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Sohn der Sonne

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Nr. 382

Sohn der Sonne

Der Geheimnisvolle greift ein

von Horst Hoffmann

Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen wor­den. Der Kontinent, der unbeeinflußbar auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Korsallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischen Trümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen haben muß.

Die Zukunft sieht also nicht gerade rosig aus für Atlan und seine Mitstreiter. Alles, was sie gegenwärtig tun können, ist, die Lage auf Pthor zu stabilisieren und eine ge­wisse Einigkeit unter den verschiedenartigen Clans, Stämmen und Völkern herbeizu­führen.

Die angestrebte Einigkeit der Pthorer ist auch bitter nötig, denn Pthor bekommt es mit den Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus.

Während das Auftauchen von krolocischen Spähern auf Pthor Atlan umfassende Vorbereitungen gegen eine drohende Invasion treffen läßt, sind Razamon, der Ber­serker, und Balduur, der Odinssohn, im Stau selbst unterwegs, um die Lage zu son­dieren.

Als die beiden Männer bei ihrer abenteuerlichen Mission auf die Eripäer stoßen, die Nachfahren jener, die die kosmische Katastrophe überlebten, erhoffen sie sich von ihnen Hilfe gegen die Krolocs. Doch bald erkennen die Pthorer, daß die Eripäer mehr Schwierigkeiten haben, als sie zu meistern imstande sind.

Den Eripäern selbst zu helfen vermag nur einer: der SOHN DER SONNE …

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Die Hautpersonen des Romans:Razamon, Balduur und Pona - Die Pthorer und die Eripäerin sollen geheimnisvolle Morde aufklären.Gurankor - Regierungschef der Eripäer.Waaylon - Gurankors Vertrauter.Woolsar - Leiter einer Organisation von Fanatikern.Nurcrahn - Der Großvater eines Dreiäugigen.

1. Im Hexenkessel von Zaardenfoort

Irsocca preßte ihren Sohn fest an den Kör­per. Tirsoth zitterte. Seine drei Augen ver­suchten, in Irsoccas Gesicht zu lesen. Sie re­dete beruhigend auf ihn ein, doch immer wieder versagte ihr die Stimme.

Das Grölen der fanatisierten Eripäer, die ins Muuke eingedrungen und auf der Suche nach dem Dreiäugigen waren, wurde immer lauter. An ihrer Absicht bestand kein Zwei­fel. Sie würden ihn lynchen, sobald er ihnen in die Hände fiel. Irsocca hörte, wie sie die unteren Räume durchstöberten und die Ein­richtung zerschlugen.

Was war aus ihrem Volk geworden? Wa­ren die mysteriösen Todesfälle auf Zaarden­foort noch Entschuldigung für das blindwü­tige Vorgehen ihrer Artgenossen?

Die Tochter des auf Aarl verhafteten Lichtfürsten Nurcrahn packte den Griff des Messers fester. Sie hatte es hinter Tirsoths Rücken aus dem Ärmel des Umhangs gezo­gen. Tirsoth würde keinen Schmerz spüren, und für Irsocca hatte das Leben ohne Nur­crahn, ohne Pona und ihren Sohn allen Sinn verloren. Sie würden Farthor und Jacca fol­gen, den ersten Opfern des Fluches, der auf der Familie des Lichtfürsten zu lasten schi­en.

Die Schreie kamen näher. Eine Stimme war aus den anderen besonders deutlich her­auszuhören. Der Mann peitschte die anderen auf. Vermutlich einer der »Streiter des Lichts«, dachte Irsocca, der Geheimbündler, die gnadenlos Jagd auf alle Wesen machten, die dunkle Hautfarbe hatten – Wesen, die daran geglaubt hatten, auf den Welten der Eripäer Hilfe und freundliche Aufnahme zu

finden. Die Meute erreichte den oberen Teil des

Muukes. Gleich würde sie Tirsoths Gefäng­nis erreicht haben. Die organischen Wände stellten für sie kein Hindernis dar.

Es war heller Tag, und das Licht der Son­ne Sirkh-Prelljaddum fiel durch die Öffnung in der Decke genau auf Tirsoths Gesicht. Ir­socca erschauerte, als sie langsam die Hand mit dem Messer hob und die Spitze auf den Rücken des Siebenjährigen richtete.

Tirsoths Blick! Irsocca glaubte, in einer fremden Welt zu

versinken. Tirsoth war plötzlich völlig ruhig, und er sah sie an, als ob er ganz genau wüß­te, was die Stunde geschlagen hatte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sag­te er leise. »Was immer auch geschehen mag, es hat seinen Sinn.«

Irsoccas Hand zitterte. Sie starrte Tirsoth an. War dies noch das Kind, das sie großge­zogen hatte? Unterschwellig hatte auch sie Angst vor den Dreiäugigen.

Ein Triumphschrei. Die organische Wand hinter ihr teilte sich. Irsocca fuhr herum und sah die haßerfüllten Gesichter der Eripäer. Einen Augenblick war sie wie gelähmt. Dann preßte sie Tirsoth mit einer Hand an sich, während sie mit der anderen zum tödli­chen Stoß ausholte.

Da geschah etwas Unfaßbares. Die Öffnung in der Decke des Muukes

zog sich ruckartig zusammen. Es wurde dunkel. Die Lynchwütigen schrien in Panik auf. Dunkelheit war für Eripäer tödlich, wenn sie ihr längere Zeit über ausgesetzt waren. Irsocca hörte, wie die Eindringlinge kehrt machten und nach draußen drängten, ins Licht der Sonne. Sie wollte aufspringen und ebenfalls hinaus, doch Tirsoth hielt sie fest. Das Messer lag auf dem Boden. Irsocca

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zerrte an den Händen des Kindes, ohne frei­zukommen. Tirsoth schien die Kraft eines erwachsenen Mannes zu besitzen.

Nurcrahns Tochter war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Schon griff der Schwindel nach ihr. Sie hatte Atemnot. Ir­socca besaß nicht mehr die Kraft, sich gegen das grausame Schicksal aufzulehnen. Sie fiel auf den weichen Boden und blieb reglos lie­gen, bis das Licht der Sonne wieder auf ihr Gesicht fiel.

Die Öffnung war wieder vorhanden. Es war, als ob sie einen bösen Traum geträumt hätte.

Die Fanatiker waren verschwunden. Die Wand des Raumes hatte sich geschlossen.

Tirsoth lag am gegenüberliegenden Ende ebenfalls auf dem Boden und starrte sie aus seinen drei Augen verständnislos an. Irsocca konnte wieder klar denken. Sie wußte nicht, was dies alles zu bedeuten hatte, und glaubte an ein Wunder. Wenn Tirsoth sie nicht zu­rückgehalten hätte …

»Wer immer du wirklich bist«, brachte sie halblaut hervor. »Was immer sich hinter dir versteckt, ich danke dir.«

Tirsoth schien nicht zu begreifen. »Ich wäre jetzt draußen und in ihrer Gewalt«, sagte sie. »Und du wärest …« Irsocca biß sich auf die Lippen.

»Ich habe nichts getan«, erklärte der Drei­äugige.

»Du hast mich zurückgehalten, als ich …«

Tirsoth schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts getan, Mutter. Du hast

mich zurückgehalten, als ich vor Angst hin­auslaufen wollte.«

»Aber …«, Nurcrahns Tochter richtete sich auf. Das Licht brachte die Kraft schnell zurück.

Irsocca lief auf ihren Sohn zu und nahm weinend seine zierlichen Hände.

Sie verstand gar nichts mehr.

*

Noch bevor die Meute neuen Mut fassen

Horst Hoffmann

und einen zweiten Versuch unternehmen konnte, den Dreiäugigen herauszuholen, er­schienen die Schweber am Himmel. Es wa­ren acht. Sie landeten vor dem Muuke. Dut­zende von schwerbewaffneten Eripäern sprangen heraus, zum Teil Männer von Aarl, Raumfahrer, die direkt dem Eripäer Guran­kor unterstellt waren, wie an den Emblemen auf den Uniformen zu sehen war. Die ande­ren kamen von Luukh, der Hauptstadt des Kontinents Luuk, dessen Lichtfürst offiziell noch immer Nurcrahn war.

Innerhalb weniger Minuten war das Muu­ke abgeriegelt.

»Geht nach Hause«, forderte der Befehls­haber der Soldaten die Zaardenfoorter auf. »Der Eripäer wird in Kürze zu euch spre­chen. Und eine Erklärung abgeben.«

»Ha!« rief jemand aus der Menge. »Selbst Gurankor hat nicht das Recht, einen Dreiäu­gigen zu schützen!«

»Es wird eine Verhandlung geben«, er­klärte der Offizier. Auf seinen Wink hoben die Raumfahrer ihre Waffen. Den Ordnungs­kräften aus Luukh war anzusehen, daß sie nur mit halbem Herzen gegen die Aufge­brachten einschritten.

Dies waren Bilder, wie man sie auf Zaar­denfoort nicht gesehen hatte, solange die Bewohner des dritten Planeten sich zurück­erinnern konnten. Widerwillig zogen die Eripäer sich zurück, wobei eine deutliche Trennung zwischen jenen stattfand, die sich hatten mitreißen lassen, und den anderen, die sie aufgehetzt hatten und für ihre Zwecke ausnutzten. Diese Rädelsführer be­schimpften die Soldaten lauthals, beschul­digten sie, mit dem Verräter Nurcrahn und seiner Familie zu paktieren, und drohten an, sich Tirsoth später zu holen. Sie versuchten, die Mitläufer zurückzuhalten, doch diese hatten viel zu großen Respekt vor Gurankor und verstreuten sich bald in alle Winde.

Niemand wurde verhaftet, obwohl sich dem Eripäer hier eine Möglichkeit bot, füh­rende Köpfe der »Streiter des Lichts« ergrei­fen zu lassen. Nicht zuletzt Nurcrahn war es zu verdanken, daß das schändliche Treiben

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dieser Organisation in vollem Umfang auch auf Aarl, der Hauptwelt der Lichtung, be­kannt geworden war. Die anderen drei Lichtfürsten hatten sich offensichtlich ge­scheut, dem Eripäer Bericht zu erstatten. Die Bewohner Zaardenfoorts wollten ihre Probleme selbst lösen. Deshalb hatten sie auch abgelehnt, daß Wissenschaftler und Spezialisten von Aarl auf ihre Welt kamen, um die geheimnisvollen Todesfälle zu unter­suchen.

Diese waren letztlich ausschlaggebend für die Hysterie auf allen vier Kontinenten Zaar­denfoorts gewesen. Immer wieder hatte man Eripäer tot in ihren Muukern aufgefunden. Da es unvorstellbar war, daß ein Eripäer zum Mörder wurde, mußten die anderen her­halten – jene, die sich vor langer Zeit aus al­len Teilen des Korsallophur-Staus in die Lichtung geflüchtet hatten, um den Krolocs zu entgehen.

Diese Flüchtlinge waren nie besonders zuvorkommend behandelt worden. Sie leb­ten zumeist in Gettos zusammengepfercht oder als Bedienstete bei den großen Famili­en. Sie waren dunkel, und die Eripäer fürch­teten alles Dunkle. Der Grund dafür mochte in der fernen Vergangenheit ihres Volkes liegen oder in dem Umstand, daß sie dem Licht eine fast religiöse Verehrung entge­genbrachten. Es stand für die Lichtung – dem einzigen Ort im Stau, der noch nicht von den Krolocs beherrscht wurde. Nur hier konnten die Eripäer in relativer Sicherheit leben. Doch die Frage war, wie lange noch.

Diejenigen auf Zaardenfoort, die sich nicht von der Hysterie anstecken ließen, fragten sich bange, ob die jüngsten Ereignis­se nicht erste Anzeichen dafür waren, daß die eigentliche Gefahr nicht von den Krolocs ausging, sondern von den Eripäern selbst.

Die »Streiter des Lichts« hätten niemals in kürzester Zeit zu einer solch großen Orga­nisation werden können, wäre nicht der gei­stige Nährboden dafür auf Zaardenfoort vor­handen gewesen.

Das Gefühl, in der Lichtung eingesperrt zu sein, die immer heftiger werdenden An­

griffe der Krolocs – all das verunsicherte die Eripäer und ließ viele die alten Ideale ihrer Rasse vergessen.

Wieso, fragten sich die Besonnenen, griff der Eripäer Gurankor nicht ein? Er, der Mächtige und Geheimnisumwitterte, mußte doch erkennen, welch fatale Entwicklung sich anbahnte.

Gurankor schien aber weiterhin passiv bleiben zu wollen. Die militanten Traditio­nalisten zogen von Nurcrahns Muuke ab, ohne daran gehindert zu werden. Die organi­sche Behausung der Familie des Lichtfür­sten wurde abgeriegelt. Man konnte es auch so betrachten, daß Irsocca und ihr dreiäugi­ger Sohn, dessen Existenz auf der letzten Regierungssitzung bekannt geworden war, unter Arrest standen.

Überall warteten die Zaardenfoorter in ih­ren Muukern auf die angekündigte Rede des Eripäers. In den Nachrichten war von neuen Vorstößen der Krolocs an der Peripherie der Lichtung die Rede, und es gab einen weite­ren Todesfall. Ein vierjähriges Kind war von seinen Eltern erstickt aufgefunden worden. Sie waren unter denjenigen gewesen, die Nurcrahns Muuke stürmen wollten. Als sie zurückkehrten, machten sie die schreckliche Entdeckung.

Wieder war keine Spur von Gewaltein­wirkung zu erkennen.

Der Dreiäugige! sagten sich die Eripäer. Er hat schuld!

Der Planet Zaardenfoort würde nicht zur Ruhe kommen, bevor nicht die mysteriösen Todesfälle geklärt waren. Davon hing das Schicksal seiner Bewohner ab – und viel­leicht mehr.

2. An Bord der Raumstation Prudnier

Razamon konnte nicht fassen, was er ge­rade gehört hatte.

»Warten Sie, Gurankor!« rief er und machte einen weiteren Schritt auf den großen Bildschirm der Zentrale zu. Doch schon verschwamm das Bild des Eripäers.

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Zwei Raumsoldaten packten den Pthorer. Ein anderer richtete eine Waffe auf ihn.

Nurcrahn und Pona als vermeintliche Agenten der Krolocs verhaftet!

»Das kann doch nur ein übler Scherz sein«, sagte Razamon mit tonloser Stimme.

»Allmählich habe ich von diesen soge­nannten Scherzen genug«, knurrte Balduur, ebenfalls von Bewaffneten umringt.

Heftor, der Kommandant der Raumstati­on, erschien in Razamons Blickfeld und sah ihm triumphierend in die Augen.

»Ich hatte also doch recht«, sagte er. Zu den Soldaten gewandt, befahl er: »Bringt sie in ihre Zelle zurück. Ihr habt gehört, was der Eripäer sagte. Sie werden von einem Kreu­zer abgeholt und nach Aarl gebracht, wo über sie zu Gericht gesessen wird.«

Da brach es aus Razamon heraus. Zu lan­ge hatte er Heftors Arroganz ertragen müs­sen. Zu lange war er gegen Mauern aus Ignoranz und Borniertheit angerannt. Er wußte nicht, was hier gespielt wurde, aber er war nicht mehr bereit, auf Gefühle Rück­sicht zu nehmen. Von Pona hatte er erfah­ren, daß die Eripäer unter ihrer unbekannten und somit unbewältigten Vergangenheit lit­ten. Deshalb hatte er bisher geschwiegen. Vielleicht war aber nun das, was er während seiner unfreiwilligen Zeitreise erlebt hatte, das einzige, mit dem er Heftor und Gurankor von seiner und Balduurs »Unschuld« über­zeugen konnte.

»Eure dreiäugigen Vorfahren waren schon besessen; aber immer noch verdammt viel klüger als ihr!« schrie der Atlanter Heftor an. »Sie waren durch ihre Mutation gezeich­net und konnten letztlich nicht anders han­deln, als sie es getan haben. Aber sie waren menschlich, verstehen Sie? Freundlich und nicht so stur wie Sie!«

Im nächsten Augenblick bereute er schon wieder, daß er mit der Wahrheit herausge­rückt war. Heftor ließ seine Waffe fallen und starrte ihn entsetzt an. Der sonst so selbstsi­chere Kommandant der Weltraumstation be­gann zu zittern.

»Was wissen Sie über die Dreiäugigen?«

Horst Hoffmann

fragte er kaum hörbar. Auch die Soldaten waren außer sich. Die

Eripäer, die hinter den Kontrollen saßen, drehten sich um und schienen nicht fassen zu können, was sie eben gehört hatten.

Was habe ich getan? durchfuhr es Raza­mon. Sein Zorn war verflogen. Er sah die Hilflosigkeit der Eripäer und gewann in die­sem Augenblick einen Eindruck des grausa­men Schicksals, unter dem dieses Volk litt.

»Was wissen Sie?« wiederholte der Kom­mandant mit krächzender Stimme.

Es hat keinen Sinn, zu schweigen, dachte Razamon. Ich habe den Anfang gemacht, und früher oder später werden sie die Wahr­heit über sich erfahren müssen. Daran, daß die Eripäer die Nachkommen der Eshtoner waren, konnte kein Zweifel mehr bestehen.

»Vor langer Zeit durchstreifte ein Volk mit einem riesigen Sternenschwarm das Weltall«, sagte er. »Diese Wesen nannten sich Eshtoner. Sie besaßen ursprünglich zwei Augen wie ihr, ein drittes entwickelten sie im Lauf der Evolution unter den für sie fremden Lebensbedingungen im Schwarm.« Razamon erzählte die Geschichte der Eshto­ner, soweit sie ihm bekannt war. Er ver­schwieg aber vorsichtshalber, auf welche Weise er seine Informationen erhalten hatte. Ein Zeitabenteuer würden die Eripäer ihm kaum abnehmen. Er sagte aus, daß die Es­htoner im Lauf der Zeit unfähig wurden, sich in der vierten Dimension zu orientieren, ohne jedoch bereits in der Lage zu sein, sich in der fünften Dimension zurechtzufinden. Die Folge war, daß sie beschlossen, die von einigen Wissenschaftlern entdeckten Dimen­sionskorridore zu erschließen, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten. Razamon ver­zichtete darauf, seine Versuche, das Unheil abzuwenden, zu schildern, und beschränkte sich aufs Wesentliche.

»Und so manövrierten sie mit der Energie vieler Sonnen den Schwarm in einen Dimen­sionskorridor«, schloß er. »Dort jedoch wa­ren die Sonnen und ihre Planeten artfremde Materie. Der Zusammenstoß mit Materie in­nerhalb des Dimensionskorridors löste die

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Katastrophe aus. Übrig blieb das, was Sie den Korsallophur-Stau nennen: Trümmer und Staubmassen.«

Es dauerte fast eine Minute, bevor Heftor die Sprache wiederfand.

»Das ist nicht wahr! Sie lügen! Die Kro­locs haben Ihnen diese Geschichte erzählt, damit Sie uns vernichten!«

Vernichten? War die Konfrontation mit der Realität so schrecklich für die Eripäer, daß sie daran zerbrechen mußten?

Razamons Mitleid mit Heftor wuchs. Ge­gen seinen inneren Widerstand fragte er:

»Glauben Sie uns immer noch nicht? Wo­her sollten die Krolocs von der Katastrophe wissen? Sie lebten als Parasiten auf den Welten der Eshtoner. Damals waren sie nicht mehr als Ungeziefer. Sie überlebten das Unglück ebenso wie Sie. Wer kann wis­sen, welchem Umstand es zuzuschreiben ist, daß sie Intelligenz entwickelten und Sie an­scheinend in Ihrer Entwicklung überholten, so daß sie nun dabei sind, Sie …«

»Schweigen Sie!« donnerte Heftors Stim­me durch die Zentrale. Der Kommandant zitterte immer noch, doch seine Augen ver­sprühten Haß, und Razamon wußte, daß es nicht Haß auf ihn und Balduur war, sondern auf etwas, das der Offizier nicht wahrhaben wollte.

Vieles erschien dem Atlanter in neuem Licht.

Er und Balduur waren gekommen, um in der Lichtung Hilfe für sich und Pthor zu fin­den, das im Stau gestrandet war und von den Krolocs bedroht wurde. Heftors Reaktionen allerdings schienen zu beweisen, daß die Eripäer Hilfe nötiger hatten als sie. Sie wa­ren verunsichert und den Krolocs auf Dauer unterlegen, falls sie nicht mit sich selbst ins reine kamen.

»Ich werde nichts mehr sagen«, erklärte Razamon. Wenn es jemand gab, mit dem er reden konnte, war es Gurankor. Während der ersten kurzen Unterhaltung mit dem Re­gierungsoberhaupt der Eripäer hatte Raza­mon den Eindruck gewonnen, einen Mann vor sich zu haben, der mehr wußte als die

anderen Eripäer. »Sie … Sie sind verrückt!« preßte Heftor

hervor. »Jedermann weiß, welchen Fluch die Dreiäugigen darstellen. Sie stehen mit ihnen im Bund, ebenso wie die Krolocs.« Mit be­bender Stimme befahl Heftor den Raumsol­daten, die beiden Gefangenen in ihre Zelle zurückzubringen. Es war offensichtlich, daß er ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte.

Der Blick der Bewaffneten jagte Raza­mon einen eiskalten Schauer über den Rücken. Er war froh, als sich die Zellentür hinter ihm schloß. Balduur sprach das aus, was er dachte:

»Es war ein Fehler von dir«, knurrte der Odinssohn. »Jetzt bin ich mir nicht mehr si­cher, daß wir Aarl lebend erreichen wer­den.«

*

Kommandant Heftor hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er ging zu einem Wandschrank auf dem Korridor, der von der Zentrale zu den Aufzügen führte, und gab sich eine stimulierende Injektion. Seine Ge­danken überschlugen sich.

Er versuchte verzweifelt, sich einzureden, daß die Offenbarung des Schwarzhaarigen nur ein letzter Versuch war, sich zu retten.

Es konnte einfach nicht wahr sein! Die Eripäer als Nachkommen von Dreiäugigen – allein der Gedanke daran war Frevel.

Aber die Überlieferungen besagten, daß Dreiäugige an ihrem Unglück schuld waren. Daher der Haß und die Angst. Und es war eine Tatsache, daß früher viel mehr Dreiäu­gige geboren wurden als heute.

Der Eripäer mußte sofort benachrichtigt werden.

Heftor wartete ab, bis das Zittern aufge­hört hatte. In die Zentrale zurückgekehrt, versuchte er zunächst, die völlig verunsi­cherten Männer und Frauen zu beruhigen. Dann ließ er eine neue Verbindung zum Eripäer herstellen.

Diesmal wurde er nicht von Stellvertre­tern abgefertigt.

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Heftor berichtete, was er von dem Schwarzhaarigen gehört hatte. Zu seinem großen Erstaunen blieb der Eripäer gefaßt. Die Antwort Gurankors versetzte Heftor einen weiteren Schock.

»Sie werden Ihre Anweisungen direkt von Urgan erhalten«, verkündete der mächtigste aller Eripäer. »Der Kommandant des im An­flug auf Prudnier befindlichen Kreuzers wird ebenfalls informiert. Unternehmen Sie nichts ohne genaue Instruktionen.«

Gurankors Bild verschwand so schnell, daß Heftor keine Zeit für weitere Fragen hatte. Dafür erschien das Symbol des Re­chengehirns auf dem großen Schirm – Ur­gan, von dem es hieß, daß es uralt war und noch aus der Zeit vor der Katastrophe stammte. Die Eripäer empfanden Ehrfurcht vor dem Rechengehirn, doch der Vorschlag, den Urgan machte, ließ Heftor an seinem Verstand zweifeln.

Die Gefangenen sollten nach Zaarden­foort geschafft werden und dort mit der noch auf Aarl inhaftierten Pona zusammentreffen, um ihre haarsträubende Geschichte bewei­sen zu können. Es durfte ihnen nichts zusto­ßen, erklärte Urgan weiter. Heftor und der Kommandant des Kreuzers, der sie abholen sollte, hafteten dafür.

Heftor stand mit offenem Mund vor dem Bildschirm, als das Symbol verblaßte. Hin­ter sich hörte er die mißbilligenden Rufe der Zentralbesatzung.

Der Kommandant der Weltraumstation Prudnier stellte selbst eine weitere Verbin­dung zum Eripäer auf Aarl her und prote­stierte mit Nachdruck gegen diese Maßnah­me, die den vermeintlichen Agenten und ih­rer Helferin seiner Meinung nach nur Gele­genheit gab, ihr gefährliches Treiben fortzu­setzen.

Doch der Eripäer stellte sich hinter den Vorschlag des Rechengehirns.

»Sie werden das tun, was Urgan für gut befindet«, sagte Gurankor ungewohnt heftig. »Die Fremden werden sieben Tage Zeit ha­ben, um auf Zaardenfoort nicht nur ihre ei­gene Unschuld, sondern auch die des Drei-

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äugigen in Nurcrahns Muuke zu beweisen. Falls ihre Aussage auf Wahrheit beruht, ha­ben wir die Dreiäugigen vielleicht völlig falsch eingeschätzt, und sie sind nicht die Ungeheuer, für die wir sie halten. Stellen Sie keine weiteren Fragen und führen Sie die Ih­nen gegebenen Befehle aus.«

Wieder verschwand das Bild des Eripäers vom Schirm. Heftor konnte nicht begreifen, mit welcher Ruhe Gurankor sprach. In sei­nen Augen war es Wahnsinn, die Fremden auf freien Fuß zu setzen.

Was hieß überhaupt, sie könnten die Un­schuld des Dreiäugigen in Nurcrahns Muuke beweisen?

Resigniert wandte der Kommandant der Raumstation sich vom Bildschirm ab und in­formierte alle Mitglieder der Besatzung.

Wütende Proteste waren die Antwort. Heftor hatte größte Mühe, die Gemüter zu beruhigen.

*

Kommandant Heftor gab keine Erklärun­gen, als er knapp zwei Stunden später die Gefangenen zum Kreuzer bringen ließ. Soll­ten sie glauben, daß man sie nach Aarl brächte. Einen weiteren Zwischenfall an Bord der Raumstation wollte Heftor nicht riskieren. Es hatte genug Tote gegeben, und selbst mit der Waffe in der Hand fühlte er sich in der Nähe der Fremden nicht sicher.

Als der Kreuzer sich von der Hülle Prud­niers löste und Kurs auf Zaardenfoort nahm, atmete Heftor auf. Auch die gefangenen Krolocs, nach wie vor betäubt, befanden sich an Bord, um auf Aarl verhört zu wer­den.

Besorgt beobachtete Heftor die Bildschir­me, die die rötlich glühende Peripherie der von kosmischen Staubmassen eingeschlos­senen Lichtung zeigten. Nur auf den ersten Blick schien die Lichtung ein Stück norma­ler Weltraum zu sein.

Die Echos auf den Orterschirmen sagten genug.

An der Peripherie fand ein gewaltiger

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Aufmarsch krolocischer Spaccahs statt. Eine neue Offensive stand bevor.

Die Krolocs hatten nach Heftors Überzeu­gung ihre Agenten geschickt, um die Eripäer so sehr zu verunsichern, daß sie für einige Zeit verteidigungsunfähig waren. Dann wollten sie zuschlagen.

Man würde sie aber gebührend empfan­gen.

*

Razamon schätzte, daß seit dem Besteigen des Kreuzers etwa drei Stunden vergangen waren, als das Geräusch des Antriebs sich veränderte und die bevorstehende Landung signalisierte. Wenige Minuten später erstarb es völlig. Der Begegnung mit Gurankor ent­gegenfiebernd, wartete er darauf, daß ihre Bewacher erschienen.

Balduur verhielt sich schweigsam. Manchmal blickte er wehmütig vor sich hin. Razamon wußte, daß er sich größte Sorgen um Fenrir machte, der im Stau zurückgeblie­ben war. Vielleicht hatte der Odinssohn auch Heimweh. Er hatte Pthor vor diesem Abenteuer wohl niemals für so lange Zeit verlassen.

Endlich erschienen fünf Bewaffnete und führten die Gefangenen aus dem Schiff. Auf Fragen gaben sie keine Antwort.

Über eine Rampe verließen sie den eiför­migen Raumer und betraten das Landefeld, wo sie vor einem bereitstehenden Schweber von anderen Bewaffneten erwartet wurden.

Schon auf der Rampe wunderte Razamon sich darüber, daß der Hafen relativ klein war. Nur wenige Schiffe waren zu sehen, dahinter die Verwaltungsgebäude und Kon­trolltürme. Die Gebäude einer Stadt waren zu erkennen, doch kaum Flugverkehr.

»Ich hätte mir die Hauptstadt Ihres Zen­tralplaneten anders vorgestellt«, murmelte er.

Wider Erwarten antwortete diesmal einer der Bewacher.

»Sie befinden sich nicht auf Aarl. Dies ist Luukh, eine der vier Zentralstädte Zaarden­

foorts.« »Aber wir sollten nach Aarl gebracht wer­

den!« entfuhr es dem Pthorer, der eine neue Tücke der Eripäer witterte.

»Gurankor hat anders entschieden. Wir bekamen die Anweisung, Sie zum dritten Lichtträger zu bringen, wo Sie Pona gegen­übergestellt werden sollen.«

Was sollte das nun wieder? Zwar freute sich Razamon über das bevorstehende Wie­dersehen, doch wieso hatte Gurankor seine Absicht geändert?

Razamon fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, und auch Balduur begann zu fluchen. Unwillkürlich dachte der ehemalige Berserker an Gurankors Auskunft, daß Pona eine Nachrichtensonde in Richtung Pthor geschickt hatte. Das mußte mit der Einwilli­gung des Eripäers geschehen sein. Hieß das aber nicht, daß Gurankor doch ihre Ge­schichte glaubte?

Razamon versuchte vergeblich, einen Sinn in diesem verrückten Spiel zu erken­nen, das man mit ihnen trieb. Und er fragte sich, ob Atlan die Nachricht erhalten hatte und eventuell schon unterwegs war, um Hil­fe zu bringen.

Razamon konnte sich vorstellen, daß er, Balduur und Pona diese Hilfe bald gebrau­chen konnten.

»Wohin sollen wir gebracht werden?« wollte Razamon wissen.

Sie befanden sich bereits im offenen Schweber.

»Zum Muuke des Lichtfürsten Nurcrahn«, erklärte ein Raumsoldat knapp, während das Fahrzeug vom Boden abhob und Fahrt auf­nahm.

Was war ein Muuke? Razamon stellte keine Fragen mehr. Es

hatte keinen Sinn. Der Schweber überflog den Rand der

Stadt und erreichte ebenes, zum großen Teil mit Gräsern bewachsenes Gelände. In der Ferne waren Hügel zu erkennen. In unregel­mäßigen Abständen tauchten Gebilde auf, die wie riesige Schwämme am Boden hafte­ten. Zwischen ihnen gab es Straßen, die je­

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doch kaum befahren wurden. Sollten dies die Muuker sein?

Nach fast einer Stunde setzte der Schwe­ber vor einem besonders großen Exemplar der seltsamen Gebilde zur Landung an. Es befand sich nicht weit von der Küste eines Ozeans entfernt und war von Raumsoldaten umstellt. Mehrere Schweber befanden sich in der Nähe. Razamon und Balduur wurden mit winzigen eripäischen Translatoren aus­gerüstet, wie sie auch Heftor und ihre späte­ren Bewacher getragen hatten.

»Steigen Sie jetzt aus«, befahl der Pilot der eigenen Maschine nach der Landung. Obwohl er auf etwas Ähnliches vorbereitet gewesen war, schrak Razamon zusammen, als er drei Eripäer mit Waffen aus einer der vielen Öffnungen des Riesenschwamms tre­ten sah. Sie nahmen ihn und Balduur in Empfang. Der Odinssohn hatte offensicht­lich Mühe, sich unter Kontrolle zu halten.

»Folgen Sie uns«, sagte einer der drei, während der Schweber schon wieder abhob und nach Luukh zurückjagte. Die Stimme des Bewaffneten verriet offene Feindselig­keit.

3. Im Hexenkessel von Zaardenfoort

Razamon und Pona fielen sich in die Ar­me. Für wertvolle Augenblicke konnte der Pthorer vergessen, in welcher Lage er sich befand. Pona weinte, und als sie Balduur ebenso stürmisch begrüßte, geriet der Odins­sohn in sichtbare Verlegenheit.

»Ist ja gut«, lachte Razamon, um sofort wieder ernst zu werden. Er zeigte auf die un­regelmäßig gewölbten, mit dicken Adern durchzogenen Wände. »Was ist das?«

»Unser Muuke«, erklärte Pona. Sie lä­chelte, als sie die Verwirrung in Razamons Augen las. »Unsere Behausungen sind orga­nisch, sozusagen Pflanzen-Tier-Zwitter. Man könnte sagen, daß wir mit ihnen eine Symbiose eingegangen sind. Sie gestalten sich nach unseren Bedürfnissen. Ein Gedan­kenbefehl genügt, um Öffnungen in den

Horst Hoffmann

Wänden entstehen zu lassen.« »Eine Zweckgemeinschaft hat immer

zwei Seiten«, murmelte Razamon. »In wel­cher Weise profitieren diese Muuker von euch?«

»Das wissen wir nicht«, erklärte Pona. »Es hat uns jetzt auch nicht zu interessieren. Kommt mit. Ich bringe euch zu Irsocca, meiner Mutter, und Tirsoth.«

»Dem Dreiäugigen?« »Ja.« Wenig später standen die beiden Pthorer

Nurcrahns Tochter und dem Wesen gegen­über, das für das Unglück der Familie Nur­crahn verantwortlich gemacht wurde.

Razamon fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. So wie Tirsoth hatten die jungen Eshtoner ausgesehen.

Die Begrüßung erfolgte ohne Emotionen. Dann berichtete Pona:

»Ich kam kurz vor euch auf Zaardenfoort an. Nurcrahn befindet sich noch in Gefan­genschaft auf Aarl.« Sie berichtete über die Todesfälle auf dem dritten Planeten. »Was von uns verlangt wird, ist nichts anderes, als diese aufzuklären. Die Eripäer glauben, daß ein Komplott gegen sie im Gang ist. Sie ver­muten einen Schachzug der Krolocs. Angeb­lich soll mein Großvater mit ihnen im Bunde stehen, ebenso wie mit den Dreiäugigen. Es wird behauptet, daß meine Entführung nur vorgetäuscht war, um euch als Agenten der Krolocs einzuschleusen.«

»Diesen Unsinn haben wir schon von Heftor gehört«, sagte Razamon.

»Dazu kommen die Todesfälle. Auch die­se sollen, wie man jetzt glaubt, mit der er­warteten Großoffensive der Krolocs in Zu­sammenhang stehen. Gurankor konnte ver­hindern, daß Irsocca und Tirsoth ermordet wurden, und er gibt euch und mir die Chan­ce, unsere Unschuld zu beweisen. Sollte es uns gelingen, dem geheimnisvollen Mörder das Handwerk zu legen, hätten wir in den Augen der Öffentlichkeit bewiesen, daß wir nicht gemeinsame Sache mit unseren Fein­den machen.«

»Solch eine Haarspalterei habe ich lange

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nicht mehr erlebt«, entfuhr es Razamon. »Verdammt! Um ein Haar wären wir alle drei im Stau umgekommen!«

»Das weiß ich doch«, sagte Pona verzwei­felt. »Aber niemand kennt die Gedanken des Eripäers.«

Ja, dachte Razamon verbittert. Niemand weiß, welche Teufelei dieser Mann vorhat. Es kam dem Pthorer wie bittere Ironie vor, daß er noch vor Stunden all seine Hoffnun­gen in eben diesen Gurankor gesetzt hatte.

»Also schön«, knurrte der Pthorer. »Berichte mir alles über die Todesfälle, was du weißt.«

Wenig später war Razamon informiert, doch nicht schlauer als vorher. Wie stellte Gurankor sich die Lösung des Problems vor?

Ponas Vater war ebenfalls unter den Op­fern. Man hatte ihn tot in einem Muuke in den Hügeln aufgefunden. Razamon nahm sich vor, hier anzuknüpfen.

»Wir werden das Muuke untersuchen. Vielleicht finden wir eine Spur. Gibt es ir­gendwelche Tabus, die vielleicht dafür ver­antwortlich sein könnten, daß deine Artge­nossen noch nichts gefunden haben?«

»Nein«, antwortete Pona. »Gurankor glaubt nicht daran, daß Dunkelhäutige hinter den Verbrechen stecken. Großvater äußerte die Ansicht, daß es sich um Machenschaften der Krolocs handeln konnte. Das ändert nichts daran, daß die Geheimbündler uns auch weiterhin das Leben schwermachen werden. Und es ist die Frage, wie lange der Eripäer uns beschützen kann. Wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht sterben wollen.«

Seltsam genug, dachte Razamon. Nur­crahn als Verräter verhaftet, und dennoch hat man auf Aarl seine Auslegungen über­nommen.

Wie schizophren waren die Eripäer? Wer war Gurankor wirklich?

Einem plötzlichen Impuls folgend, kniete Razamon vor dem auf dem Boden kauern-den Tirsoth nieder. Der Dreiäugige blickte ihn fasziniert an.

»Kannst du die Töne hören?« fragte Tir­

soth, bevor Razamon eine Frage stellen konnte.

»Welche Töne?« »Sie sind überall, und sie sind wunder­

schön.« Sekundenlang sah der Dreiäugige zur Deckenöffnung auf, durch die das wohl-tuende Licht der Sonne fiel. Dann plötzlich fiel ein Schatten auf sein Gesicht.

»Sie sollen aufhören!« kreischte er. »Wer, Tirsoth?« Razamon packte das

Kind an den Schultern. »Sag mir, was du … fühlst!«

»Es sind böse Schwingungen, und sie kommen näher. Es ist …« Tirsoth schrie auf und entwand sich Razamons Händen. Er stürzte auf Irsocca zu. »Sie kommen wieder! Sie werden alles zerstören!«

Im gleichen Augenblick hörte Razamon Balduurs Fluchen. Der Odinssohn stand am Eingang des kleinen Raumes, einem runden Loch in der organischen Wand. Nun hörte Razamon auch die noch entfernten Rufe und Stimmen.

»Die Streiter des Lichts«, flüsterte Irsoc­ca. Sie berichtete über ihre wundersame Ret­tung beim ersten Ansturm der Fanatiker.

»Sie werden uns nichts tun können«, sag­te Razamon. »Die Soldaten beschützen uns.«

»Nicht mehr lange«, flüsterte Tirsoth. »Ich habe Zweifel.«

Razamon glaubte dem Jungen aufs Wort, und er fragte sich, was das dritte Auge fühl­te. Einen anderen Begriff für die Wahrneh­mungsfähigkeit dieses zusätzlichen Organs fand er nicht.

»Ihr müßt bei dem Muuke beginnen, in dem mein Vater gestorben ist«, kam es leise vom Dreiäugigen. »Dort fließen alle Ströme zusammen …«

Draußen schrie jemand auf. Das Röhren von Energiestrahlern war zu hören. Eripäer brachten sich gegenseitig um. Auf Ponas und Irsoccas Gesicht stand das blanke Ent­setzen geschrieben. War das das Volk, von dem Razamon sich Hilfe erhofft hatte – ein ruhender Pol des Friedens innerhalb des Korsallophur-Staus?

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»Ich halte das nicht mehr aus!« schrie Balduur plötzlich. »Sie sollen sehen, mit wem sie es zu tun haben!«

Razamon konnte den Odinssohn nicht mehr zurückhalten. Balduur stürzte aus dem Raum.

*

Der Odinssohn erreichte nicht einmal den Ausgang des Muukes. Einer der Raumsolda­ten, die gegen die anrennende Menge kämpften, fuhr herum. Balduur sah die Mün­dung einer Waffe auf sich gerichtet und brach im nächsten Augenblick gelähmt zu­sammen.

Er sah nicht, wie die Fanatiker abgedrängt wurden und merkte nicht, daß Razamon ihn zurück ins Muuke trug.

Als er sich wieder bewegen und seine Umgebung wahrnehmen konnte, war es draußen ruhig.

»Es wird bald dunkel«, bemerkte Irsocca. »Wartet den Tag ab.«

»Alle Muuker sind beleuchtet«, entgegne­te Pona. »Und auf dem Weg zu den Hügeln wird uns der Schweber genügend Licht zum Leben spenden.«

Razamon, Balduur und Pona gelangten ohne Behinderung aus der Behausung der Familie Nurcrahn. Der Befehlshaber des Wachkommandos wies ihnen einen Schwe­ber an. Offensichtlich war er von Gurankor instruiert worden.

Bei Sonnenuntergang erreichten die drei die Hügel. Sie machten sich keine Illusio­nen. Mit Sicherheit wurden sie beobachtet. Manchmal blitzte es kurz am Himmel auf. Razamon vermutete, daß Sonden über ihnen kreisten, die jeden ihrer Schritte registrier­ten.

»Können wir auf die Unterstützung der Bevölkerung hoffen?« wollte Balduur wis­sen. Seine Stimme klang müde, als ob er gar nicht recht bei der Sache wäre.

»Der Eripäer hat die Zaardenfoorter in ei­ner Ansprache über seinen Plan unterrich­tet«, sagte Pona. »Doch verlaßt euch nicht

Horst Hoffmann

darauf, daß sie uns unterstützen werden. Uns sind nur wenige Freunde geblieben.«

»Die Lichtfürsten der Nachbarkontinen­te?«

»Muljhar von Daymoor und Kaaner von Laarmadoor«, antwortete Pona. »Sie glau­ben an meinen Großvater, aber sie stehen unter politischem Druck.«

»Wunderbare Aussichten«, knurrte Raza­mon.

Ein Muuke kam in Sicht. Überall in der Nähe waren turmhohe Scheinwerfermasten aufgestellt, die dafür sorgten, daß es nachts ebenso hell war wie am Tag. Pona brachte den Schweber zur Landung.

»Jetzt werden sie wieder zuschlagen«, murmelte das Mädchen.

»Diese Streiter des Lichts?« Pona nickte. Schweigend ging sie vor den

Männern her auf das Muuke zu. Es war klei­ner als das ihrer Familie. Farthor hatte sich hierher zurückgezogen, als Nurcrahn ihn da­vonjagte.

»Hier fanden wir seine Leiche«, erklärte Pona.

Sie sahen sich um. Balduur wich er­schreckt zurück, als sich in dem schwamm­ähnlichen Gebilde direkt vor Pona eine Öff­nung bildete, ohne daß das Mädchen die Hülle berührt oder etwas gesagt hätte. Sie hatte sich den Eingang nur gewünscht.

Pona zeigte den Pthorern den Raum, in dem ihr Vater gefunden worden war, was nicht einfach war, weil die Muuker ihre Struktur unaufhörlich veränderten, wenn sie längere Zeit über nicht bewohnt waren.

Keine neue Spur. Razamon erkannte, wie sinnlos ihre Suche war, solange sie keine weiteren Informationen hatten. Irgendeinen gemeinsamen Nenner. Doch woher sollten sie Auskünfte bekommen?

Man hatte sie kaltgestellt – unbewaffnet, blind und hilflos in einer unbekannten und feindselig erscheinenden Welt.

Doch der Weg zu Gurankor schien über den geheimnisvollen Mörder zu führen. Je­nen Verbrecher, der in den Augen der mei­sten Eripäer mit dem Dreiäugigen in Nur­

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crahns Muuke identisch war. »Wer soll eigentlich der Nachfolger dei­

nes Großvaters als Lichtfürst dieses Kontin­ents werden?« fragte Razamon, als sie das Muuke verließen.

»Das wird auf Aarl entschieden«, erklärte Pona. »Er wird aus der Mitte der sechs Bera­ter meines Großvaters berufen, falls Nur­crahn nicht rehabilitiert wird.«

»Und wer hat die größten Aussichten?« »Woolsar«, sagte Pona. Plötzlich fuhr Balduur herum. »Was ist los?« fragte Razamon. »Mir war,

als hätte ich etwas gehört. Dort, in diesem … Ding.«

Er zeigte auf den Eingang des Muukes. »Unsinn«, murmelte Razamon. Dennoch

ging er zurück. Wie bei Tag die Sonne, er­hellten jetzt die Scheinwerfer die Hohlräume des Riesenschwamms. Razamon sah das Messer auf dem Boden liegen – wenige Me­ter hinter dem Eingang.

»Es gehört Irsocca«, erklärte Pona fas­sungslos.

»Und wie kommt es hierher?« »Ich kann es mir nicht erklären. Sie durfte

unser Heim nicht mehr verlassen, seitdem Tirsoths Existenz bekannt wurde und die er­sten Angriffe erfolgten.«

»Und da hatte sie es noch?« »Ich bin sicher.« Pona wußte nichts von

Irsoccas Absicht, sich und Tirsoth zu töten, bevor sie in die Hände der Fanatiker fallen konnten.

Wieder stellte Razamon Spekulationen an. Ein unsichtbarer Helfer?

Zumindest besaßen sie nun eine Waffe. Der Atlanter ließ das Messer in einer Tasche seines Raumanzugs verschwinden und hoff­te, daß die Sonden das Bild nicht eingefan­gen hatten.

»Es muß doch eine Stelle geben, wo alle Informationen über die Todesfälle gespei­chert sind«, meinte Balduur.

»Ja«, sagte Pona. »In Luukh. Dort kamen mit mir zusammen Wissenschaftler von Aarl an, die an Kommunikationsmöglichkeiten mit den Muukern arbeiten. Sie erhielten al­

lerdings den Befehl vom Eripäer, sich so­lange passiv zu verhalten, bis wir entweder Erfolg haben oder scheitern.«

Sieben Tage! Sollten die Muuker vielleicht Auskunft

darüber geben, was in ihnen geschehen war? Ein verrückter Gedanke. Wände konnten nicht sprechen, auch wenn sie lebten.

»Wir fliegen nach Luukh«, entschied Raz­amon.

4. Auf Aarl

Der Eripäer stand den drei Lichtfürsten und den sechs Beratern Nurcrahns in einem großen Konferenzsaal des Regierungspalasts gegenüber. Die Lichtfürsten waren in far­benprächtige, sehr helle Gewänder gehüllt, um der Bedeutung des Augenblicks Rech­nung zu tragen.

»Sie haben Ihre Entscheidung getroffen?« fragte Gurankor.

Muljhar, der älteste der Lichtfürsten, ant­wortete für die ehemaligen Berater Nur­crahns, wie es der Brauch verlangte.

»Das Licht ist zum Kontinent Luuk zu­rückgekehrt.« Muljhar machte zwei Schritte auf Woolsar zu und hob dessen Hand. »Hier steht der Nachfolger des Verräters.«

Der Unterton in Muljhars Stimme, als die­ser von Nurcrahn als Verräter sprach, ent­ging Gurankor nicht. Es gab nicht wenige Eripäer, die an Nurcrahns Schuld zweifelten, doch diese waren in der Minderheit.

»Woolsar.« Der Eripäer nickte bedächtig. Er war von vorneherein der aussichtsreichste Kandidat gewesen. Gurankor war nicht überrascht.

»Die Entscheidung fiel einstimmig«, er­klärte Muljhar.

»Kommen Sie her, Woolsar«, sagte der Eripäer. Dann, als der zukünftige Lichtfürst ihm direkt gegenüberstand, fragte er: »Sind Sie bereit, das Amt anzutreten?«

»Ja, Eripäer!« Gurankors Blick schien den anderen

durchdringen zu wollen.

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»Es wird keine leichte Aufgabe sein, ge­meinsam mit Ihren neuen Amtsbrüdern auf Zaardenfoort für Ruhe und Ordnung zu sor­gen.«

»Dessen bin ich mir bewußt, Eripäer«, versicherte Woolsar, ohne das geringste An­zeichen von Unsicherheit zu zeigen. Immer­hin lag die letzte Entscheidung über seine Zukunft bei Gurankor.

»Sie wollen Nurcrahns Politik fortsetzen? Seine gemäßigte Politik, auch die Nichte­ripäer betreffend?«

Die Männer im Hintergrund wurden unru­hig. Gurankors Stimme war fast schneidend. Doch Woolsar antwortete fest:

»Ich habe den Lichtfürsten geachtet und von ihm gelernt. Ja, Eripäer. Ich werde in seinem Sinn weiterwirken.«

Das war gelogen. Woolsar selbst hatte Nurcrahns Sturz vorbereitet und ihm durch seinen Auftritt vor den versammelten Parla­mentariern das Rückgrat gebrochen. Wool­sar hatte Talato-Cors, den von Nurcrahns Familie aufgenommenen Dunkelhäutigen, foltern lassen, bis er Tirsoths Existenz preis­gegeben hatte, und Woolsar war der inzwi­schen auf ganz Zaardenfoort gesuchte An­führer der »Streiter des Lichts«.

»Einige Ihrer Anhänger scheinen andere Erwartungen an Sie als Lichtfürst zu knüp­fen«, fuhr Gurankor fort und spielte damit auf das Verhalten einer Gruppe Parlamenta­rier auf den letzten Regierungssitzungen an, die Nurcrahn bei jeder Gelegenheit auf mehr als unqualifizierte Art attackiert hatten. Es war ein offenes Geheimnis, daß diese Män­ner und Frauen mit Woolsar sympathisierten – Traditionalisten, die die Isolationspolitik verfochten und sich dagegen sträubten, daß Eripäer die Lichtung verlassen sollten, um der gestrandeten Welt im Stau gegen die zu erwartenden Angriffe der Krolocs zu helfen. Außerdem plädierten sie für eine strengere Abgrenzung gegenüber den Nichteripäern. Zwar sprachen sie nicht offen aus, daß diese Bedauernswerten quasi eliminiert werden sollten, aber man brauchte nicht viel Phanta­sie, um ihre Absichten zu durchschauen.

Horst Hoffmann

Um so mehr wunderte man sich auf den Welten der Lichtung darüber, daß Gurankor nicht gegen diese Gruppe einschritt. Seit Be­kanntwerden der ersten Todesfälle auf Zaar­denfoort hatte sie gewaltig an Zulauf gewon­nen.

»Ich werde es als eine meiner Hauptauf­gaben ansehen, meinen Einfluß auf die Un­zufriedenen zum Wohle unserer Zivilisation geltend zu machen«, erklärte Woolsar dop­peldeutig.

Eine Weile sahen sich die beiden Männer schweigend an. Dann reichte der Eripäer Woolsar die Hand.

Als sie den Griff lösten, war Woolsar neu-er Lichtfürst des Kontinents Luuk auf Zaar­denfoort.

»Morgen werde ich die Ernennung offizi­ell bekanntgeben«, erklärte Gurankor. »Doch nun steht eine Sitzung des Kabinetts auf dem Plan. Es geht um Zaardenfoort, und deshalb bitte ich Sie alle, an der Sitzung teil­zunehmen.«

Wenig später befanden sie sich in einem anderen Raum des riesigen Regierungspa­lasts. Die sieben Ressortleiter erwarteten den Eripäer bereits. Ebenfalls anwesend waren die drei Urgan-Lauscher, jene uralten Eripä­er, die als einzige Zugang zum Rechenge­hirn hatten und die wichtigsten Berater des Kabinetts waren.

Gurankor hörte sich einige Berichte an. Er wurde über jeden Schritt, den die beiden Fremden und Pona unternahmen, unterrich­tet.

»Informieren Sie Ihre Berater auf Zaar­denfoort«, forderte Gurankor die Lichtfür­sten des dritten Planeten auf. »Sie sind dafür verantwortlich, daß den dreien kein Haar ge­krümmt wird, bis Sie selbst morgen wieder auf Zaardenfoort sein werden.«

»Ihr Schweber wird überallhin von Ma­schinen der Ordnungskräfte begleitet«, sagte Muljhar. »Natürlich in angemessener Entfer­nung. Pona und ihre Freunde wissen nicht, daß sie verfolgt werden. Unsere Schweber halten sich außer Sichtweite und orientieren sich nach den Impulsen des Senders, den wir

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in ihrem Fahrzeug installiert haben.« »Gut«, sagte Gurankor. »Auch die Bewa­

chung von Nurcrahns Muuke darf nicht ver­nachlässigt werden.«

»Was geschieht mit Nurcrahn?« wollte Woolsar wissen.

»Der Prozeß wird bereits vorbereitet.« »Und was werden wir gegen die Todesfäl­

le unternehmen?« »Nichts, bis die sieben Tage vorbei sind.« Niemand stellte weitere Fragen, weil jeder

wußte, daß Gurankor ausweichende Antwor­ten geben würde – wenn überhaupt.

Nach zwei Stunden löste die kleine Ver­sammlung sich auf.

Woolsar genoß diesen Abend. Gurankor hatte die Bewohner aller drei Lichtträger, wie die Eripäer ihre Planeten nannten, über das Auftauchen der Fremden und ihre sie­bentägige Schonfrist informiert, nachdem er deren Gefangennahme und Existenz lange verschwiegen hatte, um seine Untertanen nicht noch mehr zu verunsichern, als sie es ohnehin schon waren. Allerdings kannte nie­mand außer ihm und der Besatzung der Weltraumstation die Geschichte, die Raza­mon erzählt hatte. Heftor und die anderen Raumfahrer waren bei Androhung hoher Strafen nachträglich zum Schweigen ver­pflichtet worden.

Gurankors unverständliche Entscheidun­gen würden Woolsar weiteren Zulauf brin­gen – ihm und seinen Mitverschwörern.

Woolsar sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würden die »Streiter

des Lichts« auf Zaardenfoort zuschlagen. Die Fremden mußten aus dem Weg.

5. Im Hexenkessel von Zaardenfoort

Trotz der Bordscheinwerfer, die so ange­bracht waren, daß sie jeden Schweber in ei­ne für menschliche Augen fast unerträgliche Aureole weißen Lichts hüllten, war ein Nachtflug für einen Eripäer ein einziger Alptraum. Die riesigen Scheinwerfermasten waren nur um die bewohnten Gebiete herum

aufgestellt. Dazwischen war es finster. Pona hielt sich tapfer, obwohl sie sich so

fühlen mußte wie ein Schiffbrüchiger, der allein und ohne Boot mitten in einem endlo­sen Ozean trieb.

Balduur und Razamon wechselten sich an den Kontrollen des Schwebers ab. Einer steuerte die Maschine nach Ponas Anwei­sungen, während der andere sich um das verängstigte Mädchen kümmerte.

»Wieso müssen wir unbedingt nachts nach Luukh fliegen?« fragte Pona immer wieder, und Razamon gab stets die gleiche Antwort.

Sieben Tage waren eine kurze Zeit, wenn es um Leben oder Tod ging. Eine noch kür­zere Zeit, wenn das Schicksal einer ganzen Welt – Pthor – auf dem Spiel stand.

Sie waren eine halbe Stunde unterwegs. Eine weitere halbe Stunde bis zur Zentral­stadt des Kontinents.

Plötzlich schrie Balduur hinter den Steu­erkontrollen etwas. Razamon verstand es nicht. Dafür sah er die vier hellen Punkte am Himmel. Ihr scheinbarer Abstand zueinan­der vergrößerte sich und gab eine Vorstel­lung davon, mit welcher Geschwindigkeit die Objekte sich näherten.

»Schweber«, vermutete der ehemalige Berserker. Noch während er sprach, bekam er Gewißheit. Aus den Punkten wurden leuchtende Sphären. Zwei von ihnen jagten mit unglaublicher Geschwindigkeit an den Freunden vorbei. Die übrigen rasten genau auf den Schweber zu.

Alles ging so schnell, daß weder Balduur noch Razamon Gelegenheit hatten, zu rea­gieren. Pona schrie auf, als die grellen Licht­bahnen auf ihre Maschine zuschossen. Raza­mon fuhr herum, als er hinter sich zwei Ex­plosionen hörte. Dann eine weitere. Drei Glutbälle breiteten sich über den Nachthim­mel aus. Die beiden Schweber kehrten zu­rück. Von vier Seiten aus wurden die Atlan­ter und Pona unter Beschuß genommen. Razamon erkannte, daß man ihre Maschine nicht vernichten, sondern zur Notlandung zwingen wollte.

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»Versuche, durchzustoßen, Balduur!« brüllte er. »Das ist ein Entführungsversuch! Sie wollen uns lebend!«

»So halten sie ihre Versprechen!« schrie der Odinssohn voller Zorn zurück.

Razamon wurde herumgeschleudert und landete neben Pona auf dem harten Boden, als Balduur ein tollkühnes Wendemanöver flog, mit dem Risiko, daß die Strahlbahnen, die auf die Leitwerke des Schwebers gezielt waren, ihn nun voll trafen.

Die Gegner reagierten blitzschnell. Einen Augenblick fragte sich Razamon, ob sie es mit Robotern zu tun hatten. Er verwarf den Gedanken.

Die Unbekannten waren zu allem ent­schlossene Kämpfer. Und es gab nur eine Gruppe auf Zaardenfoort, die in Frage kam, falls Gurankor den unerwünschten Eindring­lingen nicht eine Elitetruppe auf den Hals gehetzt hatte.

Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Ein armdicker Energiestrahl traf eines der

Leitwerke. Balduur fluchte hemmungslos, als der Schweber außer Kontrolle geriet und abzustürzen begann. Er konnte nichts dage­gen tun. Der Boden kam rasend schnell nä­her. Alles spielte sich über einer verlassenen Gegend am Rand der Hügelkette ab. Die Unbekannten wußten genau, was sie taten.

Razamon packte Balduur und riß ihn von den Kontrollen weg. Mit der anderen Hand griff er nach Pona. Der heftige Flugwind blies durch seine langen Haare, so daß er Mühe hatte, etwas zu sehen.

»Wir springen dicht über dem Boden ab!« schrie er, um das Tosen zu übertönen. Pona konnte ihn nicht verstehen. Sie war völlig apathisch.

»Das überleben wir nicht!« schrie Baldu­ur.

Noch hundert Meter … fünfzig … »Jetzt!« brüllte Razamon. Mit Pona im

Arm, sprang er über den Rand des offenen Schwebers. Er preßte das Mädchen fest an sich und legte den Kopf auf die Brust, um sich abrollen zu können. Dann der fürchter­liche Aufprall. Razamon sah nicht mehr,

Horst Hoffmann

was aus Balduur wurde. Eine grelle Stich­flamme fuhr zehn Meter hinter ihm in den Himmel. Dann tanzten Sterne vor seinen Augen. Alle Körperteile schmerzten höl­lisch. Razamon wußte nicht, ob er sich et­was gebrochen hatte und ob Pona noch leb­te.

Der Pthorer blieb bewußtlos liegen. Über ihm senkten sich die vier Schweber herab.

*

Razamon kam in einem völlig leeren, rechteckigen Raum zu sich. Er war allein. Im Halbdunkel sah er, daß die Wände kahl waren. Es gab eine einzige Tür. Von wo das spärliche Licht kam, war nicht zu erkennen.

Vielleicht bildeten die Entführer sich ein, ihre Gefangenen auf diese Weise foltern zu können. Dagegen sprach, daß sie bei ihrem offenbar hohen Informationsstand wissen mußten, daß zumindest Razamon und Bal­duur nicht wie Eripäer auf Lichtentzug rea­gierten.

Balduur und Pona! Razamon versuchte sich aufzurichten. Er

erinnerte sich an alles, was geschehen war. Der Schmerz, dann die Dunkelheit. Bei der ersten Bewegung schrie der Atlanter auf. Mit zusammengebissenen Zähnen brachte er sich in eine sitzende Position und schob sich auf eine der Wände zu, bis er sich mit dem Rücken dagegen lehnen konnte.

Wieder tanzten Sterne vor seinen Augen, bis sich der Kreislauf stabilisiert hatte.

Vorsichtig betastete Razamon Arme und Beine. Erleichtert stellte er fest, daß offen­sichtlich nichts gebrochen war. Er hatte eine Reihe von Prellungen davongetragen. Die Schmerzen würde er ertragen müssen, aber was war mit Pona und Balduur geschehen?

Razamon tastete über die Stelle des Raumanzugs, an der sich die Tasche mit dem Messer befand. Es war noch da, und er hütete sich, es herauszuziehen. Vielleicht wurde er beobachtet.

War er allein, weil die beiden anderen nicht mehr lebten?

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17 Sohn der Sonne

Razamon kam auf die Beine. Nach weni­gen Schritten war er endgültig sicher, daß er den Sturz aus dem Schweber relativ gut überstanden hatte.

Die Tür hatte keinen Griff. Natürlich war sie verschlossen.

Wütend trat der Pthorer gegen die Wand, um sogleich vor Schmerzen zu stöhnen.

Wohin hatten die Unbekannten ihn ge­bracht? Dies war keines dieser seltsamen Muuker. Befand er sich überhaupt noch auf Zaardenfoort?

»Kommt heraus aus euren Löchern, ihr Feiglinge!« schrie er. »Ich weiß, daß ihr mich hört.«

Keine Antwort. Alles schien zusammenzupassen. Dieser

lange nicht mehr benutzte Raum, die Skru­pellosigkeit, mit der die Entführer vorgingen (Razamon konnte sich zusammenreimen, daß die drei beobachteten Glutbälle abge­schossene Schweber gewesen waren), und ihre Motive, soweit er sie durch Pona kann­te. Sollten Razamon und Balduur Erfolg bei der Suche nach dem unheimlichen Mörder haben, würden die Rebellen politisch an Bo­den verlieren.

Deshalb mußten die Atlanter und Pona kaltgestellt werden.

»Sie sind Gefangene der Streiter des Lichts«, hörte Razamon plötzlich. Die mo­noton klingende Stimme schien von überall zu kommen.

Er fuhr herum und suchte Wände und Decke nach getarnten Lautsprechern ab. Na­türlich fand er nichts.

»Dann zeigt euch, ihr verdammten Nar­ren!« rief er zornig.

»Sie sind Gefangene der Streiter des Lichts«, wiederholte die Stimme im gleichen Tonfall wie eben. »Verhalten Sie sich ruhig, bis man Sie verhören wird.«

Die gleichen Worte folgten noch dreimal. Ein Tonband, erkannte der Atlanter. Und

man wollte sie verhören. Also mußte minde­stens einer der Gefährten noch leben.

Natürlich! dachte der Pthorer. Wenn sie uns nur umbringen wollten, hätten sie das

beim Überfall tun können. Aber was erhof­fen sie sich an Auskünften?

Auf jeden Fall hatte Razamon keine Lust, den anderen die Initiative zu überlassen. Er wußte, daß die Eripäer über Mittel verfüg­ten, den Willen eines Menschen zu brechen.

Er mußte fliehen und die beiden anderen finden, ehe es zu spät war. Daß man sich mit dem Verhör Zeit ließ, konnte bedeuten, daß die Geheimbündler auf Verstärkung warte­ten, vielleicht sogar auf ihren Anführer.

Razamon zermarterte sich das Gehirn dar­über, wie er die Unbekannten aus der Reser­ve locken konnte. Als er die einzige Lösung fand, fröstelte es ihn.

Wenn er nun nicht beobachtet wurde? Wenn seine Spekulationen falsch waren? Razamon überlegte fieberhaft, ob es nicht

doch einen anderen Ausweg gab, ob er nicht doch abwarten sollte, bis man ihn zum Ver­hör abholte, ob es nicht besser wäre, erst dann nach einer Fluchtmöglichkeit zu su­chen.

Die drei Glutbälle. Eripäer, die wahr­scheinlich von Gurankor beauftragt gewesen waren, die beiden unerwünschten Gäste und Pona aus der Ferne zu überwachen – oder zu beschützen.

Sie waren auf brutalste Weise umgebracht worden.

Razamon hatte keine Wahl. Er setzte alles auf eine Karte. Wenn er Pech hatte, war sein langer Lebensweg hier und jetzt zu Ende.

Der Atlanter zog langsam das Messer her­aus. Dann streifte er sich den linken Ärmel hoch.

»Lassen Sie das!« hallte es augenblicklich im Raum.

Razamon triumphierte. Nun hatte er Ge­wißheit. Man beobachtete ihn. Aber das än­derte im Grunde genommen gar nichts. Falls Balduur und Pona beide noch am Leben wa­ren, war er überflüssig. Die Geheimbündler würden das, was sie wissen wollten, aus Balduur herauspressen.

»Hören Sie auf damit!« drang es aus den verborgenen Lautsprechern, und diesmal klang die Stimme schrill.

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18 Horst Hoffmann

»Dann kommt her und zeigt euch!« Stille. Dann sagte der Unbekannte: »Sie werden den Unsinn lassen und war­

ten. Wir haben Ihren Freund, und dieser wird reden, falls Sie unbedingt sterben wol­len.«

Doch die Stimme verriet Angst. Es erschi­en offensichtlich, daß die Gefangenenwärter auf das Eintreffen von Leuten warteten, die hier die Entscheidungen zu treffen hatten.

Unendlich langsam näherte sich die Hand mit dem Messer dem anderen Handgelenk. Razamon hörte, wie der Unbekannte ihn an­schrie, und ignorierte es.

Er preßte die Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen, als er sich die Puls­ader durchschnitt. Das Blut spritzte in Strö­men in den Raum.

Razamon zwang sich dazu, den Arm nicht abzupressen. Es mußte so aussehen, als ob er sich umbringen wollte.

Und sollte seine Rechnung nicht aufge­hen, war dies sein Tod. Ein zweiter Schnitt über das andere Handgelenk.

Razamon sank zu Boden. Wieso kamen sie nicht? Wo blieben die

Schritte? Der Atlanter blieb in der Blutlache liegen,

ohne daß es Anzeichen dafür gab, daß die Verschwörer in der erhofften Art und Weise reagierten.

*

Zur gleichen Zeit kam Balduur in einem ähnlichen Raum zu sich. Der Odinssohn hat­te ebenfalls Prellungen davongetragen, war aber sonst unverletzt geblieben.

Er machte sich ähnliche Gedanken wie Razamon. Auch Balduur mußte annehmen, als einziger den Absturz des Schwebers überlebt zu haben.

»Sie sind Gefangene der Streiter des Lichts«, hörte er nach einer Weile. »Verhalten Sie sich ruhig, bis man sie ver­hören wird!«

Die Erkenntnis, daß mindestens einer der beiden anderen ebenfalls noch am Leben

war, konnte Balduur nur wenig trösten. Er war im Gegensatz zu Razamon nahe

daran zu resignieren. Odin! flehte er. Falls es dich doch noch

gibt, dann hilf uns! Ich weiß, daß du stark genug bist, um alle Gegner zu besiegen! Hilf uns, Vater!

Gleich darauf schalt er sich einen Narren. Odin war von ihm und seinen Geschwistern gegangen und hatte Atlan als neuen Herrn über Pthor eingesetzt. Doch der uralte Glau­be in die Allmacht des Vaters war zu fest in seinen Söhnen verwurzelt, um über Nacht zu schwinden.

Aber Balduur fühlte sich hilflos. Er war es gewohnt, gegen leibhaftige Gegner zu kämpfen. Doch dies hier?

Sie sollten sich zeigen! Balduur dachte daran, wie er aus dem

Schweber gesprungen war, wenige Sekun­den, bevor dieser explodiert war. Zwar be­nommen, hatte er Razamon und Pona be­wußtlos im Gras gefunden. Das heißt, Pona schien tot zu sein. Der Odinssohn hatte nur wenige Augenblicke Zeit, sie zu untersu­chen, bevor die Fremden auftauchten und ihn mit ihren Waffen lähmten.

Er hatte keinen Pulsschlag gefühlt. Dann befand sich jedoch nur Razamon ir­

gendwo in seiner Nähe. Das gab Balduur einen Hauch von Hoffnung. Er untersuchte sein Gefängnis und kam zum gleichen Er­gebnis wie der ehemalige Berserker vor ihm. Ein Entkommen schien unmöglich.

Man wollte ihn aber verhören. Dazu muß­te man ihn abholen.

Der Odinssohn traf seine Vorbereitungen.

*

Pona schlug die Augen auf und sah die Gestalt über sich, doch nur für Sekunden. Dann versank die Welt für sie wieder in Dunkelheit.

Sie war zu schwach, um sich dagegen auf­zubäumen. Pona litt fürchterlich, doch die Qualen drangen noch nicht zur Oberfläche ihres Bewußtseins durch. Sie befand sich in

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einem todesähnlichen Zustand. Selbst in ihren Träumen gab es für die

Eripäer keine Dunkelheit. Ihre Traumbilder waren hell, so hell wie ihre Welt, die Lich­tung. Die Bedauernswerten, die dunkel träumten, wurden entweder am anderen Morgen tot aufgefunden oder landeten in psychiatrischen Anstalten. Nur wenige er­holten sich von diesen furchtbaren Nächten.

Dunkle Träume waren der Schatten des Todes.

Als Pona endlich wieder zu sich kam, sah sie den Mann, der sie diesem Tod entrissen hatte. Sie schrie auf.

»Du bist in Sicherheit«, hörte sie. »Ganz ruhig. Das Schlimmste ist überstanden.«

»Wer … wer sind Sie?« brachte das Mäd­chen hervor.

Der Unbekannte war nicht zu erkennen. Eine männliche eripäische Gestalt, doch so sehr Pona ihre Augen auch anstrengte, sie konnte keine Einzelheiten ausmachen. Es war, als ob der Unbekannte nur aus Licht bestünde. Erst jetzt wurde der Enkelin des gestürzten Lichtfürsten bewußt, daß sie sich mit ihm in einer Höhle befand, die von Hel­ligkeit erfüllt war. Draußen war es noch Nacht.

»Hier bist du vorerst in Sicherheit«, sagte der Geheimnisvolle statt einer Antwort.

Pona versuchte aufzuspringen. Der Mann drückte sie behutsam auf den Boden zurück.

»Du brauchst Ruhe«, sagte er. »Ich kann nicht lange bei dir bleiben.«

»Wer sind Sie?« fragte Pona wieder. »Niemand, vor dem du Angst zu haben

brauchst. Nun höre zu. Deine beiden Freun­de befinden sich in der Gewalt der Geheim­bündler. Sie sind entführt worden. Dich ha­ben sie in Ruhe gelassen, weil sie dachten, daß du tot seiest.«

»Ich glaubte, daß ich tot sei …«, murmel­te Pona.

»Du warst es auch«, erklärte der Geheim­nisvolle. Er zeigte ihr einige funkelnde fla­che Gegenstände. »Jedoch nicht so lange, daß ich dich nicht hätte wiederbeleben kön­nen. Du wirst dich ins Muuke deiner Familie

begeben, sobald der Tag anbricht. Dort wirst du warten. Es ist der einzige Ort auf Zaar­denfoort, der dir Sicherheit bietet.«

»Wie soll ich nach Hause zurückkom­men?« fragte das Mädchen. »Wir befinden uns …«

»… nicht weit von eurem Muuke entfernt. Du wirst es sehen, wenn Sirkh-Prelljaddum am Himmel aufgeht.«

Wieder versuchte Pona, etwas in dem Licht zu erkennen. Ohne Erfolg.

Sie erinnerte sich an eine uralte Legende. Eines Tages, so hieß es, würde ein Mann

aus der Sonne kommen, um den Eripäern Erlösung zu bringen.

»Haben Sie Irsoccas Messer genommen und es im Muuke, in dem Farthor umkam, versteckt?« fragte sie.

»Ja, Pona.« »Dann wissen Sie, wer der gesuchte Mör­

der ist? Einer der Streiter des Lichts?« »Ich weiß es nicht.« Die Stimme des Fremden klang traurig. »Sie wollen mir Ihren Namen nicht nen­

nen«, murmelte Pona. »Ich werde Sie ›Den Lichternen‹ nennen.«

»Ich muß dich nun verlassen, Pona. Tu, was ich dir geraten habe.«

»Leben Razamon und Balduur?« Täuschte die junge Eripäerin sich, oder

verblaßte das Licht, das den Unbekannten einhüllte, für einen Augenblick?

»Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben«, hörte sie dann. »Warte, bis es Tag ist, und zögere nicht, zu eurem Muuke zu gehen. Deine Mutter und dein Bruder brauchen dich.«

Das war das letzte, was der Geheimnis­volle sagte. Er verschwand aus der Höhle. Pona drehte sich um und sah, wie ein helles Licht am Himmel entstand und verblaßte.

Es gab so viele Fragen, die sie hätte stel­len können.

Es hieß, daß mit dem Auftauchen des Mannes aus der Sonne eine neue Epoche für die Bewohner der Lichtung anbrechen sollte.

Mit diesen Gedanken schlief Pona ein. Die Höhle war immer noch mit Helligkeit

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erfüllt. Es war, als ob ein Schutzengel über die Eripäerin wachte.

Als sie die Augen aufschlug, drang das Licht der Sonne Sirkh-Prelljaddum in die Höhle.

Pona stand auf und fühlte weder Schmer­zen noch Erschöpfung. Sie hob den Saum ihres Umhangs und sah zahlreiche Narben an den zierlichen Beinen. Sie waren fast schon verheilt.

Mehr denn je dachte sie an ein Wunder. Pona ging ins Freie und sah einige Muu­

ker, den Strand und die wenigen Verbin­dungswege. Sie kannte die Gegend, und es war ihr ein Rätsel, wie ihr Beschützer sie hierhergebracht hatte.

Nach zwei Stunden stand sie vor dem Muuke ihrer Familie. Mehrere hundert Eripäer demonstrierten und forderten die Herausgabe des Dreiäugigen. Pona verzwei­felte fast. Die Demonstranten sahen sie und wollten sich auf sie stürzen, doch die Raum­soldaten von Aarl waren schnell genug bei ihr und geleiteten sie sicher zu Irsocca und Tirsoth.

Selbst die Nachricht vom Auftauchen des Geheimnisvollen vermochte Ponas Mutter nicht zu beruhigen.

»Sieh dir ihre Augen an«, sagte Irsocca. »Ihre Blicke sind voller Ablehnung.« Und damit meinte sie nicht die Demonstrieren­den, sondern ihre Bewacher.

*

Razamon fühlte, wie die Kraft seinen Körper verließ, als die Tür von außen aufge­rissen wurde. Ein einzelner bewaffneter Eripäer stürzte in den Raum und beugte sich über den Blutenden. In den Händen hielt er zwei Riemen, um Razamons Gelenke abzu­binden.

Jetzt oder nie! durchfuhr es den Atlanter. Er hatte sich in Gedanken zurechtgelegt, wie er handeln würde, falls er noch die Kraft da­zu besaß.

Razamon handelte instinktiv. Bevor der Eripäer begriff, wie ihm geschah, hatte er

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das Messer an der Kehle. Ungläubig starrte er auf die blutüberströmte Hand, die die Waffe hielt. Razamon hatte kaum Gewalt über seine Finger. Er bluffte, und alles hing davon ab, wie der andere reagierte.

»Keine Dummheiten, Freund!« preßte Razamon hervor. Es wurde dunkel vor sei­nen Augen. »Bevor du zurückweichst, steckt das Messer in deiner Kehle. Binde die Wun­den ab, schnell!«

Wie hinter Schleiern war der Eripäer zu sehen. Er schien das, was hier geschah, nicht zu begreifen. Seine Waffe hatte er längst fal­lengelassen.

»Dann lasse ich dich verbluten«, schrie er in Panik. »Du kannst mich nicht töten. Nie­mand tötet einen anderen Menschen, und ohne mich bist du …«

Razamon konnte kaum noch denken. Sei­ne Hand zitterte. Es war ein Wunder, daß er das Messer noch halten konnte.

»Du stirbst vor mir!« Razamon ritzte die Haut des Eripäers. Im nächsten Augenblick fühlte er, wie dieser sich hastig an seinen Armgelenken zu schaffen machte. Der Mann hätte ihm jetzt ohne Mühe das Messer aus der Hand schlagen können. Razamon sah ihn nicht mehr. Mit übermenschlicher Wil­lensanstrengung brachte er es fertig, die Au­gen trotzdem offenzuhalten.

Aber es schien zu spät zu sein. Razamon versank in einer Welt von Far­

ben und Spukgestalten. Mitten in den wal­lenden Schleiern bildete sich ein schwarzer Punkt, wurde größer und schließlich zu ei­nem Tunnel. Razamon fühlte sich darauf zu­gerissen. Noch einmal bäumte er sich gegen den Tod auf.

Er kam zu sich und hatte die Waffe des Eripäers in der Hand. Wie er zu ihr gekom­men war, wußte er nicht. Er konnte sekun­denlang sehen. Die Arme waren wenige Zentimeter über den Schnittwunden abge­bunden. Der Eripäer lag gelähmt vor ihm.

Es wurde dunkel. Razamons letzter Ge­danke war, daß er mit hohem Einsatz ge­spielt und verloren hatte.

Wieder die Farben und das schwarze Tor.

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Razamon trieb darauf zu, und diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, sich dagegen zu wehren.

Razamon, der ehemalige Berserker, jener Mann, der zehntausend Jahre auf der Erde gelebt und Atlan durch sein Wirken als Tre­vor Aretosa letztlich in die Lage versetzt hatte, zusammen mit Perry Rhodan die Inva­sion Terras durch Pthor zu verhindern, starb im Gefängnis der »Streiter des Lichts«.

Razamon – Atlans Weggefährte in unzäh­ligen Abenteuern. Er hatte sich geopfert, doch wie es schien, umsonst.

6. Auf Aarl

Die Entführung der beiden Fremden und Ponas schlug im Regierungspalast wie eine Bombe ein. Gurankor unterbrach eine Kabi­nettssitzung und ließ die Lichtfürsten zu sich rufen.

Diese zeigten sich erstaunt über die nächt­liche Störung. Es war beschlossen worden, daß man sich erst am Vormittag wieder traf, um gemeinsam Woolsars Ernennung be­kanntzugeben.

Die Eripäer reagierten mit großer Bestür­zung auf die Nachricht. Gemeinsam suchten die vier mächtigsten Männer Zaardenfoorts und Gurankor den Teil des Palasts auf, von dem aus über eine Reihe von Monitoren der Flug der drei angeblichen Kroloc-Agenten verfolgt worden war.

Auch die Sonden lieferten keine Bilder mehr. Die vernichteten Schweber hatten als Relais fungiert. Nach ihrem Ausfall waren die Sonden vorerst unbrauchbar geworden.

»Diese Verbrecher!« empörte sich Wool­sar. »Sie haben nicht nur Ihr Schutzverspre­chen sabotiert, sondern …« Woolsar schüt­telte in gespieltem Zorn den Kopf. »Das ist das erstemal, daß Eripäer durch andere Eripäer den Tod fanden. Es darf keine Gna­de mehr für die Geheimbündler geben. Die Vernichtung der drei Schweber ist ungeheu­erlich!«

Niemand sah, wie es kurz in Gurankors

Augen aufblitzte. »Sie werden ihre Strafe erhalten«, sagte

der Eripäer nur. Woolsar schien sich nicht beruhigen zu

können. »Ich bitte Sie, mich unverzüglich nach

Zaardenfoort zurückkehren zu lassen, Eripä­er«, bat er. »Ich möchte die Verfolgung der Verbrecher selbst in die Hand nehmen – an Ort und Stelle.«

»Selbstverständlich«, antwortete Guran­kor. »Ich werde verbreiten lassen, daß Sie Nurcrahns Nachfolge angetreten haben. Wenn Sie in Luukh landen, wird man Ihre Befehle ausführen. Doch unternehmen Sie nichts Entscheidendes, ohne mich vorher zu benachrichtigen. Finden Sie heraus, wo die Entführten versteckt gehalten werden, Licht­fürst Woolsar.«

»Das werde ich«, versicherte Nurcrahns ehemaliger Berater. Er verabschiedete sich mit dem gebührenden Respekt.

»Auch Sie fliegen nun besser zurück«, sagte Gurankor zu den anderen Lichtfürsten. »Beruhigen Sie die Bevölkerung. Die Ab­sicht der Streiter des Lichts dürfte nun klar sein.«

»Bürgerkrieg«, murmelte Muljhar. Allein der Gedanke daran war so ungeheuerlich, daß der alte Zaardenfoorter sich scheute, das Wort laut auszusprechen.

»Verhindern Sie, daß die Provokation den erwünschten Effekt hat«, forderte Gurankor.

»Wieso schicken Sie uns keine Streitkräf­te?« fragte der junge Lichtfürst des Kontin­ents Laarmadoor.

»Auf dem Raumhafen werden vier Schif­fe für Sie bereitstehen«, antwortete der Eripäer. »Weitere Schiffe werden Ihnen fol­gen. An Bord befinden sich bereits die Raumsoldaten. Sie unterstehen Ihrem Be­fehl. Doch auch für Sie gilt, daß Sie mich zunächst benachrichtigen, falls Sie den Ver­schwörern auf die Spur kommen. Es darf nicht zu weiterem Blutvergießen unter Eripäern kommen.«

»Wie lange stehen die Schiffe mit den Soldaten schon bereit?« wollte Muljhar wis­

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sen. »Seit der Ankunft der Fremden auf Zaar­

denfoort.« Muljhar schüttelte verständnislos den

Kopf. »Und wieso schicken Sie sie erst jetzt

nach Zaardenfoort?« »Ich habe meine Gründe«, erklärte Guran­

kor. Als er allein war, begab er sich in sein Ar­

beitszimmer. Ja, der Eripäer hatte seine Gründe, auch dafür, daß er den Lichtfürsten nichts von den Soldaten sagte, die sich be­reits auf Zaardenfoort befanden und direkt seinem Kommando unterstanden.

Er öffnete eine Schublade und holte eine Mappe heraus. In ihr befanden sich die Foto­kopien der Aufzeichnungen, die am frühen Abend von Gurankors Agenten gefunden worden waren.

Der Eripäer ließ eine Verbindung nach Zaardenfoort herstellen und gab einen Be­fehl, der niemand außer dem Kommandan­ten seiner dort stationierten Truppen etwas sagte. Er bestand nur aus einem Wort.

Als alle weiteren Vorbereitungen getrof­fen waren, war es früher Vormittag. Guran­kor erhielt die Meldung, daß das erwartete Schiff gelandet sei.

Eine halbe Stunde später flammte ein kleiner Bildschirm in der dem großen Schreibtisch gegenüberliegenden Wand auf. Gurankor drückte auf einen Knopf. Das Symbol verschwand und machte dem Ge­sicht eines Offiziers Platz.

»Er ist jetzt da«, meldete der Mann. »Danke.« Gurankor blickte auf seine Uhr.

»Schicken Sie ihn zu mir herein.« Waaylon war pünktlich.

7. Im Hexenkessel von Zaardenfoort

Balduur hatte keine Hoffnung mehr. Seit wie vielen Stunden hockte er jetzt in diesem finsteren Raum? Wie lange war es her, daß er die monotone Stimme, die immer nur die gleiche Auskunft gab, zum letztenmal gehört

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hatte? Es gibt überhaupt kein Verhör! dachte er

grimmig. Man will uns erbärmlich verhun­gern lassen!

Wütend sprang er auf und trat gegen die Zellentür, wie er es in den ersten Stunden der Gefangenschaft so oft getan hatte, daß seine Zehen schmerzten.

Die Tür schwang nach außen auf! Einen Augenblick starrte der Odinssohn

fassungslos in die blendende Helligkeit ei­nes Korridors. Dann sprang er zur Seite.

Eine Falle! durchfuhr es ihn. Er war si­cher, daß draußen Eripäer nur darauf warte­ten, daß er einen Fluchtversuch wagte.

Als die Minuten verstrichen und nichts geschah, kamen ihm Zweifel. Mittlerweile hatten sich seine Augen an das von draußen einfallende Licht gewöhnt. Balduur steckte den Kopf vorsichtig zur Tür hinaus und sah in den Gang.

Nichts. Kein Mensch war zu sehen. Der Korridor war leer.

Doch wer hatte dann aufgeschlossen? Balduur hatte die ganze Zeit über nichts ge­hört. Ging dies hier noch mit rechten Dingen zu?

Immer noch mißtrauisch betrat der Ptho­rer den Gang. Der erwartete Angriff blieb aus. Am Ende des Korridors sah Balduur ei­ne Treppe, die nach oben führte. Alles wirk­te sehr alt. Nur die Fußabdrücke im Staub auf den Stufen zeigten, daß die Treppe noch vor kurzem benutzt worden war.

Der Zorn auf die Entführer war stärker als die Angst. Balduur vergaß alle Vorsicht und stieg die Stufen hinauf, bis er in einen mit allerlei technischem Gerät vollgestopften Raum kam. Auch er war verlassen. Einige Bildschirme zeigten eine zerklüftete Land­schaft, ein weiterer Balduurs leere Zelle, und der letzte …

»Oh, nein!« schrie Balduur. Der Odins­sohn schlug sich die Hände vors Gesicht und preßte sie so fest gegen die Augen, daß diese schmerzten. Als er wieder auf den Monitor sah, wußte er, daß er keinem Trugbild zum Opfer gefallen war.

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Razamon in einer Blutlache liegend. Vor ihm ein Eripäer, ebenfalls bewußtlos oder tot.

Von Schmerz und unbändigem Zorn über­mannt, riß der Odinssohn die nächste greif­bare Metallverstrebung zwischen zwei Pul­ten heraus und begann, die Schirme und al­les, was in sein Blickfeld geriet, zu zerschla­gen.

»Ihr Hunde!« brüllte er wie ein Wahnsin­niger. »Ihr werdet bezahlen, ihr alle!«

Erst nach Minuten wurde er sich der Sinn­losigkeit seines Tuns bewußt. Vielleicht war noch etwas zu retten. Razamon mußte nicht unbedingt tot sein. Doch wo steckte der Ge­fährte?

Im Korridor hatte Balduur keine Türen entdecken können. Es mußte also einen wei­teren Gang geben, wo sich Razamons Zelle befand. Balduur suchte nach einem Aus­gang. Er nahm keine Rücksicht mehr auf eventuell noch irgendwo in diesem Komplex befindliche Eripäer. Gäbe es sie, so wären sie durch den Lärm längst auf ihn aufmerk­sam geworden und auf der Bildfläche er­schienen.

Genau gegenüber dem Eingang, durch den Balduur gekommen war, entdeckte er eine zweite Tür. Er räumte die Trümmer bei­seite und fand eine nach unten führende Treppe. Er stürmte hinab und fand den ver­muteten Korridor und eine offenstehende Tür.

Sekunden später stand der Odinssohn vor dem Gefährten.

Er wollte sich über Razamon beugen, als der Eripäer sich zu rühren begann. Balduur fuhr herum und schickte ihn mit einem Fausthieb ins Reich der Träume zurück.

»Razamon«, flüsterte er. Er nahm die Hand mit der Lähmwaffe und zuckte zusam­men, als er die Schnittwunden erblickte. Sie bluteten nicht mehr, und das nicht nur, weil sie abgebunden waren.

Razamons Herz schlug nicht mehr. Balduur heulte vor Wut auf. Er wollte et­

was tun. Irgend jemand mußte für den Tod des Kameraden büßen. Er sah das Messer,

ergriff es und stürzte sich auf den bewußtlo­sen Eripäer. Der Odinssohn holte aus und ließ es auf den Wehrlosen hinabsausen.

Die Spitze brach ab, als es mit Wucht we­nige Millimeter neben dem Kopf des Man­nes auf den Boden schlug.

Balduur schrie klagend auf. Er konnte ihn nicht umbringen, nicht, solange er wehrlos war.

Früher hätte er anders gehandelt. War es der Einfluß Atlans, der ihn verändert hatte? Balduur wollte es nicht wahrhaben. Den­noch ließ er von dem Eripäer ab und kniete wieder neben Razamon nieder.

Was hatte dieser Mann alles vollbracht? Wie oft hatte er dem Tod ins Auge gesehen, um nun von gemeinen Mördern umgebracht zu werden? Razamon gehörte zu den Men­schen, von denen man sich nicht einmal vor­stellen konnte, daß ihr Leben eines Tages zu Ende sein würde. Und doch …

Und er selbst? Vater! flehte Balduur in Gedanken. Sag

mir, was ich tun soll! Er wußte, daß er keine Antwort erhalten

würde. Unbewußt hatte er begonnen, das zu re­

konstruieren, was hier geschehen sein moch­te. Das Messer – Razamon hatte es im Muu­ke in den Hügeln gefunden und an sich ge­nommen. Aber wie kam er zu der Waffe?

Es mußte zu einem Kampf gekommen sein. Aber es gab vieles, das Balduur nicht begriff. Irgend etwas paßte nicht ins Bild.

Da entdeckte er das Amulett. Er hob es auf. Es stellte irgend etwas dar. Reines Gold, dachte der Odinssohn, und die Ränder waren unregelmäßig gezackt.

Eine Sonne? Wie kam es hierher? Wieder spürte Balduur, daß hier etwas

vorging, das sich seinem Begriffsvermögen entzog. Und die Verwirrung wurde vollkom­men, als er wieder zu Razamon hinübersah, während er sich noch fragte, was er allein auf dieser unheimlichen Welt anfangen soll­te.

Balduur fuhr in die Höhe.

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Razamon hatte die Augen geöffnet. Ein Spuk! durchfuhr es den Odinssohn.

Dies kann nur das Spiel von Geistern sein! Das Werk von Magiern!

Zögernd näherte er sich dem Totgeglaub­ten. Unendlich langsam beugte er sich er­neut über ihn und legte eine Hand auf Raza­mons Brust. Er spürte den Herzschlag. Dann hörte er das Röcheln.

Razamon sah ihn an. »Balduur …«, kam es kaum hörbar über

seine Lippen. »Was … was ist …?« »Still!« Der Odinssohn mußte sich mit al­

ler Kraft dazu zwingen, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Er zitterte. War dies Raz­amon, mit dem er sprach, oder ein Geist? »Sei ruhig. Du bist noch viel zu schwach. Wir sind allein.«

Erst jetzt bemerkte Balduur die kleinen runden Plättchen an Razamons Hals. Weite­re fand er an der Stirn unter den pech­schwarzen, strähnigen Haaren und auf der Brust, nachdem er den Raumanzug ein Stück geöffnet hatte.

Die Plättchen leuchteten golden. Unwill­kürlich dachte Balduur an das gefundene Amulett.

Er versuchte, eines der Plättchen abzuneh­men. Es ging nicht. Ungläubig beobachtete er, wie schnell Razamon sich erholte. Nach wenigen Minuten richtete der Pthorer sich auf. Die Wundnarben an den Handgelenken waren verschwunden.

Balduur wich ängstlich zurück, als Raza­mon auf die Beine kam. Gäbe es nicht die Blutlache auf dem Boden und wäre Raza­mons Raumanzug nicht blutverschmiert ge­wesen, hätte man glauben können, daß nichts geschehen wäre.

»Sieh mich nicht so seltsam an«, sagte der Atlanter zu Balduur. »Erkläre mir lieber, was passiert ist. Ich habe mir die Pulsadern aufgeschnitten, um …«

»Die Plättchen!« entfuhr es dem Odins­sohn.

Razamon sah ihn verständnislos an. »Sie leuchten nicht mehr.« Balduur faßte

eines von ihnen an. Es ließ sich ohne weite-

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res abziehen. Kurz darauf hatte er sie alle in der Hand. Er legte das Amulett dazu und er­klärte, wie er sie entdeckt hatte.

»Dann haben sie mir das Leben gerettet«, murmelte der ehemalige Berserker.

»Nicht sie«, widersprach Balduur. »Derjenige, der sie dir angeheftet hat.«

Plötzlich fiel Razamon etwas ein. »Der Schweber. Komm, wir müssen uns

beeilen. Jeden Augenblick können seine Kumpane«, der Atlanter deutete auf den Be­wußtlosen, »hier auftauchen. Wir nehmen den Kerl mit.«

»Welcher Schweber?« wollte Balduur wissen.

»Irgendwo wartet er auf uns. Stelle keine Fragen. Ich weiß es einfach. Nimm du den Burschen.« Razamon bückte sich nach dem Messer. Es war unbrauchbar geworden, aber dafür hatten sie jetzt eine Lähmwaffe. Bal­duur steckte das Amulett ein.

Ohne weitere Fragen zu stellen, lud sich der Odinssohn den Bewußtlosen über die Schulter. Razamon ging vor. Nach wenigen Minuten fanden sie den Ausgang.

Der Schweber stand zehn Meter vor dem alten, verwitterten Gebäude. Das Versteck der Verschwörer befand sich in einem den Freunden unbekannten Teil des Planeten Zaardenfoort.

Ohne Zögern bestiegen sie das Fahrzeug. Nur Sekunden später summten die Trieb­werke auf, und der Schweber erhob sich in die Luft.

»Das habe ich mir gedacht«, murmelte Razamon.

»Was?« »Das Ding ist auf einen ganz bestimmten

Kurs programmiert. Wir können uns ausru­hen. Um deine Frage zu beantworten: Die Information, daß er sich hier befand, muß mir während meiner Bewußtlosigkeit gege­ben worden sein. Frage mich bitte nicht, wie, aber ich wußte plötzlich, daß er da war.«

»Du warst tot!« Razamon schwieg eine Weile. Balduur

begann, von seinem Entkommen aus der

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Zelle zu berichten und erzählte, wie er Raza­mon gefunden hatte. Daraufhin unterrichtete dieser den Odinssohn von seinem Versuch, die unbekannten Gegner aus der Reserve zu locken.

»Und die Waffe?« wollte Balduur wissen. »Wie kam sie in deine Hand?«

»Das«, sagte der Atlanter, »wird uns nur unser bewußtloser Freund erklären können.«

Der Flug ging weiter über Gebirge, dann über eine gewaltige Hügelkette. Der Schwe­ber überquerte ein Meer. Die Sonne war auf­gegangen, und es war Vormittag, als die Pthorer mit ihrem Gefangenen das Muuke der Familie Nurcrahn erreichten.

*

Razamon und Balduur hatten Mühe, mit dem immer noch gelähmten Eripäer ins Muuke zu gelangen. Mit äußerster Geduld versuchte Razamon den Bewachern weiszu­machen, daß es sich um ein von Fanatikern niedergeschlagenes Familienmitglied Nur­crahns handle. Dennoch hätte er keinen Er­folg gehabt, wenn nicht einer der Raumsol­daten auf Befehl seines Kommandanten den Schweber untersucht und dabei eine Folie gefunden hätte. Der Kommandant las das, was auf ihr geschrieben war, und ließ die Ankömmlinge widerwillig passieren.

»Weißt du, was das nun wieder zu bedeu­ten hat?« fragte Balduur auf dem Weg ins Muuke.

»Nein«, sagte Razamon. Die Begrüßung war herzlich. Pona wein­

te. Sie hatte kaum noch daran geglaubt, die Freunde wiederzusehen. In aller Kürze be­richteten sie von ihren Erlebnissen. Pona hatte den Soldaten nichts erzählt und auch auf alle Fragen, weshalb sie allein zurückge­kehrt war, geschwiegen.

»Wir haben also einen Schutzengel«, stellte Razamon schließlich fest. »Zeige ih­nen das Amulett, Balduur.«

Der Odinssohn holte es aus einer Tasche des Raumanzugs hervor.

»Die Sonne«, flüsterte Pona andächtig.

»Jetzt weiß ich, daß der Lichterne derjenige ist, von dem die Legenden berichten.«

»Aber er war nicht in Licht gehüllt, als er zum erstenmal hier auftauchte«, wandte Bal­duur ein.

»Er braucht es nicht«, sagte Pona. »Er ist das Licht. Er kann es geben und nehmen, so wie er es beim Angriff der Fanatiker auf un­ser Muuke tat.«

Razamons Miene verriet Skepsis, aber er sagte nichts darauf.

Der mitgeschleppte Eripäer kam zu sich. Er schrie auf, als er erkannte, wo er sich be­fand, und starrte Razamon wie einen Dämon an.

»Ich war allein im alten Bunker«, berich­tete er, als Razamon ihn mit der Lähmwaffe bedrohte, die von den draußen postierten Soldaten nicht entdeckt worden war. »Die anderen lieferten euch nur ab. Sie mußten sofort wieder umkehren, um …« Der Mann biß sich auf die Zunge. Schnell fügte er hin­zu: »Ich weiß nichts, gar nichts!«

»Was geschah in der Zelle?« »Sie wurden ohnmächtig. Ich schlug Ih­

nen das Messer aus der Hand. Dann hörte ich etwas hinter mir und sah eine ganz in Licht gehüllte Gestalt.« Die Stimme des Ge­heimbündlers war kaum noch zu vernehmen, als er sagte: »Er ist aus der Sonne gekom­men, um uns zu strafen. Plötzlich hatte ich meine Waffe nicht mehr in der Hand. Dann geschah irgend etwas, an das ich mich nicht erinnern kann. Ich kam erst wieder zu mir, als dieser Mann«, er zeigte auf Balduur, »vor mir stand und mich niederschlug. Mehr weiß ich nicht.«

Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Eripäers. Er kippte zur Seite und blieb reglos liegen.

»Er ist tot«, sagte Balduur nach einer kur­zen Untersuchung.

»Vermutlich hat er eine Giftkapsel zerbis­sen, um keine Geheimnisse seiner Organisa­tion preisgeben zu müssen.«

»Das brauchte er nicht, Razamon«, flü­sterte Pona. »Der Lichterne ist allwissend. Wir Eripäer haben uns versündigt. Er ist ge­

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kommen, um die Schuldigen zu bestrafen.« Wieder verzichtete Razamon auf eine

Entgegnung. Er wollte Pona die Hoffnung nicht nehmen. Dieser »Lichterne« jedoch schien ihm eine sehr reale Figur zu sein.

»Es ist Mittag«, sagte er. »Uns bleibt also noch der halbe Tag Zeit, um nach Luukh zu fliegen.«

Was immer dieser mysteriöse »Lichterne« trieb, hatte nichts mit dem vordringlichen Problem der beiden Pthorer zu tun. Ihnen mußte es in erster Linie darum gehen, die Eripäer davon zu überzeugen, daß sie keine Agenten der Krolocs waren. Deshalb muß­ten sie den Mörder finden, der sein Unwesen auf Zaardenfoort trieb, zumal wieder zwei Tote in einem Muuke aufgefunden worden waren.

In den Nachrichten war von gewaltigen Demonstrationen vor den Lagern der Nich­teripäer die Rede. Man glaubte also immer noch, daß entweder die Dunkelhäutigen oder Tirsoth für die Todesfälle verantwortlich waren.

Die Entwicklung strebte ihrem Höhepunkt entgegen.

8. Irgendwo in Luukh

Woolsar war außer sich vor Zorn, als er die Nachrichten von der Flucht der Gefange­nen bekam.

»Es ist nicht Macnars Schuld, Woolsar«, sagte Pennart, der engste Vertraute des Ver­schwörers. »Er war allein im Bunker. Wir hätten doch einige Männer bei ihm lassen sollen. Allein konnte er nichts gegen das … Unheimliche ausrichten.«

»Unsinn!« fuhr Woolsar den Mann an. »Während des Fluges hörte ich davon, was in Nurcrahns Muuke geschah, als wir es schon gestürmt hatten. In den Raumfahrerlo­kalen erzählt man sich Schauergeschichten über einen Geheimnisvollen, der plötzlich überall gesehen worden sei. Ich sage dir, Gurankor hat etwas vor. Er weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als den Aberglauben

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der Eripäer auszunützen, und diese Idioten fallen darauf herein.«

Woolsar schwieg eine Weile und ging un­ruhig im Raum auf und ab. Er und eine Handvoll seiner Anhänger befanden sich in einem der wichtigsten Stützpunkte der »Streiter des Lichts«. Ganz so sicher, wie der neue Lichtfürst sich gab, war er nicht. Hätte er sonst zwei Schweber zum alten Bunker in den Bergen Laarmadoors ge­schickt, um nachzusehen, ob dort alles in Ordnung war, anstatt selbst sofort hinzuflie­gen, wie er es vorgehabt hatte? Und hätte er sonst sorgfältiger als sonst seine Spuren ver­wischt, nachdem sein Schiff gelandet war?

Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Alle Männer außer Macnar wurden anderswo ge­braucht. Sie hielten sich überall in der Nähe der Nichteripäer-Gettos auf, und das kam Woolsar nun zugute.

Sein Gesicht war zu einer Grimasse ge­worden, als er Pennart wieder ansah.

»Heute nacht schlagen wir zu«, sagte er. »Gurankor hat zwar Soldaten geschickt, doch diese sollen nur in den Städten für Ord­nung sorgen.«

Pennart starrte ihn ungläubig an. »Aber dazu ist es viel zu früh! Jetzt, da du

den Alten abgelöst hast, kannst du deine Macht nützen, um vorerst noch im Rahmen der Legalität gegen das System zu kämp­fen.«

»Genau das werde ich tun. Du wirst die Angriffe leiten, Pennart. Die Lager der Dun­kelhäutigen müssen dem Erdboden gleichge­macht werden. Keiner von ihnen darf über­leben. Dann bin ich am Zug.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Pennart. Er lachte rauh. »Ein genialer Einfall. Du wirst eine Nachricht an Gurankor schicken und dann den Gegenschlag führen.«

»Keine Nachricht an Gurankor«, wehrte Woolsar ab. »Ihr werdet auch mich angrei­fen, natürlich ohne daß mir etwas geschieht. Nach der Vernichtung der Gettos verwandelt ihr euch in empörte Zaardenfoorter, die die Streiter der Nacht zur Strecke bringen wol­len. Es muß brennen, Pennart! Ich muß mich

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derweil meiner eigenen Haut wehren und kann nichts dagegen tun.«

Woolsar grinste, als er daran dachte, daß die Fremden ihm ungewollt einen großen Dienst erwiesen hatten. Insgeheim hatte er jedoch Angst vor ihnen. Den angeblichen Spuk auf Zaardenfoort nahm er nicht so ernst wie die Gerissenheit der Eindringlinge.

Natürlich glaubte er nicht an Agenten der Krolocs. Nurcrahn hätte sein Volk niemals verraten, Pona schon gar nicht. Das Ver­stecken des Dreiäugigen war die Sentimen­talität eines alten Mannes gewesen. Doch die beiden Fremden und ihre Freunde auf der gestrandeten Welt konnten gefährlich werden. Die Krolocs würden sich die Zähne an ihnen ausbeißen, wenn sie vom gleichen Format waren wie Razamon und Balduur. Deshalb mußte Woolsar jetzt schnell han­deln.

»Das ist der Anfang des Bürgerkriegs«, sagte Pennart.

»Ja. Durch euer Verhalten als brave Bür­ger den angeblichen Streitern des Lichts ge­genüber wird die Sympathie der Zaarden­foorter auf unsere Seite umschlagen. Und die Lichtfürsten werden sich dem Druck der Öffentlichkeit beugen müssen.«

»Der angeblichen Streiter?« Wieder grinste Woolsar. »Natürlich. Glaubst du, ich ließe euch ge­

gen unsere eigenen Leute kämpfen? Ihr habt die Listen derjenigen, die uns im Wege sind. Schleust Belastungsmaterial in ihre Muuker. Man wird es finden und die Schuldigen ha­ben.«

»Und diese Schuldigen …« »Sind enge Freunde des Eripäers. Das

wird die Bevölkerung gegen ihn aufwiegeln, vor allem, wenn sich herausstellt, daß die Truppen, die Gurankor hierher entsandt hat, absolut nichts ausrichten konnten.«

Woolsar preßte die Lippen aufeinander. »Bald wird es keine Dummköpfe mehr

geben, die den Dunkelhäutigen die gleichen Rechte einräumen wollen wie den Eripäern. Niemand wird mehr fordern, daß unsere Kampfschiffe die Lichtung verlassen, um ei­

ner gestrandeten Welt zu helfen. Die Lich­tung wird wieder rein sein, Pennart – rein und stärker als je zuvor! Gurankor wird an Boden verlieren, und dann …«

Er ließ den Satz unvollendet. Woolsar gab Pennart letzte Instruktionen. Dann klemmte er sich das Material, das er von Aarl mitge­bracht hätte, unter den Arm und sagte grin­send:

»Jetzt muß ich mich um meine Geschäfte als Lichtfürst kümmern und dafür sorgen, daß die Verschwörer, diese Bösewichte, zur Strecke gebracht werden. Und vergeßt nicht Nurcrahns Muuke. Dort werde ich mich be­finden, wenn ihr es angreift. Und diesmal wird es keinen Spuk geben.«

*

Ebenfalls in Luukh landete am späten Nachmittag der Schweber mit Razamon, Balduur und Pona. Sie wußten nun, daß man sie zumindest bis zu ihrer Entführung beob­achtet hatte. Ob Gurankor – oder wer immer dafür, verantwortlich war – inzwischen neue Soldaten auf sie angesetzt hatte, war unge­wiß.

Pona wies den Gefährten den Weg zu je­nem Gebäude, in dem die Informationen über alle bisherigen Todesfälle auf Zaarden­foort archiviert waren. Man empfing sie nicht gerade freundlich, gewährte ihnen je­doch Zutritt.

Eine Eripäerin suchte ihnen die ge­wünschten Akten heraus. Sie enthielten die Namen der Toten und die Orte, wo man sie gefunden hatte.

»Hmm«, machte Razamon nach einer Weile. »Es sieht so aus, als ob alle Opfer al­lein in ihren Muukern gewesen seien, als sie starben.«

»Eine ungeheure Erkenntnis«, sagte Bal­duur sarkastisch. »Und du glaubst, daß die Zaardenfoorter dies selbst nicht wissen.«

»Natürlich wissen sie es. Sie sind nicht dumm.«

»Aber?« »Vielleicht auf einem Auge blind. Wir ha­

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ben ihnen gegenüber den Vorteil, daß wir unbefangener an die Sache herangehen kön­nen.«

»Unbefangener!« Balduur lachte humor­los. »Unser Leben hängt davon ab, ob wir Erfolg haben. Das nennst du ›unbefangen‹?«

»Du weißt genau, was ich meine. Einige Dinge könnten für sie so selbstverständlich sein, daß sie sie gar nicht erst in Erwägung ziehen.«

»Du hast einen Verdacht«, meinte Pona. Razamon schüttelte den Kopf. »Dazu wis­

sen wir noch zu wenig.« Er las die Berichte noch einmal durch.

»Wie schnell kann ein Eripäer von einem Kontinent zum anderen gelangen? Von der einen Seite des Planeten auf die andere?«

»Wenn er einen sehr schnellen Schweber besitzt, in drei, höchstens vier Stunden.«

»Diese beiden Todesfälle«, Razamon reichte Pona zwei Folien, »ereigneten sich innerhalb einer halben Stunde. Die beiden Opfer starben fast zu gleicher Zeit, das erste auf Luuk, das zweite auf dem gegenüberlie­genden Kontinent Laarmadoor.«

»Mein Großvater vertrat die Ansicht, daß es sich bei den Morden um das Werk der Krolocs handelte«, erinnerte Pona. »Eine noch unbekannte Waffe, die sie gegen uns einsetzen. Jetzt noch in kleinem Maßstab, später vielleicht massiv.«

Das würde Gurankors seltsame Anwei­sung erklären, doch Razamon glaubte nicht daran, ebensowenig wie an die Schuld Dun­kelhäutiger oder Dreiäugiger. Er und Baldu­ur hatten am eigenen Leib erlebt, wie streng die Sicherheitsvorkehrungen am Rand der Lichtung waren. Es schien unmöglich, daß die Krolocs Agenten einschleusten, ohne daß dies früher oder später auffiel.

Und welche Waffe sollte in der Lage sein, Männer und Frauen umzubringen, ohne daß Spuren von Gewalteinwirkung zu finden waren? Die Opfer waren ja angeblich alle erstickt.

Gas? Dann mußte es jemanden geben, der es in die Muuker schaffte. Doch dieser Ge­danke war nicht von der Hand zu weisen. Es

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gab zweifellos Möglichkeiten, dafür zu sor­gen, daß das Gas zu einem vorher bestimm­ten Zeitpunkt ausströmte, nachdem der Un­bekannte, der es in die Muuker geschafft hatte, längst über alle Berge war.

Das würde die enge zeitliche Überein­stimmung erklären.

Doch Razamon ging nicht aus dem Kopf, daß niemals zwei oder mehr Eripäer am gleichen Ort gestorben waren. Immer war es ein Mann oder eine Frau gewesen, und sie hatten sich allein in ihrer Behausung aufge­halten.

»Der erste Todesfall ereignete sich hier auf Luuk«, murmelte Balduur.

Razamon nickte. Er hatte den gleichen Gedanken gehabt. Er bat die Eripäerin zu sich, die sich bisher still im Hintergrund ge­halten hatte, ohne die ungebetenen Gäste aus den Augen zu lassen.

Auch hier war mit Hilfe der eripäischen Translatoren eine lückenlose Verständigung möglich.

»Dieses Muuke, in dem der erste Tote ge­funden wurde – ist es bewohnt?«

»Nein«, antwortete die Frau widerwillig. Sie blickte vor allem Pona, die Schwester des Dreiäugigen, abweisend an. »Die Ver­wandten des Ermordeten verließen es und wohnen seitdem in Luukh.«

»Weshalb zogen sie aus?« »Sie sagen, daß sie die Erinnerung quälte,

aber ich vermute, daß es ihnen dort unheim­lich wurde.«

»Wieso das?« »Sie können sie selbst fragen, aber ich ra­

te Ihnen nicht dazu.« Razamon verstand. Sie waren verbittert

und wollten in Ruhe gelassen werden. »Können wir uns dort einquartieren? Wir

möchten uns in der Nähe umsehen.« »Das habe ich nicht zu entscheiden. Nur

Woolsar kann Ihnen die Erlaubnis geben.« Mit Trotz in der Stimme sagte die Eripäerin: »Lichtfürst Woolsar.«

Plötzlich drehte sich ein Mann um, der ebenfalls Akten durchgeblättert hatte, und kam lächelnd auf die drei Unerwünschten

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zu. »Ein freundliches Gesicht«, brummte Bal­

duur. »Und das auf Zaardenfoort.« »Ich habe einen Teil Ihrer Unterhaltung

mit angehört«, sagte der Fremde. »Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische. Sie wollen zum Muuke der Familie Haard­hor?«

»So hieß der Tote, ja.« »Das ist in Ordnung. Sie können sich dort

umsehen und darin wohnen, bis Sie etwas gefunden haben, falls Sie etwas finden.«

Razamon und Balduur blickten den Mann mißtrauisch an. Pona war ein paar Schritte zurückgetreten und zitterte.

»Wie kommen Sie dazu, Entscheidungen zu treffen, die nur dem Lichtfürsten oblie­gen?« fragte die ältere Eripäerin scharf.

Der Mann bat Razamon und Balduur, einen Augenblick zu warten und zog die heftig protestierende Frau mit sich weg. Er holte etwas aus einer Tasche und zeigte es ihr. Sofort beruhigte sie sich, nickte und ging davon.

»Sie können losfliegen«, sagte der Frem­de. »Von offizieller Seite wird man Ihnen keine Steine in den Weg legen, aber nehmen Sie sich vor den Fanatikern in acht.«

»Wer sind Sie?« fragte Razamon, immer noch mißtrauisch.

»Einer der Wissenschaftler von Aarl. Wir sind angewiesen, Ihnen im Rahmen unserer Befugnisse Hilfestellung zu geben.« Er lä­chelte verschmitzt. »Und unsere Anweisun­gen kommen vom Eripäer selbst. Sie haben Vorrang vor den Befehlen des Lichtfürsten.«

»Sagen Sie mir Ihren Namen«, forderte Razamon.

Der Mann zuckte die Schultern. »Ich weiß zwar nicht, was Sie davon haben, aber bitte. Ich heiße Waaylon.«

*

Pona zitterte immer noch, als sie mit Bal­duur und Razamon den Schweber bestieg.

»Da werden wir einmal freundlich behan­delt, und schon wirft es sie um«, versuchte

Balduur zu scherzen. »Diese Stimme«, flüsterte das Mädchen.

»Ich könnte schwören, daß ich sie schon ein­mal gehört habe.«

»Die Stimme dieses Waaylon?« Pona nickte. Dann holte sie tief Luft.

»Vergeßt es. Der Gedanke ist zu phanta­stisch.«

Balduur und Razamon sahen sich an und zuckten schließlich die Schultern. Wenn Po-na es für richtig hielt, würde sie vielleicht sagen, was sie so in Erregung versetzt hatte.

Sie überflogen einen Teil der Stadt. Hier gab es nur in den Randgebieten Muuker. Of­fensichtlich existierte nur eine begrenzte Anzahl dieser lebenden Behausungen auf Zaardenfoort. Die Bewohner des Planeten hatten also keine Möglichkeit, neue »heranzuzüchten«. Als alle Muuker bezogen waren, hatte man große moderne Gebäude im Stil derjenigen auf Aarl konstruiert. Die großen Städte waren entstanden.

»Gab es die Muuker immer schon, oder sind sie entstanden, nachdem die Eripäer sich auf Zaardenfoort ausbreiteten?« fragte Razamon.

»Sie waren schon immer da«, behauptete Pona. »Jedenfalls solange, wie unsere Über­lieferungen zurückreichen.«

»Etwas stört mich«, knurrte Balduur. »Bevor wir nach Luukh aufbrachen, verfolg­ten wir die Nachrichten des interplanetari­schen Fernsehnetzes. Woolsar war gerade von Aarl zurückgekehrt und ließ eine Groß­fahndung nach unseren Entführern und den Mördern der Eripäer in den drei Schwebern auslösen.«

»So hieß es«, stimmte Razamon zu. »Siehst du etwas davon? Es ist in und

über der Stadt so ruhig, als ob Zaardenfoort eine Insel des Friedens wäre. Keine Patrouil­len, keine Sperren. Und von den Raumsolda­ten, die von Aarl gekommen sein sollen, kann ich nichts entdecken.«

»Ich wäre diesem Woolsar zu gern einmal persönlich begegnet«, sagte Razamon. »Angeblich befindet er sich ja in wichtigen Sitzungen des Krisenstabs, aber du hast

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recht. Es ist mir zu ruhig.« »Woolsar war der Freund meines Großva­

ters und immer hilfsbereit, wenn meine Fa­milie in Schwierigkeiten steckte«, sagte Po-na.

»Ja!« brummte Razamon. »So hilfsbereit, daß er Nurcrahn des Verrätertums beschul­digte und nicht schnell genug bekanntgeben konnte, daß er einen Dreiäugigen beherberg­te. Ein wahrer Freund. Er hätte sich zumin­dest vorher mit Nurcrahn unterhalten und ihn nach seinen Motiven fragen können.«

»Du kennst die Angst aller Eripäer vor den Dreiäugigen nicht. Es war Woolsars Pflicht, so zu handeln, wie er es tat.«

Razamon fuhr auf. Er drehte sich zu Pona um, während Balduur den Schweber steuer­te, und schlug mit der Faust auf den Rand der offenen Maschine.

»Verdammt! Und wie hättest du gehan­delt? Hättest du deinen Großvater auch ver­raten?«

»Tirsoth ist mein Bruder …«, flüsterte Pona.

»Du sagtest eben noch, daß alle Eripäer …«, Razamon winkte verärgert ab, als er sah, wie das Mädchen litt.

Ein altes terranisches Sprichwort fiel ihm ein:

Der Wolf im Schafspelz … Pona und ihre Mutter hatten ihm alles

über den neuen Lichtfürsten erzählt, das sie selbst wußten – auch, daß er vor seinem spektakulären Auftritt vor der Regierung und den Parlamentariern den Dunkelhäuti­gen Talato-Cors, jenen Mann, den Nurcrahn aufgenommen hatte, von den »Streitern des Lichts« zu Tode gefoltert aufgefunden hatte.

Solche Zufälle liebte Razamon nicht. Und dann der »verunglückte« Schuß auf

Talato-Cors, als dieser Nurcrahn gerettet hatte und zu seinem Muuke zurückbrachte …

Razamon nahm sich vor, diesem Woolsar auf den Zahn zu fühlen, sobald die vordring­liche Aufgabe gelöst war.

Der Schweber befand sich mittlerweile über freiem Gelände. Die ersten Scheinwer-

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fertürme spendeten ihr taghelles Licht in der Nähe der Muuker. Die Dämmerung hatte be­reits eingesetzt, und Pona zeigte auch wieder Angst.

»Wir sind bald da, Pona«, sagte Razamon. Er ließ sich neben der jungen Eripäerin nie­der und strich ihr über den haarlosen Kopf. »Sei ganz ruhig. Wir werden es schaffen. Wir finden denjenigen oder das, was für den Tod der Unglücklichen verantwortlich ist. Dann ist auch Nurcrahns Unschuld bewie­sen.«

»Oder das? Was meinst du damit, Raza­mon?« Sie schüttelte sofort den Kopf. »Ich weiß, daß du doch eine Vermutung hast. Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht willst. Es wäre zu schön, wenn mein Groß­vater seine Ehre zurückerhielte. Ich liebe ihn sehr.«

»Das weiß ich doch.« »Er war ein wirklicher Eripäer.« Pona biß

sich auf die Lippen. »Er ist es, denn er ver­steht auch diejenigen, die nicht so sind wie wir. Er kann keinen Haß empfinden, nicht einmal auf die Krolocs. Für ihn sind alle Wesen, ganz egal, wie sie aussehen oder denken, Teil einer einzigen großartigen Schöpfung.«

»Das ist richtig, Pona. Eines Tages möch­te ich deinen Großvater kennenlernen und mit ihm reden.«

Das Mädchen war schon viel ruhiger ge­worden. Die Angst vor der Dunkelheit war den Träumen gewichen, jenen Träumen, die ihr Lebensinhalt waren. Träume von einer Zeit, in der es keine Unterschiede zwischen Eripäern und Nichteripäern mehr gab, in der vielleicht sogar die Krolocs und alle anderen Bewohner des Staus zueinanderfinden wür­den.

»Erzähle mir bitte von deiner Welt«, bat Pona. »Ich möchte wissen, wie es in deiner Heimat aussieht.«

Razamon lachte. Er wollte schon anset­zen, dann dachte er an all die Schrecknisse Pthors, die Ungeheuer von Kalmlech, die Schrecken des Blutdschungels, das grauen­volle Schicksal der Schläfer in der Senke der

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Verlorenen Seelen – an alles, was die Herren der FESTUNG so vielen unbekannten Völ­kern angetan hatten.

»Hör zu«, flüsterte er, als er sah, daß sich die transparenten Lider von Ponas großen Augen allmählich herabsenkten. »Dort gibt es wunderschöne Parks, grüne Anlagen mit­ten in den Städten, Meere voller Leben und Menschen, die gelernt haben, einander zu re­spektieren und in Frieden miteinander zu le­ben.«

Razamon erzählte weiter, und er geriet ungewollt ins Schwärmen. Er berichtete von all dem Schönen, was er auf seiner Welt er­lebt hatte. Nur dann und wann stockte er, als er daran dachte, daß es dort auch Schatten­seiten gegeben hatte und noch gab.

Er sprach nicht von Pthor, sondern von dem Planeten, auf dem er zehntausend Jahre seines Lebens verbracht hatte.

»Auch die Menschen waren zerstritten«, hörte er sich reden, »ebenso wie die Eripäer auf Zaardenfoort es jetzt sind. Doch es ge­lang einem Mann, sie zu einen. Er hieß Per­ry Rhodan, und er …«

Als Razamon sah, daß Pona schlief, stand er lächelnd auf und ging zu Balduur.

»Ein langer Vortrag«, sagte der Odins­sohn.

»Kinder brauchen Märchen zum Einschla­fen«, antwortete Razamon. »Auch, wenn die Märchen von gestern die Realität von heute sind.«

Dann verhärtete sich seine Miene. »Wie weit noch?« »Wir sind bald am Ziel.«

9. Im Hexenkessel von Zaardenfoort

In dieser Nacht sollte es brennen; Luuk, Daymoor, Laarmadoor und Noomos – alle vier Kontinente Zaardenfoorts sollten die Macht und Entschlossenheit der »Streiter des Lichts« zu spüren bekommen.

Doch als die bewaffneten Geheimbündler gegen die Gettos der Dunkelhäutigen an­rannten, stießen sie auf unverhofften Wider­

stand. Die Raumsoldaten schienen aus dem Bo­

den zu wachsen. Es waren jene, die Guran­kor heimlich nach Zaardenfoort geschickt hatte, während die anderen Woolsar in Si­cherheit wiegen sollten. Bevor auch nur ei­ner der Angreifer einen tödlichen Schuß ab­geben konnte, wurden sie von den Lähm­strahlen erfaßt und brachen zusammen. Sol­che Szenen spielten sich überall auf dem dritten Planeten ab.

Kein einziger Nichteripäer kam ums Le­ben.

Die Fanatiker wurden an Bord von Schwebern geschafft und zum Raumhafen von Luukh und den Zentralstädten der ande­ren Kontinente gebracht, sofort in Schiffe verfrachtet und eingesperrt.

Kein einziger »Streiter der Nacht« konnte seine Giftkapsel zerbeißen. Noch während des Fluges nach Aarl wurden die Betäubten von Ärzten untersucht, und die tödlichen Kapseln wurden entfernt.

Kein einziger Zaardenfoorter begriff, was vorging. Doch die Bewohner des dritten Pla­neten atmeten auf, mit Ausnahme jener, die immer noch mit den Geheimbündlern sym­pathisierten. Die Organisation war aber noch nicht zerschlagen, denn kein einziger der Gefangenen konnte den Namen ihres Anfüh­rers preisgeben. Die Eingeweihten befanden sich nicht unter ihnen.

Sie waren in Luukh und den anderen Zen­tralstädten. Sie trugen die Maske ehrbarer und loyaler Eripäer, die fest zu Gurankor hielten.

Gurankor, der Eripäer, hatte endlich seine Macht bewiesen, und niemand zweifelte mehr daran, daß er für die Ergreifung der Verbrecher verantwortlich war. Die Sympa­thien schwenkten um. Die Loyalen fühlten sich in ihrem Glauben an den Eripäer bestä­tigt, die Zweifler versanken in Scham.

Daneben gab es jene, die vom Auftauchen des Lichternen gehört hatten, des Mannes, der aus der Sonne geboren und das Licht selbst war. Die phantastischsten Gerüchte kursierten überall, wo Raumfahrer und Zivi­

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listen zusammenkamen. Gurankor hatte eingegriffen, endlich, nach

viel zu lang erscheinendem Zögern. Der vielleicht entscheidende Schlag gegen die »Streiter des Lichts« veranlaßte viele Zaar­denfoorter, die gegebene Situation zu über­denken.

Offensichtlich vertraute der Eripäer den Fremden und Pona.

Konnten diese dann Agenten der Krolocs sein?

Versuchte Gurankor, sie durch verräte­rische Handlungen zu überführen? Oder wa­ren sie wirklich hier, um dem Unwesen des heimtückischen Mörders ein Ende zu berei­ten?

So sehr die Hoffnungen der Loyalen an­stiegen, so sehr wuchs der Haß der Unzu­friedenen ins Unendliche.

Die eripäische Zivilisation stand am Scheideweg, denn Woolsar hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Einen Trumpf, der alle Werte der eripäischen Kultur mit einem Schlag zusammenbrechen lassen konnte.

Woolsar kannte das Geheimnis des Eripä­ers Gurankor und all seiner Vorgänger. Er disponierte um. Seine »Entführung« war sinnlos geworden, die »Vergeltungsaktionen« unmöglich. Doch noch war nicht alles verloren. Zuerst mußten die Fremden aus dem Weg.

*

Der Schweber landete vor dem Muuke. Razamon nahm die tief schlafende Pona und trug sie ins Licht der Scheinwerfer. Balduur stellte den Motor des Schwebers ab. Nie­mand schien in der Nähe zu sein.

Als die beiden Männer mit Pona die orga­nische Behausung betraten, ahnten sie noch nichts von dem, was zu gleicher Zeit in an­deren Teilen Zaardenfoorts vor sich ging.

Ebensowenig konnten sie wissen, daß ein einzelner Schweber von Luukh aus aufge­brochen war und ihnen folgte.

Die Hohlräume im Innern des Muukes waren kleiner als die, die Razamon und Bal-

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duur bisher gesehen hatten. Offensichtlich hatte sich das rätselhafte Wesen darauf ein­gestellt, daß niemand mehr in ihm wohnte.

»Ich frage mich, wie intelligent diese Din­ger eigentlich sind«, sagte Razamon, nach­dem er Pona in einer kleinen Bodenmulde abgelegt hatte, die wie geschaffen für die Schlafende war. Wie erschöpft muß sie ge­wesen sein, dachte der Atlanter.

»Wer sagt dir, daß sie intelligent sind?« wollte Balduur wissen. »Ihre Reaktion auf die Anwesenheit von Eripäern ist die gleiche wie die von Blumen, die ihre Blütenkelche der Sonne entgegenstrecken. Das muß nichts mit Intelligenz zu tun haben.«

Razamon zuckte skeptisch die Schultern. »Dein Magen knurrt so laut, daß ich es

hören kann«, sagte der Odinssohn. »Ich habe auch Hunger. Laß uns etwas essen, bevor wir uns umsehen.«

Balduur verließ das Muuke und kehrte kurz darauf mit einem Beutel in der Hand zurück.

»Unser unbekannter Freund hat an alles gedacht. Hier – getrocknete Früchte. Das Säckchen lag in einer Vertiefung des Kon­trollpults.«

Razamon nahm einige der Früchte und aß. Er bemerkte Balduurs Blicke.

»Was ist los?« »Ich kann es einfach nicht begreifen«,

sagte der Odinssohn kopfschüttelnd. »In Ordnung, deine Wunden sind verheilt, und dieser Mann, der angeblich aus der Sonne herabgestiegen ist, hat dich wieder zum Le­ben erweckt. Aber du mußt verdammt viel Blut verloren haben. Du müßtest keinen Schritt mehr gehen können, ohne daß es dir schwarz vor Augen wird.«

»Du siehst, daß ich's kann.« »Das ist Magie«, behauptete Balduur. »Das glaube ich nicht. Ich frage mich

zwar auch, was es mit diesem Lichternen auf sich hat, aber er hat uns und vorher Irsocca und Tirsoth das Leben gerettet. Hätten wir jetzt einen Schluck Wein, könnten wir auf unseren Schutzengel trinken.«

Eine schnelle Bluttransfusion, dachte

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Razamon. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber woher sollten Eripäer das Blut eines Pthorers zur Verfügung haben?

»Wir haben Sorgen genug. Ich sehe mir jetzt das Muuke genauer an. Du bleibst bei Pona.«

»Wieso?« wollte Balduur wissen. »Sie schläft, und draußen ist niemand.«

»Es war auch niemand draußen, als Haardhor starb.«

Razamon machte sich auf den Weg, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wußte, daß er sich in Gefahr begab, falls seine vage Ver­mutung zutraf. Er nahm die erbeutete Waffe in die Hand und betrachtete sie genauer. Überall in den Wänden des Muukers waren Öffnungen, durch die das Licht der Schein­werfer fiel.

Die Waffe war von einem anderen Typ als die klobigen Strahler der Raumsoldaten in Prudnier. Offensichtlich verfügten die Eripäer über mehrere Arten von Handfeuer­waffen. Razamon interessierte es, ob diese neben Lähmstrahlen auch tödliche Energie­schüsse abgeben konnte. Er entdeckte zwei Markierungen, kleine leuchtende Knöpfe, und einen Schalter direkt daneben. Er ließ sich kippen und zeigte nun auf die zweite Markierung.

Razamon hütete sich davor, einen Probe­schuß auf eine der lebenden Wände abzuge­ben. Er konnte nur hoffen, daß er sich vertei­digen konnte, sollte es zur von ihm befürch­teten Situation kommen.

Langsam bewegte er sich durch die Korri­dore und blickte in die Hohlräume zu beiden Seiten. Hier und da standen noch Einrich­tungsgegenstände, allerdings fehlte die Kommunikationsanlage.

Das Muuke war viel kleiner als das der Familie Nurcrahn und nur »einstöckig«. Am anderen Ende angekommen, hatte Razamon das Gefühl, daß sich eine der Wände beweg­te. Er fuhr herum und richtete die Waffe dar­auf.

Er mußte sich getäuscht haben, doch plötzlich fühlte er sich in einem riesigen monströsen Organismus eingesperrt. Erst

jetzt wurde ihm so recht bewußt, daß er sich in einem Lebewesen befand. Er beeilte sich, zu Pona und Balduur zurückzukommen.

»Ich sehe mich jetzt draußen um«, erklär­te er. »Du darfst Pona auf keinen Fall allein lassen, Balduur.«

»Aber wieso nicht?« »Ich habe meine Gründe.« Razamon verließ das Muuke. Wäre es

nicht doch besser gewesen, den Odinssohn einzuweihen? Doch wenn sich Razamons Verdacht als unbegründet erwies, würde er sich lächerlich gemacht haben. Er glaubte im Grunde selbst nicht hundertprozentig daran.

Der ehemalige Berserker untersuchte die Außenwände auf Einstiche, Narben und an­deres, das von einer Manipulation des Muu­kes zeugen könnte. Die Haut des Riesen­schwamms war porös. Razamon fand abso­lut nichts, keine Spur, daß sich jemand hier zu schaffen gemacht hatte.

Er zog die Möglichkeit, daß die Todesfäl­le auf Gaseinwirkung zurückzuführen wa­ren, immer noch in Betracht, und er ertappte sich dabei, die Bestätigung geradezu herbei­zusehnen.

Falls die zweite Alternative zutraf, waren die Folgen für ganz Zaardenfoort nicht aus­zudenken.

Razamon hörte ein Geräusch. Er fuhr her­um und sah Balduur auf sich zukommen.

»Verdammt!« zischte der Pthorer. »Sagte ich dir nicht, du solltest bei dem Mädchen bleiben?«

»Aber du hast mich gerufen!« »Was habe ich getan?« Razamon tippte

sich an die Stirn. »Du hörst schon Geister­stimmen. Niemand hat dich gerufen, und …«

Razamon erstarrte. »Eine menschliche Stimme?« »Natürlich! Du riefst, ich solle heraus­

kommen, weil du etwas gefunden hättest.« »Pona!« entfuhr es Razamon. »Schnell,

Balduur. Wir müssen zu ihr, bevor …« »Spart euch den Weg!« Langsam drehten die beiden Atlanter sich

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um. Der Mann stand wenige Meter vor ihnen

und hielt eine lange Waffe auf sie gerichtet. Die Mündung flimmerte rötlich.

»Sie sind Woolsar«, sagte Razamon mit vor Zorn bebender Stimme.

»Ja«, sagte der Eripäer. »Lichtfürst Wool­sar von Luuk.« Er sah wie Razamons Hand mit der Waffe sich langsam hob. »Lassen Sie das. Ich brauche nur auf einen Knopf zu drücken, und Sie sind tot. Vorher sollen Sie erfahren, weshalb Sie sterben müssen.«

»Sie sind wahnsinnig!« »Sie sollen den Mund halten. Durch Ihre

Schuld sind all meine Pläne gefährdet. Erst wenn Sie beseitigt sind, haben wir Ruhe. Mit Ihrem Auftauchen begann alles.«

»Woolsar, Lichtfürst und Anführer der Lyncher«, knurrte Balduur. »Nichts ist unse­re Schuld. Sie selbst haben sich das, was auf sie zukommt, zuzuschreiben.«

»Die Bevölkerung Zaardenfoorts beginnt wieder, an den Eripäer zu glauben, nachdem wir sie in unserem Sinn beeinflußt hatten. Wenn es Ihnen gelingt, die Ursache für die Todesfälle herauszufinden, wird sie Guran­kors Entscheidung, Sie auf freien Fuß zu set­zen, bejubeln.« Woolsar lächelte. »Sie wer­den verstehen, daß ich das nicht zulassen kann.«

Razamon begriff, daß Woolsar nicht mehr bei Verstand war. Er würde keinen Augen­blick zögern, sie niederzuschießen. Es kam darauf an, Zeit zu gewinnen.

»Ein großer Teil meiner Leute wurde ver­haftet, als sie versuchten, die Lager der Dun­kelhäutigen zu stürmen. Doch es bleiben noch genug, um dem verfluchten Dreiäugi­gen den Garaus zu machen. Dies geschieht in diesen Minuten. Sie beide werden von mir persönlich in Luukh abgeliefert und von dort aus als die Mörder Ponas nach Aarl ge­bracht. Man wird nicht daran zweifeln, daß Sie als Agenten der Krolocs eine gefährliche Mitwisserin umgebracht haben. Ich konnte Sie stellen und werde dafür gefeiert wer­den.«

»So wie Sie Talato-Cors ermordet ha-

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ben.« »Sie sind schlau, doch nicht klug. Übri­

gens weiß ich, daß Sie keine krolocischen Agenten sind.«

»Wie konnten Sie so schnell hierhergelan­gen?« wollte Razamon wissen.

»Sie haben sich viel Zeit gelassen, außer­dem besitze ich einen viel schnelleren Schweber, und ich wußte, wo ich Sie finden würde.«

Razamon sah, wie ein Finger Woolsars sich krümmte. Instinktiv ging er in die Knie und riß Balduur mit sich zu Boden. Der Energiestrahl schoß über die Köpfe der Pthorer hinweg in das Muuke.

Razamon zögerte keinen Augenblick. Er war geblendet und konnte Woolsars Gestalt nur undeutlich sehen. Er holte aus und schleuderte seine Waffe dem Wahnsinnigen an den Kopf. Woolsar schrie auf und gab ei­nige ungezielte Schüsse ab. Er war benom­men.

»Pack ihn!« schrie Razamon Balduur zu und wollte sich auf den Eripäer stürzen. Ge­rade noch rechtzeitig sah er das rötliche Glimmen der Strahlermündung und warf sich wieder zur Seite. Die todbringende Lichtbahn fuhr genau zwischen ihm und Balduur hindurch. Bevor Razamon nachset­zen konnte, war Woolsar im Eingang des Muukes verschwunden.

Razamon hämmerte mit den Fäusten ge­gen die Wand, die sich augenblicklich ge­schlossen hatte. Razamon wußte von Pona, daß die Muuker in der Regel nur auf die Ge­dankenbefehle von Eripäern reagierten.

Es gab keinen Weg hinein. Woolsar und Pona. Das Mädchen war wehrlos.

»Was wird er tun?« fragte Balduur außer Atem.

»Er wird Pona töten«, sagte Razamon kaum hörbar. »Und dann sind wir an der Reihe.«

*

Die Angreifer kamen mit mehr als zwan­zig Schwebern, die vor dem Muuke der Fa­

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milie Nurcrahn landeten. Über hundert Be­waffnete sprangen heraus und richteten die Waffen auf die zur Bewachung Irsoccas und Tirsoths abgestellten Raumsoldaten und Ordnungskräfte aus Luukh.

Doch kein Schuß löste sich. Dafür stand plötzlich ein blendend helles

Licht am Himmel, gegen das das Licht der Scheinwerfer verblaßte. Aus der feurigen Kugel, die genau über dem Muuke schweb­te, schälte sich eine in Flammen gehüllte Gestalt.

»Der Lichterne!« ging ein Raunen durch Angreifer und Verteidiger. Einige warfen sich zu Boden und flehten um Gnade, andere schwangen sich in ihre Maschinen und flo­gen davon.

»Nun höret!« Die Stimme der Erschei­nung rollte wie Donner über das Land. »Ihr habt gefrevelt und den Glauben eurer Väter verraten. Die Schuldigen werden bestraft werden. Geht und verlaßt diesen Ort. Be­richtet überall von dem, was Ihr mit eigenen Augen gesehen habt. Und wisset: Das Licht ist überall, in jedem Winkel und Versteck, in den Städten und den Lagern derer, die nicht so sind wie ihr. Auch sie sind vom Licht er­füllt und werden von ihm gehütet. Diejeni­gen von euch, die sich zum Guten wenden, werden Vergebung finden, doch es wird kei­ne Gnade für die Uneinsichtigen geben! Geht und berichtet von den Worten dessen, der in die Sonne zurückkehren wird, wenn seine Aufgabe erfüllt ist!«

Vor den entsetzten Augen der Eripäer ver­schwand der Lichterne so, wie er gekommen war. Er verwandelte sich in einen Feuerball, um nach Sekunden zu verlöschen.

Die restlichen Angreifer schwangen sich in ihre Schweber und rasten in Panik davon. Ihnen schlossen sich Teile der Sicherheits­kräfte an. Man brauchte sie nicht mehr.

Fortan würde niemand es wagen, sich an Nurcrahns Muuke, an Tirsoth und Irsocca zu vergreifen. Die Nachricht von dem Auftau­chen des Lichternen würde sich wie ein Lauffeuer auf Zaardenfoort verbreiten. Der Respekt vor der legendären Erscheinung war

ebenso tief in den Zaardenfoortern verwur­zelt wie die Angst vor den Dreiäugigen.

Während die Schweber zu winzigen Lichtpunkten über dem Meer wurden, senkte sich eine dunkle Gestalt auf einem der klei­neren Hügel im Hinterland nieder. Sie schi­en alles Licht zu schlucken, bis sie sich er­neut verwandelte – in einen Mann im Raum­anzug.

Einen Augenblick schien er in sich hin­einzulauschen. Dann stieg er erneut in die Lüfte auf und wurde wieder unsichtbar.

In Nurcrahns Muuke kauerten Irsocca und ihr dreiäugiger Sohn beieinander.

»Es wird alles gut werden«, murmelte die Eripäerin. »Pona hat sich nicht getäuscht. Es gibt den Lichternen, und seine schützende Hand liegt über uns.«

»Ja«, sagte Tirsoth leise. Er lauschte den wundervollen Tönen des Dimensionskorri­dors, die nur ein Dreiäugiger vernehmen konnte. »Ja, Mutter, es gibt ihn, und ich weiß, daß er uns auch weiterhin helfen wird …«

Irsocca lächelte. Tränen rannen ihre Wan­gen hinunter.

Doch Tirsoth meinte nicht den Lichter­nen. Und es war zu früh, Irsocca die Wahr­heit zu sagen.

Aber auch Tirsoth war nicht in der Lage, etwas von dem Drama spüren, das sich in diesen Augenblicken anderswo auf Zaarden­foort vollzog.

Sein Glaube an den Mann, den er erkannt zu haben glaubte, hätte ihn keinen Augen­blick daran zweifeln lassen, daß dieser das Unglück verhindern würde.

Doch dazu war es zu spät.

*

Pona hatte einen Traum. Sie bewegte sich mit ihrem Großvater Nurcrahn durch den Stau. Sie waren ohne Körper. Um sie herum die Spaccahs der Krolocs. Die Spinnenarti­gen winkten ihnen zu. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl machte sich in Pona breit. Sie fühlte, daß Nurcrahn lächelte, er, der immer

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an einen Frieden geglaubt hatte. Sie schwebten weiter. Der schreckliche

Korsallophur-Stau schien lichterfüllt. Zwei weitere Bewußtseine schwebten ihnen ent­gegen. Razamon und Balduur.

Sie erlebten alle gemeinsam die Wunder der Dimensionskorridore. Pona und Nur­crahn hatten drei Augen, was die Eripäerin natürlich nur gefühlsmäßig wahrnahm. Längst vergessene Freuden überkamen sie und ihren Großvater. Eine völlig neue Welt öffnete sich für sie.

Dann waren sie wieder in der Lichtung. Und nun begann der Alptraum. Sie waren Fremde. Die Bewohner der drei

Lichtträger Sirkh-Prelljaddums standen ih­nen ablehnend gegenüber. Fremde, Dunkel­häutige, Nichteripäer streckten ihnen fle­hend ihre Hände entgegen. Helft uns! ver­nahm Pona, doch sie konnte nichts tun.

Ein Schatten fiel auf das Land. Inzwi­schen schwebten Pona, Nurcrahn, Razamon und Balduur über Zaardenfoort. Pona blickte zum Himmel auf und sah das Gesicht Wool­sars, des ehemaligen Beraters ihres Großva­ters.

Woolsars Gesicht glich einer Grimasse. Pona sah Pranken auf sich zukommen – Pranken eines Ungeheuers. Sie hörte sich um Hilfe schreien, doch niemand war mehr da. Sie war allein.

Woolsars Augen schienen alles Licht auf­zusaugen. Es wurde so dunkel, daß Pona aus dem Traum gerissen wurde und erwachte.

Licht! Und Woolsar! Ponas Erleichterung, als sie den vermeint­

lichen Freund ihrer Familie vor sich sah, war so groß, daß sie sich gar nicht erst nach Raz­amon und Balduur umsah. Woolsar war da, der neue Lichtfürst. Sicher war er gekom­men, um zu helfen.

Dann erblickte die junge Eripäerin die auf sie gerichtete Waffe.

»Steh auf, Pona«, hörte sie. Der Klang der Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Aber Woolsar! Was soll das bedeuten?

Horst Hoffmann

Sie sind …« Jetzt erst bemerkte Pona die Abwesenheit

der Freunde. »Wo sind Sie?« »Fort. Nur wir beide befinden uns im

Muuke, Pona. Was ich jetzt tun muß, tut mir leid, aber du hättest dich nicht in Dinge ein­mischen sollen, die dich nichts angehen.«

Endlich begriff das Mädchen. Plötzlich wurde ihr einiges klar.

»Hören Sie zu, Woolsar. Ich vergesse, daß Sie hier waren, ich verspreche es. Geben Sie Ihre wahnsinnigen Vorhaben auf. Sie werden scheitern. Der Lichterne ist aus der Sonne gekommen, um die Ordnung auf Zaardenfoort wiederherzustellen. Er ist all­wissend und sicher schon hierher unterwegs. Fliehen Sie, solange Sie noch Zeit haben. Ich werde nichts sagen, egal, was Sie ange­richtet haben.«

Der Eripäer lächelte dünn. »Es hat keinen Sinn, Pona. Der Lichterne,

pah! Ein Trick Gurankors!« Woolsar richtete den Lauf der Waffe auf

Ponas Brust. Das Mädchen wußte, daß es nichts zu verlieren hatte, und reagierte blitz­schnell.

Pona warf sich mit aller Gewalt gegen Woolsar und brachte ihn zu Fall. Ein Ener­giestrahl schoß in die Decke des Hohlraums. Bevor der Lichtfürst wieder auf die Beine kommen konnte, hatte Pona am Ausgang des Muukes den Gedankenbefehl gegeben.

Die Öffnung. Pona rannte hinaus, fuhr herum und konzentrierte sich auf den Wunsch, daß sie sich wieder schließen mö­ge. Einen Augenblick sah sie noch Woolsars Gesicht, dann schloß sich die Wand des Muukes mit einem schmatzenden Geräusch vor ihm.

Und noch etwas geschah. Das Muuke geriet in Bewegung. Entsetzt

müßte Pona mitansehen, wie es zu schrump­fen begann wie ein Schwamm, dem man von einem Augenblick zum andern alles Wasser entzog. Jemand packte sie von hinten und riß sie zurück. Pona erkannte Balduur. Raza­mon kauerte neben ihm im Gebüsch – weni­

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ge Meter vom Muuke entfernt, das sich in Stößen zusammenzog und wieder aufblähte.

Durch die lebenden Wände gedämpft, war ein grauenhafter Schrei zu hören.

»Was ist das?« schrie Pona entsetzt. »Beim Großen Licht! Was ist das?«

»Der Mörder«, antwortete Razamon. »Woolsar hat dir ungewollt das Leben geret­tet, Pona. Ich hatte recht.«

*

Ganz in der Nähe beobachtete eine licht­lose Gestalt die Flucht von Nurcrahns Enke­lin aus dem Muuke und die darauffolgenden Geschehnisse.

Der Geheimnisvolle, der Mann der vielen Erscheinungen, war zu spät gekommen, um Woolsar zu retten. Er empfand keine Genug­tuung über den Tod des Verschwörers, der so viel Unheil über Zaardenfoort gebracht hatte.

Doch nun, wo den Rebellen ihr Anführer genommen war, würde wieder Ruhe einkeh­ren.

Die Aufgabe des Lichternen war erfüllt. Er konnte dorthin zurückkehren, von wo er gekommen war.

Es würde ein Schauspiel werden, daß kein Zaardenfoorter je vergessen würde. Ein Schauspiel und eine Mahnung an alle.

*

Der Spuk dauerte etwa fünf Minuten. Dann quoll das Muuke wieder auf und rühr­te sich nicht mehr. Die kontraktiven Bewe­gungen waren vorbei.

Sekundenlang standen die drei Wesen, die in der Gefangenschaft der Krolocs zueinan­dergefunden hatten, wie gelähmt vor dem Pflanzen-Tier-Zwitter.

»Es soll sich öffnen, Pona«, flüsterte Raz­amon.

»Ich … ich habe Angst.« »Es ist alles vorbei. Wir haben vom Muu­

ke nichts mehr zu befürchten – nicht, solan­ge wir zusammenbleiben.«

Plötzlich hörten sie etwas, das wie ent­ferntes Stöhnen klang.

»Das ist der Kerl!« entfuhr es Balduur. »Er lebt noch!«

»Wir müssen hinein, Pona!« »Woolsar soll sterben!« sagte die Eripäe­

rin mit harter Stimme. Sie schien verwan­delt.

»Verdammt!« Razamon lief dorthin, wo der Kampf mit Woolsar stattgefunden hatte, und fand nach kurzem Suchen seine Waffe. Er kam zurück und richtete sie auf das Muu­ke.

»Gib den Befehl, Pona, sonst schieße ich uns die Öffnung frei!«

»Nein!« Pona erschrak. »Die Muuker empfinden Schmerz wie jedes lebende We­sen!«

»Dann los!« Sie empfinden Schmerz! dachte Razamon

verbittert. Und sie fügen Schmerz zu. Sie sind die Mörder, die die Eripäer suchen! Es gibt nicht einen, sondern viele – vielleicht alle Muuker.

Dann waren unzählige Eripäer auf Zaar­denfoort in höchster Lebensgefahr. Der Eripäer Gurankor mußte sofort informiert werden, aber vorher …

Die Öffnung bildete sich. »Danke, Pona«, sagte Razamon und

stürmte ins Innere des Gebildes, Balduur hinter ihm her.

Woolsar sah schrecklich aus. Das Muuke hatte ihm die häßliche Wunde in der Schul­ter nicht zugefügt. Die Killermuuker hinter­ließen keine Spuren ihrer Aktivitäten. Wool­sar hatte versucht, sich selbst zu töten, bevor er erstickt wurde.

Er lag im Sterben. »Hört mir zu«, flüsterte er. Die Freunde

hatten Mühe, seine Worte zu verstehen. »Ich habe große Schuld auf mich geladen und meine Strafe bekommen.«

Razamon hatte Mitleid mit dem Mann, trotz allem, was dieser angerichtet hatte, doch das plötzliche Bekenntnis kam ihm zu schnell.

»Hütet euch vor … Gurankor«, brachte

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der Verschwörer hervor. Er atmete schwer. »Ich kenne ihn jetzt. Er ist …«, wieder muß­te Woolsar Luft holen. Er hustete. »Ich habe gesehen, wie er seine Maske abnahm. Gu­rankor ist ein …«

Ein letztes Aufbäumen ging durch Wool­sars Körper. Dann kippte er tot zur Seite.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Baldu­ur. »Was meinte er mit der Maske? Und was soll Gurankor in Wirklichkeit sein?«

»Das werden wir herausfinden«, knurrte Razamon. »Und jetzt schnell zum Schweber. Wenn meine Befürchtung zutrifft, haben wir und alle Eripäer auf diesem Planeten keine Sekunde Zeit zu verlieren!«

»Du glaubst wirklich, daß all die Opfer von Muukern umgebracht wurden?« fragte Balduur.

»Ja. Und ich wage nicht daran zu denken, was geschieht, falls diese Gebilde intelligent genug sind, um zu wissen, daß ihr Geheim­nis entdeckt wurde. Wir müssen die Eripäer warnen.«

Sie waren bereits beim Schweber, wo Po-na zitternd wartete.

»Man wird uns nicht glauben, Razamon«, prophezeite Balduur finster. »Mehr noch. Man wird uns für Woolsars Tod verantwort­lich machen.«

10. Der Raumhafen von Luukh

Es war so, wie Balduur es befürchtet hat­te. Die noch während des Fluges gegebenen Informationen an die Verantwortlichen des Kontinents Luuk wurden mit einer Staffel Kampfgleiter beantwortet, die Razamon, Balduur und Pona kurz vor der Zentralstadt abfingen und zum Raumhafengelände eskor­tierten.

Nach Erhalt der Nachricht von Woolsars Tod hatten seine Berater, die auch Nurcrahn zur Seite gestanden hatten, die Initiative er­griffen. Sie hatten Aarl benachrichtigt, doch seltsamerweise noch keine Antwort vom Eripäer erhalten.

Selbst wollten sie nichts unternehmen.

Horst Hoffmann

Die vermeintlichen Kroloc-Agenten und Mörder Woolsars wurden in Sicherheitsge­wahrsam gebracht; niemand wollte auf sie hören. Kein Eripäer war bereit, die Versi­cherungen der drei, daß die Muuker jeden Augenblick »zuschlagen« könnten, ernst zu nehmen.

So kam es, daß Zaardenfoort von einer weiteren Katastrophe heimgesucht wurde. Doch bevor die ersten Schreckensnachrich­ten aus allen Teilen des Planeten die Stadt Luukh erreichten, geschah etwas anderes.

Mitten über dem Raumhafen, hoch am Himmel, entstand eine flammende Kugel. Es war noch Nacht, und die Erscheinung war überall in der Stadt zu sehen, weit über den Lichtbahnen der Scheinwerfer. Die Eripäer strömten aus ihren Wohnungen auf die Stra­ßen, als sie die mächtige Stimme hörten.

Sie sahen, wie aus der Kugel eine Gestalt wurde. Der Lichterne schwebte am Himmel – größer als die mächtigsten Raumschiffe der Eripäer.

»Ihr Uneinsichtigen!« hallte es. Die Stim­me schien von überallher zu kommen. »Also muß es weitere Opfer geben, bis ihr begreift und euch von den falschen Propheten ab­kehrt. Es werden weitere Eripäer sterben, weil ihr nicht bereit wart, die Wahrheit zu akzeptieren. Meine Aufgabe ist erfüllt. In wenigen Minuten werdet ihr euren schreck­lichen Fehler erkennen. Es wird euer letzter sein. Ihr werdet eure wirklichen Freunde er­kennen und die falschen verbannen.«

Das war alles. Die Zaardenfoorter warte­ten auf weitere Worte des Geheimnisvollen, doch der Lichterne schwieg.

Seine Gestalt blähte sich auf und bedeckte bald das ganze Firmament. Sie wurde wie­der zu einer Kugel und kleiner, als sie in die Höhe stieg. Der nächtliche Himmel wurde in ein Feuerwerk aus phantastischen Farben getaucht, als der Lichterne in die Sonne zu­rückkehrte.

Noch während die Zaardenfoorter über den Sinn der Botschaft nachdachten, kamen aus allen Teilen des Kontinents die Nach­richten vom Amoklauf der Muuker. Ähnli­

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che Szenen wie jetzt auf Luuk spielten sich auch auf den anderen drei Kontinenten ab. Tausende von Eripäern verließen in Panik ihre organischen Behausungen, nachdem die Lichtfürsten, beziehungsweise Woolsars Be­rater, endlich aufgewacht waren und unmit­telbar nach Erhalt der ersten Nachrichten die Bevölkerung über das planetarische Kom­munikationsnetz alarmiert hatten.

Für viele Eripäer kam die Warnung zu spät.

Ganze Familien mußten mitansehen, wie sich ihre Muuker zusammenzogen, auch, nachdem niemand mehr in ihnen war.

Es waren apokalyptische Bilder. Die Zaardenfoorter begriffen, daß ihre Zivilisati­on am Scheideweg stand. Viele Eripäer erlit­ten schwere Schocks und Nervenzusammen­brüche.

Razamon, Balduur und Pona wurden aus ihrer Zelle geholt. Ihre Aussage war bewie­sen – und ihre Unschuld.

Auf den anderen Kontinenten hatten es die Lichtfürsten leichter als die Berater Nur­crahns und Woolsars auf Luuk, die Leute zu beruhigen.

»Die Bevölkerung braucht jemand, dem sie vertraut«, erklärte einer der sechs ver­zweifelt. »Jemand, der ihre Moral wieder­aufrichten kann. Wir standen doch bisher nur im Hintergrund.«

Razamon, Balduur, Pona und die sechs Eripäer befanden sich in einem Kontroll­raum des Verwaltungsgebäudes. Von hier aus war nicht nur jeder Ort auf Zaardenfoort zu erreichen, sondern auch Aarl.

Als Razamon Waaylon eintreten sah, wußte er, was er zu tun hatte. »Lichtfürst Nurcrahn könnte die Bevölkerung beruhi­gen«, sagte er. »Aber Nurcrahn ist …«

»Er ist den Intrigen Woolsars zum Opfer gefallen!« rief der Atlanter. Er ging auf Waaylon zu. »Sie sind vom Eripäer hierher­geschickt worden. Bitten Sie ihn, Lichtfürst Nurcrahn zur Bevölkerung des Kontinents sprechen zu lassen.«

Der Mann, über dessen plötzliches Auf­tauchen die anderen Eripäer ganz offensicht­

lich mehr als erstaunt waren, blickte Raza­mon sekundenlang in die Augen. Beide wußten, was sie voneinander zu halten hat­ten. Razamon wunderte sich, daß ihm nicht früher klargeworden war, wer Waaylon in Wirklichkeit war.

»Ich will es versuchen«, sagte dieser schließlich.

Nur eine halbe Stunde später sprach Lichtfürst Nurcrahn zu den Bewohnern Luuks, die sich inzwischen überall zusam­mengefunden hatten. Nurcrahns Stimme war überall zu hören, obwohl die Zaardenfoorter nicht mehr über die in den Muukern zurück­gebliebenen Kommunikationsgeräte verfüg­ten.

Nurcrahn wies sie an, nach Verstreuten zu suchen und auf die Ankunft weiterer Schwe­ber zu warten, die bald erscheinen und sie in provisorische Unterkünfte bringen würden.

Es waren die Gettos der Nichteripäer. Niemand störte sich mehr daran. Die Eripäer hatten ihre Lehre erhalten und

den »Wink des Schicksals« verstanden. Als die Berater des Lichtfürsten mit der

Koordinierung der Rettungsaktionen be­schäftigt waren, trat Razamon auf Waaylon zu und reichte ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen«, sagte der Atlanter. »Für alles.«

»Wir haben Ihnen zu danken«, erklärte Waaylon. »Sie haben viel für uns alle getan. Ohne Sie wären wahrscheinlich alle Bewoh­ner der Muuker ums Leben gekommen.«

»Dann wußten Sie nicht, was es mit ihnen und den Toten auf sich hatte?« fragte Raza­mon erstaunt.

Waaylon schüttelte den Kopf. »Es heißt, daß der Lichterne allwissend

ist, Razamon. Ich bin nur ein einfacher Eripäer wie jeder andere.«

»Natürlich«, sagte Razamon.

*

Am Vormittag war die Ordnung weitge­hend wiederhergestellt. Die Obdachlosen befanden sich in den Lagern der Nichteripä­

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er oder hatten in den Zentralstädten Aufnah­me gefunden.

Die Prophezeiung des Lichternen erfüllte sich.

Eripäer und Dunkelhäutige, Wesen, die sich noch vor Tagen als erbitterte Feinde ge­genübergestanden hatten, aßen und tranken miteinander. Sie schliefen unter demselben Dach.

Es gab keine »Streiter des Lichts« mehr. Viele der ehemaligen Geheimbündler hatten eingesehen, wie unsinnig und verbrecherisch ihr Treiben gewesen war. Die wenigen, die wußten, daß Woolsar ihr Anführer gewesen war, sahen ein Zeichen in seinem Tod.

Razamon, Balduur und Pona konnten sich frei bewegen. Die Zaardenfoorter in Luukh machten sich große Vorwürfe. Sie wußten, daß viele Eripäer nicht gestorben wären, falls man rechtzeitig auf Razamons War­nung gehört hätte.

Doch immer noch war die Angst vor den Dreiäugigen stärker als alle Vernunft.

»Nun wißt ihr, daß Tirsoth keine Schuld an den Todesfällen hatte«, sagte Razamon während einer Besprechung zu den Beratern des entmachteten Lichtfürsten Nurcrahn, dessen Rehabilitierung nur eine Frage der Zeit zu sein schien.

Sie schüttelten die Köpfe. Razamon begriff, daß nur Gurankor ihn

verstehen würde – Gurankor, der Mann, den er so völlig falsch eingeschätzt hatte.

Razamon konnte nicht ahnen, daß er im­mer noch weit davon entfernt war, die Wahrheit über den Eripäer zu wissen.

Schon begann man wieder davon zu re­den, daß der Dreiäugige Tirsoth für das Ver­halten der Muuker verantwortlich sei. Raza­mon hätte Waaylon gern in seiner Nähe ge­sehen, doch dieser befand sich mit einer Gruppe von Wissenschaftlern draußen bei den Muukern, um die mittlerweile zur Ruhe gekommenen Tier-Pflanzen-Zwitter zu un­tersuchen.

Sie werden es niemals lernen, dachte Raz­amon, als die ersten Rufe laut wurden, Tir­soth nun endlich aus seinem Versteck zu

Horst Hoffmann

zerren. Dabei sah es ganz so aus, daß es end­lich zu einer Verbrüderung zwischen Eripä­ern und Nichteripäern kam. Die Zaarden­foorter schienen gelernt zu haben, aber die Angst vor den Dreiäugigen war zu groß. Die Muuker waren Partner der Eripäer gewesen, solange diese zurückdenken konnten. Daß die plötzlich Amok liefen, war völlig uner­klärlich, und so suchte und fand man einen Sündenbock.

Razamon war davon überzeugt, daß das Verhalten der Tier-Pflanzen-Zwitter eine sehr reale Ursache hatte.

Solange diese nicht herausgefunden war, war Tirsoth in Gefahr. Und Waaylon?

Razamon wußte trotz allem immer noch nicht, was es mit diesem Mann auf sich hat­te. Zwar war er sicher, daß Waaylon mit dem »Lichternen« identisch war, doch er be­zweifelte, daß er einer der von Aarl gekom­menen Wissenschaftler war, und er hütete sich davor, die dem Geheimnisvollen zur Verfügung stehenden Mittel zu überschät­zen.

Dann kam die überraschende Nachricht, daß Gurankor, der Eripäer, persönlich nach Zaardenfoort kommen würde.

Die Reaktion der Zaardenfoorter war überraschend heftig. Razamon stellte einige Fragen und erfuhr, daß der Eripäer Aarl nur dann verließ, wenn Entscheidendes im Gan­ge war.

Mehr denn je sehnte sich Razamon da­nach, diesem Mann persönlich zu begegnen.

*

Ein weiterer Tag verging. Überall begann man damit, Notunterkünfte zu bauen, um die vorhandenen zu entlasten. Von Aarl war mit der Nachricht vom bevorstehenden Eintref­fen des Eripäers der Befehl gekommen, nichts gegen die Muuker zu unternehmen, solange die Wissenschaftler an der Arbeit waren.

Immer noch erschien es Razamon und Balduur unvorstellbar, daß es zu einer Kom­munikation zwischen den Wissenschaftlern

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und den Zwitterwesen kommen könnte. Nur Pona, die sich von ihrem Schock erholt hat­te, strahlte Zuversicht aus.

Waaylon und zwei weitere Eripäer von Aarl kehrten am späten Nachmittag zurück. Inzwischen befanden sich die beiden Ptho­rer, Pona und die sechs Zaardenfoorter, die vorübergehend die Geschäfte des Lichtfür­sten übernommen hatten, im zentralen Ver­waltungsgebäude Luukhs, wo alle Nachrich­ten gesammelt und die Informationen ausge­wertet wurden. Es bestand ständiger Kontakt zu Gurankors Schiff, das sich bereits im Landeanflug befand.

Razamon brauchte nur in Waaylons Ge­sicht zu sehen, um zu wissen, daß die Unter­suchungen Erfolg gehabt hatten.

»Sie haben etwas herausgefunden?« frag­te er.

Waaylon nickte, doch das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.

»So reden Sie doch!« forderte einer der Berater. »Was hat es mit den Muukern auf sich?«

»Ich halte es für besser, die Ankunft des Eripäers abzuwarten«, erklärte Waaylon. »Was Sie in der Zwischenzeit tun können, ist, alle Zaardenfoorter noch einmal ein­dringlich davor zu warnen, sich den Muu­kern zu nähern, auch nicht in Gruppen. Wer sie betritt, stirbt.«

»Dann werden wir sie nie mehr bewohnen können?«

»Ich weiß es nicht, aber ich fürchte – nein. Und seien Sie froh, daß die Zwitterwe­sen sich nicht von der Stelle bewegen kön­nen.«

Mehr war dem geheimnisvollen Mann nicht zu entlocken, bis Gurankor mit einer Handvoll Begleiter eintraf. Unter ihnen be­fand sich zu Ponas großer Freude auch Nur­crahn. Die Begrüßung war stürmisch, aber kurz.

Razamon entging nicht, wie der Eripäer und Waaylon sich anblickten; Gurankor schien schon zu wissen, was die Wissen­schaftler entdeckt hatten, bevor er Waaylon aufforderte, zu berichten.

»Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Muuker beeinflußt worden sind«, schloß dieser seine Aussage, nachdem er knapp die Vorgehensweise der Wissen­schaftler geschildert hatte. Erst bei jenem Muuke, in dem Woolsar den Tod gefunden hatte, waren sie erfolgreich gewesen. »Es starb«, erklärte Waaylon.

»Vielleicht kam die Kommunikation nur deshalb zustande. Ob Woolsars Schüsse der Grund für den Tod des Zwitterwesens waren oder etwas anderes, konnte nicht mehr fest­gestellt werden. Sicher ist hingegen, daß es irgend jemandem gelungen ist, Mutationsge­ne an die Muuker zu verteilen. Einige rea­gierten früher darauf, andere später. Es ist offensichtlich, daß sie alle gemeinsam gegen ihre Bewohner vorgehen sollten. Nachdem unsere Freunde Zeuge von Woolsars Ermor­dung wurden, muß es zu einer Kurzschluß­reaktion gekommen sein.«

»Das würde bedeuten, daß es über die Kontinente hinweg eine Verständigung zwi­schen ihnen gibt«, sagte einer der Berater kopfschüttelnd. »Sie müssen alle miteinan­der in Kontakt stehen.«

»Vermutlich eine Art Telepathie«, bestä­tigte Waaylon. »Allerdings sind wir noch weit davon entfernt, dies und anderes zu be­greifen. Vielleicht wird es davon abhängen, ob die Zaardenfoorter eines Tages wieder in ihnen leben können.«

»Sie taten es so lange, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie schwebten«, flüsterte ei­ner von Gurankors Begleitern.

»Das ist nur zum Teil richtig«, korrigierte Waaylon. »Die Gefahr bestand erst, nach­dem sie mit den Mutationsgenen versehen wurden. Wie gesagt – vielleicht ist dieser Eingriff rückgängig zu machen. Doch dazu müssen wir mehr über die Muuker erfahren. Noch stehen wir am Anfang. Um zu einer Kommunikation zu kommen, mußten wir uns einer Unmenge technischen Geräts be­dienen, mit dem wir die Schwingungen, die von den Zwitterwesen ausgingen, in für uns verständliche Informationen transformieren konnten, und umgekehrt.«

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»Und wer hat sie nun beeinflußt?« stellte Gurankor die Frage, auf die jeder die Ant­wort zu wissen glaubte.

Kein Eripäer würde dies fertiggebracht haben. Also doch krolocische Agenten! dachte Razamon.

»Die Meinungen darüber, inwieweit es den Krolocs gelungen ist, unbemerkt Spione in die Lichtung einzuschleusen, gehen be­kanntlich auseinander«, bestätigte Gurankor die Gedanken des Atlanters. »Doch bisher nahmen wir an, daß sie sich auf Aarl kon­zentrieren würden. Wir müssen die Periphe­rie der Lichtung noch gründlicher absichern. Die Aktivitäten der Krolocs werden immer noch fortgesetzt.«

»Aber nun ist Tirsoths Unschuld an den Todesfällen erwiesen«, warf Pona ein.

Gurankor nickte. »Tirsoth hat nichts damit zu tun. Dennoch

wird er auf Zaardenfoort keine Ruhe finden. Er fliegt auf meinem Schiff nach Aarl. Auch Sie bitte ich, mit mir zu kommen, Razamon und Balduur, und natürlich Pona und Nur­crahn.«

»Was geschieht dort mit Tirsoth?« fragte das Mädchen.

»Man wird ihm den Prozeß machen«, murmelte Nurcrahn niedergeschlagen. »Sie haben immer noch nichts gelernt, alle! Auch Sie nicht, Eripäer!«

Rufe der Empörung wurden laut, doch Gurankor brachte die Protestierenden zum Schweigen.

»Eines Tages werden Sie verstehen, wa­rum es sein muß«, sagte Gurankor zum ehe­maligen Lichtfürsten.

»Das werde ich nie!« Wieder bemerkte Razamon, wie zwischen

Gurankor und Waaylon ein schneller Blick gewechselt wurde.

»Wollen Sie Tirsoth selbst holen, Nur­crahn?« fragte der Eripäer.

»Wer garantiert Ihnen, daß ich nicht mit ihm und Irsocca fliehen werde?« stellte Nur­crahn die Gegenfrage.

»Sie werden nicht fliehen.« Wenig später waren Nurcrahn, Pona und

Horst Hoffmann

Razamon zum Muuke des Lichtfürsten un­terwegs. Sie fanden Tirsoth und Irsocca von den nicht geflohenen Raumsoldaten bewacht am Strand. Sie hatten das Muuke ebenso verlassen wie alle anderen, die der Gefahr rechtzeitig entfliehen konnten.

Nach ersten Schätzungen waren weniger Zaardenfoorter getötet worden, als man zu­nächst angenommen hatte. Die Zahl der Op­fer belief sich auf weniger als dreihundert.

Dreihundert Menschen, die noch hätten leben können, wenn die Verantwortlichen in Luukh Razamons Warnung sofort ernst ge­nommen hätten.

Nurcrahn schloß Tirsoth und Irsocca in die Arme. Die Soldaten hielten sich zurück.

»Wir könnten fliehen und uns irgendwo in den Bergen verstecken«, zischte Nurcrahn, so daß es außer Razamon, Pona, Irsocca und Tirsoth niemand hören konnte. »Wir wissen doch alle, wie die Prozesse gegen die Drei­äugigen enden.«

Es war ausgerechnet Tirsoth, der den Kopf schüttelte.

»Es hat keinen Sinn, Großvater. Niemand kann den Lauf der Dinge ändern. Wäre der Eripäer im Unrecht, so hätte der Lichterne zu unseren Gunsten eingegriffen.«

»Wie redest du?« entfuhr es Nurcrahn. »Wir müssen tun, was zu tun ist«, lautete

die Antwort des Jungen. Razamon lief ein Schauer über den

Rücken. Irgend etwas war an Tirsoth, das ihn an etwas anderes erinnerte – oder an je­mand anders.

Nurcrahn wirkte plötzlich sehr müde. Ir­socca und Pona führten ihn zum wartenden Schweber. Die Soldaten wichen zurück, als Razamon mit dem Dreiäugigen an ihnen vorbeiging. Die Angst vor dem »Monstrum« stand in ihren Gesichtern geschrieben.

»Wer ist Gurankor, Tirsoth?« fragte Raza­mon so leise, daß nur der Junge ihn hörte.

Er bekam keine Antwort und kam sich lä­cherlich vor. Seine Phantasie mußte ihm einen Streich spielen. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß man ihm – und nicht nur ihm – etwas verheimlichte.

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Weder Nurcrahn noch einer der anderen unternahm einen Fluchtversuch auf dem Weg nach Luukh. Die ganze Familie des al-ten Eripäers befand sich bei ihm – das, was von seiner Familie übriggeblieben war.

Razamon fragte sich, warum Nurcrahn jetzt, wo niemand ihn mehr für einen Kro­loc-Agenten halten konnte, nicht auf Zaar­denfoort bleiben und seinen alten Platz als Lichtfürst wieder einnehmen konnte. Natür­lich hatte er sich schuldig gemacht, als er Tirsoth versteckte. Auf der anderen Seite ge­noß er immer noch – oder nun wieder – große Beliebtheit, was die Reaktion der Zaardenfoorter auf seine Appelle gezeigt hatte.

Alle Fäden liefen bei Gurankor zusam­men. Doch noch mußte Razamon auf die Antworten, die er so sehr herbeisehnte, war­ten.

In Luukh angekommen, bestiegen die fünf das Schiff des Eripäers. Balduur befand sich schon an Bord. Gurankor hielt noch eine Ansprache an die Bewohner des dritten Pla­neten, bevor er sich mit seinen Begleitern ebenfalls an Bord begab.

Das Schiff hob vom Landefeld ab und nahm Kurs auf Aarl.

11. Zwischen den Planeten

»Tirsoth wird Aarl nicht erreichen«, sagte der Eripäer. Er war allein mit Razamon, Balduur und Pona in einer großen, komfor­tabel eingerichteten Kabine. »Er wird wäh­rend des Fluges sterben. Es wird keine Ge­richtsverhandlung im Beisein der Urgan-Lauscher geben.«

Als Gurankor das Entsetzen auf den Ge­sichtern der Pthorer und Ponas sah, fügte er schnell hinzu: »Natürlich nur zum Schein. Auf Aarl und Zaardenfoort wird man glau­ben, Tirsoth sei nicht mehr am Leben. Man wird aufatmen und ihn bald vergessen ha­ben.«

»Was steckt dahinter, Gurankor?« fragte Razamon. »Sie können uns nicht ewig hin­

halten. Sie sind uns einige Erklärungen schuldig, und das wissen Sie.«

»Später«, sagte der Eripäer lächelnd. »Ein wenig Geduld müssen Sie schon noch haben, Razamon. Doch Sie werden schließ­lich begreifen, weshalb ich jetzt nur so und nicht anders handeln kann.«

»Sie wollen Tirsoth die Verhandlung er­sparen!« stieß Pona hervor. »Sie wollen ihn retten!«

»Aus Gründen, die Sie später verstehen werden.«

Gurankor wurde schlagartig ernst, als er sich zu den Atlantern umdrehte und sagte:

»Sie werden vielleicht glauben, daß nun, da der Friede auf Zaardenfoort wiedereinge­kehrt ist und den Fanatikern eine Lehre er­teilt wurde, die sie nie vergessen werden, al­le Probleme gelöst sind, auch die Sie betref­fenden. Hüten Sie sich vor diesem Trug­schluß!« Ohne eine Antwort abzuwarten, wechselte Gurankor das Thema. »Wir wer­den es so machen, daß Tirsoth angeblich einen Fluchtversuch unternimmt und dabei umkommt. Einige Raumfahrer werden mit eigenen Augen sehen, wie er in eine energe­tische Barriere läuft und verbrennt. Ein Häufchen Asche wird alles sein, was von ihm übrigbleibt.«

»Sie wollen ihn doch töten!« schrie Pona verzweifelt.

Razamon blickte zur Decke der Kabine. »Nein«, sagte der Eripäer. »Hier kann uns

niemand hören.« »Du kannst beruhigt sein, Pona«, sagte

der Pthorer. »Tirsoth wird vor den Augen der Raumfahrer verbrennen. Es gibt Mittel, um solche Illusionen hervorzurufen. Oder man kann jemanden aus der Sonne kommen und in sie zurückkehren lassen.«

»Der Lichterne?« In Ponas Augen blitzte es auf. »Kehrt er zurück?«

»Er war niemals fort. Er befindet sich an Bord dieses Schiffes.«

»Sie wissen es also«, stellte Gurankor lä­chelnd fest. »Jetzt begreife ich, wie sie den Krolocs entkommen und Kommandant Hef­tor zur Verzweiflung bringen konnten.«

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»Könnte mir jemand erklären, was hier …«, begann Pona, aber Razamon winkte ab.

»Du hast ja gehört, daß die Erklärungen später folgen.«

»Ihr Freund«, Gurankor deutete auf Bal­duur, »sieht mich an, als ob er mich in Stücke reißen möchte.«

»So unrecht haben Sie nicht«, knurrte der Odinssohn. »Meine Geduld hat Grenzen.«

Der Eripäer sah auf eine Uhr. »Es wird Zeit für Tirsoths Auftritt. Waay­

lon hat die Vorbereitungen dafür bereits ge­troffen.« Gurankor drückte einen Knopf auf seinem Arbeitstisch und ordnete an, daß man Tirsoth ohne Begleitung zu ihm schick­te.

»Er wird vor Angst sterben«, flüsterte Po-na, die den Worten des Eripäers ganz offen­sichtlich immer noch nicht traute.

»Er weiß Bescheid«, versicherte dieser. Razamon fielen die Worte des Jungen ein: Wir müssen tun, was zu tun ist … Da plötzlich glaubte Razamon zu wissen,

was es mit Gurankor und Waaylon auf sich hatte.

»Und vergessen Sie eines nicht«, mahnte der Eripäer. »Niemand außer uns dreien darf jemals erfahren, daß Tirsoth noch am Leben ist. Nicht einmal dein Großvater, Po-na.«

»Aber warum nicht? Nurcrahn wird daran zerbrechen, wenn er glaubt, Tirsoth sei tot.«

»Es ist deine Aufgabe, ihn zu trösten, oh­ne ihm zu verraten, was wirklich geschehen ist. Ich setze große Hoffnungen in dich, Po-na. Ich kenne deine Vorstellungen von der eripäischen Zivilisation, wie sie sein sollte, und sie sind gut. Zaardenfoort war ein Be­ginn. Alles hängt davon ab, daß du schwei­gen wirst, Pona. Tirsoth wird wohlbehütet aufwachsen, bis seine Zeit gekommen ist.«

*

Der Dreiäugige wußte, was auf ihn zu­kam, als er allein durch den in weißes Licht getauchten Korridor ging. An der von Waaylon bezeichneten Abbiegung begann er

Horst Hoffmann

zu laufen. Im nächsten Augenblick öffnete sich hinter ihm eine Tür, aus der fünf Raum­soldaten stürzten.

Tirsoth lief schneller. Alles kam darauf an, daß sie ihn nicht vor der Schranke er­reichten.

»Komm zurück!« hörte er einen von ih­nen schreien. »Dort vorne geht es nicht wei­ter. Du läufst genau in die Energiebarriere hinein!«

Tirsoth sah das Flimmern. Noch wenige Meter.

Die Soldaten blieben stehen. Vor ihren Augen stürzte Tirsoth in das energetische Feld. Blitze blendeten die Eripäer, dann sa­hen sie die flammende Gestalt, die in sich zusammenschrumpfte und sich schließlich ganz auflöste.

Entsetzt starrten sie auf das Häufchen Asche am Boden, nachdem jemand die Bar­riere ausgeschaltet hatte.

»Er ist tot«, brachte einer hervor. »Der Dreiäugige ist tot!«

»Er hat seinen Richtern den Urteilsspruch erspart«, sagte ein anderer.

»Der Eripäer wird toben. Aber wieso mußte dieser Junge auch fliehen?«

»Er war ein Dreiäugiger«, knurrte je­mand. »Es ist besser so.«

Tirsoth aber, der angeblich Tote, befand sich in einem kleinen Frachtraum, der nur selten betreten wurde. Waaylon lächelte ihm zu.

»Es ist alles gut, mein Junge«, sagte er. »Hier bleibst du, bis wir gelandet sind. Dann bringe ich dich in ein sicheres Versteck.« Waaylon lachte. »Dort wird dich niemand finden, aber du mußt lernen, um für deine Aufgabe gewappnet zu sein. Und welcher Junge lernt schon gern?«

»Hörst du die Musik?« fragte der Dreiäu­gige plötzlich. »Sie kommt von überall. Es sind die Schwingungen der Dimensionskor­ridore.«

»Ja«, antwortete Waaylon. »Ich höre sie. Und sie ist wunderschön …«

Waaylon blieb noch einige Minuten bei Tirsoth und sprach mit ihm über all die wun­

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dervollen Empfindungen, die nur ihnen zu­gänglich waren.

Dann verließ er den Lagerraum, nachdem Tirsoth versichert hatte, daß er keine Angst hatte. Tirsoth vertraute Waaylon.

Waaylon wartete ab, bis keine Raumfah­rer mehr im Korridor waren. Es war unmög­lich festzustellen, daß die Energieschranke schon lange bevor Tirsoth angeblich hinein­gelaufen war, ausgeschaltet worden war. Nun stand sie wieder, doch es bereitete Waaylon keine Schwierigkeiten, die Spuren der Manipulation zu beseitigen. Die »Asche« war aufgekehrt worden und ver­mutlich jetzt in einer Urne. Die an den Wän­den haftenden Projektoren waren so winzig, daß jemand schon genau vor ihnen hätte ste­hen müssen, um sie zu entdecken. Und doch waren sie stark genug, um die Fiktion einer energetischen Barriere zu erzeugen. Eine einfache Lichtschranke hatte dafür gesorgt, daß Tirsoth, als er den Strahl durchbrach, in eine flammende Aura gehüllt wurde. Zu­gleich waren weitere Projektoren in Aktion getreten, die den Soldaten das Bild des schrumpfenden Dreiäugigen vorgaukelten.

Und die Asche? Waaylon schmunzelte, als er das winzige Loch im Boden mit einer schnell härtenden Plastikmasse füllte.

Niemand würde je erfahren, was wirklich geschehen war – niemand außer den weni­gen Eingeweihten.

Waaylon brachte seine Utensilien in eine abgelegene Kabine, wo sich auch jener An­zug befand, der in der Lage war, alles Licht zu schlucken oder auch die Helligkeit einer kleinen Sonne zu erzeugen. Zusätzlich ver­fügte er über Mikroflugaggregate. Er war ur­alt – eine der wenigen Hinterlassenschaften der dreiäugigen Vorfahren. In ihm konnte Waaylon auch ohne Licht leben, etwa, als er Nurcrahns Muuke gezwungen hatte, die Deckenöffnung zusammenzuziehen.

Ein Vermächtnis unserer Ahnen, dachte der Eripäer. Dann wurde er ernst. Wieder stellte er sich die Frage nach der Vergangen­heit. Er wußte vieles, doch lange noch nicht alles. Auch für ihn lag die Zeit vor der Kata­

strophe weitgehend im dunkeln.

*

Nurcrahn wunderte sich darüber, daß man Tirsoth allein zum Eripäer hatte kommen lassen. Der alte Mann war beunruhigt. Hätte er nicht doch darauf bestehen sollen, seinen Enkel zu begleiten?

Was wollte Gurankor von Tirsoth? Irsocca war anzusehen, daß sie sich die

gleichen Sorgen machte. »Vielleicht will der Eripäer sich nur mit

ihm unterhalten, um mehr über die Dreiäugi­gen zu erfahren«, versuchte Nurcrahn sich und Irsocca einzureden. »Immerhin hat er dafür gesorgt, daß wir vorerst in Sicherheit sind.«

»Bis zum Prozeß, ja«, sagte Irsocca. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich glaube ja an die Gerechtigkeit Gurankors. Aber wer garantiert uns, daß die Besatzung des Schif­fes so denkt wie er?«

»Es sind ausgesuchte Raumfahrer«, mur­melte Nurcrahn. »Niemand würde wagen, Tirsoth anzugreifen.«

»Du hast die Augen der Männer und Frauen nicht gesehen, als sie in unser Muuke eindrangen«, flüsterte Irsocca. »Es waren … Bestien!«

»Die Angst hat sie dazu gebracht. Kein Eripäer ist eine Bestie. Das solltest du wis­sen!« sagte Nurcrahn verweisend.

Er hatte den Glauben an sein Volk nun zum Teil wiedergefunden. Auch seine schar­fen Worte Gurankor gegenüber taten ihm leid. Je mehr er über die jüngsten Ereignisse nachdachte, desto mehr erschien ihm die Handlungsweise des Eripäers in einem neu-en Licht.

»Und wozu kann die Angst Gurankors Besatzung machen?« fragte Irsocca.

Um sie zu beruhigen, verlangte Nurcrahn den Kommandanten des Schiffes zu spre­chen. In der Kabine, in der er, Irsocca und bis vorhin auch Tirsoth untergebracht waren, befand sich ein entsprechendes Kommunika­tionsgerät.

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»Ich möchte mit dem Eripäer reden«, sagte der ehemalige Lichtfürst, als das Bild des Mannes auf dem Schirm erschien.

»Es tut mir leid«, kam die Antwort. »Der Eripäer ist nicht zu sprechen.«

»Wissen Sie, ob mein Enkel bei ihm ist?« Nurcrahn entging nicht, wie es kurz um

die Mundwinkel des Kommandanten zuckte. Er war alarmiert.

»Nein«, hörte er. »Davon ist mir nichts bekannt.«

»Sie haben ihn umgebracht!« schrie Irsoc­ca hysterisch. »Ich wußte es! Tirsoth ist tot. Es war eine Falle!«

»So beruhigen Sie sich doch«, sagte der Kommandant des Schiffes.

»Erst, wenn ich Gewißheit habe!« antwor­tete Nurcrahn und unterbrach die Verbin­dung.

»Was hast du vor?« fragte Irsocca. »Ich suche Tirsoth. Du bleibst hier und

unternimmst nichts, bis ich zurück bin.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte

Nurcrahn auf den Korridor hinaus und nahm den Weg, den auch Tirsoth gegangen sein mußte. Die Räume des Eripäers befanden sich auf dem gleichen Deck.

Währenddessen versuchte der Komman­dant, jene, die über das Vorgefallene Be­scheid wußten, zu erreichen und zu infor­mieren. Die Rundrufanlage konnte er nicht benutzen, weil er wußte, daß Nurcrahn sich auf dem Korridor befand.

Doch auch er konnte nicht verhindern, daß der ehemalige Lichtfürst früher als vor­gesehen von Tirsoths »Tod« erfuhr, an den auch der Offizier glauben mußte.

Zwei Raumfahrer kamen, heftig gestiku­lierend, Nurcrahn entgegen. Als sie ihn er­blickten, erstarrten sie. Dann wollten sie schnell in den nächsten Raum ausweichen.

»Warten Sie!« rief Nurcrahn. »Es … es tut uns leid, Lichtfürst«, stam­

melte einer der beiden. »Es war ein Un­glück.«

Nurcrahn starrte den Mann einen Augen­blick fassungslos an. Dann packte er ihn am Brustteil des Raumanzugs.

Horst Hoffmann

»Was war ein Unglück? Reden Sie! Was ist mit Tirsoth geschehen?«

»Er wollte fliehen und ist von uns über­rascht worden. Er stürzte sich in eine Licht­schranke. Wir konnten nichts tun, Lichtfürst. Glauben Sie uns.«

Nurcrahn ließ den Raumfahrer los. »Es war wirklich ein Unfall. Wir wissen,

was Sie jetzt denken, Lichtfürst; aber wir …«

»Gehen Sie mir aus den Augen«, murmel­te Nurcrahn. Er konnte nicht einmal Zorn auf die Männer empfinden. Plötzlich war ihm alles egal. Er hatte nur noch einen Wunsch.

»Warten Sie. Wo befindet sich die Licht­schranke? Wo starb mein Enkel?«

Die Raumfahrer, die sich schon einige Meter entfernt hatten, blieben stehen. Sie be­schrieben den Weg.

Nurcrahn nickte und ging davon. Zur gleichen Zeit bereitete sich Waaylon

auf seinen letzten großen Auftritt vor. Als er zusammen mit Gurankor und dessen drei Gästen vom Kommandanten erfahren hatte, daß Nurcrahn seine Kabine verlassen hatte, ahnte Gurankor, was der alte Lichtfürst vor­hatte.

Es ging um Sekunden. Nurcrahn sollte von Soldaten aufgehalten

werden, doch er entriß einem von ihnen die Waffe und zwang sie, sich zurückzuziehen.

Als er dann vor der Barriere stand, holte er noch einmal tief Luft.

Hier also hatte Tirsoth sein Ende gefun­den.

Mit seiner Geburt hatte alles Unheil, das über Nurcrahns Familie gekommen war, sei­nen Anfang genommen. Es war nun erwie­sen, daß Tirsoth nichts mit den Todesfällen in den Muukern zu tun hatte. Nurcrahn hatte es immer gewußt, wenn er auch oft gezwei­felt hatte.

Er würde heute wieder genauso handeln wie damals – vor sieben Jahren.

Der alte Lichtfürst machte sich bereit, dem Enkel zu folgen.

Er machte einen Schritt auf die flimmern­

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de Wand zu, dann einen weiteren. Vor ihm erschien eine blendendhelle Ku­

gel, aus dem sich die Gestalt des Lichternen schälte.

»Bleiben Sie stehen, Lichtfürst Nur­crahn«, hörte er die mächtige Stimme. »Sie wollten sich schon einmal das Leben neh­men. Wollen Sie den gleichen Fehler noch einmal machen?«

Nurcrahn fuhr zusammen. Dann versagte sein Kreislauf. Der alte Eripäer brach zusammen. Er war

tot. Doch Waaylon lächelte, als er ihn aufhob

und wegtrug.

*

Pona schrie auf und stürzte sich auf ihren Großvater, als Waaylon ihn auf dem Boden ablegte.

»Er wird bald wieder auf den Beinen sein«, versprach Waaylon. Er zog eine Reihe von kleinen, golden glänzenden Plättchen aus einer Tasche und begann, sie dem Toten auf die Stirn, an Hals und Brust zu drücken.

Balduur holte das Amulett, das er im Bun­ker gefunden hatte, hervor und reichte es Waaylon, als dieser seine Arbeit getan hatte.

»Dies gehört Ihnen?« »Ja«, sagte der Geheimnisvolle. »Sie sol­

len es behalten. Vielleicht bringt es Ihnen später einmal Glück.«

»Mehr nicht?« »Glück – ich sagte es doch.« »Was ist das für ein seltsamer Anzug, den

Sie tragen?« fragte Pona plötzlich. »Es ist der Anzug des Lichternen«, sagte

Razamon an Waaylons Stelle. Balduur nick­te grimmig. Er ärgerte sich offensichtlich darüber, daß Razamon ihm solange die Wahrheit verschwiegen hatte.

»Dein Freund hat recht, Pona. Mit diesem Anzug war ich in der Lage, mich je nach Er­fordernis unsichtbar zumachen oder als Lichtkugel zu erscheinen. Er hat Projekto­ren, die den Zaardenfoortern vorgaukelten, ich würde mich ins Riesenhafte aufblähen.

Winzige Lautsprechersonden sorgten dafür, daß meine Stimme über ganz Luukh gehört wurde.«

»Sie … Sie sind der Lichterne …«, flü­sterte Pona. »Darum kam mir Ihre Stimme so bekannt vor …«

»Es gibt keinen Lichternen«, sagte Guran­kor. »Es existiert nur die Legende, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich ihrer zu bedienen, um die Zaardenfoorter zur Ver­nunft zu bringen. Waaylon ist einer meiner engsten Mitarbeiter und ältesten Freunde. Ich konnte nur ihn schicken.«

»Und mit diesen Plättchen haben Sie Pona und mich wieder zum Leben erweckt«, stell­te Razamon fest.

»So ist es«, antwortete Waaylon. »Allerdings wäre ich bei Ihnen fast zu spät gekommen. Sie haben sich sehr dumm be­nommen. Es hätte andere Möglichkeiten ge­geben, aus der Zelle zu fliehen.«

»Und Sie haben die Wache gelähmt und mir die Waffe in die Hand gegeben.«

Waaylon lächelte wieder. »Sie sollten sich ein wenig Ihr Gehirn zer­

martern, mein Freund. Ich hätte Ihnen die Narben als Andenken lassen sollen, falls Sie wieder einmal Selbstmord begehen möch­ten. Ich injizierte Ihnen fünf Liter künstli­ches Blut, das Ihr Körper nach und nach in echtes umwandeln wird.«

»Aber woher wußten Sie, wo wir uns be­fanden?« fragte Balduur. »Und wieso waren Sie immer zur rechten Zeit am rechten Ort?«

»Das kann der Eripäer Ihnen besser be­antworten.«

»Woolsar verriet sich, als er von drei ab­geschossenen Schwebern sprach«, gab Gu­rankor bereitwillig Auskunft. »Zu diesem Zeitpunkt wußte niemand außer mir und den Streitern des Lichts, wie viele Maschinen vernichtet worden waren. Außerdem ent­deckten meine Agenten während seiner Ab­wesenheit eine Art Tagebuch, in dem wir viele interessante Einzelheiten über die ge­planten Überfälle auf die Lager der Nichte­ripäer und die Hauptdrahtzieher fanden. Woolsar war nicht nur eine Gefahr für uns

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alle, sondern auch dumm. Das Tagebuch wurde fotokopiert und an seinen Platz zu­rückgeschafft, so daß Woolsar keinen Ver­dacht schöpfen konnte.«

»Er hätte mit seinen wirren Ideen niemals eine Anhängerschaft gefunden, falls die Zaardenfoorter nicht so verängstigt gewesen wären«, sagte Waaylon.

»Ich ließ ihn gewähren, sorgte aber dafür, daß seine Leute keinen Schaden mehr an­richten konnten«, fügte Gurankor hinzu. »Die Zaardenfoorter sollten aus ihren eige­nen Fehlern lernen. Deshalb wurden Sie drei auch damit beauftragt, den angeblichen Mörder zu finden, damit Sie Ihre Unschuld vor allen beweisen konnten. Wären Sie Kro­loc-Agenten gewesen, hätten sie die wahre Ursache der Todesfälle zu vertuschen ver­sucht.«

»Sie hielten uns nicht dafür?« fragte Raz­amon.

»Niemals. Ebensowenig zweifelte ich an Nurcrahns Loyalität. Ich mußte das Spiel der Verschwörer mitspielen, um sie zu demas­kieren.«

»Und was wird aus ihm?« wollte Pona wissen.

»Du wirst verstehen, daß ich ihn vor Ge­richt stellen muß, weil er einen Dreiäugigen versteckt hat. Aber es gibt eine Möglichkeit, ihm die Strafe zu ersparen. Luuk wird einen neuen Lichtfürsten brauchen, und diesmal soll dieser nicht von den ehemaligen Bera­tern gewählt werden, sondern vom Volk selbst. Und ich zweifle nicht daran, daß man Nurcrahn wiederwählen wird. Der Wille der Bevölkerung hat in diesem Fall Vorrang vor dem Spruch der Richter auf Aarl.«

»Es ist ein Wunder …«, flüsterte das Mädchen.

»Kein Wunder, Pona.« Gurankor lachte. »Politik! Und ein bißchen haben wir auch noch nachgeholfen.«

»Wer ist das – ›wir‹?« fragte Razamon sofort.

»Dein Großvater kommt zu sich«, sagte der Eripäer statt einer Antwort zu Pona. Tat­sächlich schlug Nurcrahn die Augen auf.

Horst Hoffmann

Nach wenigen Minuten war er auf den Bei­nen.

Pona berichtete in aller Kürze, was ge­schehen war, und weihte Nurcrahn in das ein, was sie für das größte Geheimnis des Eripäers hielt. Dieser unterbrach sie nicht.

Der alte Lichtfürst schüttelte zuerst Gu­rankor, dann Waaylon die Hand, nachdem er auch erfahren hatte, daß Tirsoth lebte und in Sicherheit war. Die Umstände hatten dies nun doch nötig gemacht.

»Ich danke Ihnen. Sie hatten recht. Fast hätte ich wieder eine Dummheit gemacht. Wird es eine Rückkehr des Lichternen ge­ben?«

»Ich hoffe nicht, daß dies nötig sein wird«, sagte Waaylon.

»Am besten bringst du deinen Großvater jetzt zu Irsocca zurück«, schlug der Eripäer vor. »Sie wird sich große Sorgen machen. Und niemand darf je erfahren, wer hinter dem Lichternen steckt. Die Zaardenfoorter sollen glauben, daß er aus der Sonne kam und jederzeit wiederkommen kann, um Männer wie Woolsar zu bestrafen.«

»Wir werden schweigen«, versicherte Nurcrahn. »Es hat wohl keinen Sinn, zu fra­gen, was Sie mit Tirsoth vorhaben?«

»So ist es«, bestätigte Gurankor. »Vertrauen Sie mir.«

»Das tue ich.« Pona führte den noch geschwächten

Großvater aus der Kabine. Als die beiden Atlanter mit Gurankor und Waaylon allein waren, sagte Razamon:

»Und nun sagen Sie, wer Sie wirklich sind. Woolsars letzte Worte lauteten, daß er Ihr Geheimnis entdeckt hätte. Mußte er des­halb sterben?«

»Bestimmt nicht«, sagte Gurankor. »Niemand hätte ihm geglaubt.«

»Aber was …?« Der Eripäer brachte Razamon mit einer

Handbewegung zum Schweigen. Dann fuhr er sich zur Stirn, zog ein organisches Haut­pflaster ab und öffnete sein drittes Auge.

»Verstehen Sie jetzt?«

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*

Es dauerte einige Sekunden, bevor der At­lanter die Sprache wiederfand.

»Ich ahnte es«, sagte Razamon dann. »Allerdings dachte ich dabei an Waaylon.«

Waaylon nickte und zog ebenfalls ein Hautpflaster ab.

»Du hast es die ganze Zeit über vermu­tet?« entfuhr es Balduur.

»Ich war mir nicht sicher. Aber irgend et­was war an Tirsoth, das mich an die beiden erinnerte, ohne daß ich hätte sagen können, was es war.« Er wandte sich wieder an Gu­rankor. »Wie viele Ihrer Art gibt es noch auf den Welten der Lichtung?«

»Nur Tirsoth.« »Und wieso dulden Sie es, daß jeder Drei­

äugige nach seiner Geburt verurteilt und um­gebracht wird?« fragte der Atlanter.

Gurankor, der sonst immer beherrschte und freundliche Mann, antwortete heftig: »Glauben Sie, dies fiele mir leicht? Jedes­mal stirbt ein Teil von mir mit ihnen! Sie ha­ben die Fanatiker gesehen, und Sie kennen die Angst vor den Dreiäugigen. Es ist das schwerste Opfer, das jeder Regierungschef bringen muß! Ein politisches Zugeständnis an jene, die sich aus unserer Rasse ent­wickelt haben – die Zweiäugigen. Wüßten diese, wer über sie regiert, gäbe es keine Zi­vilisation in unserem Sinn mehr!«

»Dann waren alle Ihre Vorgänger eben­falls Dreiäugige?«

»So ist es. Und eines Tages wird Tirsoth meine Nachfolge antreten. Deshalb muß er in Sicherheit aufwachsen, und nur darum wurde sein Tod vorgetäuscht. Nur ein Drei­äugiger kann hier im Dimensionskorridor die richtigen Entscheidungen treffen und Einsichten haben, die das Überleben der Eripäer garantieren. Wenn sich auch unser Volk als Ganzes wieder zurückentwickelt hat, so wird es doch von jenen regiert, die es verfolgt und tötet. Sie wissen ja über die Vergangenheit Bescheid, Razamon. Es wird immer ein junger Dreiäugiger ohne Wissen

der Bevölkerung in Sicherheit gebracht, um die Nachfolge des regierenden Eripäers an­zutreten.«

Die beiden Atlanter schwiegen und ver­suchten, das Gehörte zu verarbeiten.

»Sie wissen natürlich, daß dies niemand außer Ihnen erfahren darf, nicht einmal Pona und Nurcrahn.«

»Natürlich«, murmelte Razamon. Er sah Waaylon an. »In Ihrem Fall müssen aller­dings zwei Dreiäugige als Kinder gerettet worden sein.«

»Allerdings. Ich war sehr krank, nachdem man mich ähnlich Tirsoth verschwinden ließ. Waaylon wurde sozusagen als Ersatz für den Fall, daß ich sterben sollte, entführt. Er verzichtete auf das Amt des Eripäers.«

»Ich spiele lieber den Schutzengel«, scherzte der zweite Dreiäugige.

Ein akustisches Signal zeigte an, daß die Landung bevorstand. »Vergessen Sie alles, was Sie von Zaardenfoort her kennen«, riet Gurankor den Pthorern. »Auf Aarl werden Sie eine völlig andere Welt vorfinden. Für die Öffentlichkeit wird es eine Verhandlung im Beisein der Urgan-Lauscher geben, bei der über Sie entschieden wird. Wie ich schon sagte: glauben Sie nicht, daß alle Pro­bleme für Sie und uns gelöst wären – im Ge­genteil …«

Gurankor und Waaylon befestigten die Hautpflaster wieder auf der Stirn.

*

Auf Zaardenfoort war Ruhe eingekehrt. Viele ehemalige Mitglieder der »Streiter des Lichts« stellten sich den Behörden. Sie hat­ten aus ihren Fehlern gelernt. Noch vor Jah­ren wäre es unvorstellbar gewesen, daß ein Eripäer einen anderen tötete – dies hatten ei­nige der Geheimbündler getan. Sie würden ihre Strafe erhalten und akzeptieren.

Der Schock über die Manipulation der Muuker saß tief. Man begriff die Worte des Lichternen, daß das Licht alle Wesen erfüll­te, egal, welche Hautfarbe sie hatten. Eine neue Epoche des Friedens brach an.

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Doch im Stau lauerten die Spaccahs der schickt hatte. Krolocs.

Sie bedrohten auch Pthor. Für Razamon ENDE und Balduur war insofern nichts gewonnen. Ihre einzige Hoffnung war in dieser Situati­on die Botschaft, die Pona an Atlan ge-

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