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Suhrkamp Verlag Leseprobe Müller, Jan-Werner Was ist Populismus? Ein Essay © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 978-3-518-07522-7

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Müller, Jan-WernerWas ist Populismus?

Ein Essay

© Suhrkamp Verlagedition suhrkamp

978-3-518-07522-7

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Sonderdruckedition suhrkamp

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Wer wird heute nicht alles als Populist bezeichnet: Geg-ner der Eurorettung, Figuren, die fordern, alle Grenzengehörten geschlossen, aberauch Politiker des Mainstream,die meinen, dem Volk aufs Maul schauen zu müssen. Viel-leicht ist ein Populist aber auch einfach nur ein populärerKonkurrent, dessen Programm man nicht mag, wie RalfDahrendorf einmal anmerkte? Lässt sich das Phänomenschärfer umreißen und seine Ursachen erklären? Worinbesteht der Unterschied zwischen Rechts- und Links-populismus? Jan-Werner Müller nimmt aktuelle Entwick-lungen zum Ausgangspunkt, um eine Theorie des Popu-lismus zu skizzieren und Populismus letztlich klar vonder Demokratie abzugrenzen. Seine Thesen helfen zu-dem, neue Strategien in der Auseinandersetzung mit Po-pulisten zu entwickeln.

Jan-WernerMüller, geboren 1970, lehrt Politische Theo-rie und Ideengeschichte an der Princeton University. BeiSuhrkamp erschienen zuletzt Das demokratische Zeital-ter (2013) und Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und dasSchicksal der liberalen Demokratie (edition suhrkamp di-gital).

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Jan-Werner Müller

Was ist Populismus?

Ein Essay

Suhrkamp

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Dieser Band geht zurück auf dieIWM-Vorlesungen zu den Wissenschaften vom Menschen 2014.

Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)ist ein unabhängiges, internationales Institute for Advanced Studies

mit Sitz in Wien.

www.iwm.at

Erste Auflage 2016edition suhrkamp

Sonderdruck© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

OriginalausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offzin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in GermanyISBN 978-3-518-07522-7

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Inhalt

Zum Auftakt: Wer ist eigentlich kein Populist? 9

1. Populismus: Theorie … 25

2. … und Praxis 67

3. Vom demokratischen Umgang mit Populisten 91

Schluss: Zusammenfassung in zehn Thesen –und ein Wort zur Zukunft der repräsentativenDemokratie 129

Anmerkungen 137

Danksagung 158

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Für Heidrun Müller

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Zum Auftakt:Wer ist eigentlich kein Populist?

Populisten, wohin das Auge reicht: 2015 hielt eine Koali-tion griechischer Links- und Rechtspopulisten nicht nurdas eigene Land, sondern ganz Europa in Atem; in Spa-nien sind die Populisten auf dem Vormarsch, das seit demEnde des Franquismus bestehende Parteiensystem ist be-reits zertrümmert; in Frankreich ist der Front Nationalschon lange Teil der etablierten Politik (sein GründerJean-Marie Le Pen ist mittlerweile seit sechzig Jahren Par-lamentsabgeordneter), und selbst wenn seine TochterMarine 2017 nicht Präsidentin der Republik werden soll-te, gewinnt der FN doch immer mehr an Einfluss: Nico-las Sarkozy beispielsweise erfindet sich derzeit neu alseine Art »Le Pen light«. Mit Viktor Orbán, Jarosław Kac-zynski und dem Slowaken Robert Fico sind inzwischenin drei der vier Visegrád-Staaten gemeinhin als Populis-ten bezeichnete Politiker an der Macht (wobei die Vise-grád-Länder einst als Pioniere eines erfolgreichen Über-gangs vom Staatssozialismus zu liberaler Demokratieund Marktwirtschaft galten; inzwischen ist vor allemOrbán ein Verfechter einer explizit illiberalen Vision vonStaatlichkeit).1 Kein Wunder, dass der ehemalige Präsi-dent des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, be-reits 2010 warnte: »Die große Gefahr ist der Populis-mus.«2

Offenbar nicht nur in Europa. In den USA ist die De-batte um die oft als »rechtspopulistisch« titulierte Tea

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Party zwarabgeflaut, dafür macht Donald Trumpals Prä-sidentschaftskandidat der Republikaner seit Mitte 2015nicht nur Furore, sondern schlicht Skandal: Seit den sech-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat kein prominenterpolitischer Akteur so schamlos Minderheiten (und nichtzuletzt: Frauen) verhöhnt, ja zum Teil einfach unflätigbeschimpft. Das Label »Populist« ist vielen Kommenta-toren inzwischen zu harmlos: Eine ganze Reihe von Be-obachtern scheut sich nicht mehr, den Immobilienmilli-ardär als »Faschisten« zu bezeichnen.

Südlich der USAwiederum, in Lateinamerika, mag die»rosa Welle« populistischer Palaststürmer (mit HugoChávez an der Spitze) inzwischen auslaufen. Aber nochhalten sich mit Rafael Correa und Evo Morales zwei ge-meinhin als »linke Populisten« bezeichnete Politiker ander Macht; wie Chávez in Venezuela haben sie die poli-tischen Systeme ihrer Länder grundlegend umgestaltet;heute gelten sie einigen europäischen Intellektuellen (vorallem in Griechenland und Spanien) als Vorbilder. Letz-tere wollen eine Art Lateinamerikanisierung Südeuro-pas, im Zuge derer das pueblo die Oligarchien hinweg-fegt.3 Und manch einer meint gar, in Zukunft werde sichdie Politik auf dem gesamten alten Kontinent zu einemKampf zwischen Rechtspopulisten und von lateiname-rikanischen Theoretikern inspirierten Linkspopulistenzuspitzen.4

Dieser erste Überblick ist nur ein Schnappschuss, vorallem zeigt er nur einen kleinen Ausschnitt der globalenpolitischen Szenerie – von den deutschen Zuständen,vonPegida sowie der Alternative für Deutschland (AfD) warnoch gar nicht die Rede, auch nicht vom Populismus in

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Asien (man denke vor allem an Thailand). Dieser Essaysoll dabei aber weder eine weltumspannende Geschichtedes Populismus bieten noch tagespolitischen Aufgeregt-heiten nachhecheln. Stattdessen will ich grundsätzlicherfragen, was Populismus eigentlich ist (oder, anders aus-gedrückt: wer wirklich ein Populist ist) und worin daslaut Van Rompuy so dringende »Problem« des Populis-mus denn eigentlich genau besteht. Sind überhaupt alleeingangs erwähntenpolitischen Akteure Populisten? Wur-den nicht immer schon auch Mainstream-Politiker alsPopulisten bezeichnet? Helmut Kohl ob seiner Volks-tümlichkeit; Gerhard Schröder, der Arbeitern einen »or-dentlichen Schluck aus der Pulle« gönnenwollte (und vorlaufenden Kameras volksnahe Sprüche à la »Hol mir malne Flasche Bier, sonst streik ich hier« klopfte); ja sogarAngela Merkel, die zwar so gut wie nie vom »Volk« spricht,dafür jedoch häufig von »den Menschen«, als sei sie dieeinzige denkbare Vertreterin des deutschen Teils derMenschheit. Wollen – ja sollen – in der Demokratie nichtalle Politiker dem »Volk aufs Maul schauen«? Wenn po-litische Urteilskraft, frei nach Hannah Arendt, vor allemdarinbesteht,Unterscheidungentreffen zukönnen, ist esin Europa um die Urteilsfähigkeit vielleicht nicht allzugut bestellt, da heute umstandslos alles und alle in einenTopf geworfen werden.

Zumal es bei der Debatte um Populismus emotionalhoch hergeht. Man hält Populisten ja immer wieder vor,eine Politik der Gefühle (oder gar »aus dem Bauch her-aus«) zu betreiben. Allerdings sind die negativen Urteileüber den Populismus häufig selbst nicht ohne: Da istschnell die Rede von »Pathologien«, einer »Entstellung

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der Demokratie«, falschem Bewusstsein oder gar »Och-lokratie« (Herrschaft des Mobs); die Verteidiger des Po-pulismus wiederum kontern, ihre Kritiker litten an nichtsGeringerem als »Hass auf die Demokratie« oder »Demo-phobie« – also Angst vor dem Volk oder gleich vor den»ganz normalen Leuten«.

Linke Theoretiker monieren zudem immer wieder, dieetablierten Parteien benutzten das »P-Wort« nach Gut-dünken, um Kritik an den herrschenden neoliberalenVerhältnissen mundtot zu machen. Ganz ähnlich klingennationalistische Stimmen in Europa,wenn sie behaupten,jedes »Nein« bei Referenden über EU-Verträge werdevon Brüssel automatisch als »populistisch« und damitals ungültig abqualifiziert. Kein Wunder, dass sich Mari-ne Le Pen das Etikett »Populistin« inzwischen als demo-kratisches Ehrenabzeichen angesteckt hat – denn Popu-lismus heiße, so Le Pen, das Volk und insbesondere »dieVergessenen« gegen die Eliten zu verteidigen. Viktor Or-bán äußerte sich schon vor Jahren ganz ähnlich. UndKonrad Adam deklarierte auf dem Gründungsparteitagder Alternative für Deutschland in Berlin:

Wennunsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zuent-mündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Po-pulismus als Auszeichnung zu betrachten. Und alle Welt daran erin-nern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltungist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt,nicht seinen Vertretern.5

Ist des einen lupenreiner demokratischer Anwalt des Vol-kes (oder noch spezifischer: der Vergessenen) des ande-ren Populist? Kann der Vorwurf des »Populismus« garselbst populistisch sein, wie Ralf Dahrendorf einmal an-

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merkte? Ist »Populist« vielleicht nur ein Kampfbegriff –und für die politische Analyse schlicht nicht tauglich?

Diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Andere Begriffesind schließlich ebenfalls heftig umkämpft – man denkenur an »Freiheit« oder auch »Demokratie«. Bei diesenkann man aber letztlich doch Unterscheidungen treffen:Putin mag sich als demokratisch bezeichnen, ist es abernicht. Solche Unterscheidungen sind jedoch ohne Theo-rie nicht möglich. Anders gesagt: Wir benötigen so etwaswie einekritischeTheorie desPopulismus,unddiesewie-derum ist nicht ohne eine demokratietheoretische Rück-versicherung zuhaben. Dennwer über Populismus redet,kann von Demokratie und Liberalismus nicht schweigen.

Noch einmal anders gewendet: Wer nicht zu sagenweiß, was demokratisch ist und was nicht, bleibt hilflosangesichts von Behauptungen, Populismus sei – auchwennPopulisten manchmal über die Stränge schlügen – docheigentlich urdemokratisch, wenn nicht gar »hyperdemo-kratisch«. Populismus, so hört man häufig, sei im Zwei-felsfall vielleicht doch ein »nützliches Korrektiv«, gar»Treibstoff« für eine liberale Demokratie, in der die un-demokratischen Elemente (sprich: der Liberalismus) ir-gendwie zu stark geworden seien.6 Oder er sei hilfreich,weil Populisten Probleme ansprechen, welche die Bürgerwirklich beschäftigen, über die sich aber niemand zu re-den traue oder die von den »etablierten Parteien« tot-geschwiegen würden.7 Kurz: Man müsse sich manchmaldie Nase zuhalten, aber »Demokratie braucht Populis-mus«, wie es der über alle Zweifel an seiner demokra-tischen Gesinnung erhabene Bremer Politologe LotharProbst einmal ausdrückte.8

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Ja,vielleicht ist die Populismus-Debatte, so ein nahelie-gender Verdacht, nur ein Symptom. Nämlich dafür, dasssich einerseits Demokraten vor der Vision einer liberalen,de facto »postdemokratischen« Herrschaft ohne wirk-liche Volksbeteiligung fürchten, und dass andererseits li-berale Eliten Angst haben vor einer Demokratie, in derilliberale Bürger die Mehrheit stellen. Dieses Bild einerstrikten Trennung zwischen Liberalismus und Demo-kratie machen sich inzwischen so unterschiedliche Per-sönlichkeiten zu eigen wie Viktor Orbán und die bel-gische Radikaldemokratin Chantal Mouffe – was nichtheißen soll, dass sich vermeintliche »Extreme« immerirgendwo berühren oder dass man plausibel von einerSymmetrie zwischen Links- und Rechtspopulismus spre-chen könnte (wie es die sogenannte Extremismusfor-schung regelmäßig suggeriert). Nur: Um hier Urteile zutreffen, braucht es eben eine adäquate Demokratietheo-rie. Insofern ist Populismustheorie notwendigerweiseDemokratietheorie.

Populismus,um die Hauptthese dieses Essays vorweg-zunehmen, kann häufig als demokratisch, gar radikalde-mokratisch erscheinen. Er kann bisweilen auch positiveEffekte für die Demokratie zeitigen. Entscheidend ist je-doch, dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja derTendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist.9 Umdiesen Gedanken, der im Folgenden ausführlich entwi-ckelt werden soll, nachvollziehen zu können, muss mannicht einer hoch speziellen und deswegen auch umstrit-tenen Spielart der Demokratietheorie anhängen. Manmuss nur einige der Grundprinzipien der modernen re-präsentativen Demokratie akzeptieren – Grundprinzi-

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pien, die trotz manch aufgeregten Geredes über Post-demokratie oder postrepräsentative Demokratie wedernormativnochempirisch infrage stehen sollten.Wasnichtheißen soll, dass uns diese Prinzipien, ihre Rechtfer-tigung oder auch ihre Grenzen immer ganz deutlich be-wusst sind. Die Beschäftigung mit dem Thema Populis-mus kann so indirekt auch zu einer Selbstverständigungdarüber führen, was wir von der Demokratie eigentlicherwarten, welchen Herausforderungen sie sich derzeitgegenübersieht – und von welchen Illusionen über die»Volksherrschaft« wir uns möglicherweise verabschie-den müssen, wenn wir den Populisten nicht auf den un-demokratischen (und eben nicht nur: illiberalen) Leimgehen wollen.

Wir brauchen jedoch noch etwas anderes als Demokra-tietheorie: Geschichte (wobei sich diese bekanntlich oh-ne theoretische Unterscheidungen gar nicht erzählenlässt). Oft klingt es in der Diskussion über Populismusso, als gäbe es das Phänomen erst seit einigen wenigenJahren, als erlebten wir aktuell ein einzigartiges »Zeit-alter des Populismus« oder gar eine beispiellose »popu-listische Situation«.10 Dabei schrieben die Sozialwissen-schaftler Ernest Gellner und Ghita Ionescu bereits Endeder sechziger Jahre in der Einleitung zu einem seinerzeiteinflussreichen Sammelband: »Ein Gespenst geht um inder Welt – der Populismus«.11 Der Band war das Ergebniseiner großen Tagung an der London School of Econo-mics, auf der Historiker, Soziologen und Politikwissen-schaftler sich vorgenommen hatten, »Populismus« zu de-finieren. Es gelang ihnen nicht. Aber das Buch, welchesaus der Konferenz hervorging, führte symptomatisch

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vor, dass das Wort »Populismus« schon damals zur Be-schreibung verschiedenster Phänomene verwandt wer-den konnte, vom Maoismus bis zum in der Ära nachder Entkolonialisierung wichtigen »Entwicklungsnatio-nalismus« sowie einem heute praktisch vergessenen pea-santism. Oft schien die Populismus-Diagnose mehr mitden politischen Sorgen und Ängsten der Wissenschaftlerzu tun zu haben als mit jenen empirischen Phänomenen,die mit dem Begriff »Populismus« auf einen Nenner ge-bracht werden sollten; gleichzeitig schleppte das Wort»Populismus« schon damals allerlei historischen Ballast(wie eben die Idee einer Verbindung zur »Bauernschaft«)und normative Konnotationen mit sich herum. Das giltbis heute.

Was bisweilen »conceptual stretching« oder »Begriffs-überdehnung« genannt wird, ist wissenschaftlich proble-matisch, denn es erschwert die Erkenntnis; man bekommtdie Phänomene nicht zu fassen.12 Es ist aber auch poli-tisch heikel. Denn zumindest in Europa gilt: Wer einemanderen das Etikett »Populist« ankleben kann, hat poli-tisch schon viel gewonnen. Das Publikum assoziiert denpolitischen Gegner dann automatisch mit Figuren wieJean-Marie Le Pen oder Jörg Haider,vor denen viele Bür-ger – sogar viele, die irgendwie Protest zum Ausdruckbringen wollen – am Ende doch eher zurückschrecken.In den Populismusbegriff lassen sich alle möglichen ideo-logischen Versatzstücke hineinschmuggeln. So werdenbeispielsweise Orbán, Kaczynski und Podemos über ei-nen Kamm geschoren, indem man behauptet, alle spiel-ten auf der »sozialistisch-nationalen Klaviatur, wobeidie einen mehr die schwarzen (nationalen) und die ande-

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ren mehr die weißen (sozialistischen) Tasten einsetzen«,immermiteiner scheindemokratischenLegitimation.Vondieser Gleichsetzung von Schwarz und Weiß (aber eigent-lich: Rot) ist es dann nicht mehr weit bis zu folgender Lo-gik:

Die Gefahr für Bürgerrechte ist offensichtlich, wenn ein DonaldTrump ein Einreiseverbot für Muslime fordert und osteuropäischeStaatschefs allenfalls noch flüchtige Christen aufnehmen wollen. Sieist aber auch vorhanden, wenn sich demokratisch scheinlegitimierteMehrheiten daranmachen, Minderheiten zu drangsalieren. Dazu ge-hört die Umverteilung von Einkommen und Vermögen im Namender »sozialen Gerechtigkeit«.13

Der Populismusbegriff erlaubt es hier plötzlich, auch diearmen Reichen unter die Kategorie »verwundbare Min-derheiten« zu subsumieren. Dabei gab es doch bereits –selbst in Lateinamerika, dem angeblichen Paradies derlinken Umverteilungsenthusiasten – neoliberale Populis-ten wie den peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori;ja sogar ein nomineller Nachfolger des ErzpopulistenJuan Perón, der argentinische Präsident Carlos Menem,ist als »neoliberaler Populist« bezeichnet worden.14 Weit-gehend vergessen ist auch, dass der Front National ein-mal marktliberal (sogar proeuropäisch!) war; dasselbegalt einst für die norditalienischen Ligen. Über den Popu-lismus wurde schon oft gesagt, es handele sich um ein»Chamäleon«: Was politische Inhalte und begrifflicheEinrahmungen anbelangt, scheint praktisch alles möglichzu sein – anything goes.15

In diesem Essay soll ein präziser Begriff – oder, wennman so will: Idealtyp im Sinne Max Webers – entwickeltwerden, der zur Unterscheidung real existierender poli-

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tischer Phänomene tauglich ist. Die demokratietheoreti-schen und historischen Hintergrundannahmen sollendabei allerdings, ich habe oben bereits darauf hinge-wiesen, nicht so spezifisch sein, dass sich mit dem hierofferiertenbegrifflichen Fernrohr nurauseinerganz spe-ziellen normativen Warte etwas erkennen lässt. MeineHoffnung ist, dass die ersten beiden Kapitel einerseitszum Verständnis dessen beitragen, was Populisten den-ken und sich unter erfolgreicher Politik vorstellen, unddabei andererseits die Idee plausibel machen, dass Popu-listen, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, durch-aus auch in ihrem Sinne erfolgreich regieren können.Gleichzeitig soll deutlich werden, warum ich mir dasstarke Urteil erlaube, Populismus sei der Tendenz nachimmer antidemokratisch – und nicht nur eine Ideologie,deren Vertreter, wie man häufig hört, es mit der doch ei-gentlich urdemokratischen Idee einer direkten Vollstre-ckungdes Volkswillens einwenig übertrieben,weswegendann die Liberalen immer jammerten. Dabei seies in neo-liberalen Zeiten durchaus in Ordnung, wenn der Libera-lismus gelegentlich etwas Gegenwind bekomme oder zu-rückgedrängt werde.

Insbesondere soll in diesem Essay Folgendes gezeigtwerden: Der Populismus ist der Schatten der repräsenta-tiven Demokratie; er ist ein spezifisch modernes Phäno-men. Im Athen der Antike gab es keinen Populismus.Demagogie sehr wohl,Volksverführer aller Art, die einewankelmütige Masse von Mittellosen zu unvernünftigerPolitik verleiten konnten, aber keinen Populismus.Popu-listen behaupten: »Wir sind das Volk!« Sie meinen je-doch – und dies ist stets eine moralische, keine empi-

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rische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politischeKampfansage): »Wir – und nur wir – repräsentieren dasVolk.« Damit werden alle, die anders denken, ob nun Ge-gendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete imBundestag, als illegitim abgestempelt, ganz unabhängigdavon, mit wie viel Prozent der Stimmen ein offiziellerVolksvertreter ins Hohe Haus gewählt wurde. Alle Po-pulisten sind gegen das »Establishment« – aber nicht je-der, der Eliten kritisiert, ist ein Populist. Populisten sindzwangsläufig antipluralistisch; wer sich ihnen entgegen-stellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruchbestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk.Demokratie ist ohne Pluralität jedoch nicht zu haben;wie Jürgen Habermas es einmal kurz und bündig formu-lierte: Das Volk »tritt nur im Plural auf«.16 Und Demo-kratie kennt am Ende nur Zahlen: Die Stimmanteile ent-scheiden darüber, wer die Bürger repräsentiert (in denWorten Claude Leforts: Mit der Demokratie tritt dieZahl an die Stelle der Substanz). Das mag wie eine Bana-lität klingen, ist aber von entscheidender Bedeutung inAuseinandersetzungen mit Populisten, die behaupten,den Willen des Volkes zu repräsentieren und zu vollstre-cken – in Wirklichkeit jedoch eine symbolische Repräsen-tation des angeblich »wahren Volkes« instrumentalisie-ren, um demokratische Institutionen, die dummerweisenicht von Populisten dominiert werden, zu diskreditie-ren. Aus all diesen Gründen folgt das Urteil, dass Popu-listen zumindest der Tendenz nach antidemokratischsind.

Dieses starke Urteil macht es dann aber auch notwen-dig,Vorschläge zu der Frage zu präsentieren,wie manmit

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Populisten in der Praxis umgehen soll – was dann im drit-ten und letzten Teil des Essays geschieht. Auch diese De-batte ist bekanntlich nicht ganz neu: Seit vielen Jahrenschwanken die Empfehlungen zwischen zwei Optionenhin und her: einerseits der Strategie, Populisten kon-sequent auszugrenzen, andererseits der Vorstellung, eskönne sinnvoll sein, Themen und politische Rezepte derPopulisten selektiv zu übernehmenund so ihren Einflusszu verringern. Für beide Vorgehensweisen gibt es erfolg-reiche Beispiele, die allerdings oft aus dem spezifischenhistorischen und kulturellen Zusammenhang gerissenwerden. Ich möchte vor allem normativ fragen, auf wel-che Weise man sich mit Populisten auseinandersetzenkann, ohne ihre Selbststilisierung, sie würden von libera-len Eliten diskriminiert, noch zu verstärken.

Es ist ein Fehler, so meine These, den Populismus zupsychologisieren. Im Hinblick auf Populistengilt: An ih-rem moralischen Alleinvertretungsanspruch – und nichtan ihren Gefühlslagen – sollt ihr sie erkennen. Wer vonvornherein meint, die Anhängerschaft der Populistensetze sich allein aus Modernisierungs- und Globalisie-rungsverlierern mit all ihren vermeintlichen »Ressenti-ments«, »Sorgen« und »Ängsten« zusammen, macht essich zu leicht. Politik verkommt hier zur Gruppenthera-pie – und man braucht eigentlich gar nicht zuzuhörenoder die Argumente der anderen für bare Münze neh-men, da ja ohnehin nur diffuse »Ängste« zum Ausdruckgebracht werden. Man darf denen, die Verteidiger derDemokratie sein wollen, durchaus zumuten, sich auf Au-genhöhe mit den Populisten auseinanderzusetzen (an-statt sie von oben herab therapieren zu wollen oder es gar,

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