88
Platons Timaios und Kants Übergangsschrift Erwin Sonderegger

Sonderegger, Erwin - Platons Timaios Und Kants Übergangsschrift

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Erwin Sonderegger. Zu Platonismus und Neuplatonismus

Citation preview

  • Platons Timaios und Kantsbergangsschrift

    Erwin Sonderegger

  • Inhaltsverzeichnis

    1 Einfhrung 5

    2 Gliederung des Timaios 112.1 Allgemeines zur Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.2 bergreifende Gliederung: Staat Timaios Kritias . . . . . . . . . . 132.3 Interne Gliederung des Timaios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

    2.3.1 Gliederung nach Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152.3.2 Gliederung des Vortrags nach internen Gliederungshinweisen . 16

    2.3.2.1 bersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162.3.2.2 Erste Vorbereitung und erster Durchgang . . . . . . . 202.3.2.3 Zweite Vorbereitung und zweiter Durchgang . . . . . 24

    2.4 Was ergibt sich fr den Inhalt aus der Gliederung? . . . . . . . . . . . 37

    3 Kant 393.1 Frhe naturwissenschaftliche Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413.2 Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433.3 Metaphysische Anfangsgrnde der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . 493.4 bergangsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    4 Bezge zwischen Platons Timaios und Kants Werken 69

    Anhang 1 74

    Anhang 2 77

    3

  • Inhaltsverzeichnis

    Zitierte Literatur 80

    4

  • 1 Einfhrung

    Platons Timaios ist ein vielfltiges Werk, viele Themen werden berhrt (nach heutigenBegriffen naturwissenschaftliche, Kosmologie, Astronomie, Elemente, Mathematik undGeometrie, Medizin, Physiologie, Sinneswahrnehmung, Krankheit, aber auch Begriff-liches wie Identitt und Differenz, Geschichtliches, Theologisches), die entsprechendvielen verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind. Und der grsste Teil der ganze Vor-trag des Timaios wird als Mythos oder als bezeichnet; beides bezeichnetirgendwie einen Unterschied gegenber der schlicht wahren Rede.1

    Vieles in diesem Werk ist seit Langem umstritten. Wie ist der Demiurg zu verstehen? Ister mit dem

    "Unbewegten Beweger\ ein Ausdruck, der bei Aristoteles allerdings gar

    nicht vorkommt! zu identifizieren? Ist er ein Vorlufer des christlichen Schpfergottesoder nicht? Ist er eine Chiffre fr etwas anderes? Wie weit ist sein

    "Schaffen\ wrtlich zu

    nehmen, oder ist das nur die Verkleidung eines auch in eigentlicher Rede ausdrckbarenGedankens? Wie ist der Mythos und der zu verstehen? Ist er bersetzbarin einen Klartext? Was bedeutet , Chora? Fr die einen ist es so klar der Raum(Natorp, Cornford), wie fr andere die Materie (Brisson), fr nochmals andere etwasbeidem hnliches (Miller) doch was? Schon Aristoteles hat die Chora in die Nhe vonTopos und Hyle gerckt doch ist auch Hyle bei Aristoteles nicht das, was wir heuteunter Materie verstehen, es ist ein Seinsbegriff. Was ist von den zwei Arten von Grnden zu halten?2

    1 Timaios kann sich auf seine Rede sowohl mit (z. B. 29d2, wo er seine ganze fol-gende Rede damit bezeichnet) als auch mit (30b7) beziehen.

    2 Sehr viele beziehen diesen Unterschied auf die Stelle im Phaidon, 98ab; Anaxagoras stelle zwar dieThese auf, alles sei durch den geordnet, in der konkreten Durchfhrung erscheine dieser aber gar

    5

  • 1 Einfhrung

    Diese Unterscheidung scheint sehr wichtig zu sein, namhafte Interpreten (Cornford, ihmfolgend Brisson) benutzen sie zur Gliederung des Dialogs. Ist die Reduktion der Ele-mente auf die Platonischen Krper, die Reduktion dieser auf Dreiecke, ein Vorlufermoderner berlegungen zu theoretischen Physik?

    Was ist die Hauptfrage oder auch die Hauptthese des Timaios? Die Antike hat aus demDialog ihre Physik bezogen oder den Text wenigstens in der Gliederung Logik Physik Ethik der Physik zugewiesen. Immerhin enthlt der Text selbst einen Hinweis auf seineHauptfrage (26e): Was ist der Grund der gewordenen Welt? Und im Einleitungsgesprchwird auch ein Programm entwickelt, wie diese Frage zu behandeln sei: Die gewordeneWelt soll

    "vom Werden des Alls bis zum Entstehen der menschlichen Natur\ besprochen

    werden. Auf dieses Ziel wird am Schluss (9092), das Programm aufgreifend, Bezuggenommen, doch ist inzwischen soviel anderes thematisch geworden, dass es nicht leichtist, die Stringenz des Weges von Anfang bis zum Schluss zu durchschauen.

    In neuerer Zeit ist auf den Parallelismus der Ordnung des Kosmos und der ethischenOrdnung hingewiesen worden (Cornford, Gadamer). Guthrie hlt (History, V 247, nachihm auch andere, wie z. B. Frau Neschke-Hentschke, in Rcption), den Nachweis dafr,dass und wie Geist und Natur oder Krper und Geist zusammenwirken knnen, fr denKern der Sache.

    Der Timaios und seine Rezeption machen uns verlegen durch die Flle bereits auspro-bierter Interpretationsanstze, die von diesem oder jenem als zentral betrachteten Inhaltoder von einer bestimmten Hauptthese ausgehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass siealle etwas Richtiges erfasst haben. Auf der anderen Seite ist es unplausibel, dass diesedurch etwas noch Neueres und noch Originelleres berboten werden knnten. Das wrenur der Optimismus der schlecht Informierten.

    Ich gehe hier einen anderen Weg. Es soll nur das zu Grunde gelegt werden, was an Glie-derung fassbar ist. Zur Gliederung gehrt auch die Einordnung des Dialogs in die Reiheder Dialoge vom Staat bis zum Kritias. Diese Einbettung wird ergnzt durch die Glie-

    nicht mehr.

    6

  • derung des Timaios selbst, die sich auf die Gliederungshinweise im Text sttzt, nichtauf inhaltliche Vermutungen. Solche Hinweise sind sehr deutlich im Text und auch hin-reichend zahlreich, um den Zweck zu erfllen. Erst wenn die Gliederung erfasst ist, solldie inhaltliche Diskussion einsetzen. Auf diesem Weg soll die Antwort darauf gewon-nen werden, in welchem Sinne die Frage nach dem Grund der gewordenen Welt gestelltwird.

    Diese Frage interessiert notwendig alle, und mehrere Wissenschaften tragen zu ihrerBeantwortung bei. Auch die Religionen geben darauf eine Antwort. Eine davon ist dieThese des Schpfergottes und der Erschaffung der Welt ex nihilo. Nun ist allerdings auchdas diese einfache These schon hinreichend alt, um in unterschiedlicher Weise gedeutetworden zu sein, so dass auch sie nicht mehr einfach bleibt. Doch primr halten sich wohlAstrophysik, Kosmologie fr zustndig. Als Hterin der Begriffe denkt natrlich auchdie Philosophie daran, zur Frage einen Beitrag leisten zu knnen.

    Ich gebe einen Vorblick auf das Resultat.

    Die Untersuchung zur Gliederung des Timaios wird zum Resultat haben, dass der Vor-trag des Timaios in zwei Teile zerfllt, beide mit je einer Einfhrung und einer darauffolgenden Durchfhrung desselben Themas, einmal rein noetisch, das zweite Mal unterden Bedingungen der Chora.

    Es wiederholt sich im Timaios also die Unterscheidung, die schon zwischen dem Staat("der Staat in Ruhe\) und dem Kritias (

    "der Staat in Bewegung\) besteht. Dasselbe The-

    ma wird rein unter Bedingungen des betrachtet und dann nochmals unter mundanenBedingungen. Das gemeinsame Thema ist die Struktur des Kosmos im Ganzen (als einordnendes Schaffen des Demiurgen und der von ihm eingesetzten Gtter erzhlt) bisman zum Systempunkt Mensch gelangt ist. So enthlt der Timaios eine gleichsam rei-ne Theorie der Natur, eine Physik im antiken Sinne, und eine Theorie der Natur untermundanen und konkreten Bedingungen, eine Physik im modernen Sinne.

    Es geht im Timaios also weniger als die meisten meinen darum, die Konstruktion oderdas

    "Herstellen\ des Kosmos verstndlich zu machen oder gar zu beweisen, seine causa

    7

  • 1 Einfhrung

    efficiens zu finden und dergleichen, als vielmehr darum, das Sein und die Struktur desKosmos und seiner Teile bis eben auf die Natur des Menschen darzustellen, undzwar einmal auf rein noetischer Grundlage, und dann nochmals unter Bercksichtigungdes Konkreten und Faktischen.

    Da fllt es auf, dass dieser selbe Unterschied nochmals, ganz anderswo in der Philo-sophiegeschichte, auftaucht, bei Kant. Die These dieser Arbeit lautet, dass zwischenden Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft und der bergangsschrift(entweder mit dem Opus Postumum identifiziert oder als Teil von diesem verstanden)derselbe Unterschied besteht, wie zwischen dem ersten Teil und der Einfhrung zumzweiten Teil des Vortrags des Timaios, und dass er auch dieselbe Intention verfolgt . Eshandelt sich in beiden Fllen um den bergang von einem noetischen Kosmos zu einermundanen Physik, die die faktischen Bedingungen der Erfahrung miteinbezieht. Kantspricht seine Intention im Titel aus, der, wenn das Werk fertig geworden wre, einen Ti-tel der Art bergang von den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaftzur Physik bekommen htte.3 Die bergangsschrift soll explizit den Zusammenhangzwischen den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft und der empi-rischen Physik aufzeigen und so den Abschluss des Wissens ber die Natur bilden. Indieser Weise wird die Physik im Sinne der modernen Physiker artikulierbar.

    Zu diesem Zweck stellt Kant die Frage, wie ein bergang mglich sei zwischen zweiFeldern (oder

    "Territorien\) des Wissens, die ihren Prinzipien nach verschieden sind,

    eben zwischen den metaphysischen Anfangsgrnden, deren Prinzipien a priori sind,und der Physik, deren Prinzipien empirisch sind. Der hier erforderliche bergang musseine Brcke ber die Kluft dieses prinzipiell Unterschiedenen schlagen (XXII 244,4). ImZentrum seiner berlegungen steht dabei der Begriff der Materie und der Bewegung, wie

    3 Die meisten usserungen Kants zum bergang und dem, was damit zusammenhngt, sind in denBnden XXI und XXII der Akademieausgabe zusammengestellt. Da diese, wie gesagt, total chaotischist, sind Versuche notwendig, aus der Sammlung ein geordnetes Buch zu machen oder wenigstensdas Material inhaltlich zu ordnen, wie es schon Erich Adickes, Kants Opus postumum, Berlin 1920,getan hatte, viele weitere folgten, siehe Giovanni Pietro Basile, Kants

    "Opus postumum\ und seine

    Rezeption, Kantstudien-Ergnzungshefte, Band 175, De Gruyter, Berlin 2013. Eine schlanke Ausgabedes von Kant noch am Weitesten zur Herausgabe vorbereiteten Text, der Vorrede und dem

    "bergang

    114,\ nach den Vorbereitungen von Ingeborg Heidemann von Gregor Bchel herausgegeben, Olms,Hildesheim 1996.

    8

  • schon in den frhen naturwissenschaftlichen Schriften. Kant sieht die Mglichkeit derRealisierung und die Verwirklichung der Bewegung im Aether bzw. im Wrmestoff.4

    Dieser bildet die erforderliche Brcke ber die Kluft, indem er zugleich, als Bedingungmglicher Erfahrung, a priori ist, und, weil er die Erfahrung nicht als Prinzip, sondernsofern sie faktisch ist, begrndet, empirisch ist. Im absolut leeren, rein geometrischen,Raum ist keine Erfahrung mglich. Fr unsere konkrete menschliche Erfahrung brauchtes einen Naturraum.5 Und die Grundlage fr diesen ist der ther bzw. Wrmestoff.

    Entsprechend meint auch die bei Platon den Naturraum, in dem die Krfte wirkenund in dem die Dinge sich darstellen. Insofern steht dem geometrischen Raumgegenber.

    "Mit \ heisst

    "unter Naturbedingungen.\ Soweit im ersten Teil des

    Vortrags der Raum eine Rolle spielt, ist es der geometrische euklidische Raum.6

    Deshalb gehrt nicht nur die Parallelitt des Verhltnisses zwischen dem ersten Teil desTimaios und der Einleitung zum zweiten Teil, verglichen mit dem Verhltnis der MANzur bergangsschrift und den zwei Werken Kant zur These, sondern auch, dass die bei Plato strukturell und funktionell dem Wrmestoff bzw. dem ther bei Kantentspreche. Schliesslich, drittens, haben beide pointiert darauf hingewiesen, dass derStatus dieses vermittelnden Quasi-Stoffs hybrid und die Rede davon problematisch undbefremdlich sei.

    4 Fr dessen Existenz werden Beweise versucht. Z. B. XXI 609-615; XXI 216,12-217,22; 222-226;226-233. - Cf. V. Mathieu, Kapitel IV; B. J. Edwards, Der Aetherbeweis des Opus postumum undKants 3. Analogie der Erfahrung, in: bergang, 1991, 77-104; A. Rueger, Brain Water, the Ether,and the Art of Constructing Systems, in: Kant-Studien 86, 1995, 26-40.

    5 Z. B. XXI 216,15; 229, 15.6 Wenn ich das bei Einstein richtig verstanden habe, hat durchaus auch der Naturraum primr eine Geo-

    metrie, weil die Natur generell metrische Eigenschaften hat, doch ist es nicht die euklidische Geome-trie, sondern eine, wovon diese nur ein Spezialfall ist.

    9

  • 2 Gliederung des Timaios

    2.1 Allgemeines zur Gliederung

    Wir wenden uns nun der Gliederung zu, wobei wir bei der ussersten beginnen und vonda schrittweise zur dialoginternen gehen. Die ussere Gliederung, also der Bezug desTimaios zu anderen Dialogen, ist einfach zu erreichen und drfte wenig der Kontroverseausgesetzt sein, denn sie wird selbst am Anfang des Dialogs thematisiert.

    Die innere Gliederung bedarf eines Kriteriums oder mehrer Kriterien. Jeder Text muss,je nach dem, zu welchem Zweck er gelesen wird, nach sehr unterschiedlichen Gesichts-punkten betrachtet werden, entsprechend sind fr Texte mehrere Gliederungskriterienmglich und sie knnen vom Methodischen her sehr unterschiedlich sein. Diese Unter-schiede richten sich nach dem Erkenntnisziel.

    Sehr oft wird ein prsumptiver Inhalt als Kriterium der Gliederung genommen. So auchbeim Timaios. Weil die meisten modernen Interpreten den Timaios vor dem Hintergrundder Unterscheidungen von zwei Grnden im Phaidon verstehen wollen, gliedern sie denDialog bzw. den Vortrag des Timaios in jenen Teil, in dem er von noetischen Grndenund in jenen Teil, in dem er von den Zwangsgrnden zu sprechen scheint.1 Das scheinteben dem zu entsprechen, das Sokrates im Phaidon im Zusammenhang mit Anaxago-ras problematisierte: Was fr Grnde sollen angefhrt werden, dafr, dass er, Sokrates,jetzt im Gefngnis sitzt (98cff.)? Anaxagoras habe, sagt Sokrates, versprochen, noetische

    1 Der Timaios erflle die enttuschte Hoffnung auf eine Erklrung der Natur aus der Vernunft, meintz. B. J. E. Moncada, Chora und Chronos, Wuppertal 1995; hnlich aber auch viele andere.

    11

  • 2 Gliederung des Timaios

    Grnde vorzustellen, aber in der faktischen Durchfhrung seines Werks seien lediglichkrperliche Grnde angefhrt worden, die noetischen werden noch vermisst. Natrlichknne man sagen, dass er, Sokrates, im Gefngnis sitze, weil er einen Krper habe, deraus Knochen und Sehnen bestehe und er sich so und so bewegt habe, doch das sei ebennicht die Pointe. Er sitze hier, weil es den Athener besser geschienen habe, dass er ver-urteilt werde. Dies sei der eigentliche Zweck seines Hierseins, das andere sei lediglicheine unerlssliche Bedingung. Zu den zwei Teilen, die diese zwei Arten von Grndenbehandeln, komme ein dritter Teil hinzu, in dem gezeigt werde, dass und wie die beidenverschiedenen Grnde

    "zusammenarbeiten.\ Neben inhaltlichen Kriterien werden zur

    Gliederung platonischer Dialoge auch gerne Gliederungen nach den sprechenden Perso-nen beigezogen, beispielsweise im Gorgias: Nachdem alle Personen miteinander in derEinleitung gesprochen haben, gliedert sich der Dialog leicht in das Gesprch zwischenPolos und Sokrates, in das zwischen Gorgias und Sokrates, worauf nochmals Polos dasWort ergreift, der aber von Kallikles abgelst wird, da dieser meint, Polos sei Sokratesnicht gewachsen. Der Dialog schliesst mit dem Mythos, den Sokrates erzhlt. Doch ge-rade hier zeigt sich, dass die Gliederung nach Personen zwar sehr objektiv und praktischist, jedoch gerade nicht mit der thematischen zusammenfllt. Oft dienen die Personen-wechsel dazu, einem Thema einen neuen Dreh zu geben, das Gesprch auf ein neuesNiveau zu heben, aber oft nicht mit dem Beginn des Gesprchs mit der neuen Person,sondern in seinem Verlauf.2

    Fr die innere Gliederung werde ich in diesem Falle keines dieser Kriterien verwen-den, sondern einzig und allein die gliedernden Hinweise im Text selbst. Davon gibt esgerade im Timaios hinreichend viele, wie wir sehen werden, und, eine der wichtigstenGliederungen wird mit der usseren in ihrem Sinn bereinstimmen.

    2 Siehe E. Sonderegger, Zur Funktion des Personenwechsels im Gorgias, Museum Helveticum, 69(2012, 129139).

    12

  • 2.2 bergreifende Gliederung: Staat Timaios Kritias

    2.2 bergreifende Gliederung: Staat Timaios Kritias

    Im Einleitungsgesprch des Timaios wiederholt Sokrates ein frheres Gesprch ber denStaat. Wir brauchen uns nicht darum zu kmmern, ob das Referat sich genau auf den Dia-log Staat bezieht oder auf ein anderes Gesprch, das uns nicht vorliegt,3 denn Sokratesgibt selbst an, was die Hauptpunkt dieses Gesprchs im jetzigen Zusammenhang seinsoll: es sei ein Gesprch ber den

    "Staat in Ruhe\ gewesen, dem nun ein Gesprch ber

    den"Staat in Bewegung\ folgen soll. Mit dem ersten Ausdruck meint Sokrates offen-

    sichtlich den Staat als System, als"Idee,\ und das erfasst ja wohl den Sinn des Dialogs;

    es wurde die Ordnung des Staates als Abbild der Ordnung der Seele dargestellt. Diestndische Ordnung wiederholt sowohl in Funktion als auch in Wrde die Ordnung derFunktionen der Seele. Mit dem Ausdruck

    "Staat in Bewegung\ meint Sokrates ebenso

    offensichtlich den Staat in seiner faktischen, mundanen Realisation.

    Die Frage richtet sich also darauf, wie ein der Idee nach konzipierter Staat hic et nuncrealisiert werden kann, oder, was fr neue Bedingungen zu bercksichtigen sind, wennman nicht mehr nur vom rein noetischen oder eidetischen Staat, sondern vielmehr vomwirklichen Staat im mundanen Sinn reden will.

    Diese Darstellung will Kritias geben, indem er erzhlt, was sein 90-jhriger und gleich-namiger Vorfahr ihm, dem damals 10-jhrigen Knaben von den Erlebnissen Solons ingypten erzhlt hat. In dieser Erzhlung zeigt sich die Leistung Athens im Krieg gegenAtlantis als Beispiel dafr, wie ein Staat sich in einer konkreten Situation bewhrt.

    ber den Inhalt dessen, was Hermokrates danach vorzubringen hat, wird noch nichtsgesagt. Der Dialog Kritias ist ja bereits unvollendet geblieben, der Hermokrates soweitwir wissen, berhaupt nicht begonnen. Viele denken, das 10 Buch der Gesetze htte am

    3 Mir scheint der Bezug auf den Staat wahrscheinerlicher. Immerhin bezieht sich Sokrates auf ein gest-riges Gesprch, und, wozu sollte Platon ein neues, nur leicht anderes Gesprch erfinden? Und schliess-lich, auch wenn der Bezug auf den Dialog Staat gemeint ist, ist ebenso klar, dass Platon, Sokrates undweitere des fteren ber den Staat gesprochen haben.

    13

  • 2 Gliederung des Timaios

    ehesten seinem Inhalt entsprochen. In meine Gliederung beziehe ich ihn nicht mit ein.

    Doch soll die Erzhlung des Kritias nicht sogleich erfolgen, denn Kritias meint (27ab),dass sie erst dann mglich sei, wenn die Herkunft und Entstehung des Menschen klargeworden sei. So ergibt sich ein Ablauf der Erzhlung, der von dem allerersten Anfangberhaupt, dem Anfang der Welt, zum Anfang des Menschen schreite, von diesem zu denTaten der Athener in unvordenklicher Zeit, der dann eben das Beispiel fr den Staat inBewegung wre. Sokrates gibt sich damit zufrieden und so beginnt Timaios mit seinemVortrag.

    Somit lsst sich der Gedankengang vom Staat bis zum Kritias wie folgt darstellen.

    Zuerst wird der Staat in eidetischer Form dargestellt, nach der Analogie zur Gliederungder Seele. Dem harmonischen Ineinander von vernnftigen, muthaften und begehrlichenFunktionen entspricht das Ineinander der Stnde im Staat. Sein Wesen, die Gliederungseiner Funktionen, die Organisation und Einrichtung des Zusammenlebens im Einzel-nen sind aber nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern aus der Analogie zur Seelededuziert.4

    Da ist es natrlich naheliegend und von grossem Interesse zu fragen, ob das eidetischeDeduzierte sich in der mundanen Wirklichkeit bewhren kann. Das msste ja wohl derZweck der eidetischen Deduktion sein. Htte diese nichts zu tun mit dem, was uns um-gibt, bliebe sie mssiges Spiel. Eine der Funktionen der Idee und des Modells musssein, uns das Vorhandene verstndlich zu machen. Dass dies der Fall ist, soll sich ausder Erzhlung des Kritias ber Ur-Athen ergeben.

    Mit dem Staat in concreto kommt das Konrete berhaupt ins Spiel. Das durfte in dereidetischen Betrachtung noch keine Rolle spielen, wohl aber jetzt. Deshalb ist zwischender Darstellung des eidetischen und des faktischen Staates die Einfhrung des Faktischenoder Konkreten berhaupt, der mundanen Welt (wenn man so sagen darf), des mundussensibilis notwendig. Und dies bernimmt Timaios.

    4 Woher wir die Gliederung der Seele kennen, ist eine andere Frage.

    14

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    Vom eidetischen Staat ber die Einfhrung der konkreten Welt bis zum Eintreten desMenschen ist der bergang zum konkreten Staat mglich. Das Eintreten des Men-schen ist aber nicht historisch oder prhistorisch oder sonst in einer solchen Weise zuverstehen. In seinem Vortrag erzhlt Timaios zwar eine Geschichte, aber nicht im Sinneder Historie. Seine Geschichte ist, wie bei Hesiod die Genealogie der Gtter, ein Mittelfr die Darstellung systematischer, eidetischer Zusammenhnge. Deswegen meint derSatz (27a)

    ,

    "zuerst will ich vom Werden des Kosmos reden, um dann zuletzt auf die

    Natur des Menschen zu kommen\

    nicht die historische oder prhistorische Einfhrung des Menschen, sondern er sprichtdie Frage an, an welchem Systempunkt des Konkreten, Faktischen, Mundanen die Naturdes Menschen ihren Platz habe. Die Richtungsangabe, die in liegt, ist wederrtlich noch zeitlich gemeint, sondern systematisch vom Allgemeinen (die Welt im Gan-zen) zum Besonderen und Einzelnen (in diesem Falle, zur Natur des Menschen). Der denKosmos erschaffende Demiurg dient wie die Gtter bei Hesiod der Exposition einer un-zeitlichen Struktur.

    2.3 Interne Gliederung des Timaios

    2.3.1 Gliederung nach Personen

    Die Gliederung nach Personen ergibt im Timaios ein sehr einfaches Bild. Sokrates sprichtzuerst (1720), in der Hauptsache, um das gestrige Gesprch ber den Staat zu referie-ren, in dem er selbst die Hauptarbeit geleistet hatte, wofr er jetzt gerne eine Entschdi-gung htte in der Darlegung des

    "Staates in Bewegung.\ Kritias (2027) entspricht dem

    Wunsch gerne, er gibt gleich einen Vorblick auf das, was sie erwartet und sagt auch,woher er seine Kenntnis habe. Da aus seiner Darstellung folgt, dass vor seinem Berichtber Ur-Athen der konkrete Kosmos soweit besprochen werden mssen, bis der syste-

    15

  • 2 Gliederung des Timaios

    matische Ort der Natur des Menschen darin klar werde, hlt Timaios seinen Vortrag (derRest des Timaios, 2792).

    Sokrates 1720 Anknpfung an das Gesprch ber den"Staat in

    Ruhe\Kritias 2027 Vorblick, thematische Gliederung im GrossenTimaios 2792 Vortrag ber die Herkunft des Kosmos im Ganzen

    "bis zur Natur des Menschen\

    Die Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung bezieht sich auf die des Sophistes. Dort wurde der Sinn dieser Grundunterscheidung klar, und auch, dassdie reine und blosse ideelle Darstellung von etwas unvollstndig und eigentlich auchundurchfhrbar ist. Kein Seiendes ist nur ruhend und keines nur bewegt. Das Sein desSeienden kann nur durch beide Begriffe zugleich erfasst werden. So also auch beimStaat.

    Die erste Reihe wird gebildet mit der Folge der Dialoge Staat Timaios Kritias. ImTimaios entsteht die oberste Gliederung durch die Personenfolge Sokrates Kritias Timaios. Die Funktion der ersten zwei Personen ist bereits erwhnt, sie hat wesentlichgliedernden Charakter und soll das Programm fr das Folgende entwerfen. So ist jetztauf den umfangreichen Teil, den Vortrag des Timaios, einzugehen.

    2.3.2 Gliederung des Vortrags nach internenGliederungshinweisen

    2.3.2.1 bersicht

    Die Hinweise im Text selbst machen es leicht, den Vortrag des Timaios zu gliedern.In dieser bersicht sollen nur diese Hinweise zum Zweck der Gliederung gesammeltwerden, erst danach, wenn die Gliederung steht, soll der Inhalt etwas genauer betrachtetwerden (siehe 2.3.2.2).

    16

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    Den ersten Hinweis gibt Sokrates (29d), indem er sagt, die bisherigen Ausfhrungen desTimaios (2729) seien gleichsam das Vorspiel gewesen, jetzt msse die Hauptauffh-rung selbst folgen.5 In dieser ist 2730 als Vorbereitung von 3090 als Durchfhrung zuunterscheiden. Davon lsst sich der Schluss abtrennen (90e92), wo Timaios sagt, dasgesteckte Ziel sei nun erreicht und sehr kurz auf weitere Themen hinweist, die im Weite-ren entsprechend zu behandeln wren. Der Neueinsatz bei 30c ist mit der Formulierung markiert.

    Der thematischen Ankndigung (: vom Werden des Kosmos oder von der Natur desAlls bis zur Natur des Menschen, 27bc) ist eine sehr starke formelle Csur beigege-ben, ein Gtteranruf (27c). Nach diesem beginnt der Vortrag. Gtteranrufungen weisenimmer auf einen entscheidenden Abschnitt hin. Seit Homer sind sich die Griechen ge-wohnt, Entscheidendes mit einem Gtteranruf einzuleiten.6 So auch hier. Dem erstenGtteranruf (27c) entspricht ein zweiter (48d), unmittelbar vor der Einfhrung der Cho-ra. Dadurch ergeben sich zwei Hauptteile im Vortrag des Timaios, ein Teil ohne (2748) und ein Teil mit (4890).

    Der Vorspann, von dem Sokrates 29d spricht, exponiert die geltenden Prinzipien undVoraussetzungen fr die folgende Darstellung und stellt die Durchfhrung des Themasauf eine rein noetische Basis. In der ersten Durchfhrung zeigt sich die Welt, wie siegedacht werden muss als . Nur der ist als ordnender Faktor zuge-lassen. Zwar erreicht auch dieser erste Teil das gesteckte Ziel, die Natur des Menschen,aber nur in gewissem Sinne.

    Dies deckt die Reflexion (4648) auf, in die der erste Hauptteil mndet. Timaios wendetseinen Blick auf das bisher Gesagte zurck und stellt fest, dass der allein nicht ge-ngt, die Position des Menschen in der konkreten, faktischen Welt, im mundus sensibiliszu bestimmen. Diese Reflexion (4648) auf das Bisherige (3046) stellt eine deutliche

    5 Der Unterschied stammt aus dem musikalischen Bereich und unterscheidet Vor-spiel oder Einfhrung vom eigentlichen Werk.

    6 Auch, um Entscheidendes abzuschliessen, wie im Symposion, Phaidon, oder im Phaidros 257, wozuKonrad Gaiser,

    "Das Gold der Weisheit, Zum Gebet des Philosophen am Schlu des Phaidros,\ in:

    Rheinisches Museum fr Philologie, (132) 1989, 105140, mit Hinweisen auf weitere Stellen vonGebeten und Anrufungen der Gtter des Sokrates.

    17

  • 2 Gliederung des Timaios

    Csur dar. Sie wird zustzlich markiert durch die Formulierung 47c"jetzt ist nochmals

    von Anfang an zu beginnen,\ 48e durch die Unterscheidung von"damals\ und

    "jetzt,\

    und natrlich am deutlichsten durch den zweiten Gtteranruf 48d.

    Der zweite Teil ist in gleicher Weise wie der erste in einen Vorspann und eine Durch-fhrung geteilt.

    Die Reflexion hat ergeben, dass die in 2730 vorgestellten Prinzipien ergnzt werdenmssen. Als neuer Typ von Bedingung des Werdens tritt auf und, als das Worindes Werdens, die Chora. Dieser zweite vorbereitende Teil reicht von 48 bis 53 und machtden zweiten Vorspann aus. Darauf folgt die zweite Durchfhrung, 53 bis 90, (eingeleitet53c mit ). Es ist nur dieser zweite Vorspann, der mit dem bergangbei Kant verglichen wird, die folgende Durchfhrung ist bereits konkrete Physik.

    Wie in der ersten Durchfhrung (3132) beginnt Timaios auch die zweite mit der Dar-stellung der Elemente, 5368. Es muss erklrt werden, was es mit den Elementen aufsich hat, was ein Element wirklich ist, denn die von den Frheren so genannten Elementesind zu wenig elementar.

    Bei 68 unterbricht eine Rekapitulation des Bisherigen und eine Reflexion auf die zweiArten der Grnde, die jetzt beide bercksichtigt werden mssen, die Darstellung. DieGliederung bestrkend heisst es 69a

    "das Baumaterial liege bereit, wir knnen wieder an

    den Anfang zurck\ (gemeint zu 48b). Bei den zwei Arten von Grnden ist zu beachten,dass es sich dabei nicht um causae irgendwelcher Art handelt (schon gar nicht um diecausa efficiens wer so spricht, begibt sich ins Mittelalter), sondern dass es sich dabeium zwei Typen von Bedingungen der Ordnung handelt, die eine regelt den noetischenBereich, die andere, mit der noetischen zusammen, den mundanen. Es handelt sich beimTimaios insgesamt ja gar nicht um eine konstruktive Idee, um eine Kosmopoiie, sondernHerstellen etc. sind Ausdrucksweisen fr eine systematische Hierarchie oder Struktur.Die ganze Rede von Grnden gehrt zur Form des , 29b als die dem Themaangemessene Redeweise eingefhrt, 48d besttigt.

    Die zweite Durchfhrung des Themas (von der Natur des Alls bis zur Natur des Men-

    18

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    schen), nhert sich ihrem Ziel, der Natur des Menschen. Auch dieser letzte Teil ist noch-mals in zwei ungleiche Teile geteilt, indem zuerst das Seelische besprochen wird (6972), darauf

    "das Weitere,\ , 7290. Am Schluss dieser Errterungen kommt

    Timaios nochmals auf die Seele und ihr Verhltnis zum Krper zurck, auf die Notwen-digkeit ihrer Pflege und ihre unterschiedlichen Funktionen, Themen, die sich auch inanderen Dialogen finden, ebenfalls gerne am Schluss. Timaios stellt ausdrcklich fest,jetzt an dem Punkt angekommen zu sein, der vorgesehen war, und schliesst mit kurzenHinweisen auf weitere Themen, die in diesem Zusammenhang zu errtern wren.

    Damit gliedert sich der Vortrag des Timaios, 2792 wie folgt

    2730 Erste Vorbereitung: geltende Prinzipien und Vorausset-zungen fr das Folgende

    3048 Vortrag Erster Teil: die Welt ohne Chora; rein noetisch4648 Reflexion auf das Bisherige48 Notwendigkeit, die bisherigen Prin-

    zipien zu erweitern4853 Zweite Vorbereitung: die weiteren Prinzipien,

    Einfhrung von und 5390 Vortrag Zweiter Teil: die Welt mit Chora und zwei Arten

    von Grnden5368 die Elemente

    68 Rekapitualtion und Reflexion: ZweiArten von Grnden

    6887 6872 das Seelische7287 das Weitere

    8790 8789 Seele und Krper:brauchen einander

    8990 Sorge um die Seele, ,drei Teile der Seele

    19

  • 2 Gliederung des Timaios

    9092 Hinweis auf weitere Themen; for-meller Abschluss

    2.3.2.2 Erste Vorbereitung und erster Durchgang

    Nach der Gliederung, die sich an entsprechenden Hinweisen im Text orientierte, knnennun die einzelnen Teile etwas nher auf ihren Inhalt betrachtet werden. Wir beginnenmit der ersten Vorbereitung.

    Timaios besttigt zuerst die platonische Grundunterscheidung zwischen dem immer Sei-enden und dem je und je Werdenden. Den zwei

    "Seins\-Weisen entsprechen zwei Wei-

    sen ihrer Erfassung (Zugangsweisen). Das Seiende wird durch er-fasst, das Werdende durch , jenes mit von rationaler Be-grndung begleiteter Vernunft, dieses durch ein von nicht rationaler Wahrnehmung be-gleitetes Meinen.

    Den einen Teil des Unterschiedenen betrifft das Prinzip, dass alles Gewordene zwingendauf Grund von etwas oder durch etwas geworden ist ( ). Der in der Leitfragethematische Himmel ist entgegen allem Anschein dem Gewordenen zuzuordnen,denn er hat sinnlich wahrnehmbare Qualitten. Deshalb muss das eben genannte fr dasWerdende gltige Prinzip auch auf ihn angewandt werden. Als Grund fr das Werdendes Himmels nennt Platon

    "den Demiurgen.\

    Der Demiurg ist keiner der olympischen Gtter, es ist auch sonst kein kultischer Gott,noch ist er in der literarischen Gtterwelt zu Hause. Demiurg bedeutet seit Homer Hand-werker, genauer und allgemeiner,

    "jener, der sich mit ffentlichen Angelegenheiten be-

    fasst.\7 Es werden unterschiedliche Berufe damit bezeichnet, sowohl jene, die wir Hand-werker bezeichnen, als auch solche, die eher geistige Arbeit leisten, wie Seher oder Sn-ger. Spter wird das Wort auch fr Herstellen im bertragenen Sinne verwendet.8 Gene-

    7 Detlef Rssler,"Handwerker,\ in: Soziale Typenbegriffe, Bd. 3, 195, Akademie-Verlag, Berlin 1981.

    8 Euripides, frg 136,4 Nauck Eros ist der Liebesnot, id., frg. 1059,7 Nauck, Gott ist ; bei Platon als im Symposion, 188d, oder

    20

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    rell ist der aber einer tieferen sozialen Schicht zugeordnet. Umso aufflligerist die Verwendung des Wortes fr die Figur, die noch vor den bekannten und verehrtenGttern steht. Platon hat in anderen Zusammenhngen neben diesem Wort noch etli-che andere Wrter synonym verwendet, z. B. , , , doch ist der am hufigsten verwendete Begriff.

    Es scheint, dass Platon fr sein eigentliches Anliegen einen in diesem Bereich mg-lichst wenig fixierten Ausdruck verwenden wollte. Der Demiurg ist nur der Platzhalterfr den Grund, nicht der Klartext, und sogar

    "Grund,\

    "erschaffen\ usw. sind nur Dar-

    stellungsformen zu Handen der Geschichte. All dies dient dazu, die gleichnishafte Redeberhaupt durchfhren und die strukturell gemeinte Geschichte erzhlen zu knnen.

    Es folgt eine fast katechismusartig mit Fragen und Antworten aufgebaute Stelle. Obwohlim Text der Demiurg schon genannt ist, folgt die ausdrckliche Frage: Wie steht es mitdem Grund des Himmels? Die Antwort darauf ist klar, das ist der Demiurg, deshalbschliesst sich sofort eine zweite an: Im Hinblick worauf hat der, der den Himmel gemachthat, ihn gemacht? Denn der Himmel ist offensichtlich ein Gewordenes und insofern auchein Abbild ist ().

    Daran, dass hier von einem Abbild die Rede sein muss, schliesst eine Bemerkung zueinem methodischen Prinzip an: Bei allem, wovon man spricht, muss man den naturge-mssen Anfang finden, so natrlich auch beim Himmel. Der Anfang des abbildhaftenHimmels ist sein Vorbild. Welches, was, wie beschaffen ist dieses?

    Das methodische Prinzip wird ergnzt durch die Frage danach, wie man vom Abbildund insofern vom Werden berhaupt reden knne. Werden verhlt sich zu Sein wieWahrscheinlichkeit () zu Wahrheit. Fr Wahrheit und Sein ist Vernunft, ,Dialektik zustndig, was aber fr Plausibilitt und Werden? Timaios beantwortet die

    als im Gorgias, 453a. Siehe zum Ganzen die eben genannte und vorzgliche Ar-beit von Detlef Rssler, Anm. 7. Als zentrale Bedeutung bei Platon arbeitet er neben

    "Handwerker\

    "Fachmann\ heraus, jener, der auf einem bestimmten

    "Gebiet ttig ist, das er wiklich beherrscht\

    (210), die Entwicklung zur Bedeutung einer gttlichen Schpfermacht (215) ist in Dialogen vor demTimaios schon vorbereitet. Platon verhlt sich mit dem Demiurgen so, wie nach Heraklit der Gott inDelphi: : er gibt nur einen Hinweis, eine Andeutung, DK 22B 93.

    21

  • 2 Gliederung des Timaios

    Frage, indem er sagt, von dem, was Abbild () sei, knne nur in der Weise eines oder eines die Rede sein. Das wird denn auch in der Folgegeschehen.

    Darauf folgt die dritte Frage: Warum hat der Demiurg den Himmel gemacht? Antwort:Weil er gut war.

    Die nchste Frage wiederholt die bereits gestellte zweite Frage (Wie hat er ihn ge-macht?), die nun zum konkreter ausfhrenden Teil berleitet. Timaios gibt gleich dieAntwort selbst: Er hat Ungeordnetheit in Ordnung berfhrt, das ist seine Leistung.

    Darauf wird in grossen Zgen das Werden des Kosmos als Arbeit des Demiurgen dar-gestellt. Wir haben schon gesehen, dass dies eine Darstellungsform fr die unzeitlicheStruktur ist. Ziel des Textes ist nicht die Aussage

    "Der Demiurg hat die Welt geschaffen

    oder verhlt sich zu ihr irgendwie in der Weise einer causa efficiens,\ sondern vielmehr

    "Die unzeitliche Struktur der noetischen Welt soll vermittels einer Erzhlung erfasst

    werden.\

    Auf den unzeitlichen Sinn seiner zeitlichen Darstellung weist Platon / Timaios bei derKonstruktion der Seele ausdrcklich hin (34b1035a1). Die Bemerkung gilt natrlichauch fr den Rest des Vortrags.

    Unter der Optik des wird eine rein gedanklich konstruierte Welt dargestellt. Zudiesem Darstellungsmittel tritt das der Teleologie hinzu. Mit ihrer Hilfe kann Hierarchieund Zusammenhang einzelner Teile der Welt gezeigt werden. Als Beispiel dafr kann dieDarstellung der Elemente dienen, das Feuer hat die Funktion, Sichtbarkeit zu erzeugen,die Erde Tastbarkeit.

    In seinem Gesamtprogramm will Timaios vom Werden des Kosmos den Weg bis zurNatur des Menschen gehen. Auf dem Weg dazu ist zunchst vom Schaffen des Demiur-gen die Rede (2942). Er ordnet das ungeordnet Vorliegende (2934) und gibt ihm eineSeele (3437). Es folgen Bemerkungen zu Aion und Zeit, sowie zu den Gestirnen als denZeitmassen (3740). Diese Gestirne sind von Gttern (den traditionell griechischen) be-

    22

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    setzt, an die der Demiurg sich mit einer Rede richtet und ihnen Auftrge erteilt (4042).Diese fhren seine Auftrge aus (4247), erschaffen die Menschen und versehen derenKrper mit Seelen.

    Bei der Natur des Menschen war zuerst vom Kopf als dem herrschenden Teil die Re-de, davon, wie ihm weitere Gliedmassen beigegeben wurde zur passenden Bewegungauf der Erde. In diesem Zusammenhang wurde die Vorwrtsbewegung thematisch, frwelche die Augen eine hervorragende Rolle spielen. So wurde die Erklrung des Seh-vorgangs motiviert. Zugleich kamen auch gewisse

    "optische Gesetze\ ins Spiel, die das

    Verhalten von Spiegeln (von geraden, aber auch von konvexen oder konkaven) verstnd-lich machen.

    Da hlt Timaios inne: Offensichtlich hat er bei dieser Errterung zuletzt noch von an-derem Gebrauch gemacht, als was in seiner ursprnglichen Liste von Voraussetzungenenthalten war, von sogenannten

    "Mitgrnden,\ d. h. von Grnden, die erst in zweiter Rei-

    he eine Rolle spielen. Diesen stehen primre Grnde gegenber, die sich auf den ,auf Vernunft, sttzen und die die Zweckhaftigkeit von etwas bedenken, wogegen diesekundren Grnde, wie die genannten

    "optischen Gesetze,\ unumgngliche materielle

    Notwendigkeiten darstellen bei der Erreichung eines Zwecks. Um diesen Unterschiedzu erlutern, gibt er gleich am vorliegenden Thema ein Beispiel, indem er den Nutzenund den Zweck des Gesichtssinns, der Stimme und des Gehrs angibt, den die Gttermit diesen Mglichkeiten der menschlichen Natur verfolgten (47).

    Damit ist das Ziel des Vortrags eigentlich erreicht. Timaios hat eine Darstellung dermenschlichen Natur gegeben. Doch hat sich bei diesem Schluss gezeigt, dass die Dar-stellung nur mglich war unter Zuhilfenahme eines Typs von Erklrungsgrund, der ur-sprnglich gar nicht vorgesehen war, die Wirkung des unumgnglichen materiellen Not-wendigkeit ().9 Die Beschreibung dessen, was als Mensch vorliegt, ist mit reinnoetischen Vorgaben nicht zu leisten.

    "Mitursachen\ und

    "durch Notwendigkeit\ Ge-

    9 Platons Notwendigkeit ist nicht zu verwechseln mit der der modernen Physik. In dieser bezeichnet siedas gesetzmssige Verhalten der Naturdinge, bei Platon dagegen das, was die Absicht, das Streben deridealen Realisierung des noetischen Kosmos strt. Auch Aristoteles hebt den Begriff im gleichenSinne wie Platon von der Zweckmssigkeit ab, Physik B 8, 198b1819:

    "es regnet nicht dazu, dass

    das Getreide wchst, sondern aus Notwendigkeit...,\ so auch b24.

    23

  • 2 Gliederung des Timaios

    wordenes mssen miteinbezogen werden. Ohne diese"Notwendigkeit,\ ohne

    "irrende

    Grnde,\ ohne"Zufall\ kommt die Erluterung und das Verstndnis des faktischen Kos-

    mos, des Mundanen, nicht aus.

    So wird 4748 definitiv klar, dass die bisherige Betrachtung, die allem den undnur diesen zu Grunde legte, einer Ergnzung durch die Betrachtung nach dem Gesichts-punkt der Notwendigkeit bedarf. Die Reflexion auf die zwei Arten von Grnden (4748) bekrftigt das und markiert den Neuanfang mit den Worten (47c).

    2.3.2.3 Zweite Vorbereitung und zweiter Durchgang

    Wie manifestiert sich das Problem des bergangs und wie wird es gelst? Das ist jadie Hauptsache im Vergleich mit Kant. Die Durchfhrung der

    "Physik\ bei Platon im

    zweiten Teil ist fr unsere Zwecke nicht mehr sehr wichtig, ihre Betrachtung kann kurzausfallen. Unter Physik ist hier die Darstellung der ganzen natrlichen Welt, angefan-gen bei dem Kosmos und den Elementen, wiederum bis zur Natur des Menschen, zuverstehen.

    Welches sind die Bedingungen des mundanen"seins\ des Noetischen? Denn die Berei-

    che des Aisthetischen und des Noetischen haben ihre je eigenen Gesetze und bedrfeneiner Vermittlung.

    Das Werden kann zwar im Noetischen auch gedacht und begriffen werden,10 doch fak-tisch geschehen kann es da nicht.

    Es besteht ein Unterschied zwischen"einen Kreis denken\ und

    "einen Kreis zeichnen.\

    Das eine gelingt vollkommen, nur der ist daran beteiligt, das andere gelingt nur n-herungsweise, in gewissem Grade, viel Materielles (Zeichenmaterial, meine Hand usw.)

    10 Wie das mglich ist, zeigt beispielsweise Hegel, Wissenschaft der Logik, Erstes Buch, Erster Ab-schnitt, Erstes Kapitel, C. Werden. Auch bei Hegel ist das, wie bei Platon, im Gegenzug zu Parmenidesentwickelt.

    24

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    ist daran beteiligt.

    Die Frage, die jetzt beantwortet werden muss, lautet, welche weiteren Voraussetzun-gen zur Darstellung der mundanen Weise des Weltseins (im Unterschied zur noetischenWeise) notwendig werden.

    Dann ist aber klar, dass dieser Typ von Grund nicht nur den Teil, an dem er zuletzt aufge-fallen ist, bei der Sinneswahrnehmung, sondern auch in der ganzen frheren Darstellungeingefhrt werden muss, wenn ber die noetische Struktur hinaus vom natrlichen Wer-den die Rede sein soll.

    Der neue Typ von Grund bringt eine nderung in der Struktur mit sich: was ndert sichda genau?

    Timaios hat seine Errterungen mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen Sei-endem und Werdendem begonnen, zwischen Urbild und Abbild, zwischen Noetischemund Aisthetischem, verbunden mit dem Grundsatz, dass alles Werdende, alles Aisthe-tische, eines Grundes fr sein Werden bedrfe (27d28a; das Seiende bedarf offenbarkeines solchen Grundes, da es, weil unzeitlich, nicht einmal in der Zeit zu sein anfngt,

    "es war je schon\). Wenn aber das Werdende schlicht als das Nicht-Seiende verstanden

    wird, wird offensichtlich, dass diese Bestimmung mindestens ungengend, wenn nichtberhaupt falsch ist. Zu dieser Einsicht hat der Sophistes gefhrt. Gegen Parmenidesmuss dem Werdenden ein

    "sein\ irgendwelcher Art zugeschrieben werden knnen. Wie

    der strenge Gebrauch von sein von der Art, wie wir eben reden, unterschieden werdenmuss (51c), so auch das sein des Seienden und das

    "sein\ des Werdenden.

    Mit den eben genannten Gegenstzen am Beginn der Rede ist nur Ausgangs- und Ziel-punkt benannt, es ist noch nicht gesagt, wie es vom einen zum anderen kommt, wie dieVermittlung geschieht, was an Sein das Werdende trotz allem hat, inwiefern auch dasWerdende und Gewordene ist.

    Wenn das Werden nicht nur als gedanklich konstruierbarer Prozess (wie etwa eine geo-metrische Konstruktion), sondern als Werden in der Natur betrachtet und begriffen wer-

    25

  • 2 Gliederung des Timaios

    den soll, dann bedarf es eines Dritten.

    Der ganze zweite Teil des Timaios wird von der Frage geleitet, was die vernnftige Redeber natrlich Seiendes mglich macht, denn Sein allein kann das sowenig wie Werdenallein.11 Das bedeutet, dass

    "ein Drittes\ neben Seiendem und Werdendem, neben Sein

    und Werden, gesucht werden muss, das den bergang vom einen zum anderen ermg-licht.12

    Deswegen ergibt sich fr Timaios, dass die Optik erweitert und der ganze Gang vomKosmos bis zur Natur des Menschen nochmals gegangen werden muss. Den Neueinsatzbei 48 kennzeichnen mehrere gliedernde Bemerkungen. 47c ,48d Besttigung des , 48e (gemeint 27d) , und am meistennatrlich der zweite Gtteranruf 48d.

    Zu den anfangs (2729) genannten hinzu bedarf es weiterer Prinzipien und Vorausset-zungen. Diese Ergnzung erfolgt in Timaios 48b53b. Die im Anhang mit mehr Detailsreferierte Stelle wird hier zusammengefasst. Um vom natrlichen Werden sprechen zuknnen, bedarf es neben der Grundunterscheidung zwischen Urbild und Abbild, zwi-schen Denkbarem und Sichtbarem eines Dritten. Dessen Funktion () bestehtdarin, das Werden aufzunehmen ( ,

    "wie eine Amme\). Ich denke,

    das darf verstanden werden als ein Vermitteln des Strukturellen und eigentlich Seiendenmit dem kontingenten hic et nunc. Das Werdende selbst ist unbestndig und in stetemWechsel begriffen. Es bedarf deshalb einer bestndigen Grundlage, die anderer Art istals es selbst, auf der oder an der sich der Wechsel vollziehen kann.

    Einige hielten eines der Elemente oder alle zusammen fr dieses Bestndige. Doch frTimaios sind die Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer nicht elementar genug, dennsie zeigen ja ihrerseits Vernderungen an sich. Es muss etwas

    "vor\ den Elementen und

    auch"vor\ dem Himmel sein (nicht zeitlich, sondern systematisch prioritr). D. h. es

    muss das Erste oder Prinzipiellste fr den Bereich des Werdens sein.

    11 Belege dafr sind die Parmenideskritik im Timaios und die Heraklitkritik im Theaitet.12 Darauf legt Derrida, Chora, Gewicht, dass nicht nochmals ein Seiendes oder Werdendes im

    Seienden oder Werdenden ist.

    26

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    Wenn daran festzuhalten ist und Timaios hlt daran fest , dass das selbst etwasneben dem ist, dessen es ist, ist nicht ein blosser , nur ein Wort, dann isttatschlich dreierlei zu unterscheiden, das , das mit diesem homonyme Werdendeund die vermittelnde .

    In Anhang 2 liste ich in der Reihenfolge des Textes auf (48e52d), was Timaios berChora sagt, hier versuche ich zusammenfassend daraus die systematischen Hauptpunktehervorzuheben.

    Dieses Dritte ist also weder ein Seiendes noch ein Werdendes, sondern"etwas,\ das es

    mglich macht, einzusehen, dass unsere Rede ber natrlich Seiendes, ber Naturdinge,eine gewisse Berechtigung hat, auch wenn wir davon berzeugt sind, dass das eigentlichSeiende nur ideell, nur eidetisch ist.

    Natur und Hauptfunktion dieses Dritten ( ) bestehen darin, das Seien-de mit dem Werdenden zu vermitteln, genauer, aus dem Seienden Werdendes entstehenzu lassen. Das drckt Timaios so aus, dass er sagt, es nehme das Werdende auf, es neh-me die Krper auf, es nehme alle Gestalten und Formen an, ohne selbst irgendwie eineeigene Form zu haben.13 Dadurch kann es dem Werdenden einen

    "Sitz\ anbieten, d. h.

    eine gewisse natrliche Bestndigkeit geben.

    Eigentlich wre wohl den Elementen diese Funktion zugedacht. Doch Platon sieht, dassdiese dazu untauglich sind, weil sie selbst unbestndig sind. Das Dritte jedoch mussbestndig sein, sich immer gleich bleiben, unsichtbar und ohne eigene Gestalt sein (dieElemente haben gut sichtbare Gestalt und Wahrnehmbarkeit). Es muss unvergnglichsein und kann eher als die Elemente ein

    "dieses\ genannt werden.

    Obwohl es bestndig ist, ist es doch immer in Bewegung. Und schliesslich ist es nichtnur dem Elementen gegenber, sondern auch dem Himmel gegenber prioritr.

    Die angegebenen Merkmale des Dritten, das dann mit dem Namen bedacht wird,

    13 Deshalb bersetzt das Aristoteles in der Physik 2 mit .

    27

  • 2 Gliederung des Timaios

    sind zum Teil widersprchlich, auch unter platonischen Vorgaben.14 Im Theaitet bei-spielsweise hat Platon Argumente dafr entwickelt, dass ein

    "sich immer Bewegen\

    unmglich sei, hier soll das Dritte eben diese Eigenschaft haben. Es ist auch nicht ver-einbar, dass etwas sich zwar immer gleich, aber doch ohne Form sein soll.

    Die Art und Weise, wie es erkannt werden kann wenn es berhaupt ohne Form er-kennbar ist ist deshalb auch sehr spezifiziert: es habe in schwer zu sagender Weise am teil und sei erfassbar nur durch einen , durch etwas, was demAnschein nach ein Schluss, etwas Logisches sei, aber genau genommen doch nicht.

    Das Wort fr das Dritte, , ist im Griechischen zunchst ein Alltagswort. Es ist seitHomer gebraucht mit den Bedeutungen Ort, Platz, Stelle, Position, auch Land. AuchPlaton und Aristoteles verwenden es oft gleichbedeutend neben .15 Es msste alsoam meisten mit zu tun haben. Zum Terminus wird es erst in Platons Timaios (cf.die Bemerkung unten, S. 33). Es setzt sich allerdings nicht weiter durch.

    Aristoteles bezieht sich in verschiedener Form und in verschiedenen Zusammenhn-gen auf . Der hufigste und wichtigste Bezug steht im Zusammenhang mit seinenberlegungen zu und . Zudem finden sich auch viele Stellen bei Aristoteles,an denen er von den Eigenschaften spricht, die Platon der zuspricht.16

    Von der spteren Verwendung her wrde sich nahelegen, doch die Bedeutungs-entwicklung hat den Aether bis Kant viel zu weit von seinem Ursprung entfernt, als dassdas von ihm mit diesem Begriff Gemeinte mit dem bei Aristoteles noch etwas zu tunhtte. Zudem verwendet Aristoteles diesen Begriff (ausserhalb von Anaxagoras- oderEmpedoklesreferaten) verhltnismssig selten.17 Der ther passt auch insofern nicht

    14 Ein wichtiger Punkt in der Dissertation von Kyung, 1999.15 Als erste von weiteren Stellen bei Aristoteles z. B. Physik 1, 208b7. Zum etymologischen Umfeld

    von gehren , in Ermangelung von etwas, , ermangeln, bedrfen, , beraubt,, getrennt, ohne.

    16 Siehe Anhang 2.17 Fr die Kreisbewegung der himmlischen Krper bedarf es eines Elements, das andere Eigenschaften

    als die bekannten vier hat. Aristoteles sagt De caelo A 3, um 270b22, man habe dieses Element amhchsten Ort ther genannt. Es ist sehr zu beachten, dass diese Aussage keine These von Aristotelesselbst ist, und, sonfern er doch mit ihr einverstanden ist, sie unter grossen Kautelen steht, 270b1216

    28

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    zur Platons, als jener die Materie oder das Element des Himmels, diese aber dieGrundlage von allem, was hier um uns ist, meint. Die in der Folge wirksam geworde-nen Begriffe wie und quinta essentia sind nacharistotelisch und fallen frunsere Zwecke deshalb ausser Betracht, es bleibt bei und .18

    Um eine Vorstellung davon zu geben, wie bei Aristoteles in der Diskussion der erscheint, kann die Stelle Physik A 59 dienen. Die Konzentration auf eine zusam-menhngende Stelle scheint geeigneter und informativer zu sein als die Zusammenstel-lung einer grsseren Anzahl unzusammenhngender Stellen. Um die Menge der wrtli-chen Anspielungen an den Text des Timaios in seiner eigenen Darstellung zu verdeutli-chen, sind die entsprechenden Stellen des Timaios in Klammer angegeben.

    Aristoteles geht von der Frage aus, was fr Prinzipien, , die Rede vom natrli-chen Werden voraussetze. Den Anfang mache nach Ansicht aller ein Gegensatzpaar,das allerdings von verschiedenen inhaltlich verschieden besetzt werde (A 5). Keine derbeiden Seiten des Paares knne aber aus der je anderen Seite des Gegensatzes, noch ausberhaupt etwas anderem entstehen, sonst wren es keine . Das Werden sei wederbeliebig noch zufllig (A 5, 188a3036), deshalb darf nach Regeln und Gesetzen undPrinzipien gesucht werden.

    Zu den zwei hinzu msse notwendig"ein Drittes\ treten (A 6, 189a2026; Timai-

    os, 48e), da die Gegenstze sich nicht von sich aus in ihr Gegenteil verwandeln knnen,und da der Wandel sich an etwas vollziehen msse, das nicht identisch sei mit einem derGegenstze.19

    Dieses Dritte wird als Verbleibendes (; negativ bezglich der Elemente 49e;weiter 50b), oder als Zugrundeliegendes bezeichnet (, A 7, 190a15; dazu

    "soweit menschliches Wissen zureicht,\

    "jedenfalls in der Vergangenheit sei nichts anderes festge-

    stellt worden.\ Der frheste Beleg fr in Epinomis 981c.18 Was heute immer schwieriger zu begreifen ist, ist nicht Materie und ist nicht Raum.19 Cf. auch Aristoteles, Met. H 6, 3, Physik, A 67, Physik B. In Met. Z 7 formuliert Aristoteles den

    Sachverhalt wie folgt:"Alles Werdende [in der Natur] wird durch etwas, aus etwas und zu etwas.\

    Dem"zu etwas\ entspricht bei Aristoteles der Umschlag aus dem noch nicht so Bestimmten zum so

    Bestimmten, das"durch etwas\ dem im das Gewordene Erzeugenden, das

    "aus etwas\ der .

    In den weiteren Stellen der Anmerkung finden sich hnliche Formulierungen.

    29

  • 2 Gliederung des Timaios

    190b3 ; im Timaios die Beispiele Gold, Modelmasse, Grund-masse fr Salben). Das Werdende sei immer zusammengesetzt. Das Werden unseresKosmos verdankt sich der Mischung der Notwendigkeits- und der Vernunftgrnde (Timaios,47e-48a).

    Aus dem bisher Ausgefhrten leitet Aristoteles den Grundsatz ab (A 7, 190a1720):Wenn es Grnde und Prinzipien fr das Naturseiende gibt, woraus wesentlich (seiner nach) das Naturseiende primr geworden ist, dann wird alles aus Zugrundlie-gendem und Gestalt. Das zu Grunde Liegende, die , verhalte sich zu, , , wie Erz zur Statue, Holz zum Bett usw.

    Fr die"Aporie der Alten,\ wie ein Werden berhaupt begrifflich fassbar sei, da min-

    destens dem Begriff nach kein Seiendes weder aus einem Seienden noch aus einemNichtseieden werden knne, gibt Aristoteles zwei Lsungen.

    A Gewiss wird schlechthin nichts aus Nichtseiendem. Wenn aber das Nichtseiende als begriffen ist, dann kann etwas aus Nichtseiendem werden, wie z. B. auseinem Ungebildeten ein Gebildeter werden kann.

    B Der zweite Lsungsweg beruht auf der hier als bekannt vorausgesetzten Unterschei-dung von Wirklichkeit und Mglichkeit (A 8, 191b2734). Aus dem potentiell Sei-enden, das insofern in einem eingeschrnkten Sinne ein Nichtseiendes ist, kann einwirklich Seiendes werden. Damit hngt der Unterschied zwischen und zusammen. ist potentiell, es ist ein Nichtseiendes in beilufigen Sinn (das Brettist noch kein Bett), die Privation hingegen ist ein Nichtseiendes an sich. Die steht nahe bei der und ist in gewisser Weise schon , die hin-gegen in keiner Art und Weise.

    Darauf ussert sich Aristoteles direkt zu Platons Timaios sowie zur Prinzipientheorie,allerdings ohne den Namen zu nennen. Beides war in der Akademie hinreichend bekannt.

    "Sie\ seien so weit gekommen einzusehen, dass irgendeine zu Grunde liegen

    msse, und dass diese numerisch eine sein msse (auch wenn man sie grossklein nenne;cf. oben). Diese zu Grunde liegende sei, zusammen mit der Gestalt, ein Mit-Grund

    30

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    (, Timaios 46c) fr das Werden des Werdenden"wie eine Mutter\ (Timaios

    51a). Kritisch sei allerdings anzumerken, dass der andere Teil des Gegensatzes als dasbel vorgestellt sei, wobei es sich aber lediglich um die handle.

    So werde und vergehe die in gewissem Sinne, in gewissem Sinne aber auch nicht.Als (Timaios 49e; 50e), als das, worin sich je und je ein realisiere, werdeund vergehe sie, aber betrachtet, im Hinblick darauf, dass sie Mglichkeitsei, werde und vergehe sie nicht, sondern sei unvergnglich und ungeworden (Timaios52a). Wenn die werden knnte, msste ihr vorweg schon etwas da sein, woraus siewerden knnte, dies msste ihre sein, so dass sie wre, bevor sie entstand, denn soll das erste zu Grund Liegende fr jedes heissen.

    Was ergibt sich aus dem Vergleich zwischen der im Timaios und der in PhysikA 59?

    Es ist offensichtlich, dass Aristoteles der Bestimmungen zuschreibt, die Platon imTimaios der gegeben hat. Beide, und haben offenbar in den Augen desAristoteles viele Bestimmungen gemeinsam.

    Es ist dabei zu beachten, dass bei Aristoteles keineswegs primr Material oder Ma-terie bedeutet, wovon wir heute sprechen (dies tut es zwar auch, aber nur sekundr).Primr ist ein Seinsbegriff. Es meint primr die Geeignetheit zuvon etwas (nachHeidegger), beispielsweise die Geeignetheit eines Baumes zu Brettern verarbeitet wer-den zu knnen, die Geeignetheit eines Brettes, zu Stuhl, Tisch, Bett verarbeitet werdenzu knnen.

    Fr beide ist"ein Drittes\ unentbehrlich, um das natrliche Werden zu verstehen. Ge-

    meinsam ist beiden, dass das Dritte zu einem grundlegenden Gegensatzpaar tritt. Auchdie anderen, die sich mit der Natur und ihrem Werden befassen, gehen von einem Ge-gensatz aus, wie Aristoteles feststellt (A 5). Fr Platon ist der Ausgangsgegensatz derzwischen Seiendem und Werdendem. Fr Aristoteles ist es das Gegensatzpaar von und . Das Dritte heisst bei Platon , bei Aristoteles, formell ,inhaltlich .

    31

  • 2 Gliederung des Timaios

    So lassen sich die Gemeinsamkeiten der und der in einer Liste festhalten:

    Sie ist ein Drittes neben oder zu einem Gegensatzpaar, fr das natrliche Werden ist sie ein Erstes, sie bietet dem Werden eine Grundlage, ohne selbst geworden zu sein (ausser in beilufigem Sinn), und ohne sich zu verndern. Sie hat keine eigene Form sie ist ein

    "Mitgrund\ (d. h. ein uneigentlicher Grund) neben / ,

    und sie ist das Worin des Werdens und Verghens

    Auch in der Behandlung des , Physik 15, bezieht sich Aristoteles auf PlatonsTimaios.20 Die uns interessierende Stelle befindet sich im einleitenden aporetischen Teilder Abhandlung ber den . Aristoteles fhrt einige Meinungen an, die dafr unddagegen sprechen, ob es berhaupt einen gebe oder nicht, dann weitere Meinun-gen dazu, was er sei. In diesem Zusammenhang kommt er auf Platon zu sprechen. Wennder so etwas wie das

    "erste Umfassende\ eines Krpers sei, dann wre er

    und vergleichbar. Das von diesen Umfasste aber wre dann die , denn dieseist das, was bleibt, wenn man alles Eidetische, alle Bestimmungen von etwas abstra-hiert.21

    Es folgt die direkte Nennung Platons, Physik 2, 209b1117:

    Deswegen sagt auch Platon im Timaios, dass und dasselbe seien; denndas Aufnehmende und die sind ein und dasselbe. Dort [: im Timaios] sprichter zwar in anderer Weise vom Aufnehmenden als in den Ungeschriebenen Lehren,gleichwohl bezeichnet er und als dasselbe.

    Aristoteles sagt also, dass, wenn Platon im Timaios sage, sei das Aufnehmende(, wird von Aristoteles mit bersetzt), er damit das-

    20 Emma R. Jones,"The Nature of Place and the Place of Nature in Platos Timaeus and Aristotles

    Physics,\ in: Epoch (16) 2013, 247258, hat sich diesem Thema gewidmet. Leider konnte ich diesenArtikel nicht beschaffen.

    21 Cf. Aristoteles, Metaphysik, Z 3, 1029a1019, hier als falsches Argument dafr zitiert, dass allein sei.

    32

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    selbe meine, was in seiner eigenen Terminologie heisse. Noch am Ende von 4,1015a1516 sagt er, werde deswegen genannt, weil sie die im eigentli-chen Sinne aufnehmen knne, wobei er mit ein Wort verwendet, mit dem Platonim Timaios die kennzeichnet. Etliche der oben genannten Merkmale berechtigenzu dieser Gleichung. Das Merkmal, das Aristoteles hier hervorhebt, um die Gleichungzu rechtfertigen ist, dass das

    "Aufnehmende\ sei. Dies ist hinreichend motiviert

    durch die verschiedenen Bilder, mit denen Platon einfhrt, aber auch durch dentechnischen Ausdruck, sie sei

    "das Worin von Werden und Vergehen.\

    Aristoteles fgt eine kleine Nebenbemerkung zur Ungeschriebenen Lehre an (). Da habe Platon zwar anders ber das gesprochen als im Ti-maios (Aristoteles scheint auf das

    "Gross-Kleine\ anzuspielen), doch Tatsache bleibe,

    das Platon, egal ob er nun den Ausdruck oder benutze, das damit meine, und dies sei sachlich mit der identisch.

    Chora ist in der nachfolgenden, auch der modernen, Rezeption zu einem nahezu mysti-schen, jedenfalls zu einem geheimnisvollen Ausdruck geworden. Das hngt zum grossenTeil daran, dass wirklich schwer anzugeben ist, was Platon damit meint, und schliesslichsagt ja Platon selbst, das mit dem Ausdruck Gemeinte sei schwer fassbar und irgendwieein Hybrid. Doch sollte nicht vergessen werden, dass ein einfacher Ausdruck derAlltagssprache ist (wie auch).22

    An sein Referat schliesst Aristoteles die Frage an, ob nun eher oder eher sei. Als das erste Umfassende scheint dem nahe zu stehen, nach demBestimmungen im Timaios eher der . Aristoteles gibt Argumente dafr, dass siekeines von beiden sei.23

    22 Das Wort hat ein dem Wort"Gestell\ vergleichbares Schicksal. Zunchst ein Mbel zur Aufbewah-

    rung verschiedner Dinge, ist es nach Heidegger eine"Weise des Entbergens\ geworden, Die Frage

    nach der Technik, in: Vortrge und Aufstze, Neske, Pfullingen 1967, 3. Auflage.23 Manche mchten als Raum verstehen, insofern soll sie dann dem nahe stehen. Doch darf

    nicht vergessen werden, dass der Raum bei Aristoteles, mehr noch bei Platon, im Zusammenhang derDiskussion um das natrliche Werden, keinesfalls den euklidischen Raum meint, noch weniger diereine Form der Anschauung, sondern immer den Naturraum, der durhch ausgezeichnete Richtungenund weitere ungeometrische Bestimmungen bestimmt ist.

    33

  • 2 Gliederung des Timaios

    Platon hatte gesagt, sie sei ein Mit-Grund, da stimmt Aristoteles in gewisser Weise zu,indem er das Wort aus dem Timaios zitiert, doch zeigt er im folgenden Text klar, dass jedenfalls nicht zu den vier Grnden gehrt.

    So haben wir nun zwei weitere Prinzipien oder Voraussetzungen, die die Rede vomnatrlich Werdenden mglich und sinnvoll machen.

    Das eine, das die angestrebte Vermittlung des Aisthetischen mit dem Noetischen er-mglicht, ist die , Das andere ist die mit der gegebene Einschrnkung in dermundanen Bildung der noetischen Gestalten (). Es ist dieselbe Einsicht, die auchAristoteles ussert, wenn er sagt, man knne nicht aus allem Material alles Beliebigemachen. Die

    "Notwendigkeit\ als Bedingung dafr, natrliches Werden zu verstehen,

    war schon in der ersten Reflexion erwhnt worden (4647), im Rckblick, einer zweitenReflexion, heisst es noch strker,

    "das alles hat gemacht.\ Das heisst, dass die

    ganze Errterung der Elemente, die Frage nach der Anzahl der Welten, die Bestimmungder Bewegung, die Affektionen des Krpers und die Wirkung der Elemente auf die Sin-ne (5368), unter dem Gesichtspunkt der der , verbunden mit der Mitwirkungdes Demiurgen stand. So ist eben zweierlei notwendig, um natrliches Geschehen zuverstehen: das Notwendige und das Gttliche (68e).

    Ist Grund fr und zweite Grnde, oder steht das nebeneinander? Was hatdie mit dem Grund als zu tun? Es scheint, dass eine Bedinung frdie Wirkungsmglichkeit der ist.

    Die -Grnde bercksichtigen den Zweck von etwas, die -Grnde sind gleich-sam Sachzwnge, sie entsprechen wohl jener Bedingung, die bei Aristoteles eingefhrtwird mit der Formulierung

    "wenn nichts hindert.\ Sie haben ihren Platz da, wo es um

    Bewegung geht (46e12 wenn etwas selbst bewegt ist und so zwangsweise etwas ande-res bewegt). Platon benennt die zwei Typen von Grnden 44c

    "das Notwendige das

    zum Besten\ und 68e mit , das Zwanghafte das Gttliche.

    Chora als Bedingung dafr, dass -Grnde wirken knnen, ist ein neuer"Raum\

    fr Aktivitten, im Gegensatz zu dem frher bloss logischen Raum (im Sinne Witt-

    34

  • 2.3 Interne Gliederung des Timaios

    gensteins). Dem logischen Raum steht jetzt ein Naturraum gegenber. Aber dieser istnicht ein euklidischer Raum (dieser ist ja auch nur ein gedachter, noetischer Raum),sondern die Platzgabe, die Einrumung fr die Mglichkeit natrlicher Prozesse. (DieGleichung des Aristoteles der Chora mit seiner Hyle ist vielleicht nicht so falsch, wie esvielen scheint, da auch seine Hyle keineswegs dingliche Materie, sondern ein Seinsbe-griff ist.)

    Die Chora muss von den Elementen unterschieden werden. Offenbar ist sie diesen zumVerwechseln hnlich. Doch sie liegt ihnen voraus. Sie ist das Medium ( , 49e7;50d1), in dem sich Natrliches abspielt. Das ist ihre Funktion.

    Inhaltlich bestimmt Platon sie vorerst nur negativ dadurch, dass er sie von den Elemen-ten unterscheidet (48b50a; 51a5), dass sie kein hat (50e). Positiv soll folgendeBildwelt zur inhaltlichen Bestimmung beitragen. Er nennt sie und , be-grifflich , wieder bildlich , vergleicht sie im Ensemble Vater Mutter Kind mit der Mutter (50d) und schliesslich mit dem Grundmaterial fr Salben (50e).24

    Damit ist die Behandlung des bergangs bei Platon abgeschlossen, es folgt nun die

    "Physik.\ Da es sich um die antike Physik handelt, ist es die Darstellung alles Natrli-

    chen, gemss Programm bis zur Entstehung des Menschen. Sie beginnt mit der Darstel-lung der Elemente, 53c gekennzeichnet mit der Formulierung

    Die korrekte Fassung der Elemente ist sozusagen elementar fr die korrekte Fassungder faktischen Welt. Platon fhrt die Elemente in der berhmt gewordenen Weise auf diespter nach ihm benannten regelmssigen Krper zurck, wobei er die Eigenschaften derElemente aus deren stereometrischer Form abzuleiten versucht. Dergleichen Abschnittedes Textes sind der spielerischen Freude am Gefundenen zuzuschreiben und etwa sowrtlich zu nehmen wie die Etymologien im Kratylos.

    24 Es fragt sich, ob mit all diesem , , , eventuell auch noch das-selbe oder verschiedenes gemeint ist, oder ob mit verschiedenen Bildern jeweils etwas am eigentlichGemeinten hervorgehoben werden soll. Das eigentlich Gemeinte jedenfalls sei nur schwer zu sagen(49a, 51a). Meist wird alles oder einiges davon als dasselbe genommen. Miller stellt die These auf, bezeichne die Materie, den Raum, und meine beides zusammen. Aris-toteles spricht von als in Physik A 59, 2, 209b11ff., Gen. Corr B 1, B 5, von der mit Bezug auf generell Physik 15.

    35

  • 2 Gliederung des Timaios

    Unter -Bedingungen und unter Bercksichtigung der neu gefundenen Elementegeht Platon ein auf die Wirkungen der Elemente auf die Sinne und endet mit der Dar-stellung der Sinnesorgane und ihrer Wahrnehmungen. Damit schliesst die Darstellungder Elemente.

    Jetzt sind die Grundlagen dafr gelegt, wie in der Welt mit Chora, unter Bercksichti-gung von dem, was an Gestaltbarkeit zulsst, die Welt zu beschreiben ist undwie der Weg zu finden ist vom All insgesamt bis zur Natur des Menschen (cf. die For-mulierung

    "nun liegt gleichsam das Baumaterial bereit\ 69a).

    Gerade die Natur des Menschen, soweit sie in den Sinnesorganen und ihren Wahrneh-mungen zum Ausdruck kommt, hat 48 dazu gefhrt, Neues in die rein noetische Betrach-tung einzufhren. Eben darauf bezieht sich auch die Reflexion 6568. Es ist unterdessenhinreichend klar, dass zur Erkenntnis beide Arten von Grund ntzlich und notwendigsind (6869).

    Dann beginnt die letzte Etappe (69a). Sie ist insofern ein Neubeginn ( ), als jetzt erst die fr das Mundane notwendige Kenntnis der Elementeund der zwei Arten von beteiligten Grnden da ist. Sie hat den Menschen, seine Seele undseinen Leib als Beispiel des Kompromisses zwischen

    "Notwendigkeit\ (: Einschrnkung

    durch Chora) und noetisch mglicher und wnschbarer Funktionalitt zum Inhalt.

    Dieser lange Teil (69-90) ist nochmals gegliedert, zunchst in eine Errterung der Seele,ihres sterblichen und unsterblichen Teils, mit ihren Affekten und natrlichen Bedrfnis-sen (6972). Es folgt die Errterung des Leibes, der Ernhrung, der leiblichen und see-lischen Krankheiten, der einige Bemerkungen zur Mglichkeit der Heilung beigegebensind.

    Im Anschluss an die Krankheiten der Seele kommt nochmals die Seele zur Sprache, be-ginnend mit dem bekannten Satz (86e1), um zuletzt wiederumauf die Notwendigkeit der Sorge um die Seele, auf die , und die Seele undihre

    "Teile\ hinzuweisen.

    36

  • 2.4 Was ergibt sich fr den Inhalt aus der Gliederung?

    Die Hinweise auf weitere Lebewesen (Frauen, Luft-, Land- und Wassertiere) sind nurnoch gleichsam pro memoria genannnt, der Vortrag eilt seinem Ende entgegen.

    2.4 Was ergibt sich fr den Inhalt aus derGliederung?

    Der erste Teil von Timaios Vortrag zeigte die noetische Struktur der Welt, dargestelltals Schaffen des Demiurgen. Am Ende dieser Darstellung zeigte sich das Ungengender im ersten Teil bestimmenden Voraussetzungen. Es war ntig, sich darauf zu besin-nen, wie von der noetischen Struktur zum faktisch mundan Seienden weiter gegangenwerden kann. Als Ergnzungen zu den bisher und immer noch gltigen Prinzipien derWeltstruktur zeigen sich und , Grundbedingung des Daseins natrlicherDinge und einschrnkende Bedingungen der Realisierung des Noetischen in der fakti-schen Welt.

    In der zweiten Durchfhrung wird die faktisch sichtbare Welt unter Bercksichtigungeinerseits ihrer noetischen Grundlage, ihrer Funktionalitt, als auch andererseits der sichaus der Chora und der Notwendigkeit ergebenden Einschrnkungen gezeigt. Die Not-wendigkeit setzt zwar die Freiheit des Nous unter Zwang, indem sie gewisse Bedingun-gen vorgibt, sie ermglicht jedoch berhaupt erst mundanes Dasein.

    Der Timaios ist eine bestimmte Weise, nach dem Zusammenhang der und zu fragen. Die zwei Arten von

    "Grnden\ und die Chora machen den Zusammenhang

    verstndlich. Das ist zu sehen im Zusammenhang mit alternativen Projekten. Bei Pla-ton selbst war es die Methexis, die den Zusammenhang vermittelt, doch das ist eher einWort, ein Programm, ein Versprechen als eine Auskunft. Die Akademiker haben vorge-schlagen, dass die Zahlen die Vermittlungsfunktion zwischen Ideen und Dingen ber-nehmen. Aristoteles hat das Sein des Werdenden in den Zusammenhang der Spekulationber sein

    37

  • 2 Gliederung des Timaios

    (Sein Bemerken Wirklichkeit

    Doxa

    )

    gerckt. Als Mittel, konkret davon zu sprechen, hat er die Unterscheidung von und gebraucht, beides aber als Seinsbegriffe.

    Der Mensch ist nun im Timaios beschreibbar geworden in Ausdrcken seiner natrli-chen Umwelt. Um mich anachronistisch auszudrcken: Aus der Metaphysik ist Physikgeworden. Um diesen bergang zu leisten, bedurfte es einer zweiten Art von

    "Grnden\

    und der Chora. Es soll nicht vergessen werden, dass die sogenannten Grnde nicht alscausae efficientes oder hnliches zu verstehen sind, sondern wie der Demiurg zur Dar-stellungsform der zu erzhlenden Geschichte gehren. Grund ist eine Mglichkeit, eineontologische Prioritt zu bezeichnen. Dieser bergang gibt den Anlass dafr, dass wiruns jetzt mit Kants bergangsschrift beschftigen.

    38

  • 3 Kant

    In der bergangsschrift fragt Kant nach der Mglichkeit einer Vermittlung metaphysisch-apriorischen Wissens mit dem empirisch-physikalischen Wissen. Diese Vermittlung istnotwendig, wenn das apriorische Wissen berhaupt irgendeine Funktion in unserem Le-ben haben soll und wenn das physikalische Wissen wissenschaftlich und systematischwerden soll.

    Dass diese zwei Wissensformen vermittelbar sind, dass sie so ineinander greifen knnen,dass die eine die andere untersttzen und fr sie hilfreich sein kann, ist alles andere alsklar, da sie beide ganz unterschiedlichen Prinzipien folgen. Die eine ist allgemein undnotwendig, die andere bezieht sich nur auf Einzelnes und ist kontingent.

    Indem Kant sich in der bergangsschrift Fragen der Physik zuwendet, greift er eineFrage auf, die einen engen Zusammenhang hat mit Fragen, die ihn schon viel frher,in einigen vorkritischen Schriften, beschftigt haben, denn etwa ein Dutzend davon be-fassen sich mit naturwissenschaftlichen Fragen. Insofern kommt Kant mit der Frage derbergangsschrift auf ein altes Thema zurck, natrlich in vllig neuer Weise und vorvllig neuem, eben dem kritischen, Hintergrund, und auch mit neuer Zielsetzung. Hattesich Kant in den naturwissenschaftlichen vorkritischen Schriften noch das Ziel gesetzt,einzelne Teile der Physik, Begriffe, Vorstellungen in der Physik geradezu zu verbessern,so geht Kant in der bergangsschrift sozusagen einen Schritt zurck, indem er klrenwill, wie es mglich ist, dass rein theoretisches und apriorisches, eben

    "metaphysisches\

    Wissen, sich auf das Wissen der sich mit der konkreten Welt befassenden Physik bezie-hen und es begrnden kann.

    39

  • 3 Kant

    Diese Frage tauchte, in allgemeinerer Form, aber schon in der Kritik der reinen Ver-nunft auf, denn da stellt Kant die Frage nach den Voraussetzungen und der Mglichkeitjeglichen Wissens berhaupt. Als solche stellten sich die reinen Formen der Sinnlich-keit, Raum und Zeit, und die reinen Formen des Verstandes, die Kategorien, heraus. Wirknnen erkennen, weil der Verstand den sinnlichen und empirischen Anschauungen sei-ne reinen Begriffe zu Grunde legen kann. Beide Vermgen mssen zusammenarbeiten,damit Erkenntnis entsteht, nach dem berhmten Wort

    "Gedanken ohne Inhalt sind leer,

    Anschauungen ohne Begriffe sind blind\ (KrV B 75 in der Einleitung zur transzenden-talen Logik).

    Die Frage nach den Bedingungen und der Mglichkeit naturwissenschaftlichen Wis-sens ist sozusagen eine speziellere Frage als die der Kritik der reinen Vernunft, sofernsie nur nach dem naturwissenschaftlichen Wissen fragt. Sie verschrft aber die ltereFrage, denn das wissenschaftliche Wissen ist ein Wissen in ausgezeichneter Form. Eskann sich nicht mit der alltglichen Vagheit begngen, sondern seine fundamentalenBegriffe, wie Materie, Bewegung, Krper, Raum, mssen scharf umrissen sein. Newtonmeinte noch, sich dessen begeben zu knnen und diese Art von Begriffen als allbekanntvoraussetzen zu drfen,1 doch Kant war klar geworden, dass das geklrt und auf sicherenBoden gestellt werden muss.

    Die Frage, wie sich das kategorial bestimmte Wissen auf das empirische Wissen berdie faktischen Gegenstnde der Erfahrung beziehen kann, beantwortet Kant in der KrVdurch den Schematismus. Auch die Frage nach dem mglichen bergang von den me-taphysischen Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Wissens zu dem konkreten,faktischen Wissen der Physik muss eine Antwort erhalten. Der Suche nach diesem ber-gang, der dem Schematismus korrespondiert, dient eben die bergangsschrift.

    Dass Kant nach der Kritik der reinen Vernunft, nach der Kritik der praktischen Vernunft,nach der Kritik der Urteilskraft jetzt auch noch nach diesem bergang fragt, knnteerstaunen.2 Warum nach so hoher Theorie gleichsam ein Abstieg in die Niederungen

    1 In der Anmerkung zu den Erklrungen der Principia mathematica.2 So wie es erstaunen knnte, dass sich Platon nach den im Sophistes errungenen Erkenntnissen ber das

    Sein sich spter im Timaios Fragen des damaligen konkreten Wissens ber die Naturdinge widmet.

    40

  • 3.1 Frhe naturwissenschaftliche Schriften

    der gewhnlichen Physik? Ist das dem Gang des Philosophen in die Hhle zurck imHhlengleichnis Platons zu vergleichen? Der Philosoph darf sein im Gang zur Oberwelterworbenes Wissen nicht privat fr sich behalten, er muss damit aufklrend im Diensteseiner Mitbrger wirken.

    Als Vorbereitung fr die Diskussion der bergangsschrift, die natrlich immer nur soweit gehen wird, als dies fr den Zweck des Vergleichs mit Platons Timaios dienlich ist,sollen einige Bemerkungen zu frhen naturwissenschaftlichen Schriften stehen, dannmchte ich einige Bezge zur Kritik der reinen Vernunft aufzeigen; darauf lassen sichdie Metaphysische[n] Anfangsgrnde der Naturwissenschaft als das Sprungbrett zurbergangsschrift begreifen.3

    3.1 Frhe naturwissenschaftliche Schriften

    Die Reihe naturwissenschaftlicher Schriften wird erffnet durch die Gedanken von derwahren Schtzung der lebendigen Krfte aus dem Jahre 1746. Es ist die erste vorkriti-sche Schrift. Kant fragt sich darin, wie der Begriff der Kraft zu fassen sei, im Besonderender der lebendigen Kraft. Was ist Kraft? Wie lsst sich Kraft messen? Wie verhlt sichKraft zu Bewegung, zu Geschwindigkeit? Was fr einen Einfluss auf die Kraft habendie Zeit und die Masse?

    Die Frage nach der Kraft ist fr die empirische Naturwissenschaft wesentlich, denn ge-rade sie selbst ist empirisch nicht fassbar, fassbar sind nur ihre Wirkungen.4 So habenAnhnger von Descartes und von Leibniz eben darber gestritten, was die Kraft sei. Frdie ersteren ist die einfache Geschwindigkeit eines Krpers das Mass der Kraft, fr Letz-

    3 Zum Verhltnis von KrV MAN bergangsschrift cf. XXI, 408; XXI, 177ff.4 Gemessen wird die Masse und die Beschleunigung, die Kraft ergibt sich daraus als deren Produkt.

    Entsprechend wurde dieses Verstndnis von Kraft im 19. Jh. von verschiedenen positivischen Physi-kern

    "als ungerechtfertigte metaphysische Annahme verurteilt.\ Siehe F. Kaulbach in: Historisches

    Wrterbuch der Philosophie Bd. 4, Sp.1179. Erst in der relativistischen Physik bestimmen nicht mehrKrfte der Krper deren Bewegungen, beispielsweise die der Planeten, sondern die Raumstruktur.Dann sind den Krpern keine eigenen Krfte mehr zuzuschreiben.

    41

  • 3 Kant

    tere das Quadrat der Geschwindigkeit. Kant mchte in diesem Streit eine Entscheidungherbeifhren. Den newtonschen Begriff der Kraft, wonach Kraft das Produkt von Mas-se und Beschleunigung ist, diskutiert Kant hier nicht. In den meisten Paragraphen gehtKant

    "metaphysisch\ vor, d. h. er zieht Schlsse aus Begriffen und Voraussetzungen.5

    Kant stellt seine Fragen im Rahmen der klassischen Physik. Auch seine eigenen Argu-mente verlassen dieses Feld nicht. Unabhngig davon, was an seinen Resultaten nochals richtig beurteilt wird, ist offensichtlich, dass Kant sich in dieser Schrift einer derGrundfragen der Physik widmet, eben dem Begriff der Kraft. Er hat sich dafr tief inseine zeitgenssische Diskussion eingearbeitet, er kennt die verschiedenen Positionenund kann fr und gegen sie argumentieren.

    In der Monadologia physica vom Jahre 1752 stellt Kant die Frage nach dem Verhltnisder Teile der Krper zu den Teilen des Raumes. Es sei ein problematisches Verhltnis,da der Krper letztlich in einfache Teile zerlegbar sei (die Monaden), der Raum jedochunendlich teilbar gedacht werden knne. Jedenfalls sei festzuhalten, sagt Kant, dass dernatrliche Raum und der geometrische Raum trotzdem nicht verschieden sind. Hier ar-gumentiert Kant fr die Existenz einer Trgheitskraft.

    In der lngeren Schrift Allgemeine Naturgeschichte aus dem Jahre 1755 versucht Kantzunchst in der Vorrede sich gegen den mglichen Vorwurf der Gottlosigkeit zu ver-teidigen, da er vorhat, die Entstehung des Himmels nicht nach der Bibel durch einenSchpfungsakt Gottes zu erklren, sondern rein natrlich und nach physikalischen Prin-zipien. Der Himmel, die Vielheit seiner Gestirne, ja die Menge der Milchstrassen, dieman beobachten knne, seien aus einem Urnebel durch eine erste Ungleichheit in derMaterie, die zu einer ersten Bewegung fhrten, entstanden.

    Auch in der kleinen Schrift Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe aus dem Jah-re 1758, eigentlich einer Ankndigung der kommenden Vorlesungen, bleibt Kant imRahmen der klassischen Physik, auch dann, wenn er zu Unrecht gegen den Begriff derTrgheit argumentiert. Hauptthemen der Schrift sind die Begriffe der Bewegung und

    5 Das"metaphysisch\ an dieser Stelle entspricht vielleicht dem bei Aristoteles, Physik 5,

    204b44 im Unterschied zu b10.

    42

  • 3.2 Kritik der reinen Vernunft

    Ruhe, sowie der der Trgheit.

    Wenn die Bewegung die Vernderung des Orts ist, und der Ort die Beziehung einesKrpers zu einem anderen ist, dann gebe es nur eine relative Bewegung. Dann sei auchder scheinbar ruhende Krper gegenber einem auf ihn hin bewegten nicht in absoluterRuhe, sondern in relativer Bewegung. Im absoluten Sinne ruhe also berhaupt kein Kr-per. Daraus folge, dass sich auch das Trgheitsgesetz erbrige,6 denn auch der scheinbarruhende Krper knne mit seiner relativen Bewegtheit eine Kraft auf den auf ihn hin be-wegten ausben.

    In der Schrift Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, 1768,unterscheidet Kant die Lage als das rumliche Verhltnis eines Dings zu einem an-deren von der Gegend als dem Verhltnis des Systems der Lagen zu dem absolutenWeltraum. Dieser habe

    "unabhngig vom Dasein aller Materie und selbst als der erste

    Grund der Mglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realitt.\ Allerdings sei derabsolute Raum

    "kein Gegenstand der usseren Empfindung\ aber trotzdem auch nicht

    ein blosses Gedankending.

    Diese kleine bersicht ber einige einschlgige vorkritische Schriften belegt, dass sichKant vor seiner kritischen Periode intensiv mit konkreten naturwissenschaftlichen undphysikalischen Fragen befasst hat. Masse, Kraft, Bewegung, Entstehung des Universumsnicht weniger als Herkunft der Erdbeben (aus Anlass des Erdbebens von Lissabon, 1755)beschftigen ihn.7

    3.2 Kritik der reinen Vernunft

    Einen sehr grossen, wenn nicht den grssten Anteil an den Auseinandersetzungen einer-seits zwischen philosphischen Schulen, andererseits zwischen Alltag und Philosophie

    6 Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenusillud a viribus impressis cogitur statum suum mutare

    "Ein Krper bleibt in Ruhe\

    7 Erdbeben sind seit den Vorsokratikern ein oft behandeltes Thema gewesen.

    43

  • 3 Kant

    aber auch zwischen den brigen Wissenschaften und der Philosophie hat die Frage, obdie Erfahrung allein genge, um unser Wissen zu begrnden oder nicht, und, wenn sieallein nicht genge, was denn das sei, das, der Erfahrung vorausliegend, sie begrndeoder mglich mache.

    Viele guten Grnde sprechen dafr, dass unser Wissen zwar auf Erfahrung beruht, dochdass die Erfahrung selbst bereits gelenkt ist von etwas, das ihr vorausliegt und von an-derer Art als Erfahrung ist.

    Es gibt rein logische Argumente. Diese sind zwar stringent, aber doch von weniger Ge-wicht als andere, da sie eben nur logisch sind. Beispielsweise ist der Satz

    "Alles beruht

    auf Erfahrung\ die Grundthese des Empirismus ein allgemeiner Satz, doch Erfah-rung, auf der nach diesem Satz alles Wissen beruhen soll, kann keine allgemeinen undkeine notwendigen Stze begrnden, also nichts ber alles aussagen.

    Sollte es die Abstraktion gewesen sein, die zum Wissen gefhrt htte, so htte eben dieAbstraktion eine Hinsicht gebraucht, die nicht selbst wieder durch Abstraktion entstehenkann. Nach der Herkunft dieser Hinsicht msste gefragt werden.

    Wenn"alles\ auf Erfahrung beruht, msste eine erste Erfahrung beschrieben werden

    knnen."Alles Wissen\ wrde dann auf Erfahrung beruhen, doch die erste Erfahrung

    wrde auf nichts beruhen. Eine erste Erfahrung ist so wenig denkbar wie ein erstes Wort.Soll das Wort ein lautliches Gebilde mit Bedeutung sein, so setzt es schon das Ganze derSprache voraus. Eine absolut einzelne Bedeutung ist nicht mglich. Denken wir uns eineSprache mit nur einem einzigen Wort. Wie soll die Bedeutung dieses Wortes expliziertwerden? Die Sprache als das Insgesamt der mglichen Bedeutungen ist dem Wort oderdem einzelnen Satz gegenber prioritr. Entsprechend ist auch eine bestimmte einzelneErfahrung ohne ein Ganzes, in dem sie Erfahrung sein kann, unmglich.

    Wir betrachten ein inhaltliches Argument. Die absolut reine Erfahrung, also beispiels-weise das, was in unserer menschlichen Erfahrung dem bloss materiellen Abbild, sei eseiner Spiegelung, sei es auf einer fotografischen Platte, sei es auf der Retina, entspricht,bedeutet noch nichts. Unsere Erfahrung hat jedoch immer schon einen Inhalt, einen Sinn.

    44

  • 3.2 Kritik der reinen Vernunft

    Die Reizung auf der Retina ist noch kein"roter Fleck\ usw. Erfahrung ohne Inhalt ist

    nichts, aber woher kommt der Inhalt?

    Von grosser Bedeutung, wenn nicht gar entscheidend fr die Frage nach dem Vorwegunseres faktischen Wissens scheint mir das Argument zu sein, das mit dem Worin derErfahrung operiert. Es ist keine Erfahrung mglich, die nicht in einer Welt stattfnde.Nur in einer Welt ist etwas als etwas erfahrbar, weil nur eine Welt Grundunterschei-dungen zur Verfgung stellen kann, innerhalb welcher das blosse etwas zu etwas alsetwas werden kann. Selbst dann, wenn wir eine erste Erfahrung zuliessen, ist diese derWelt gegenber, in der sie stattfindet, sekundr. Das gilt auch fr die soeben zitierte reinsinnliche Wahrnehmung. Auch dergleichen wie

    "Ich sehe einen roten Fleck\ oder

    "Ich

    hren einen hohen Ton\ ist schon ein Sinn (sogar dann, wenn es sich um eine Protokoll-aussage handeln sollte) und ausserhalb einer Welt, die der rein materiellen Grundlageder Sinnesempfindung (der Reizung der Sensoren, der Aktivierung der Nerven) einenRaster von Unterscheidungen darbietet, worin dieses sich einordnet und somit ist, nichtmglich. Erst dank dieser Einordnung wird aus einem dem reinen Sinnesdatum ein

    "et-

    was als etwas.\

    Sehr viele Philosophen, wenn auch nicht alle, sind sich deshalb darin einig, dass der Er-fahrung etwas vorausliegt, das nicht Erfahrung ist. Dieses zu bestimmen wird ebenfallsvon vielen als eine der zentralen Aufgaben der Philosophie betrachtet.

    Soweit also der Konsens, doch danach beginnen sogleich die Differenzen. Diese aufzu-zhlen hat hier keinen Sinn, denn es soll lediglich sichtbar werden, dass auch die KrVsich in diesem Fragefeld bewegt und eine Antwort darauf gibt. Wie diese Frage nachdem der Erfahrung Vorausliegenden zu verstehen ist nennen wir es der Krze hal-ber das Apriori, egal wie es im Einzelnen mit verschiedener Methode gesucht und mitverschiedenem Inhalt gefllt wird und wie die darauf gegebene Antwort lautet, wirddas Verstndnis der MAN und dann natrlich auch den Sinn der Frage, die dem OpusPostumum bzw. der bergangsschrift zu Grunde liegt, bestimmen.

    Die KrV und die MAN nehmen gegenber den vorkritischen Schriften, die im enge-

    45

  • 3 Kant

    ren Sinne naturwissenschaftlich sind, den noetischen Standpunkt, den Standpunkt derreinen Vernunft, ein. Sie reden nicht von Erfahrungen, sondern davon, unter welchensubjektiven Bedingungen Erfahrung mglich ist.

    Die Mglichkeit der Erfahrung beruht in Kants Darstellung auf dem Ineinandergreifenund dem Zusammenspiel von zwei Erkenntnisquellen, der Sinnlichkeit und dem Ver-stand. Sie ergnzen sich als das rezeptive und als das spontan produktive Vermgen. Dasrezeptive Vermgen stellt unserer Erfahrung Raum und Zeit als reine Formen der An-schauung zur Verfgung, das spontane Vermgen die reinen Verstandesbegriffe. Diesesind zu finden durch die Analyse der Funktionen des Verstandes in den Urteilen.8

    Reine Anschauung und reine Verstandesbegriffe bilden das a priori fomulierbare forma-le Gerst fr die Erfahrung, sie bestimnen den Gegenstand berhaupt in einer Erfahrungberhaupt. Mit anderem Bild gesagt, stecken sie den Rahmen ab, innerhalb dessen fruns Erfahrung mglich ist. Beide Vermgen fllen in Zusammenarbeit das soeben all-gemein Apriori genannte mit einem vorerst noch bloss

    "formellem\ Inhalt (wobei hier

    nicht auf den Gebrauch des Begriffs a priori durch Kant abgestellt werden soll). Da-durch wird aber erst der Gegenstand berhaupt einer Erfahrung berhaupt bestimmt,noch ohne Bezug auf eine faktisch stattfindende Erfahrung.

    Damit lsst sich die erste Hlfte des Timaios vergleichen, in welchem die noetischenVoraussetzungen der Erfahrung thematisiert werden, dargestellt als das Handeln undHerstellen des Demiurgen.

    Die wirkliche, faktische Alltagserfahrung ist aber mit diesem noetischen Gerst nichtidentisch, sie hat diesem gegenber ein

    "mehr.\ Das Formale des Apriori muss ergnzt

    werden durch das Materiale des Gegebenen. Der Gegenstand-berhaupt ist noch langenicht dieser Tisch, dieses Haus da, dieser Hund da.

    Man drckt sich oft so aus (auch Kant verwendet diese Ausdrucksweise, auch im Schematismus-Kapitel), dass die Kategorien auf das Erfahrene

    "angewendet\ wrden. Doch das kann

    8 Die Gesichtspunkte, denen die Analyse folgt Quantitt, Qualitt, Relation und Modalitt der Urteile, entstammen durchaus der traditionellen Logik.

    46

  • 3.2 Kritik der reinen Vernunft

    nur eine uneigentliche Ausdruckweise sein (Hegel hat in der Einleitung zur Phnomeno-logie zu Recht darber gespottet). Der Ausdruck

    "anwenden\ gibt dem, worauf die For-

    malien angewendet werden, ein eigenes Recht, eine eigene Existenz, ein eigenes Sein,worber wir gerade nicht zustndig sind, etwas zu sagen. Die Ausdruckweise ist ver-gleichbar dem Ausdruck bei Platon; diese erfllt letztlich denselben Zweck wiedie

    "Anwendung,\ nmlich die Vermittlung des Noetischen mit dem Aisthetischen. Dass

    wir faktisch alltgliche Erfahrungen machen, sei unbestritten. Es ist fraglich und bestrit-ten, worauf die Erfahrung grndet. Das Vorweg, das Apriori, soll nun nach Kant in denreinen Formen der Anschauung und den reinen Verstandesbegriffen beruhen; letztlichgehren dazu auch noch die Ideen und Prinzipien der Vernunft.9 Wie bringen wir es mitdiesem Bndel von Vorweg zu Stande, Erfahrungen zu haben, die es uns erlauben, jeunser konkretes Leben zu fhren?

    Die Differenz zwischen dem Apriori und dem Faktischen bedarf der berbrckung undder Erluterung, denn beide sind von sehr verschiedener Art. Das wird umso dringender,wenn man sagt, es bestehe zwischen beidem nicht das Verhltnis der Anwendung. Daseine ist noetisch, rein, vor-empirisch, notwendig und allgemein, das andere aposteriori,empirisch, zufllig und einzeln.

    Man kann das auch so ausdrcken, dass man danach fragt, wie ein konkreter Gegenstandunter einen Begriff subsumiert werden kann. So formuliert es Kant im Schematismus-Kapitel. Er antwortet, dass das nur durch ein Drittes geschehen kann, das mit Erschei-nung und Kategorie etwas Gleichartiges hat. Man beachte, dass Kant hier, wie langevorher schon Platon und dann auch Aristoteles in vergleichbarer Situation, von einem

    "Dritten\ sprechen. Platon tat es, um den Gegensatz des Noetischen und Aisthetischen,

    Aristoteles, um den Gegensatz von und zu berb