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Sonderdruck aus Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert Tagung anläUlich seines 500. Ceburtstages an der Universität Leipzig Herausgegeben von Günther Wartenberg unter Mitarbeit von Markus Hein Evangelische Verlagsanstalt ,

Sonderdruck aus · 2021. 1. 20. · Ordo-ßegriff - durch das ... eines summum bonuffi als höchstem Gut verworfen. Im wesentlichen wird dabei folgen dermaßen argumentiert:'l ( I)

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  • Sonderdruck aus

    Werk und Rezeption Philipp Melanchthons

    in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert

    Tagung anläUlich seines 500. Ceburtstages an der Universität Leipzig

    Herausgegeben von Günther Wartenberg unter Mitarbeit von Markus Hein

    Evangelische Verlagsanstalt

    ,

  • Melanchthon als Interpret der aristotelischen Ethik

    \'on Christoph Hubig

    »!kr El.lekuzisrnus ist ein Humanismus ...

    So könnle Illan im Hinblick auf Philipp Mdanchthon cin bekanmes Dil..tum \Oariicrcn Iluman ist ein Eklektizismus insofern. als cr die Anmaßung einer SystemlclztbegrUndung nicht vollzieht, als cr in der Haltung der Selbslbcscheidung auf bewährte Teilproblem-lösungen zurückgreift. als cr SchwIlehen und LUckcn inllerhalb großer tradierter Positionen nicht zum An13ß ihrer pauschalen Zurtlck\\cisung nimmt , als er problemorientiert zwi-schen Positi onen vcrmittell und zu integrieren versucht, auf der Suche nach Komple-menlaritHten und Konvergenzen. Die Einnahme eines archimedischen Punl.. tcs ist dem Eklektiker fremd, mithin der Versuch, aus übcmlcnschlichcr Warte das Menschliche sclbsl zu veronen.

    Freilich gerilt jeder Eklektizismus in die Gefahr einer Umdcutung und Vercinnahmung. weil der suchende Blick yon Interpreten und Epigonen unschwer beliebige Belege finden kann, die in nrtirmati\"er Absicht doch \\ iede'r die Zuweisung zu Primllrpositioncn zu erlauben scheinen. Di e gesuchten BezUge und Abhilngigkeitcn finden sich in der Vielfalt der jc\\eils verarbeiteten Tradit ionen - ersl recht, \\enn ein EKlektiKer" ie "" Ielunchthon sich auf einen Eklektiker wie CicerCl sl!itzl. Und panie[]e I\bgrenzungcn und Kritiken, die ein Eklektiker yornchmcn muß, lassen sich ,"orschllcH uminlerprcticren in die ncue Konturierung eines Systems, wic es den Verwaltern des Wissenschaftsbctricbcs lieb ist.

    Entsprechend divergierend sind die zah lreichen WUrdigungen der Stcllung Melan -chthons zur Philosophie des Ariswtcles, hinter dCllen sieh unschwer die Interessen der Ausleger erkennen lassen - um nur einige Extr

    161

  • Philosophieren relevant is t, die Topica, dic im barocken Wissenschaftssystem kulminiert (so Wilhelm Schmidt-Biggemann, der die Abgrenzung Petersens als obcrO!ichl ich zu-rückweist, \\ eil Melanchthon kein onhodoxer Anstole!ist sei). J Eine weitere Einschätzungs-polarisierung ist diejenige z\\ischen einer Chara"terisierung Melnnchthons als Versöh-ner der Reformation und des Humanismus aristotelisch-ciceronianischer Prägung, basie-rend auf der Instanz des lumen naturnie - eiTle Einschätzung, wie sie Wilhelm Dilthey' u.a. vornehmen, und dem bösen Vorw'urf auf der anderen Seite, Melanchthon habe in neuer Weise die Philosophie zur Magd der ThI..'Ologie gemacht, indem cr diejenigen platlP nischen, aristotelischen und stoischen Elemcnle herausgelöst habe, die bestimmten Theologemen zur Konkretion verhelfen. so daß die losen Enden eines solchermaßen \'cr-stUmmelten Phi losophierens zwangsläufig ihre Vollendung in der 11leologie der OtTenba-nmg erruhren.'

    Ich werde mich nachfolgend unter etwas bescheideneren AnsprUchen der Problematik nähern, indem ich mich zentral mit dl!n Erlll.uterungen Melanchthons zur aristotelischen Ethik beschäftige,· insbesondere zum l. Buch (Zweckbestimmung der Ethik; oberstes Ziel), dem 3. Buch (Willensfreiheit) und dem 5. Buch (Gerechtigkeit, ordo politicus). Die Enrllge der direkten Erläuterungen werde ich in die weiteren ethischen Schriften Melan-chtholls hinein verfolgen. Die probh.-mutischc Knrrierc seines Aristotclismus VOll der ra-dikalen Ablehnung und Beschimpfung des SI3girilen alls der Zeit seincr jungen Begeg· nung mit LUllter, kanonisiert in deli Loci von 1521, bis zu seinl!r (wohl auch in strategi-scher Absicht vorgenommenen) Vcrherrlichung des Phi losophen in diversen Festreden wird mich dubei \\eniger interessieren, zumal sie durchgängig dokumcntiert und bearbei-tcI ist.7 Im Blick auf die Kluft zwischen Mc1nnehthons Vcrlautbanmgen und seinem tat-sächlichen Umgang mit Arisloteles läßt sich \orab bemerken, daß seine größte Annähe-rung an Aristoteles in den )Enarrationcs< vorliegt, in deutlichem Kontrast zu dem em-phatischen Lob, das er ihm in seinen spaten Reden zollt.

    In den einfUhrenden Bemerkungen zu seinem Ethikkommentar pl!ldien Melanchthon tur ein ZusammenfUhren des E\'angcliums mit dem göttlichen Ocset7. resp Naturgesetz. dessen Teil , soweit er die weltlichen Sitten betrifft, die Ethik beh'lIldelt. Entsprechend sind die übergeordncten christlichen Tugenden (Gottesfurcht, Gouvenrauen, Nächstenliebe. Oben\"indung von Begierden und Ruhmsucht, Keuschheit etc.) von den ethischen Tugen-den i.e.S. zu unterscheiden.' Diese Churtl!.terisierung differien deutlich \'on der späteren

    ) Wilhelm Scll~tll}r-BIGGE."'A.'N: Topica utwef"WIlis eine Modellgeschichle humanislIS

  • rung einer Teloshafiigkcit im Vollzug selbst, der als Eupra."ia letzthin nur sich selbst ge-nUgt. wenn er der Vemunflhafiigkeit und Sozialität des Menschen vollkommen entspricht.

    (2) Unler erkenntnistheoretischer Perspektive: Das Gute an sich - angenommen es gäbe es - wäre nicht erkennbar. Vielmehr gerieten wir in die Problematik, die als Tritos-anthropos-Problem diskutiert wird: Wir bedürften eigener MaßstIlbe, die die überbrUk-kende Identifizierungsleistung von der angenommen Idee zum Kandidaten der je\ .... eili-gen Identifikation rechtfertigten, und ihrerseits einer begründenden Idee bedUrften. was uns in einen unendlichen Regrcß fiUtten wUrde.

    (3) Unler praktischer Perspektive: Das Gute an sich ist nicht anslrebbar, weil wir jeweils situations- und personenadHquat nur cinjeweiliges Gutes zum lIandlungsziel er-heben können. Dabei ist die Annahme eines Guten an sich weder hilfreich rur die Gene-rierung von konkreten Handlungszwecken. noch lassen sich diese durch Subsumtion un-ter ein Gutes an sich Personen rechtfertigen. Nicht im Rahmen eines theoretischen, son-dern nur unter einem praktischen Syllogismus wird die Überbrlickungsleistung durch die Tätigkeit der Klugheit vollzogen, einer Klugheit. die sich als spezifisch strukturiertes Abwngungsinstmment versteht und ihren Ausdruck in derjenigen Prämisse des prakti-schen Syllogismus findet, die die Entscheidung (ilQ01J

  • L:l\rl!!opn lIuOIS

    tion des Geistes. der ein natUrlich-göttlich-gegebenes Gut sei, oder einer Definition der Tugend, die die ehrenwerten Gütcr bcgrilnde, oder über einer Definition des Geldes, das nUtzliche GUter bcgrilnde, oder einer Definition der Sinn~sanmutung, die die Güter des Angenehmen begründe, erhältlich sei. Unter Mißachtung dieses Gefälles unterstellel\risto-teles, daß die Begriffe eines:< an sich und des konkreten "dasselbe bedeuteten. Die spezifi-sche Unterscheidung der Konkreta liege jedoch gerade jenseits eines Redcns vom An-sieh. Dessen abstraktes Bild sei sehr wohl ~atiquo modo naturatiter nota« - hier erkennen wir den Einfluß von Ciceros Stoa-Konzeption auf Melanchthon" - und dies sei gerade das, was tiberhaupt eine Ordnung der Güter qua unterschiedlicher Teilhabcbeziehung zu bilden erlaube. Me1anchthon wechselt also die Perspeklh-en. Das Gute wird unter der I)rämisse der Güterhafiigkeit diskutiert. nicht wie bei I\risloleles unter der Prämisse des Zjelu.ins. Damit wird auch die ordnungsbildende Instanz ausgewechselt: War tur Aristo-tc!es die Ordnung dadurch hersteltbar, daß auf der Basis der Definition des Menschen als vemunfibegabtem Lebewesen die dianoctischen Tugenden über den ethischen rangierten, und auf der Basis der Bcstimmung des Menschen als ~v Jto).tHx6v die Gerechtigkeit das oberste der ethischen Tugenden, so ist filr Mclanchthon mit I'lato die ordnungs gebende Instanz derjenige GOtt, der als perfekte Idee der Ordnung (Pythagoras) fungiert: »Deus est mens aeterna, causa boni natur.,e seu rerurn«(; »Non dubito autcrn P)'thagoram hac unitate intell ex isse Deum, quem sensit esse unicum et sumrnurn bonum ... Ideo [Plato.C I 11 cum Pythagoms inquit : In ordinc bonorum summum esse t.juiddam, de Deus locutus est1(.'9 Hier wird nun allerdings )lGott« vielfach äquivok gebraucht: als höchstes Gut lind als Maßstab der GUterhierarchie l//1d als Ursache der Güter als Güter und als Inbegriff der Ordo. Die Einsicht (in diese Vielheit) vermittele die Offenbarung des Evangeliums. Nicht zufällig berührt Melanchthon in diesem lusammenhang wohl die kritische Frage des Aristoteles (aus der Metaphysik), wie denn ein Maßstab Ursache sein soll. nicht. Und ihm entgeht auf diese Weise auch eine Pointe praktischcn Philosophiertns dergestalt, daß ethi-sche Tugenden, z.B. die Besonnenheit, erst das Wirksanmerden der dianoetischen Tugend der Klugheit ennöglichen. \\ie auch die weiteren elhischen Tugenden, indem sie der Klug-heit die Ziele '·orgeben. Und auch vice versa kann ein gegenlliufiger Zusammenhang bestehen. etwa im Olick auf die Relativierung der Gen:

  • \,..Jln nUI'II nuulg

    Vorab ist hervorzuheben, daß Mehmchthon hier eine pünktliche Auslegung des Aristote· le$ vornimmt, ihn passagenweise gegen Platos ßehauptung, daß })niemand wissentl ich Schlechtes tue«, verteidigt und Arislotclts' Argumentation sogar ausbautll Das ist auf dem llintergrund der problematischen Karriere dcr Melanchthonschen Überlegungen zur Willensfreiheit seit den ersten >Lode interessant und gut nachvollziehbar, weil es scine in dieser Hinsicht vollzogene Selbsldistanzicrung deutlich macht I latte Melanchthon dort-im Gegensatz zu Erasmus - die höheren geistigen Fähigkeiten auch unter das »fleischl i· ehe und daher gouwidrige Wesen des Menschcn«l' gerechnet. und die Erkenntnis als dem Willen dienend, diesen aber dem Spiel der Affekte untemorfen. gedacht, und (wohl unter dem Ei nfluß der W)'c\ifschen These ,on der absoluten Notwendigkeit) eine radikale Prädest inations· und Gnadenlehre vertreten, so wird hier nun interessanterweise das ari-stotelische Argument, daß im Praktischen der Wille auch die Erkenntnisgewinnung leitet, gegen Plato eingesetzt, verbunden mit der These von der relativen Freiheit des Willens. Die in den >Loci( vertretene Platokritik (»was Plato nicht vennag, hat Christus gebracht, Paulus verkündet«lS) bleibt bestehen, insbesondere die Kri tik, daß Plato nicht gesagt habe, wie die Katharsis des Menschen überhaupt möglich sei 16

    Wie sieht der Weg zur Argumentation in den >Enllrrationes( IlUS'! Sehr schnell haue Melanchthon die alte Position zurUckgcl10mmen (bereits 1522 in der Überarbeitung dcr Lod untcrdem Eindruck der Wittenberger Unruhen Ende 152 1, dem Auftreten der SchwUr· mer und dem allgemeincn fatal ismus sowie der BilderstUnnerci Andre3s Karlstadt hat j a 1523 konsequent seine zeitweise Verachtung der Gelehrsamkeit durch Niederlegung seiner Professur zum Ausdruck gebracht). Der freie Mensch is t allerdings durch die Macht seiner Affekte sowie diejenige Satans in seiner geistigen und sittlichen Vervollkommnung bedroht. Die vernünftige Erkenntnis des Guten bereitet die Begnadung durch den Geist vor, wodurch der Wille (besser: das Wollen) und die Affekte im Entscheiden kontrollierbar werden. Man könnte diese Phase die platonisch·paulinische nennen: Das Unzureichende menschlicher Vernunft liegt in ihrem Defizit an Selbstrechtfer1 igung. Bildung hat somit vorbereitende Funktion fllr die Begnadung; \-oJlkommclle Freiheit gewinnt der Mcnsch erst durch die Erlösung gemäß der Lehre des E\iangeliums. Entsprechend sind zwei Defi· nitionsbreiche der Freiheit zu unterscheiden: I)er Bereich der justitia carnis (später: civilis) als Freihei t in philosophischen, individual·siulichen und poli tischen Entscheidungen und derjcni ge der justitia spiritual is, der wiedergesehcnkten rreiheit qua Erlösung rur den Gläubigen. Aus heutiger Sicht können \\ir den Erltiuterungen entnchmcn, daß im ersten Fall offcnsichtlich von positiver Freiheit (Freiheit lU ctwas ... ), irll.l.weiten Fall von negativer Freiheit (Freiheit von .. ) gehandelt , ... ird_ Daß hier, wie Wilhelm Maurer meint. einc Verflachung so\\oh l des Evangeliums wie der I>hi losophic stallfindet,~l kann ich nicht schen - es se i denn, man betraehtct dm:ig die popultiren Schriften des Mclanchthon. Denn sein AristoteieskommentaT nun h1l11 durchaus das Niveau, wie wir sehen werden.

    23 e R 1. 329-343. 24 Vgl. hierl.u Maurer: Mclanchthons Anteit _,9{) 25 Vgl. Withelm M ... UIIHIC Mclanchthons loci communes \00 1521 als wissenschaftliche I'rogramlll-

    schrift.. LuJ 27 (1960). 126. 26 Ebd 27 M~urer: Der junge Melanchthon 2.419

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    Melanchthon 1111 Interpret der aristote lischen Ethik

    Zu fragen ist ja genauer: Wer oder was ist frei: das Wollen, der Wille, die Entschei · dung und/oder die Handlung? Das Verhä ltnis zwischen Erkennen und Freihei t \\ird \on Aristoteles dureh Überlegungen zum Status der Unwissenheit des Außeren Zwan· ges diskutiert . Diese Diskussion ist verzwickt: Zunftchst ist Unfreiwilligkeit gegeben bei äußerem handlungsauslösendem Zwang, also Entscheidungs- und Handlungs· unfreiheil. Zum zwe iten ist sie gegeben bei Unwissenheit. die den Willen und die Ent-scheidung tangiert: die Entscheidung, wenn über den Status der Minel Unwissenheit und Irrtum hcrnehen, also im Blick. auf Einzelfaktoren. nicht die Ziele Überhaupt. der-gestalt, daß die Entscheidung sp:iter aus diesem Grunde bereut wird. Der Wille kann insofern tangiert werden. als ja aus dem Wollen und Erstreben bestimmter Zie le a1Jer-erst ein Willen \\ird, wenn diese Ziele lIandlungszwccke abgeben, was einer Begrun-dun g bedarf, die dic I ierbeiflih rbarkei t e inschließt. Es gibt also zunllchst Entscheidungs· unfreiheit und Willensunfreiheit aus Unwissenheit, nicht aber Wollensunfrciheit aus Unwissenheit. Schließlich kann jedoch ein Verfehlen der Ziele selbst cbenfalls auf Un· wissenheit basieren, "elche aber - sowe it selbst verschuldet - das lIandeln dadurch nicht unfreiwillig machen. Sch lechte Ziele anzustreben wird als Möglichkeit der Frei· heit bei Aristoteles eingeräumt. Somit ist Platos Argument. niemand wähle wissentlich das Schlechtc, zurUckzuwe isen. wei l Unwissenheit als Unfreiheit produzierende nur die Entscheidung ttlngiert und nicht das Wollen selbst unfrei macht. Denn Wissen zu erwerben wenn auch unsicheres-unterliegt lI.ll. auch, so betont Mclnnchthon mit Aristoteles gegen PhllO, entsprechenden Willensentscheidungen.~· Durch Unsicherheit wird ein solches Wissen bei leibe nicht zur bloßen doxtl

    VerzwiclCl ,\ird nun die Diskussion im Blick aufdic sogenannten gemischten Handlun-gen. Dazu der Kommentar Melanchthons im einzelnen:?t Als unfreiwillig oder freiwil-lig werden die I land lungen gemäß den aristotelischen Kri terien nufgefaßt. Gemischt erscheincn solche, die zwar auf einer willentlichen Entscheidung beruhen, aber in einer Zwangs· und Notlage 1." ischen den Optionen wählen. Aristoteles' Beispiel des Oberbord· werfens \'on Wertgegenständen bei Sturm (um Ballast loszu\\crden) wi rd \ion Melanchthon ersel7l durch das Beispiel. daß einer aus hll1:ht dem F"angelium gemäß hnndelt. anstalt dieses bewußt in die Lebensgestaltung IIls .l.ielgenerierend aufwneh· mcn. Auch ein solchermaßen gezwungener Wille sei ein Wille ("enn auch nicht ein freies Wollen; der Bestimmungsgrund des Willens hier im Olick auf das lI erbeiHihr· bure als Entscheidungsoption - ist Zwang). Unwissenhei t tangiCr1 hingegen in zweier-lei Hinsicht niehl die Freiwilligkeit: Wenn die Handlung nicht splltcr bereut \\ird, lind \,enn sie sich bei durchaus bestehender Unkenntnis der l;akten des Mllleleinsatzes, der IIcrbeinlhrbarkeit des Zweckes. auf Ziele bezieht, deren hstreben lediglich \'or gesetz-lichen Sanktionen bzw. Rechtfenigungsansprtlchcn schlitzen sollen I ll er liegtz, ... ar einc gewisse Unfreihcit der lielgenerierung vor, "eil diese nus !-mcht geschieht. Di e Unkenn tni s des Evangeliums. so cxtr:lpol iert Mclanehthon, schlitzt aber nidll die Geg· ner der wahre 11 Doktrin. rreiwilli gkeit wird hier als subjekt ive Frl:!iheit. Zurcchcnbar-kei t und Verantwortlichkei t gefaßt: Ein Wille macht sich schuldig - und nicht etwa

    28 Mclanehthon Lnarraüones . eR t6. 3Jt r H:!·34J 29 eR t6. ])0.

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  • unfrei -. wenn er das. was zu wissen cr schu ldet. nicht erforscht. Es gill nämlich: )Cognitio seruit voluntnti ... Nnm perinde ut Tyrannu5 est in re publica, ita voluntas in homine. Et ut eonsiliarius Tyranno obnoxius i. c. subiectus, sie ct intellectus ... 1(.)1)

    Es ist also zu differenzieren: Wird eine auf Unwissen beruhende Handlung später nicht bereut. ist sie nicht unfreiwillig (O)(ov). sondern nicht freiwillig (oVx bwv) wie etwa bei Kindern . Wird sie explizit gebilligt im Nachhinein, gi lt sie trOtZ Unwissenheit beim Entscheiden nicht als unfreiwillig, sondern ebenfa lls als nicht freiwillig, Hißt aber den (möglicherweise schlechten) Charakter des I landeinden ersichtlich werden. weil dieser sein Wissen nicht gebildet hat.

    Formal folgt hier Melanehthon völlig Arislotclcs, wenngleich er im ßlick auf die gemischten Handlungen dessen Ordnungsvorstellungen beztlglich der Tätigkeit ersetzt durch diejenige des Evangeliums. Grundgedanke dieses Erselzungsvorganges ist, die Hier-archie zwisch.en höheren und niedrigeren Zielen, wie sie Aristoteles verficht, zu ersetzen durch eine Hierarchie höherer und niedrigerer Güter. Das ist der Restplatonislnus bei Melanehthon, der seinen Aristote!eskommenlflr auch hier prHgt: Bei gemischten I land-lungen wird die selbstvcrschuldete Unwissenheit über die GUter zu einer, die die Hund-lungen freiwillig schlecht macht. I lingegen wird bei ArislOleles eine Unfreiwilligkeit der Ziele nicht über Unwissenheit bezüglich bestimmter Güter begründet. Melanehthon hin-gegen unterfüncrt seine Argumentation mit zahlreichen Beispielen aus den Schriften an-tiker Autoren, die dorauf abzielen, daß immer wieder auf die Wissens- und Bildungs-schuld ven\'iesen wird. Damit kann er seine These - auf der Basis seiner eigenen Läute-rung - untermauern. daß Bildung propädeutische Funktion hut im Blick auf die Wissens-bedingungen freier EntSCheidung.

    Wie steht es aber nun mit den Affekten? Sind Entscheidungen auS Zorn, Begierde oder Furcht freiwillig? PlalO verneint dies, und er spricht dem Handelnden in dieser I-Iin-sicht Schle

  • I,.;hflStQph t lublg

    universalis sive generalis). die er als gesetLliche Gerechtigkeit charakterisiert. und der Jus titia particularis als Tcil der ))ganzen Tugend(. Filr die erstere gilt. daß nur unter den Bedingungen einer idealen politischen Ordnung, im ))besten Staatc«( also, die Tu -gend eines Mannes und eines ßlirgers notwend ig dieselbe i s l.~ Bloße Legali tä t macht die Justilia general is akzidentiell, zerstört sie also. Wenn s ie jedoch inhalt lich begrün-det werden soll, koinzidiert diese Begründung mit derjenigen der VerrnBtheit des staat-lichen Gesctzesanspruches. Dieser ist dann zu Recht gegeben. wenn die Verrassung der Iler\'orbringung der Eudaimonia. sorern deren Komponenten im Gemeinwesen reali-siert sind. dient. lS

    Vergewissern wi r uns nun wieder der \~eiteren Argumentation des Aristoteles selbst: Die Gerechtigkeit a ls gesetzliche Gerechtigkeit is t die ganze Tugend, weil sie Vollkommenheit als Staatsziel repritsentierl. Zu fragen ist daher genauer nach ihrem Verhältnis zur partikularen Gerechtigkeit. die ja ihrersei ts 1Ilfch d ie »\'oltkommenste( ethische Tugend sein soll. Aristoteles vemeist nun darauf. daß beide durchaus dasselbe sind. led iglic h aber in ihrem Sein . d h. in ihrer Realis ie rung unterschieden, da die gesetzliChe Gerechtigkeit auf all e, die partikulare auf den jeweils Anderen bezogen ist, sofern nun vom einzelnen Ilandelnden die fugend nicht nur ihm selbst, sondern auch den Anderen zugutc kommt, was eine höhere Vollkommenheit des Tugendzieles aus-macht. Wns die entsprechende Grundhnltung betrim, sind al so iustitia generalis und purlieulari s demselben Ziel verpnichtet. Die partikulare Gerechtigkeit wird nun ihrer-seits differenz iert in die distributive bzw geometrische sowie die korrekt ive bzw. arith-metische. Unter dem Gesichtspun~t der geometrischen GereChtigkeit soll die Vertei-lung enlsprechend dem Angemessensein an die Person begrilndei werden, um die Über-vorteilung (Pleonexia, also Betntg, FigennUl7~ Habsucht, BegehrliChkeit, Herrschaft, Gewaltherrschaft. Unterdrüc~ung anderer) auszuschließen. Dies s ind ja gerade d iejeni-gen lebensziele, die das Unglück bedingen, insbesondere im ßliek darauf. daß Güter sowoh l nützen als auch schaden können, \\1:IS bereits dem Schlußkapitel der )cudemisehen Ethikc~ zu entnehmen ist. Die distributhe Gerechtigkeit ist eine Variante der Gerech-tigkeit des Ausgleiches (iustltia aequalitntis), die die interindividuellen Beziehungen regelt

    Hier ist zunächst nur \-on einer Regelung dieser Beziehungen im Blick auf die Zu-teilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern die Rede. Diese d istribut i\ e Gerech-tigkeit folgt dem Prinzip der Proponionalilät; Unrecht ist, \\ as wider die Proponionali-tltt verstößt. Das Propon ionale ist d ie Mille zwischen dem Zu\ icl oder Zuwenig. Von dieser austeilenden Gereclnigkeit ist die Justitia correetiva zu unterscheiden, d ie \'on Thomas von Aquin und diese Charakterisicrung hat sich leider eingebürgert \er-kUrz! als »commu\tlt iv u« beLcichnct wird , wobei der Aspekt d~s Korrektivs, des Korri gierenden. oftmals lU wenig berUcksichtigt wird . Dcr Gilteraustausch, da s KOIl1-mutative tlher dem Med ium Geld, ist nur ein Aspekt des Korrektiven, nicht der Oberbe-grifr. Die Verschiedenheit von Lei stungen und Bedürfnissen im Rahmen dieses Typs

    34 Ar iSlotele~: Poli,il..tII. IS. 12880..39 35 Ebd. t229 b 36 Ebd, VIII. 3. 1248 b. 26-34

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    Melllnchthon als Inlerpre t der ar istotelischen Ethik

    partikularer Gerechtigkei t wird regu liert Ober Vergleichbarkeit in einem spezifischen Silln, !Ur dessen fiußeren Ausdruck u.n. das Geld erfunden wurde. Die Reehtfertigbarkeit des jeweiligen Sinnes liegt im Bedürfnis. das der Grund fUr die gegenseitige Vergeltung der Menschen ausmacht. Das Geld drUckt die ßedOrfnisse (im Wechselspiel zwischen Angebot und Nachrrage) aus. Als bloßer $tell\'ertreter ist es Garant künftiger OedOrfnis-befriedigung. Fcstzuhalten ist hier: Das. was alles zusammenhält. ist das Bedürfnis.}]

    Solcherlei funktioniert natürlich nur bei freiwilligen Gesehfiltsbeziehungen - damit sind wir heim alten I'roblem aus dem 3. Buch -, also dann. wenn weder Unwissenheit noch äußerer Zwang \orliegen. die zur Obervoneilung fUhren können. Daher bedarf die Ausgleichsgerechtigkeit einer Instanz. die bei solchennaßen unfreiwilligen Gesch!1ftsbe-ziehungen relevant wird: die korrigierende richterliche Gerechtigkeit. UngereChtfertigte Gewinne \\erden durch RichterspruCh zum Ausgleich des Verlustes der anderen Seite verschoben. »)Gewinß« und »Verlust«( werden hierbei sehr allgemein gebrnucht. es kann sich auch um den Gewinn durch eine Gewalthandlung und den Verlust, der durch das dadurch verursachte Leid entsteht, handeln.

    Die gesamte Gerechtigkeit bedarfnber einer Relativierung unter dem Primat der Klug-heit, die sich auf die Problemlltik ihrer möglicherweise mißlichen Anwendung bezieht. Die ETmtxElCt, lat . aequitas, die Billigkeit als Adilquatheit im Praktischen ist selbst ei n Recht. zwar »bcssef«( als ein konkretes Recht,jedoch niemals besser ,lls das Recht schlecht-hin . Sie besteht in einer Korre~tttr und Vollendung der Gesetze, wo diese wegen ihrer allgemeinen Fassung mangelhaft bleiben - insbesondere im Blick auf die Definitions-bereiche ihrer Anwendung. InsofeOi ist die ßiIIigl.cit, obwohl Korrektiv \'on Gerechligkeit. keine andere Art oder davon verschiedene Gntndhaltung sie ergänzt und vervollkommnet das Recht unter seinem eigenen Anspruch bei seiner defi7itären Realisierung bis hin 7U seiner defizit!iren Verfaßlhcit in Form geschriebenen kanonisienen Rechtes. Nachsicht, der menschlichen $ch\\äche begegnen, unbös\\illiges Fehherhal ten entschuldigend und Unglücksfalle berilcksichtigend. reagiert in der Weise. daß der Anwendungsbereich des Rechtes jeweils neu modelliert \\;rd. Sie steuert die Entscheidungen bezüglich des Prakti-schen, sofern es das Einzelne und Letzte ist. speziell »mit allem GUlen, sofern es ein fremdes Interesse bcrtlhn( .n Hier finden wir wieder die Grundeharaklerisierung \on Gerechtigkeit »)i ustitia est at alterumtc. Dieses Konzept \\ Ird \on Me!anchthon zwar gefeiert. aber sogleich zur Agape, der BarmhcrLig~ei t, uminterpretiert. Ihre pragmatische Korre~turf\lnktion wird zu einer transzendenten Komplementierungsfunl.tion. Jene Komplementie-rungsfunktion setzt Melanehthon an die Stelle der ursprtlnglichen Intention des Aristote!es, der in der U i lli g~cit ein Instntment der klugen Umsetzung und Korrektur des geSChriebenen Reehl!i sah. Von jener Billi gkeit als Bamlherl..igkeit nun wiedertlill distanziert sich Me-lanchthon sp!iter zugunsten einer Verteidigung des »strengen Rechts

  • Cbristopb Bubig

    beurteilen, widerspricht dem durch Billigkeit konstituierten strengen Recht nun gerade nicht. Nur eine oberflächliche Betrachtung könnte zur Einschätzung kommen, hier wUrde Billigkeit gegen strenges Recht ausgespielt.}9

    Es ist nun nachzuvollziehen, daß Melanchthon die distributive Gerechtigkeit inso. fern fiworisiert, als sie den verschiedenen Rangstufen der Personaliltit - des ordo _ ihrer Adressaten folgt. Diese unterscheiden sich eben in WUrde und Leistung. Aller. dings überfordert er ihren Anspruch unter deutl icher Hintanstellun g der korrektiven Gerechtigkeit, wenn er schreibt »distributiva in universum ordinat pcrsonas«.,j/j Aus der einem jewei ligen Ameil und Status folgenden Gerechtigkeit (bei Aristoleles) wird eine, die ihrerseits konkrete polit ische Ordnung slifiet (bei Melanchlhon). Diese Stiftung folgt dem Prinzip, daß eine gewisse Gleichhcit unter Ungleichen dadurch entsteht, daß sie nach dem gleichen Prinzip, n!imlichjedem das Seine zuzuordnen, behandelt werden »hic ordo efficit aequalitatem inter dissimilesl(.·l Damit zementiert die distributive Ge-rechtigkei t verschiedene Rangstufen (Gradus) und wir sind wieder bei der Lieblings-idee Mel"nchthons. Zwar folgt er Aristoteles darin, daß die entsprechenden Unterschiede durch die Sozialillit der Menschen begründet sind und ihre gegenseitige Verbindung als Gleichheitsprinzip konstituieren »hunc pulchcrimum ordinem "', videlicet, homines ud aequalitutcm mutuarn connexionem cond itos esse{(Y Anstelle aber nun die korrektive Funktion dcr Gercchtigkeit und das BiJligkeitsdenken hinreichend zu würdigen, schließt Melanchthon einen HIngeren Kommentar über das Naturgesetz an, der sich vom aristo-telischen Text deutlich distanziert und den alten Gedanken einer gottgestifieten Ord-nung wiederum ergänzt. Gott wird als der »custos huius ordinis« betrachtet, wenn auch viele Menscht!1l »contra hunc naturae ordincm« handeln können.4l In den »E1emcnta doclrinae cthicnc« werden später mit Luther die göttt iche Ordnung, das natllrliche Ge-setz und der Dekalog in eins gebracht. Die sozialen Tugenden der zweiten Gesetzes-tafel gcwinnen ihrerseits ihre Einheit in der GereChtigkeit. Daher (!) muß Melanchthon in seinem Kommentar der aristotclischen Präzisierung der iustitia gcneralis die plato-nische vorziehen: Halle der von Melanchthon hier zitierte Aristoteles »obedicntia erga omnes legis in societate, quae honestis legibus regitur« gesprochen,·' so zieht Melall-chthon die platonische Spezifizierung vor: »Obedientiam essc omnium virium erga ree-tulll indiciulll ralionis, id es!, conservat ionem ordinis divinitus instituti«(.~! Dadurch allerdings, daß er das Sinengesetz nun nicht von den Rechtssätzen trennt, so Dil!hey,46 sei se ine ganze Theoric rur die Ausbildung der grund legenden Begriffe der Jurispru-denz wenig nützlich. Allerdings ist, wie Dilthey zeigt, jene Konstruktion fl.lr die Be-gründung des »Berufs«, der vocatio, unvcrzichtbar.H

    39 Philipp MLL,o,NCIHHON: I)e aeqlli ta[~ el iure slriclo, 1542. eR J I, 550-555: vgl. Ders.: Enarrationes '" eR 16,402.

    40 eR 16,374. 41 CR 16, 36H 386. 42 CR 16, 381. 43 eR 16,379f. 44 CR 16,223. 45 eR 16. 46 Dillhcy: AlIO, 197. 47 CA XXVII, 49; vgl. CR 25, 464; 14,26, SO. 82 632.639

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    Mc!anchtholl als Interpret der aristotelischen Ethik

    Der begründende Status der Ordo-Annahme wird auch ersichtlich, wenn Melan-ehthon unter Bezug auf das aristotelische Beispiel eine ganz andere Rechtfertigung des Verbots der Privatrache anfilhrt. Bckanntlich spricht sich Aristoteles gegen die von den Pythagoräern verfochtene Lehre der Wiedcrvergcltung als des Gerechten aus. Er wen-det ein, daß die Wiedervergeltung weder mit der austeilenden noch mit der ausglei-chenden Gerechtigkeit ilbereinstilllmt, nobschon man meint, der Satz des Radamanthys über die Gerechtigkeit wolle dies sagen: )Wenn einer leidet, was er getan hat, so ist gerades Recht geschehen.«(~' Iliergegen könne man - so Aristotcles - vielfachen Wi-derspruch erheben, etwa im Blick auf das Problem, daß das Zufügen eines Leides in hoheitlicher Aufgabe (durch einen Beamten) nicht gerächt werden darf, hingegen aber die Zuftigung von Leid gegenüber einem Beamten nicht bloß vergolten, sondern auch noch zusätzlich zu bestrafen sei, \\eil sich in dieser Handlung zugleich die Verfehlung des Eupraxia-Zieles iiberhaupt, das in der Respckticrung einer legitimen Ordnung liegt, ausdrückt. Andererseits kann Wiedervergc1tung, soweit nicht einfach nur Leid sum-miert wird, durchaus gerecht sein - eben wenn sie in ciner anderen Form des Ausglei-ches, dcr Herstellung einer gerechten Mitte zwischcn Übermaß und Mangel liegt, also als Kompensation bzw. Ermllung eines Kompensationsanspruches. Dies kann soweit gehen, daß ein erlittenes Unrecht (z.ß. Diebstahl) durch Unrccht vergolten wird, wobei nicht Ungerechtigke it entsteht, we,it die negative Proportionalität gewahrt bleibt. Unter ßitJigkeitserwägungen kann eine derartige singuläre Maßnahme durchaus recht fertig-bar werden, da die angemeine Redeweise vom Gesetz nur die Mehrzahl der Fälle be-rtieksichti gt, ein Fehler, der wcder im GesetL noch beim Gesetzgeber liege, sondern in der Natur der Sache, die ihrerseits in der Matcrie des lIandelns begründet ist, also der Gesamtheit der situativen Konstituenten. Melanchthon hingegen begründet das radika-le Verbot dcr Privatrache durch die Ordnung, die Gott gestiftet hat »sed evangelium prohibit inordinatnm vindictam ... «.

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