    Rehabilitation nach §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX41.42

    38 ebd., § 35a Rn. 39. 39 ebd., § 35a Rn. 41. 40 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 24. 41 Unter 6.1. (S.24) werden diese Vorschriften genauer erläutert. 42 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 72.

  • 16

    Ziele der Eingliederungshilfe werden in § 53 Abs.3 S.2 SGB XII als auch in § 1

    Abs. 1 S.1 SGB IX genannt. Demnach soll dem behinderten Menschen die Integra-

    tion in das Leben in der Gesellschaft, durch eine Erleichterung des Kontaktes mit

    der Umwelt und der Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben, ermöglicht

    werden. Jedoch muss sich nicht nur der junge Mensch an Vorgaben der Gesellschaft

    anpassen, vielmehr soll auch die Umwelt, den Bedürfnissen der Behinderten ent-

    sprechend optimiert werden. Dies soll für Kinder und Jugendliche durch inklusive

    Bildung und in der Freizeit durch Begegnungen und den Umgang mit nicht behin-

    derten Gleichaltrigen erreicht werden. Außerdem sollen junge Menschen durch Un-

    terstützung bei der Ausbildung und Stärkung der persönlichen Voraussetzungen in

    das Berufs- und Arbeitsleben eingegliedert werden.43 Insgesamt soll die Eingliede-

    rungshilfe den Anspruchsberechtigten befähigen, sein Leben selbstständig zu gestal-

    ten.44

    Auf die im Interview gestellte Frage, was Erfolgskriterien zur Beendigung einer

    Maßnahme seien, berichtete die Mitarbeiterin der ambulanten Hilfen, dass man be-

    sonders bei den jüngeren Kindern deutlich sehe, dass durch entsprechende Therapien

    im Laufe der Zeit die Verhaltensprobleme zurückgingen, sodass „ganz viele Folge-

    probleme die sich [durch die Störung] ergeben würden, dann gar nicht erst entste-

    hen“ (10:36). Den größten Anteil der ambulanten Hilfen der Eingliederungshilfe

    machten in Bielefeld die Lerntherapien aus, wobei sehr gut am Störungsbild gearbei-

    tet werden könne (12:50).

    Dass der Erfolg einer Eingliederungshilfe jedoch vom Einzelfall abhängt, bestätigte

    die Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshilfe. Sie berichtete, dass bei ihren

    Klienten „meistens keine Reintegration oder Rückführung geplant“ (04:46) sei, son-

    dern längerfristige Unterbringungen. Die Wirksamkeit der Hilfen sei jedoch zu er-

    kennen, wenn beispielsweise ein junger Mensch mit einer paranoiden Schizophrenie

    nach einiger Zeit der Hilfe im Hilfeplangespräch „in Interaktion geht, [seine] Mei-

    nung vertreten kann“ (08:35), also eine Stärkung der Persönlichkeit zu beobachten

    sei.

    43 Kepert/ Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.), 2016, § 35a Rn. 41. 44 Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 35a Rn. 17

  • 17

    4. Geschichtliche Hintergründe für die Einführung des § 35a

    SGB VIII

    Die Eingliederungshilfe für seelische behinderte Kinder und Jugendliche hat eine

    lange Entstehungsgeschichte.

    Seelische Störungen bei Kindern und Jugendlichen wurden erst im 19. Jahrhundert

    anerkannt und nach dem Wissen aus der der Erwachsenenpsychiatrie medizinisch

    und pädagogisch erforscht. 1927 wurde in Bonn die erste kinder- und jugendpsychi-

    atrische Klinik eröffnet. Zeitgleich mit der Erforschung von seelischer Behinderung

    bei jungen Menschen wurden auch die gesetzlichen Grundlagen angepasst. Nach

    dem zweiten Weltkrieg entstand aus der Reichsfürsorgepflichtverordnung, auf deren

    Grundlage behinderte Menschen staatliche Fürsorge erhielten, im Jahr 1957 das

    Körperbehindertengesetz und schließlich das Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Erst

    mit dem zweiten Änderungsgesetz im Jahr 1969 wurden in § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 6

    BSHG jedoch auch Ansprüche für Menschen mit seelischer Behinderung festgesetzt.

    Zuvor bezog sich das BSHG nur auf körperlich oder geistig behinderte Menschen.

    Mit der Einführung des Schwerbehindertengesetzes und des Rehabilitations- Aus-

    gleichsgesetzes wurde 1974 das Rehabilitationsrecht weiter ausgebaut.45

    Im Jugendhilferecht hingegen gab es anfangs keine Grundlage für die Fürsorge jun-

    ger, behinderter Menschen. 1961 folgte auf das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, wel-

    ches hauptsächlich den Schutz Minderjähriger regelte, das Gesetz für Jugendwohl-

    fahrt (JWG). In §§ 55 und 62 des JWG war die Erziehungsbeistandschaft oder frei-

    willige Erziehungshilfe bei Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen,

    oder seelischen Entwicklung festgeschrieben46. Zu dieser Zeit wurden seelische

    Entwicklungsstörungen nicht eigenständig behandelt oder als chronischer Zustand

    mit gesundheitlichen Wurzeln, sondern als erzieherisches Defizit angesehen.47

    Nach einigen Diskussionen über den Entwurf eines Jugendhilfegesetzes (JHG),

    wurden die Überlegungen zur Aufnahme aller behinderter Kinder und Jugendlichen

    im Jugendhilferecht wieder verworfen. Erst 1989 kam ein Gesetzesentwurf zur Neu-

    45 vgl. Schwengers, 2007, S. 42 f. 46 Schwengers, 2007, S. 43. 47 Schwengers, 2007, S. 43.

  • 18

    ordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (KJHG) auf. Diese Neuordnung sollte

    Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den erzieherischen Hilfen der Jugendhilfe

    und Eingliederungshilfe der Sozialhilfe beseitigen. Demzufolge wurde die Einglie-

    derungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in § 27 Abs. 4 SGB

    VIII zu den Hilfen zur Erziehung eingeordnet. Außerdem setzte § 10 Abs. 2 SGB

    VIII die vorrangige Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers bei Hilfen für Kinder und

    Jugendliche mit einer seelischen Behinderung fest. 48

    Die Einordnung der seelischen Behinderung unter die Erziehungshilfen im SGB

    VIII führte jedoch zu Auslegungsschwierigkeiten. So entwickelten sich Diskussio-

    nen, ob für die Annahme einer seelischen Behinderung ein erzieherischer Bedarf

    gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII vorausgesetzt wird, oder ob die Eingliederungshilfe

    unabhängig davon gewährt werden kann. Zur Lösung dieser Problematik kam der

    Vorschlag auf, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendli-

    che als eigenen Unterabschnitt einzuordnen. So trat im April 1993 die neue Vor-

    schrift des § 35a SGB VIII in Kraft und räumte damit die Annahme aus, dass seeli-

    sche Behinderung durch ein erzieherisches Defizit entstehe.49

    Jedoch führte auch diese neue Vorschrift zu Diskussionen und Streitigkeiten. Kriti-

    ker befürchteten neben einem hohen diagnostischen Aufwand für die Feststellung

    einer seelischen Behinderung auch die Stigmatisierung seelisch behinderter Kinder

    und Jugendlicher. Des Weiteren entstanden Auseinandersetzungen zwischen den

    Vertretern der Jugendhilfe und der Jugendpsychiatrie, da beide Fachrichtungen die

    Definition seelischer Behinderung festsetzen wollten und diesbezüglich unterschied-

    licher Auffassung waren. Diese Streitigkeiten wurden 2001 mit der großen Reform

    des Rehabilitationsrechtes gelöst. So wurde in § 2 Abs. 1 SGB IX Behinderung

    grundlegend definiert und § 35a SGB VIII wurde entsprechend dieser Definition

    angeglichen. Diese Angleichung verdeutlicht die Zweigliedrigkeit des Behinde-

    rungsbegriffes und die Kooperationsverpflichtung zwischen Vertretern der Jugend-

    hilfe und der Jugendpsychiatrie, bzw. Ärzten.50

    48 vgl. Schwengers, 2007, S. 45. 49 vgl. Schwengers, 2007, S. 45 ff. 50 vgl. Schwengers, 2007, S. 47 ff.

  • 19

    Der nächste Aspekt welcher Streitigkeiten verursachte, waren die steigenden Ju-

    gendhilfeausgaben. So wurde in einem neuen Gesetzesentwurf erörtert, ob § 35 a

    SGB VIII zur Kostenentlastung der Kommunen abgeschafft und die Zuständigkeit

    zurück zur Sozialhilfe geordnet werden sollte. Dies wurde jedoch abgelehnt. Da-

    raufhin folgte das Kinder- und Jugendhilfe Weiterentwicklungsgesetz (KICK), wel-

    chem zufolge seelische Behinderung erst droht, wenn eine Teilnahmebeeinträchti-

    gung mit „hoher“ Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Außerdem wurden in der

    Neuregelung festgelegt, welcher Personenkreis für die Gesundheitsbeurteilung zu-

    ständig ist und dass die ICD Entscheidungsgrundlage ist. Die aktuelle Gesetzesfas-

    sung zum § 35a SGB VIII trat 2005 in Kraft. 51 Abgrenzungsschwierigkeiten zu Las-

    ten der Betroffenen dauern jedoch an, sodass nach wie vor die Forderung nach der

    „großen Lösung“, einer Zusammenführung aller behinderten Kinder und Jugendli-

    chen im Jugendhilferecht besteht.

    5. Entwicklungs-/ Verhaltensauffälligkeit, oder seelische Be-

    hinderung?

    Das folgende Kapitel soll dazu dienen, die Tatbestandsmerkmale für die Vorausset-

    zung des Anspruches auf Eingliederungshilfe nach § 35a auf eine Entwicklungs-

    oder Verhaltensauffälligkeit zu beziehen und den Blick auf das Erkennen von Teil-

    habebeeinträchtigungen zu sensibilisieren.

    Wie bereits beschrieben, setzt der Anspruch auf Eingliederungshilfe im Kinder- und

    Jugendhilferecht ein Abweichen der seelischen Gesundheit von dem für das Lebens-

    alter typischen Zustand und eine daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigung vo-

    raus.

    Da die Feststellung einer (seelischen) Behinderung in den ersten Lebensjahren sehr

    schwierig ist, wird bei Kindern häufig von einer Entwicklungsauffälligkeit gespro-

    chen. Dabei kann zwischen einer vorübergehenden Symptomatik und einer irrever-

    51 vgl. Schwengers, 2007, S. 49 f.

  • 20

    siblen Störung unterschieden werden. Entwicklungsstörungen sind alle bleibenden

    Beeinträchtigungen der Entwicklung. 52

    Einflüsse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwicklung eines Kindes negativ

    beeinträchtigen, werden als Risikofaktoren bezeichnet. Risikofaktoren für die kind-

    liche Entwicklung können beispielsweise eine schlechte sozioökonomische Situati-

    on, Drogenmissbrauch der Eltern oder eine Frühgeburt sein. Auch durch das Fehlen

    menschlicher Zuwendung können im Säuglingsalter schwere Entwicklungsstörun-

    gen entstehen.53

    Im sozialen Zusammenhang werden Entwicklungsauffälligkeiten durch die Erwar-

    tungen von Eltern und Bezugspersonen mitbestimmt. So besteht die Ansicht, dass

    viele Verhaltens- und Entwicklungsstörungen auf eine unzureichende Übereinstim-

    mung zwischen den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes auf der einen und

    Anforderungen der Umwelt auf der anderen Seite zurückgeführt werden.54

    In der Psychologie werden mit dem Begriff „Verhalten“ alle beobachtbaren Aktivi-

    täten des Menschen bezeichnet. Der Heilpädagoge Eitle55 hingegen sagt: „Der

    Mensch ist […] mehr als sein sichtbares Verhalten! Es zeigt sich, dass es keine all-

    gemeingültige, alle Bereiche umfassende Definition für Verhalten gibt. Damit kann

    es auch keine für Verhaltensauffälligkeiten geben.“

    Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle die versuchen, Verhaltensauffälligkeiten zu

    beschreiben. Eines dieser Modelle, welches Eitle56 beschreibt, orientiert sich an der

    Abweichung von der Norm. Dabei wird der kritische Eindruck vermittelt, dass das

    Verhalten der meisten Menschen zur Norm wird und als Maßstab gilt, denn durch

    die Bestimmung der Norm „findet kein Hinterfragen des individuellen Hintergrunds

    des abweichenden Verhaltens statt“57

    Gemäß Lempp58, hängt der Begriff der Behinderung im Wesentlichen von gesell-

    schaftlichen Anforderungen ab, die an das Individuum gestellt werden. So kann Be-

    52 Straßburg/Dacheneder/ Kreß, 2009, S. 13. 53 vgl. Straßburg/ Dacheneder/ Kreß, 2009, S. 9 ff. 54 Straßburg/ Dacheneder/ Kreß, 2009, S. 15. 55Eitle, 2012, S. 115. 56 Eitle, 2012, S. 115. 57 Eitle, 2012, S. 115. 58 2006, S. 21.

  • 21

    hinderung auf drei verschiedenen Ebenen definiert werden: der objektiven, der in-

    tersubjektiven und der subjektiven Ebene.

    Auf der objektiven Ebene wird versucht einen möglichst messbaren Vergleich mit

    anderen Behinderungen festzustellen, um den Grad der Behinderung am „Durch-

    schnitt“/ an der Norm zu messen. 59

    Auf der intersubjektive Ebene wird die Beeinträchtigung der sozialen Integrationsfä-

    higkeit des Betroffenen zu seinen Mitmenschen beurteilt. Im Vordergrund steht die

    Abgrenzungstendenz der „nicht behinderten“ Menschen, ob diese beispielsweise

    eine ablehnende Haltung gegenüber dem Betroffenen zeigen. Auf dieser Ebene wird

    nicht der Grad der Behinderung untersucht, stattdessen ist der Maßstab die Fähigkeit

    zur gesellschaftlichen Integration. 60

    Die subjektive Ebene der Behinderung ist objektiv nur schwer zu erfassen. Es geht

    darum, inwieweit sich der Betroffene selbst als behindert oder beeinträchtigt emp-

    findet.61

    Auch ohne die Tatsache, dass die Auffälligkeit schon sechs Monate besteht, kann

    der betroffene Mensch stark in seiner Teilhabe beeinträchtigt sein. Wäre es ethisch

    gesehen nicht am gerechtesten, eine seelische Beeinträchtigung auf der subjektiven

    Ebene anzuerkennen und anstelle von messbaren Instrumenten wie der ICD - 10 und

    „der Abweichung von der Norm“ das subjektive Empfinden des jungen Menschen

    als Maßstab zum Erhalt für Eingliederungshilfe zu setzen?

    59 vgl. Lempp, 2006, S. 21. 60 vgl. Lempp, 2006, S. 22. 61 vgl. Lempp, 2006, S. 22.

  • 22

    6. Möglichkeiten und Grenzen professioneller Hilfen nach §

    35a SGB VIII

    Die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche wurde be-

    reits umfassend beschrieben. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die Eingliederungs-

    hilfe im System der Hilfen zur Erziehung platziert ist, welche möglichen Maßnah-

    men in der Praxis eingesetzt werden können und wo die Eingliederungshilfe an ihre

    Grenzen stößt. Dies soll in den nächsten Unterkapiteln herausgestellt werden.

    6.1. Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII im System der Erzie-

    hungshilfe

    Wie schon geschildert, wurde vor der Änderung 1993 Eingliederungshilfe für see-

    lisch behinderte Kinder und Jugendliche als § 27 Abs. 4 SGB VIII deklariert und so

    den Hilfen zur Erziehung zugeordnet. Heutzutage schließt die Eingliederungshilfe

    als § 35a zwar unmittelbar an die Hilfen zur Erziehung in §§ 27- 35 SGB VIII an,

    bildet jedoch einen eigenen Unterabschnitt.

    Um die Frage der Anspruchsinhaberschaft zu klären, ist die Abgrenzung zwischen

    Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und

    Jugendliche entscheidend. So sind gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII die Personensorge-

    berechtigten für alle Hilfen zur Erziehung anspruchsberechtigt, während die An-

    spruchsberechtigung der Eingliederungshilfe gemäß § 35a nicht an die Personensor-

    ge geknüpft ist. Anspruchsberechtigt ist der junge Mensch.62

    Leistungsvoraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung sind gemäß § 27 Abs. 1 SGB

    VIII die Antragstellung eines Personensorgeberechtigten und das Vorliegen eines

    erzieherischen Bedarfes. Des Weiteren muss die Hilfe zur Erziehung geeignet und

    notwendig sein. Der erzieherische Bedarf liegt vor, wenn das Wohl des Kindes nicht

    mehr gewährleistet ist. Das Kindeswohl umfasst gemäß § 1666 BGB (Bürgerliches

    Gesetzbuch) das körperliche, geistige und seelische Wohl.

    62 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 2; ebenso Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 29.

  • 23

    Der gesetzliche Katalog der erzieherischen Hilfen des SGB VIII umfasst Erzie-

    hungsberatung (§ 28), Soziale Gruppenarbeit (§ 29), Erziehungsbeistand (§ 30), So-

    zialpädagogischen Familienhilfe (§ 31), Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32),

    Vollzeitpflege (§ 33), Heimerziehung (§ 34) und Intensive sozialpädagogische Ein-

    zelbetreuung (§ 35). In § 27 Abs.2 SGB VIII wird formuliert, dass über Art und Um-

    fang der Hilfe im Einzelfall entschieden werde. Demnach sind die genannten Hilfe-

    formen nicht als erschöpfende, sondern lediglich als beispielhafte Aufzählung zu

    verstehen. Das Jugendamt ist nicht an bestehende Maßnahmen gebunden, sondern es

    können auch neue, innovative Hilfeformen entwickelt werden. Diese Öffnung für

    gesetzlich nicht beschriebene Hilfearten ermöglicht Flexibilität. 63

    Bei einer seelischen Behinderung des Kindes oder Jugendlichen besteht oft auch ein

    erzieherischer Bedarf. So wird die seelische Behinderung zum einen durch ein Er-

    ziehungsdefizit verstärkt, zum anderen erfordern seelische Behinderungen eine er-

    höhte Erziehungsleistung der Eltern.64

    Wenn beim anspruchsberechtigten Minderjährigen zusätzlich ein erzieherischer Be-

    darf vorhanden ist, können dieselben Hilfen nach § 35a als auch nach §27 SGB VIII

    gewährt werden. Allerdings sollen bei Bestehen eines erzieherischen Bedarfes als

    auch einer seelischen Behinderung gemäß § 35a Abs. 4 Dienste oder Einrichtungen

    in Anspruch genommen werden, die geeignet sind um den erzieherischen Bedarf zu

    decken und gleichzeitig die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen.65

    6.2. Handlungsmöglichkeiten auf der Grundlage von § 35a SGB VIII

    § 35a stellt keine zusätzlichen Hilfen vor, sondern verweist bezüglich der Hilfen auf

    §§ 28- 35 SGB VIII. In § 35a Abs. 3 wird festgelegt, dass unter anderem bei der

    Bestimmung der Art der Leistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

    die Regelungen des SGB XII anzuwenden sind. § 53 Abs. 4 SGB XII verweist sei-

    nerseits bezüglich der Anwendbarkeit der Vorschriften auf das SGB IX.66

    63 Münder/ Trenczek, 2015, §35a Rn. 428; ebenso Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.) 2012, § 27 Rn. 36. 64 Schwengers, 2007, S. 129. 65 Schwengers, 2007, S. 137. 66 Münder/ Trenczek, 2015, § 35a Rn. 429.

  • 24

    Aufgrund dieses Rechtsfolgenverweises sind die geltenden Vorgaben des SGB IX

    zu berücksichtigen. Demnach sollen Leistungen für behinderte oder von Behinde-

    rung bedrohte Kinder und Jugendliche gemäß § 3 Abs. 3 SGB IX so gestaltet wer-

    den, dass sie nach Möglichkeit gemeinsam mit nicht Behinderten betreut, und nicht

    von ihrem sozialen Umfeld getrennt werden. Des Weiteren haben gemäß § 19 Abs.

    2 SGB IX ambulante und teilstationäre Leistungen den Vorrang vor vollstationärer

    Hilfe.

    Wie § 35a Abs. 2 besagt, kann die Eingliederungshilfe je nach Bedarf im Einzelfall

    in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen oder anderen teilstationären Einrichtun-

    gen, durch geeignete Pflegepersonen als auch in Einrichtungen über Tag und Nacht

    sowie sonstigen Wohnformen erbracht werden. Bei den Hilfeformen kann auf das

    gesamte Spektrum der im Rahmen der Hilfen zur Erziehung entwickelten Hilfen

    zurückgegriffen werden. Um auf die Bedürfnisse des seelisch behinderten Kindes

    oder Jugendlichen einzugehen zu können, sollten Hilfeformen so angesetzt werden,

    dass sie die verschiedenen Lebensbereiche aufgreifen und sie gegebenenfalls mitei-

    nander verknüpfen.67

    So gehören zu der ambulanten Eingliederungshilfe unter anderem Beratungs- und

    therapeutische Leistungen in Beratungsstellen oder psychologischen Praxen. Des

    Weiteren können Leistungen ähnlich der sozialen Gruppenarbeit, dem Erziehungs-

    beistand oder der sozialpädagogischen Familienhilfe in Anspruch genommen wer-

    den.68

    Zu den teilstationären Maßnahmen zählen spezialisierte Tagesgruppen, integrative

    Kindertageseinrichtungen oder Tagespflegepersonen, die für die Arbeit mit seelisch

    behinderten Kindern qualifiziert sind, um auf den besonderen Förderbedarf eingehen

    zu können.69

    Bei den Einrichtungen über Tag und Nacht ist darauf zu achten, dass das Konzept

    der Einrichtung auf Entwicklung der Eigenverantwortlichkeit und Persönlichkeit, als

    67 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 57. 68Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 58. 69 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 59; ebenso Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 121, 122.

  • 25

    auch auf die schulische/ berufliche Integration und psychotherapeutische Hilfen zur

    Verbesserung der seelischen Gesundheit ausgelegt ist.70

    § 35a Abs. 3 verweist bezüglich seiner Art der Hilfen unter anderem auf § 54 Abs. 1

    SGB XII. Dieser Paragraph nennt Leistungen der Eingliederungshilfe. Durch das

    Wort „insbesondere“, wird der Leistungskatalog offengehalten, sodass eine hohe

    Flexibilität zur Erstellung eines individuell angepassten Angebotes besteht.71

    Im Leistungskatalog wird die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung genannt.

    Dazu zählen schulbegleitende Leistungen wie eine Internatsunterbringung, der Be-

    such einer speziellen Privatschule, die Begleitung durch einen Integrationshelfer,

    Kosten für eine Beförderung zum Besuch der Sonderschule, als auch Therapie we-

    gen Legasthenie oder Dyskalkulie.72

    Hinzu kommen unter anderem die Hilfen zur schulischen Ausbildung für einen Be-

    ruf oder eine vergleichbare Tätigkeit und die in § 54 Abs. 2 SGB XII genannte Un-

    terstützung von Umgangskontakten mit Angehörigen.

    § 54 SGB XII verweist seinerseits auf weitere Leistungen aus dem SGB IX. Genannt

    werden im SGB IX Leistungen der medizinischen Rehabilitation (§ 26), Leistungen

    zur Teilhabe am Arbeitsplatz (§ 33), Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkann-

    ten Werkstatt für behinderte Menschen (§ 41) und Leistungen zur Teilhabe an der

    Gesellschaft (§ 55).

    Für die Eingliederungshilfe des SGB VIII sind besonders Leistung zur Teilhabe am

    Leben in der Gemeinschaft (§ 55 SGB IX) von Bedeutung. Hierzu zählen heilpäda-

    gogische Maßnahmen für Kinder vor ihrer Einschulung wie Frühförderprogramme

    oder sprachtherapeutische Behandlungen. Anspruch auf heiltherapeutisches Reiten

    haben Kinder sowohl vor, als auch noch nach der Einschulung.73

    Ältere seelisch behinderte Jugendliche können Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in

    betreuten Wohnformen in Anspruch nehmen. Auch Hilfen zur Teilhabe am gemein-

    70 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 61. 71 ebd., § 35a Rn. 64; ähnlich Wiesner in: Wiesner (Hrsg.) 2015, § 35a Rn. 105a. 72 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 66; ähnlich Wiesner in: Wiesner (Hrsg.) 2015, § 35a Rn. 111. 73 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 73.

  • 26

    schaftlichen und kulturellen Leben wie beispielsweise die Förderung von Begeg-

    nungen behinderter und nichtbehinderter Personen, sowie auch Hilfen zum Besuch

    von Veranstaltungen zu geselligen oder kulturellen Zwecken werden in § 55 SGB

    IX als Teilhabeleistung genannt.74

    Wird eine Hilfeempfängerin während einer stationären Eingliederungsmaßnahme

    selbst Mutter eines Kindes, umfasst die Eingliederungshilfe auch die Unterstützung

    bei der Pflege und Erziehung dieses Kindes (§ 35a Abs. 1 S. 3 iVm § 27 Abs. 4). So

    soll ermöglicht werden, dass der Mutter ihrem Bedarf entsprechend weiterhin Hilfe

    gewährt werden kann und dass das neugeborene Kind in die Leistungen einbezogen

    wird.75

    6.3. Grenzen und Problemlagen des § 35a SGB VIII

    Die Eingliederungshilfe des § 35a ist seit ihrer Einführung vielen Diskussionen aus-

    gesetzt.

    Wie schon oben beschrieben, bedarf es zur Feststellung einer seelischen Behinde-

    rung die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen. Lempp76 beschreibt, dass sich

    pädagogische und therapeutische Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter aufgrund

    fortschreitender Entwicklung kaum trennen lassen. Dementsprechend soll § 35a an

    der Schnittstelle zu anderen Hilfesystemen eingesetzt werden.77

    Das erste Problem besteht jedoch darin, eine seelische Behinderung festzustellen.

    Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche

    gehört zu den Aufgaben des SGB XII. Dies führt bei Mehrfachbehinderungen oder

    schwierigen Diagnosen zu Abgrenzungsproblemen und zu einem Zuständigkeits-

    streit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Sozialhilfe. Wie es auch im neuen Ge-

    setzesentwurf zur Reform des SGB VIII78 formuliert ist, bildet die Kategorisierung

    der Kinder- und Jugendlichen nach der Art ihrer Behinderung allgemein ein großes

    74 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 74. 75 Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 35a Rn. 28; ebenso Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (2013), § 35a Rn. 47. 76 2006, S.14. 77 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczec (Hrsg.), 2013, § 35a Rn. 12. 78 1. Entwurfsfassung, 07.06.2016, S. 11.

  • 27

    Defizit. Besser wäre es, sie nach individuellen Bedürfnissen zu fördern. Im Kindes-

    und Jugendalter kann davon ausgegangen werden, dass jede Behinderung mehrere

    Funktionsbereiche betrifft, sodass neben einer seelischen Behinderung häufig auch

    eine geistige oder körperliche Behinderung oder ein erzieherisches Defizit vorliegt.79

    In einigen Fällen muss zwischen geistiger oder körperlicher Behinderung unter-

    schieden werden. Nach SGB VIII und SGB XII bestehen unterschiedliche An-

    spruchsvoraussetzungen. So ist beispielsweise Autismus eine Behinderungsart, von

    der häufig die Ansicht vertreten wird, sie sei nicht eindeutig der geistigen oder seeli-

    schen Behinderung zuzuordnen. Die tiefgreifende Entwicklungsstörung liegt eine

    komplexe Störung des Nervensystems zugrunde, die sprachliche, motorische und

    emotionale Bereiche betrifft. Gemäß § 10 Abs. 2 S.2 SGB VIII, stellt die Kinder-

    und Jugendhilfe für körperlich oder geistig behinderte Menschen keine Eingliede-

    rungshilfe bereit.

    Auch die Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshilfe berichtete im Interview,

    dass viele Fälle von Kinder und Jugendliche mit fetalem Alkoholsyndrom nach §

    35a gefördert werden, „wobei sich da ja auch die Fachkreise streiten, wozu dieses

    Störungsbild gehört“ (00:58). Die „fetale Alkohol-Spektrums-Störung“ wird durch

    Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft hervorgerufen und umfasst alle

    alkoholbedingten Einflüsse auf die Entwicklung des Embryos. Auffälligkeiten im

    Verhalten und Entwicklungsretardierungen sind, neben körperlichen Auffälligkeiten

    wie dem Minderwuchs, Symptome dieses Störungsbildes.80

    Deswegen empfiehlt etwa Schwengers81, in der Praxis bei Fällen einer nicht eindeu-

    tigen Behinderungsart den Antrag bei dem Sozialhilfeträger zu stellen. Im Gegen-

    satz zur Eingliederungshilfe gemäß § 35a ist die Sozialhilfe nicht nur für eine Be-

    hinderungsart zuständig. So kann der Antrag bei dem Sozialhilfeträger nicht auf-

    grund einer nicht eindeutig feststellbaren Behinderungsart abgewiesen werden.82

    Eine weitere Hürde bildet jedoch die Voraussetzung der Eingliederungshilfe in §53

    Abs. 2 SGB XII, dass eine „wesentliche“ Behinderung vorliegen, oder drohen muss.

    79 Schwengers, 2007, S.145. 80 Becker/ Hantelmann (2013), 1944 f. 81 2007, S. 149. 82 Schwengers, 2007, S. 146 ff.

  • 28

    Dementsprechend entscheidet die Frage nach seelischer oder geistiger Behinderung

    nicht nur über die Zuständigkeit verschiedener Sozialleistungsträger, sondern in ei-

    nigen Fällen auch darüber, ob eine Leistung überhaupt gewährt wird. An dieser Stel-

    le besteht die Forderung der Übernahme sämtlicher Eingliederungsansprüche von

    Minderjährigen in das SGB XII oder in das SGB VIII.83

    In diesem Zusammenhang wird eine weitere Problematik der Eingliederungshilfe im

    Kinder- und Jugendhilfesystem deutlich. So wurde der Anspruch, dass eine seelische

    Behinderung „nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zu erwar-

    ten sein muss, zur Senkung der Inanspruchnahme dieser Maßnahme und der damit

    verbundenen Kostenreduzierung 2004 eingeführt. Dementsprechend sind Minder-

    jährige, die nicht in diesem Ausmaß von einer seelischen Behinderung bedroht sind,

    nicht anspruchsberechtigt. Daran ist zu kritisieren, dass die Entwicklungsdynamik

    von Kindern und Jugendlichen dem Anschein nach außer Acht gelassen wird und

    eine frühe Prävention seelischer Behinderung zugunsten des Minderjährigen er-

    schwert.

    Gemäß § 35a Abs. 1 haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshil-

    fe. Die Begriffe „Kinder“ und „Jugendliche“ werden in § 7 SGB VIII definiert.

    Demnach können Minderjährige bis zur Erreichung ihres 18. Lebensjahres Einglie-

    derungshilfe nach § 35a erhalten. Zwar können sie anschließend Hilfe für junge

    Volljährige (§41 SGB VIII) in Anspruch nehmen, jedoch hält das OVG Münster die

    Hilfe bei seelischer Behinderung regelmäßig bis zur Vollendung des 27. Lebensjah-

    res für erforderlich. Daraus ergibt sich die Frage ob es nicht logischer und für Be-

    troffene einfacher wäre, § 35a SGB VIII so zu ändern, dass auch junge Volljährige84

    anspruchsberechtigt sind. 85 Diese Frage wurde im Interview bestärkt, als die Mitar-

    beiterin der stationären Eingliederungshilfe sagte, dass die nach § 35a geförderten

    Jugendlichen in den meisten Fällen „über das 18. Lebensjahr hinaus auch weiterhin

    im Rahmen der Jugendhilfe untergebracht“ (08:55) sind.

    83 Münder/ Trenczek, 2015, Rn. 434 84 gem. § 7 Abs. 1 S. 3 SGB VIII gilt als junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist. 85 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 36.

  • 29

    Ebenso kritisch ist es anzusehen, dass die Bearbeitungsstandards der Eingliede-

    rungshilfe stark variieren, was der Handreichung zum § 35a SGB VIII86 zu entneh-

    men ist. Da es keine vorgeschriebenen Diagnoseverfahren zur Teilhabebeeinträchti-

    gung gibt, differieren die unterschiedlichen Arbeitsweisen stark. So liegt es in der

    Hand der einzelnen Jugendämter, wie eine Hilfesteuerung durchgeführt wird. In der

    Praxis wurde festgestellt, dass die Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung nach

    sehr unterschiedlichen Verfahren erfolgt.87

    Darüber hinaus sagte die Mitarbeiterin der ambulanten Eingliederungshilfen im Ex-

    perteninterview, dass „es relativ aufwendig ist, was die [Eltern] alles an Diagnosti-

    ken beibringen müssen“ (05:13), bevor die Überprüfung der Teilhabebeeinträchti-

    gung und damit die Anspruchsberechtigung für § 35a geklärt wird.

    6.4. Der Hilfeplan gemäß § 36 SGB VIII

    Da die Eingliederungshilfe im System der Erziehungshilfen eingeordnet ist, gibt es

    gemeinsame Vorschriften. Der § 36 SGB VIII enthält spezielle Vorgaben zur Betei-

    ligung und zum Verfahren, welche bei der Steuerung des Hilfeprozesses zu beachten

    sind. Somit regelt der Hilfeplan die Vorbereitung der Erziehungs- und Eingliede-

    rungshilfe, als auch die Mitwirkung der Beteiligten.88

    Als Grundlage zur Koordination der Hilfe soll gemäß § 36 Abs. 2 S. 2 das Team

    zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind oder Jugendlichen

    einen Hilfeplan aufstellen. Der Hilfeplan ist Grundlage für die Ausgestaltung der

    Hilfe. Er enthält in der Regel Feststellungen über den erzieherischen Bedarf, die zu

    wählende Art der Hilfe, die notwendigen Leistungen und die geplante Dauer der

    Hilfe enthalten.89

    Besondere Regelung für die Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe ist gemäß § 36

    Abs. 3 SGB VIII, die kontinuierliche Beteiligung des am Hilfeplan beteiligten Arz-

    86 Langenohl/ Glaum (Hrsg.): IBN Projekt „Erarbeitung standardisierter Empfehlungen zu § 35a SGB VIII“, 2012, S. 10. 87 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, § 35a Rn. 24. 88 Kepert/ Vondung in: Kunkel/ Kepert/ Pattar (Hrsg.), 2016, § 35a Rn. 71; ähnlich Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek, 2013, § 36 Rn. 1. 89 Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 36 Rn. 22.

  • 30

    tes oder Psychotherapeut welcher nach § 35a Abs. 1a SGB VIII über die Gesund-

    heitsabweichung entschieden hat. Die Pflicht die Beteiligung zu organisieren, trifft

    dabei das Jugendamt, indem es dem Arzt oder Psychotherapeuten die Möglichkeit

    einräumt, am Hilfeplangespräch teilzunehmen.90

    In der Praxis scheint diese Beteiligung jedoch nur bedingt umsetzbar zu sein. Die

    Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshilfe berichtete im Interview, dass in

    nach ihrer Erfahrung in der Praxis eine „Ausbaufähigkeit in der Zusammenarbeit mit

    den niedergelassenen [Ärzten] besteht, da ist es sehr schwer in den Austausch zu

    kommen“ (06:40). Darüber hinaus berichtete die Mitarbeiterin der ambulanten Ein-

    gliederungshilfe von dem Problem, dass aufgrund der Masse an Fällen „ein regulä-

    res Hilfeplanverfahren gar nicht durchführbar wäre“ (03:30) und dass die Kinder-

    psychiater meist nur jene Fälle verfolgten, welche unabhängig vom Jugendamt bei

    den betroffenen Psychiatern in Behandlung seien (08:40).

    Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die Beteiligung an der Hilfeplanung nicht be-

    deutet, dass der Arzt oder Psychotherapeut Vorgaben machen kann, ob bzw. welche

    Leistungen vom Jugendamt zu gewähren sind. Unter Beachtung des Wunsch- und

    Wahlrechtes, liegt die Auswahl einer geeigneten Hilfeform und des Leistungserbrin-

    gers in der Zuständigkeit des Jugendamtes.91 Das Wunsch und Wahlrecht gemäß § 5

    SGB VIII wird in § 36 Abs.1 S. 3 SGB VIII konkretisiert. Demnach sind Personen-

    sorgeberechtigte und Kind/ Jugendlicher bei einer Fremdunterbringung an der Wahl

    des neuen Lebensortes zu beteiligen. Das Jugendamt muss mehrere alternative An-

    gebote für die Fremdunterbringung machen. 92

    90 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek (Hrsg.), 2013, §36 Rn. 35. 91 ebd., § 36 Rn. 37; ähnlich Fischer in: Schellhorn u.a. (Hrsg.), 2012, § 36 Rn. 26. 92 Meysen in: Münder/ Meysen/ Trenczek, 2013, § 36 Rn. 19.

  • 31

    7. Diskussion und Ausblick

    § 35a in seiner jetzigen Form ist vielen Diskussionen ausgesetzt, „schon in den

    1970er Jahren war wiederholt gefordert worden, die Eingliederungshilfe bei Kindern

    mit psychischen Problemen der Kinder- und Jugendhilfe zuzuordnen“93. Seit Juni

    2016 existiert eine Entwurfsfassung zur Reform des SGB VIII, welche unter ande-

    rem die Ausgestaltung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche beinhal-

    tet. Auslöser für diese Reform war nicht zuletzt die UN – Behindertenrechtskonven-

    tion. Im Folgenden wird das Menschenbild dieser Konvention erläutert und unter-

    sucht, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe ändern kann und welche Folgen diese

    Änderungen insbesondere für die Eingliederungshilfe hätten.

    7.1. Menschenbild der UN-Behindertenrechtskonvention

    Die Ausgestaltung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche hängt stark

    mit der UN - Behindertenrechtskonvention (UN - BRK) zusammen, welche am

    13.12.2006 in New York verabschiedet wurde. In Deutschland trat die Konvention

    am 26.03.2009 in Kraft.94

    Die UN - BRK ist ein Rechtsinstrument, welches bestehende Menschenrechte auf

    die Lebenssituation behinderter Menschen bezieht. Ziel ist es, gleichberechtigte

    Menschenrechte und Grundfreiheiten für Menschen mit Behinderungen zu gewähr-

    leisten und zu schützen. Das Übereinkommen greift auf die Allgemeine Erklärung

    der Menschenreche zurück und stellt somit keine Sonderrechte her, sondern spezifi-

    ziert die Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderung. 95

    Eine zentrale Forderung der UN - BRK ist die Einbeziehung von Menschen mit Be-

    hinderung, also ihre Inklusion in die Gesellschaft. Das Menschenbild der Konventi-

    on ist geprägt durch den „diversity“ Ansatz, welcher die Achtung vor der Unter-

    schiedlichkeit der Menschen zugrunde legt. Diesem Ansatz zufolge, sollen alle

    Menschen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften und Talenten Wertschätzung

    93 Fegert u.a., 2008, S. 178. 94 Fegert, 2010, S. 270. 95 UN – Behindertenrechtskonvention https://www.behindertenrechtskonvention.info/die-behindertenrechtskonvention-im-historischen-kontext-3743/

  • 32

    erhalten und als förderlich für eine gesellschaftliche Vielfalt angesehen werden.

    Ebenso wie jeder nicht behinderte, sei auch jeder behinderte Mensch eine Bereiche-

    rung für die Gesellschaft. Ein selbstverständliches Miteinander ohne Barrieren sei

    demnach allerdings nur möglich, wenn gesellschaftliche Strukturen so verändert

    werden, dass Ausgrenzung von Beginn an vermieden wird. 96

    Die UN - BRK unterliegt dem Grundsatz der „Achtung vor der Unterschiedlichkeit

    von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der

    menschlichen Vielfalt und der Menschheit“97 und sieht jede Diskriminierung wegen

    Behinderung als eine Verletzung der Menschenwürde an98. „[Jede] Unterscheidung,

    Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder

    zur Folge hat, dass auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen,

    Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen,

    wirtschaftlichen, sozialen […] oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder verei-

    telt wird“99, ist der UN - BRK nach als Diskriminierung zu verstehen. Die Vertrags-

    staaten sind dazu verpflichtet, alle Formen von Diskriminierung zu beseitigen100,

    wobei auch eine Diskriminierung in diesem Sinne vorliegt, wenn Menschen mit Be-

    hinderung negativen gesellschaftlichen Bewertungsmustern ausgesetzt sind. 101

    Um Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen alle Menschenrechte und funda-

    mentale Freiheiten auf gleicher Ebene mit anderen Kindern und Jugendlichen zu

    garantieren, sollen die Vertragsstaaten alle notwendigen Maßnahmen ergreifen102. In

    Deutschland ergibt sich aus dieser Forderung eine Herausforderung an die Organisa-

    tion der Jugendhilfe, bzw. der Behindertenhilfe. Die Zuordnung von behinderten

    Kindern und Jugendlichen zum Personenkreis der behinderten Menschen entspricht

    somit nicht dem Gedanken der UN - BRK, denn primär sollten Kinder und Jugendli-

    96 Fachausschuss Freiheits- und Schutzrechte, Frauen, Partnerschaft, Bioethik, 2013, S. 3. 97 Art. 3 UN - BRK. 98 Präambel h UN-BRK. 99 Art. 3 UN-BRK. 100Art. 5 UN-BRK. 101 Fachausschuss Freiheits- und Schutzrechte, Frauen, Partnerschaft, Bioethik, 2013, S.3 f. 102 Art. 7 UN-BRK.

  • 33

    che zu ihrem Wohl als Menschen mit individuellem, erzieherischen Bedarf angese-

    hen werden. 103

    Auf der Grundlage des „diversity“ Ansatzes der UN - BRK sind alle Leistungssys-

    teme darauf zu überprüfen, ob sie bezogen auf ihre Aufgaben die Bedarfe alle Men-

    schen im Blickfeld haben. Somit ist auch das SGB IX als „Sondersystem“ zu prüfen. 104

    Durch das SGB IX, das Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-

    schen, wollte der Gesetzgeber die Zusammenarbeit zwischen den Leistungsträgern

    verbessern, „sodass dem Betroffenen die Leistungen der verschiedenen Rehabilitati-

    onsträger wie aus einer Hand erscheinen“105 solle. Das erwünschte Ziel der Verein-

    fachung und besseren Transparenz des Rehabilitationsrechtes wurde jedoch nicht

    erreicht. Es steht mit seiner Gliederung nach persönlichen Merkmalen und Eigen-

    schaften im Widerspruch zu dem gesamten Sozialgesetzbuch, welches nach Aufga-

    ben der einzelnen Leistungsträger gegliedert ist.106

    7.2. Änderungsvorschläge zur Optimierung der Gesetzeslage

    Mit der Einführung des SGB IX wurden die Jugendämter gemäß § 6 SGB IX zu Re-

    habilitationsträgern im Rahmen der Hilfegewährung nach § 35a. Dies bewirkt, dass

    bei der Gewährung von Eingliederungshilfe die Vorgaben des SGB IX zu berück-

    sichtigen sind, wenn das SGB VIII keine eigenen Regelungen hat. Das SGB IX steht

    als spezielles „Behinderungsgesetz“ jedoch dem SGB VIII entgegen, da dieses sich

    an der Entwicklung des jungen Menschen orientiert und sein Leistungsangebot erst

    sekundär nach spezifischen Belastungen differenziert.107

    Auch in der Stellungnahme der Bundesregierung im 13. Kinder- und Jugendbericht

    werden Behinderungen von Kindern und Jugendlichen thematisiert. So sei es im

    Kindes- und Jugendalter sehr schwierig, zwischen erzieherischem und behinde-

    rungsspezifischem Bedarf zu unterscheiden und die Abgrenzungsprobleme bei der

    103 Fegert, 2010, S.271. 104 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, vor § 35a Rn. 11c. 105 Hoffmann, 2010, S. 12. 106Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, vor §35a Rn. 26 107 Wiesner in: Wiesner (Hrsg.), 2015, vor § 35a Rn. 25.

  • 34

    Zuordnung zu einem Leistungssystem seien „Verschiebebahnhöfe“ für die Betroffe-

    nen.108 Gemeint ist damit, dass (zeit)aufwendige Diagnosen notwendig sind, um

    Leistungen je nach Art der Behinderung bei verschiedenen Leistungsträgern zu be-

    antragen. Hilfesuchenden Klienten kann es passieren, zwischen den Kostenträgern

    hin- und hergeschickt zu werden und lang auf einen rechtsmittelfähigen, schriftli-

    chen Bescheid warten zu müssen.109 Dies ist hinderlich für den Einsatz einer nötigen

    Hilfe zum richtigen Zeitpunkt.

    Des Weiteren wird aufgegriffen, dass im Kindes- und Jugendalter psychische Er-

    krankungen kaum von Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten

    abzugrenzen seien, denn in diesem Alter seien auch biographische und soziale Be-

    lastungen von großer Bedeutung und müssten im Blickfeld stehen. Außerdem wird

    kritisiert, dass die gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung,

    in der Praxis scheitere. Zwar ist der integrative Förderauftrag in § 22a Abs. 4 SGB

    VIII festgelegt, da allerdings die Verantwortung für körperliche/ geistige und seeli-

    sche Behinderung zwischen Sozialhilfe und Kinder- und Jugendhilfe aufgeteilt ist,

    wird eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Leistungssystemen gefordert.

    In der Praxis scheitert dies jedoch häufig, sodass in vielen Einrichtungen zwar der

    allgemeine Förderbedarf, nicht jedoch der behinderungsspezifische Bedarf gedeckt

    werde.110

    Im 13. Kinder und Jugendbericht111 wird darüber hinaus von einer „neuen Morbidi-

    tät“ gesprochen. So wurde festgestellt, dass bei den Heranwachsenden eine Ver-

    schiebung somatischer Krankheiten hin zu psychischen Auffälligkeiten zu beobach-

    ten ist. Aufgrund dessen sollten in allen Bereichen der Kinder und Jugendarbeit An-

    gebote zur Entwicklungsförderung ausgestaltet werden.

    Zur Neugestaltung der Verantwortungsbereiche des SGB XII und des SGB VIII

    werden in der Stellungnahme der Bundesregierung zwei Optionen vorgestellt: Die

    erste Option ist, dass seelische Behinderung zurückgeführt wird in das SGB XII. Bei

    dieser Option stünden die entwicklungsbezogenen Bedürfnisse der Kinder mit Be-

    108 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,2009 (13. Kinder- und Jugendbericht) S. 13. 109 Fegert, 2010, S. 270. 110 vgl. ebd. 111 2009, S. 78.

  • 35

    hinderungen jedoch im Hintergrund. Die zweite Option lautet, die Zuständigkeit

    aller Kinder in das SGB VIII zu legen. Der Handlungsauftrag des SGB VIII bestün-

    de in der Realisierung des allgemeinen Rechtes junger Menschen auf die umfassen-

    de Förderung ihrer Entwicklung. Bei dieser Option stünde demnach die individuelle

    Entwicklung des Kindes/ Jugendlichen im Vordergrund, gleichzeitig sei die Jugend-

    hilfe neben den pädagogischen, auch für alle therapeutischen Leistungen zuständig.

    Die Umsetzung dieses Konzeptes sei deshalb nur möglich, wenn die Herausforde-

    rungen der Neuregelung tragbar seien. 112

    7.3. Die „inklusive Lösung“- der neue Gesetzesentwurf und seine

    Folgen für die Praxis

    Um den Forderungen der UN - BRK nachzukommen und nicht behinderten ebenso

    wie behinderten Kindern im gleichen Umfang Zugang zu Hilfen zur Erziehung zu

    ermöglichen, ist eine Umgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich.

    Aus diesem Grund wurde am 07.06.2016 die erste Entwurfsfassung zur Änderung

    des SGB VIII vorgestellt. In dieser Fassung wird beschrieben, dass die Kinder- und

    Jugendhilfe zu einem „inklusiven, effizienten, dauerhaft tragfähigen und belastbaren

    Hilfesystem“113 weiterentwickelt werden solle, indem die Subjektstellung der Kinder

    und Jugendlichen gestärkt wird. Um die Situation für Kinder mit Behinderungen und

    ihre Familien zu verbessern, sollen die Schnittstellen in den Leistungen überwunden

    werden. Der Leitgedanke lautet „Vom Kind aus denken!“114. Dementsprechend solle

    Kindern und Jugendlichen mehr Teilhabe, effizientere Leistungsangebote als auch

    ein wirksamerer Schutz geboten werden 115

    Auf die Forderung der UN-BRK, alle staatlichen Maßnahmen an einer Inklusions-

    perspektive auszurichten, solle auch die Kinder und Jugendhilfe inklusiv werden.

    Dies bedeutet in der Praxis, einen einheitlichen Leistungszugang für alle Kinder und

    Jugendliche zu entwicklungs- und teilhaberelevanten Aspekten zu schaffen. Weiter-

    112Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,2009 (13. Kinder- und Jugendbericht) S. 14 f. 113 1. Entwurfsfassung, 2016, S. 2. 114 ebd., S.3. 115 ebd., S. 3.

  • 36

    hin wird dafür plädiert, sich in der Kinder- und Jugendhilfe von dem Begriff „Hilfe“

    abzuwenden, da dieser Begriff impliziert, dass Menschen aufgrund ihres Defizites

    geholfen werden muss. Stattdessen soll „Inklusion“ zum Leitgedanken werden, so-

    dass Menschen mit Behinderungen auf einer Augenhöhe begegnet wird und Leis-

    tungen auf die Bedarfe der Menschen ausgerichtet sind, welche zur gesellschaftli-

    chen Vielfalt beitragen. 116

    Seit dem 23.08.2016 existiert eine Arbeitsfassung „zur Vorbereitung eines Gesetzes

    zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“. Diese Fassung beinhaltet die Forde-

    rung zur Änderung der bisherigen Hilfen zur Erziehung als auch der Eingliede-

    rungshilfe für seelisch behinderte Kinder. Zukünftig würden stattdessen Leistungen

    zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und Leistungen zur Entwicklung

    und Teilhabe für Kinder und Jugendliche bestehen. Darüber hinaus wird „Hilfe“

    durch das Wort „Leistung“ ersetzt und es wird festgeschrieben, dass Kinder mit und

    ohne Behinderung gemeinsam gefördert werden, wobei die besonderen Bedürfnisse

    der Kinder mit (drohender) Behinderung berücksichtigt werden müssen. 117

    Wie die Bedarfe von jungen Menschen mit (drohender) Behinderung zu ermitteln

    sind, soll zukünftig § 37 SGB VIII regeln. Diese Bedarfsermittlung orientiert an der

    Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit

    (ICF). 118

    Das bio-psycho-soziale Modell der ICF

    116 Vgl. 1. Entwurfsfassung, 2016, S. 5 f. 117 Vgl. Arbeitsfassung 23.08.2016, S. 1 ff. 118 Arbeitsfassung 23.08.2016, S. 18.

  • 37

    Die ICF wurde 2001 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet und stellt

    einen einheitlichen Bezugsrahmen her, unter welchem jede Beeinträchtigung eines

    Menschen erfasst werden kann. Die ICF gilt allerdings nicht nur für Menschen mit

    Beeinträchtigungen sondern ist universell auf jeden Menschen anwendbar. So wird

    berücksichtigt, dass Krankheiten immer in Wechselbeziehung zu Umweltfaktoren

    stehen. 119 Das abgebildete bio-psycho-soziale Modell der ICF versucht die das me-

    dizinische Modell (Behinderung als individuelles Problem) und das soziale Modell

    (Behinderung als gesellschaftlich verursachtes Problem) miteinander in Verbindung

    zu bringen und so Behinderung als vielschichtiges Geflecht zu betrachten. 120

    Der in seinen Grundzügen vorgestellte Gesetzesentwurf entspricht also den Forde-

    rungen der UN-BRK, die Bedarfe von allen Kindern gleichermaßen zu decken und

    sie nach ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern, anstatt sie durch unterschiedli-

    che Leistungssysteme nach Art ihrer Behinderung zu trennen. Doch was bedeutet

    die „große Lösung“ in der Praxis für die Jugendämter?

    Der Deutsche Caritasverband121 kritisiert, dass der Begriff „Erziehung“ im neuen

    Gesetzesentwurf weitgehend durch den Begriff „Entwicklung“ ersetzt wird, da der

    Anspruch von Eltern auf Hilfen zur Erziehung ein fester Bestandteil in der Kinder-

    und Jugendhilfe sei. Durch die Änderung, dass Eltern erst Anspruch auf ergänzende

    Leistungen erhalten sollen, wenn ein Entwicklungs- und Teilhabebedarf des Kindes/

    Jugendlichen besteht, werden Hilfemaßnahmen zukünftig erst greifen können,

    „wenn Kinder bereits die Folgen von Defiziten in der Erziehung zu tragen haben“122

    Fegert123 zufolge führt die Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe unter

    anderem zu der Notwendigkeit einer adäquaten personellen Ausstattung. Nicht nur,

    dass mit dem erweiterten Aufgabenbereich mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen

    eingestellt werden müssten, auch die fachliche Kompetenz müsse den neuen Bedar-

    fen angepasst werden. Dies soll heißen, dass neben dem Wissen über seelische Be-

    hinderungen zukünftig auch das Fachwissen über geistige und körperliche Behinde-

    rungen, als auch ihre Rehabilitationsmöglichkeiten vorhanden sein muss. Dieses

    119 Vgl. Eitle, 2012, S. 13 f. 120 Eitle, 2012, S. 15. 121 Cremer, 2016, neue caritas, S.33. 122 Cremer, 2016, neue caritas, S. 35. 123 2010, S. 272 f.

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    Fachwissen führe zwangsläufig wohl auch zu einer Veränderung der Einstellung bei

    den Fachkräften im Jugendamt. Bisher seien sehr unterschiedliche Bewilligungspra-

    xen des § 35a bei verschiedenen Jugendämtern zu vermerken und Bedarfe seien oft

    auf die erzieherische Frage reduziert worden. Zukünftig solle Teilhabe als neuer

    Maßstab grundsätzlich an Bedeutung gewinnen. Da die Teilhabe der Kinder und

    Jugendliche oft durch mangelnde ökonomische Voraussetzungen negativ beeinflusst

    werde, müsse die Hilfeplanung im Jugendamt zukünftig noch ressourcenorientierter

    ablaufen. So wird vorausgesetzt, dass Bedürfnisse des jungen Menschen im Hilfe-

    plan exakt beschrieben werden, um Barrieren der Teilhabe erkennbar werden zu

    lassen und entwicklungsfördernde Gesamtzusammenhänge, z.B. die Anbindung des

    jungen Menschen in einen Sportverein o.ä. sicherzustellen. 124

    Im Interview auf die Frage hin, wie sie dem neuen Gesetzesentwurf entgegenstehe,

    sagte die Mitarbeiterin der stationären Eingliederungshilfe: „Das wird spannend, ich

    weiß noch nicht wie das umzusetzen sein soll.“ (12:38) Sie persönlich finde, dass

    unterschiedliche Bedarfe in der Kinder-/ Jugendhilfe und der Behindertenhilfe be-

    stünden, sodass ihr beispielsweise, über in der Behindertenhilfe erforderliches, Wis-

    sen über pflegerische Bedarfe fehlten (14:05). Sie sagte: „Ich bin gespannt, […] wie

    das personell gestemmt werden soll“ (14:12).

    Über das Interview hinaus erklärte sie, dass das Jugendamt Bielefeld mit der Fach-

    stelle der Eingliederungshilfe einen guten Weg gefunden habe, Kinder und Jugend-

    liche mit einer seelischen Behinderung zu fördern. Die gemeinsame Förderung aller

    Kinder und Jugendlichen sei eine große Herausforderung, da das Jugendamt in sei-

    ner jetzigen Form die Aufgabe habe, zielorientiert zu arbeiten, was bei § 35a zum

    Teil schon an seine Grenzen stoße (13:08). Außerdem merkte sie an, dass sie per-

    sönlich, sich bewusst für die Kinder- und Jugendhilfe entschieden habe und nicht für

    den Bereich Sozialhilfe oder Behindertenhilfe (13:20).

    Diese Aussage scheint die Annahme zu bestätigen, dass sich unter anderem die Ein-

    stellung der Fachkräfte im Jugendamt ändern muss, um die gemeinsame Förderung

    aller Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Auch die Mitarbeiterin der ambulan-

    ten Eingliederungshilfe sagte im Interview, dass sie den Begriff der seelischen Be-

    124 vgl. Fegert, 2010, S. 272 f.

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    hinderung genau erkläre, „damit Eltern nicht denken sie haben ein behindertes

    Kind“ (06:08). Die Sorge um Stigmatisierung und Diskriminierung von Kindern und

    Jugendlichen durch die Zuordnung des Personenkreises nach § 35a, ist allgemein

    eine zentrale Kritik an der Eingliederungshilfe in ihrer jetzigen For