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Berte Bratt Sonnige Tage mit Katrin Auf einer Sommerreise nach Norwegen passieren dramatische und ganz unerwartete Dinge. Die 18-jährige Allegra landet bei der netten, lustigen Katrin und ihrem Mann, dem jungen Arzt Bernd Rywig. Diese Monate helfen ihr, erwachsen zu werden. Doch das wirkliche Glück erlebt Allgra mit Hartmut, einem jungen Mann, der einmal einen kleinen Hund mit dem Namen Allegra spazierenführte.

Sonnige Tage mit Katrin

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Berte Bratt

Sonnige Tage mit Katrin

Auf einer Sommerreise nach Norwegen passieren dramatische und ganz unerwartete Dinge. Die 18-jährige Allegra landet bei der netten, lustigen Katrin und ihrem Mann, dem jungen Arzt Bernd Rywig. Diese Monate helfen ihr, erwachsen zu werden. Doch das wirkliche Glück erlebt Allgra mit Hartmut, einem jungen Mann, der einmal einen kleinen Hund mit dem Namen Allegra spazierenführte.

Mein Lebenslauf Es war noch nicht halb acht Uhr morgens, als ich mich vor die verschlossene Tür von Dr. med. Hanson, praktischer Arzt, stellte. In der Anzeige hatte gestanden: „… zwischen acht und neun Uhr.“ Und ich wollte auf Nummer Sicher gehen und rechtzeitig da sein. Pustekuchen! Da standen schon vier Mädchen, alle zwischen fünfzehn und siebzehn, alle mit einem Kuvert mit Schulzeugnissen und selbstgeschriebenem Lebenslauf in der Hand.

Und alle hatten die Hoffnung, die Auserwählte zu sein, oder vielmehr die zu werden, die als Helferin-Lehrling angenommen werden würde.

Ich sah schon schwarz. Ganz vorn stand ein bildhübsches, schlankes, hochgewachsenes Mädchen. Dann ein kleineres mit dunklen Locken, roten Backen und einer lustigen Stupsnase. Dann ein kräftiger, sportlicher Typ und zuletzt eine mit einem hübschen, intelligenten Gesicht und klugen, wachen Augen.

Gegenüber diesen vieren waren meine Chancen minimal, das war mir klar. Hochgewachsen und schlank bin ich nicht, im Gegenteil, ich bin – oder war damals – wenn auch nicht gerade dick, so doch etwas pummelig. Blonde Locken habe ich nicht und auch keine Stupsnase. Meine Haare sind glatt und dunkelblond. Ein sportlicher Typ bin ich ganz bestimmt nicht und auffallend intelligent erst recht nicht. Mein Schulzeugnis zeigte ganz deutlich, daß meine mathematische Begabung sehr viel zu wünschen übrigließ, daß

meine Turnleistungen miserabel waren und daß Physik nicht mein Lieblingsfach gewesen war. Nur zwei Rosen blühten in dem Unkrautgarten meines Zeugnisses: Die schöne Eins in Deutsch und die ebenso schöne in Handarbeit.

Daß ich außerdem schwedisch sprechen konnte, war natürlich schön und gut, aber das würde mir ganz bestimmt nicht zu einer Lehrstelle als Arzthelferin verhelfen.

Es wurde acht Uhr, die Tür wurde aufgemacht und wir fünf plus noch eine, die dazugekommen war, wurden ins Wartezimmer reingelassen. Ich war bestimmt die älteste der Gesellschaft. Die anderen kamen wohl direkt von der Schulbank, aber ich hatte ja ein Jahr in Schweden hinter mir.

Nun, um eine lange Geschichte kurz zu machen: Ich wurde nicht angestellt. Siegerin wurde die kleine Blondlockige mit der Stupsnase.

Dann saß ich wieder im Bus und fuhr nach Hause. Es war eine weite Fahrt, denn wir wohnen außerhalb der Stadt. Das war mit ein Grund, daß ich bis jetzt kein Glück mit meinen Bewerbungen gehabt hatte. „Sie wohnen aber weit weg“, hieß es immer. Nun ja, natürlich wäre es praktischer für einen Arzt, wenn seine Helferin in der Nähe wohnte und auch mal unabhängig von Verkehrsmitteln war.

Da ich nichts anderes zu tun hatte, holte ich wieder meinen selbstgeschriebenen Lebenslauf aus der Tasche und las ihn zum x-tenmal durch.

„Vor achtzehn Jahren wurde ich, Allegra Marianne Walther, als jüngstes Kind und einzige Tochter des Bankbeamten Oscar Walther und seiner Frau Selma, geborene Henrikson, am 30. März in Bremen geboren…“

Trockene, langweilige Worte. Von meinen Eltern wurde dieses Ereignis ganz anders erzählt: „Wir hatten uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß wir nie ein Töchterchen kriegen würden, unsere drei wilden, fußballspielenden, lauten Jungen waren schon groß, der jüngste, Detlef, war schon elf – und dann, gegen alle Vermutungen und alle Pläne, meldete sich unsere Allegra an. Unser Sonntagskind, unser Frühlingskind! Ja, wenn jemals ein Wunschkind auf die Welt gekommen ist, dann ist es unsere Allegra!“

„Wie seid ihr bloß auf den Namen gekommen?“ wird dann gefragt.

„Wir fanden ihn hübsch“, sagt dann Mutti – oder Vati. Aber ich weiß mehr.

Neun Monate vor meiner Geburt konnten Mutti und Vati endlich einmal allein einen richtigen Urlaub machen. Die „drei Nervensägen“ – meine Brüder – waren bei robusten Verwandten auf dem Lande, und meine vielgeplagte Mutter konnte endlich ausspannen und sich von meinem treusorgenden Vater etwas verwöhnen lassen. Sie fuhren in die Schweiz, ins Engadin, wanderten im Gebirge, freuten sich über die herrliche Natur und das Tierleben und erholten sich prächtig.

In dieser Ecke von der schönen Schweiz wird rätoromanisch gesprochen, und meine Eltern lernten ein paar Worte, so wie „Danke“, „Guten Tag“, und „Auf Wiedersehen“.

„Guten Tag“ heißt „Allegra“. Das ist ein besonders schöner Gruß, denn das Wort bedeutet auch „Freude“. Wenn man sich also in dieser Gegend trifft, wünscht man sich gegenseitig nicht nur einen „guten Tag“, sondern einfach Freude!

„Ich dachte immer, ,Allegra’ sei ein Mädchenname“, meinte Mutti.

„Ist es auch“, sagte Vati. „In Amerika ist er gar nicht so selten.“ Nun, ein schöner Sommer, der wirklich im Zeichen der Freude verlaufen war, ging zu Ende. Mutti hatte neue Kräfte, eine gesunde Sonnenbräune und ein paar sehr notwendige Pfündchen mehr.

Es folgten aber noch etliche, gar nicht vorausgesehene Pfündchen. Und dann kam der Tag, an dem Mutti ihren drei großen Söhnen erzählen mußte, daß sie ein Geschwisterchen bekommen würden.

„Ach du heiliger Bimbam!“ war die Antwort des fünfzehnjährigen Oscar junior.

„Bei euch piept’s wohl“, äußerte sich der dreizehnjährige Siegwart.

„Das habe ich schon lange gewußt. Ich bin ja nicht blind“, sprach der elfjährige Detlef.

Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel freuten sich um die Wette, als die Geburtsanzeige eintraf: „Die liebe Selma hat endlich ein Töchterchen!“ Omas und Tanten ergriffen ihre Stricknadeln, und niedliche Kleidchen und Jäckchen, mit Blümchen und Kätzchen bestickt, erreichten uns. Das Familientaufkleid wurde gewaschen und aufgebügelt und der Name Allegra Marianne Walther säuberlich eingestickt, unter den Namen meiner drei Brüder.

Wenn ein Mädchen drei ältere Brüder hat, wird sie entweder tyrannisiert oder maßlos verwöhnt. Was mehr zu bedauern ist, weiß

ich nicht. Es müßte schlimm sein, tyrannisiert zu werden, das habe ich nicht erlebt. Ich war vom ersten Augenblick an der Liebling, das Zuckerpüppchen, das Schmusekätzchen der Familie. Daß ich nicht ganz und gar verdorben wurde, habe ich meinen vernünftigen Eltern zu verdanken.

Sehr früh wurde schon der Grundstein zu meinem pummeligen Aussehen gelegt. Meine armen Eltern hatten einen verzweifelten und hoffnungslosen Kampf gegen die Süßigkeiten auszukämpfen, die aus den brüderlichen Hosentaschen und den Taschen der Tanten in meinen immer aufnahmebereiten Mund den Weg fanden.

Von uns vier Kindern war ich das einzige, das zweisprachig aufwuchs. Meine Mutter hatte versucht, ihren Söhnen das Schwedische beizubringen, vergeblich. Es sei „so doof“, zu Hause eine andere Sprache zu sprechen als in der Schule und auf dem Fußballplatz. So kam es, daß sie wohl etliche schwedische Worte verstanden, aber sprechen wollten sie es nicht.

Mit mir war es anders. Wenn die drei in der Schule und Mutti und ich allein zu Hause waren, dann plauderte sie mit mir in ihrer Muttersprache. Mir machte es Spaß! Und wenn Oma zu Besuch kam, mußte ich schwedisch sprechen. Ich hing sehr an Oma, wir waren die allerbesten Freunde, und ich war stolz wie ein Pfau, wenn sie mich mit in die Stadt nahm, damit ich in den Geschäften in Bremen dolmetschen konnte.

Übrigens nannte ich sie gar nicht Oma. Für mich war sie immer „Momo“. Das schwedische Wort für die Großmutter mütterlicherseits ist „mormor“. Aber bis ich drei war, hatte ich mich mit dem „r“ nicht so richtig befreundet. So kam es, daß aus mormor „Momo“ wurde, und dabei blieb es.

Als ich acht war, durfte ich zum erstenmal allein zu Momo fahren, Mutti brachte mich nach Hamburg, dort wurde ich – mit Namensschild um den Hals – in ein Flugzeug gesteckt, und am Flughafen Stockholm wartete Momo auf mich.

„Momo ist meine beste Freundin“, erklärte ich immer wieder. Und diese Freundschaft beruhte auf Gegenseitigkeit. Momo verstand die Jugend so gut, sie nahm lebhaft teil an allem, was mich interessierte, und konnte immer gute Ratschläge geben und Probleme für mich lösen. Und ich liebte es, wenn sie aus ihrer Jugend erzählte – wie damals alles ganz anders gewesen war!

Jeden Sommer besuchte ich Momo. Manchmal mit Mutti zusammen, oft allein.

Als ich mit der Schule fertig war, machte ich einen Kochkursus und nachher einen Kursus in Erste Hilfe und Heimkrankenpflege. Da hatte ich etwas gefunden, was mir lag, und damals entschloß ich mich, entweder Arzthelferin oder Krankenschwester zu werden.

Aber bevor ich eine Ausbildung anfing, wollte ich wieder, wie immer, den Sommer bei Momo verbringen.

Das Schicksal wollte, daß ich viel länger bei ihr blieb als geplant war.

Während des Sommers erkrankte Momo. Ihre Kräfte ließen nach, sie mußte viel ruhen, wurde von Hilfe anderer Menschen abhängig. Welcher Mensch stand ihr wohl näher als ich?

„Ich bleibe bei dir, so lange du mich brauchst, Momo“, versprach ich. Dann huschte ein glückliches Lächeln über ihr abgemagertes, müdes Gesicht, und sie drückte meine Hand.

„Gott segne dich, meine kleine Allegra“, sagte sie leise. „Schaffen Sie es allein?“ fragte mich der Arzt, als Momo so

schwach geworden war, daß sie das Bett nicht mehr verlassen konnte.

„Ja, Herr Doktor“, sagte ich. „Erstens habe ich einen Kursus in Krankenpflege gemacht, zweitens habe ich meine Großmutter sehr lieb und werde ganz bestimmt dafür sorgen, daß sie alles hat was sie braucht.“

„Sie sind aber sehr jung“, meinte der Arzt. „Wie alt sind Sie eigentlich?“

„Siebzehn. Beinahe so alt wie meine Großmutter war, als sie heiratete. Und ich bin kerngesund und habe gute Kräfte!“

„Dann lassen wir unsere Patientin noch zu Hause. Sonst hätte ich sie jetzt ins Krankenhaus eingewiesen.“

„Bitte, bitte, nicht, Herr Doktor! Sie ist ja so glücklich, daß sie in ihren eigenen vier Wänden bleiben darf.“

„Gut. Und Sie halten sich genau an die Diätliste, die ich Ihnen gegeben habe?“

„Haargenau, Herr Doktor. Und ihre Medikamente kriegt sie auf die Minute pünktlich. Mein Ehrenwort!“

„Dann lassen wir es so. Aber wenn es Ihnen zuviel wird oder wenn Sie Probleme haben, geben Sie mir gleich Bescheid. Das müssen Sie mir versprechen!“

Ich versprach es. So durfte Momo in ihrem eigenen Bett bleiben, von ihren Bildern

und Blumen umgeben. Ich schaltete alle persönlichen Zukunftspläne

aus und stellte mich hundertprozentig auf Krankenpflege ein. Es war kein Opfer für mich. Es wäre furchtbar für mich gewesen, jetzt Momo zu verlassen und sie der Pflege fremder Menschen zu überlassen.

So gingen die Wochen dahin, meine Momo wurde immer schwächer, das liebe Gesicht wurde so klein und dünn. Bevor der Arzt es mir in schonenden Worten sagte, hatte ich es verstanden: Meine geliebte Momo würde nie gesund werden. Sie hatte eine unheilbare Krankheit.

Die letzte Woche war ich nicht mehr allein mit Momo. Mutti kam, und wir wechselten uns bei der Nachtwache ab.

Dann kam der Tag, als unsere Momo für immer ihre guten, lieben Augen schloß. Ich saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand.

Müde, verweint, und doch von einer großen Dankbarkeit erfüllt, fuhr ich dann mit Mutti zusammen nach Hause.

Ja, ich war unsagbar dankbar, weil es mir vergönnt wurde, diese letzten Monate zusammen mit Momo zu verbringen, daß ich sie pflegen durfte, daß ich immer dasein konnte, wenn sie mich brauchte.

Die letzten verständlichen Worte, die sie sprach, waren an mich gerichtet.

„Tack, min kära Ulla flicka“, flüsterte sie. Diese Worte: „Danke, mein liebes kleines Mädchen“, kann ich

noch jederzeit in meinem Inneren hören. Meine Eltern wollten, daß ich mich ein paar Monate ausruhen

sollte, denn so lieb mir auch die Arbeit bei Momo gewesen war – angestrengt hatte ich mich und mußte wieder zu Kräften kommen.

Und im März fing ich dann an, Arbeit zu suchen. Bis jetzt also vergeblich.

Ich faltete den Bogen mit meinem Lebenslauf zusammen. Der Bus hielt. Fünf Minuten später war ich zu Hause.

Schon wieder ohne Arbeit.

Ein Jahr zur Überbrückung Zwei Tage später saß ich wieder in einem Wartezimmer, mit Lebenslauf und Zeugnissen in der Hand. Diesmal bei einer Kinderärztin. Ich war allein im Zimmer. Der letzte Patient war bei Frau Doktor. Sie hatte anscheinend die Bewerberinnen einzeln bestellt, nachdem wir uns per Telefon angemeldet hatten.

Eine Tür wurde auf- und wieder zugemacht. Schritte auf dem Flur. Eine helle Kinderstimme: „Mutti, Tante Doktor sagte, daß ich tapfer war! Es war doch fein, daß ich nicht weinte!“

Ich drückte die Daumen. Oh, wenn ich bloß hier angenommen werden würde! Nichts wäre mir lieber als eine Kinderpraxis! Ich kann gut mit Kindern umgehen – und mit alten Leuten. Vor jungen, erwachsenen Menschen habe ich oft ein bißchen Angst.

Jetzt kam eine junge Helferin und führte mich ins Sprechzimmer. Am Schreibtisch saß eine Dame von – ja, vielleicht um die

fünfunddreißig. Eine Schönheit war sie eigentlich nicht, aber sie hatte ein Paar wache, kluge Augen und einen Ausdruck – ja, wie soll ich es erklären – es war, als ob ihr Gesicht immer zu einem freundlichen kleinen Lächeln bereit war.

Ein Gesicht, das mir Ruhe und ein Gefühl des Vertrauens gab. Ein Paar Augen, die mir den Mut gaben, um alle Fragen ehrlich zu beantworten.

Sie bat mich, Platz zu nehmen, und ich reichte ihr meine Papiere, die sie vorläufig gar nicht anguckte.

„Sie sind also Allegra Walther. Wie kommen Sie bloß zu dem hübschen Namen?“

Dann antwortete ich wie ich bis jetzt nie geantwortet hatte, und es war nicht das erstemal, daß ich wegen meines etwas ausgefallenen Namens gefragt wurde: „Dadurch, daß meine Eltern neun Monate vor meiner Geburt im Engadin waren“, sagte ich. „Und mein Name bedeutet…“

„Freude“, ergänzte die Ärztin. „Ja, und außerdem ,guten Tag’.“ „Ja, ich weiß es. Das Wort gehört zu meinem außerordentlich

bescheidenen rätoromanischen Wortschatz. Na, also, Fräulein Allegra: Erzählen Sie mir, warum Sie ausgerechnet Arzthelferin werden möchten!“

„Weil ich einen Beruf ergreifen möchte, wo ich das, was ich

besitze, auch geben kann“, antwortete ich. „Ich war keine Leuchte in der Schule, aber ich habe einen Kursus in Heimkrankenpflege gemacht, und die Arbeit lag mir. Sie machte mir Freude. Dann wollte das Schicksal, daß meine Großmutter erkrankte, als ich bei ihr zu Besuch war. Ich pflege sie, bis sie…“, hier mußte ich schlucken und mich gewaltig zusammenreißen, „… bis sie nach einem halben Jahr starb. Ich war beinahe die ganze Zeit allein mit ihr…“ Jetzt versagte meine Stimme.

Die Ärztin gab mir Zeit, wartete, bis ich weitersprechen konnte. „Wissen Sie, Frau Doktor,“ fing ich wieder an, „ich verstehe

furchtbar wenig von Physik und Mathematik, und meine Kenntnisse in Geographie und Geschichte sind voll Löcher und Lücken. Aber ich kann Verbände machen und ich kann Blut und Eiter sehen, ohne hysterisch zu werden. Ich kann Erbrochenes aufwischen und Becken saubermachen, das habe ich bewiesen. Und dann habe ich noch etwas. Ich habe von meinen Eltern und von der ganzen Familie so unsagbar viel Liebe bekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß all diese Liebe sich bei mir gespeichert hat – ich habe einen großen Vorrat davon, Liebe, die ich weitergeben möchte. Sehr viel Liebe und sehr viel Lust zum Helfen, das wäre doch etwas Positives, etwas, worauf ich als Arzthelferin meine Zukunft bauen könnte?“

„Da haben Sie recht“, sagte die Ärztin. „Aber sagen Sie, warum gehen Sie dann nicht in die Krankenpflege? Warum machen Sie nicht die Krankenschwesterausbildung?“

Ich holte tief Luft. Jetzt mußte ich versuchen, das zu erklären, was mir selbst eigentlich nicht so ganz klar war. Ich mußte die Worte für das finden, das als nicht durchdachte Gefühle tief in meinem Inneren lag.

„Vor einem Jahr“, fing ich an, „wollte ich es auch. Aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – ich möchte so gern kranken Menschen helfen, ich möchte gut zu ihnen sein. Aber mein Leben damit zu verbringen, in Hetze und Zeitnot von Krankenbett zu Krankenbett zu laufen – alte Menschen zu pflegen bis zum Tod – jedesmal wenn ich einen todkranken Patienten hätte, würde ich einen einzigen Wunsch haben, nämlich ganz für ihn dazusein. Und dann müßte ich mich darauf beschränken, sein Bett zu machen oder ihm das Becken oder die Medizin zu geben, und dann husch, husch zum nächsten Patienten, womöglich von einer strengen Stationsschwester getrieben. Ich könnte es nicht! Und ich würde jedesmal, bei jedem todkranken Patienten, ein kleines Stück von mir selbst geben, ein

klein bißchen sterben, bis – ja, bis nichts mehr von mir übrig wäre. Ach, Frau Doktor, es ist das erstemal, daß ich versuche, dies auszudrücken. Ich weiß gar nicht, ob Sie mich verstehen…“

Die Ärztin nickte. Ihre schönen Augen waren voll Wärme. „Doch, Allegra. Ich verstehe Sie besser als Sie ahnen. Aber es gibt doch, Gott sei Dank, so viele Krankenschwestern, die mit ihrem schweren Beruf fertigwerden…“

„Ja, und die bewundere ich!“ sagte ich. „Es gibt bestimmt auch viele, die abgehärtet werden, ja das müssen sie ja, sonst könnten sie nicht durchhalten. Aber ich eigne mich nicht fürs Abhärten. Das einzige, was ich zu geben habe, ist ja Liebe und Mitgefühl, und das möchte ich immer geben können. Es gibt zwei Dinge in einem Menschenleben, denen ich als Mensch, als fühlender Mensch gegenüberstehen möchte, und nicht als eine routinierte Krankenschwester: Geburt und Tod. Es würde mir nie Gewohnheit werden, die Schreie einer gebärenden Frau zu hören oder den Todeskampf eines Menschen mit anzusehen. Das würde mich jedesmal ein Stückchen von meinem Herzen kosten!“

Endlich, endlich hatte ich das alles ausgedrückt, was seit Momos Tod in meiner Seele gearbeitet hatte, endlich war es mir auch selbst klargeworden. Ich empfand es als eine Erleichterung.

Es entstand eine Pause. Dann sprach die Ärztin. „Ich möchte Sie gern haben, Allegra. Aber es ist eine Schwierigkeit dabei, eine rein praktische Schwierigkeit. Es gibt etwas, was ich zuerst klären muß. Könnten Sie morgen wiederkommen? Zu derselben Zeit. Ich werde alles tun, um die Sache ins Lot zu bringen.“

„Natürlich kann ich kommen“, versprach ich. „Nichts tue ich lieber.“

Als ich mich verabschiedet hatte, blieb ich einen Augenblick im Hausflur stehen. Ich sah mir das Türschild an. „Dr. med. Tina Oberbach, Fachärztin für Kinderkrankheiten“.

Sollte dies die Tür zu meinem Arbeitsplatz werden? Sollte ich demnächst sagen können: Ich werde Helferin bei Frau Doktor Oberbach?

Ich wünschte es mir so brennend! Erst als ich im Bus saß, fiel es mir ein, daß das Kuvert mit

meinen Zeugnissen und meinem Lebenslauf liegengeblieben war. Und daß Frau Doktor Oberbach überhaupt keinen Blick daraufgeworfen hatte. Sie hatte einfach gesagt: „Ich möchte Sie gern haben, Allegra.“

Nach dem Gespräch mit ihr war mir soviel leichter ums Herz. Ja, ich war beinahe froh – so froh, wie ich seit einem dreiviertel Jahr nicht gewesen war!

Am späten Nachmittag stand ich in der Küche bei der interessanten Beschäftigung, einen Kuchenteig zu rühren. Da hielt ein Auto vor unserem Haus. Nanu? Besuch für uns? Ich guckte raus und traute meinen Augen kaum: Aus dem Wagen stieg Frau Doktor Oberbach. Ich feuerte die Küchenschürze in die Ecke und rannte zur Tür.

„Ja, jetzt staunen Sie“, lächelte die Ärztin. „Wissen Sie, ich war rechtzeitig mit meiner Besuchsrunde fertig, und inzwischen habe ich einen besseren Überblick über meine Situation und möchte gern mit Ihnen sprechen – und mit Ihren Eltern, wenn sie Zeit haben!“

„Vati ist nicht da, aber Mutti hat massenhaft Zeit. Kommen Sie rein, Frau Doktor!“

Ich hatte ja den Eltern ausführlich von meinem Gespräch mit Doktor Oberbach erzählt und gesagt, wie brennend gern ich bei ihr arbeiten wollte. Also war Mutti ganz im Bilde, und wir waren beide riesig gespannt.

„Also, meine Situation ist folgende“, fing Frau Doktor an. „Ich habe bis jetzt nur eine Helferin gehabt, aber ich sehe ein, daß sie Hilfe braucht. Deswegen wollte ich einen Lehrling einstellen. Nun erzählte mir aber das Ungeheuer – bitte, nehmen Sie das nicht wörtlich, wir verstehen uns sehr gut – also, sie erzählte mir heute früh, daß sie heiraten wird! Sie ist willig und bereit, noch ein Jahr bei mir zu bleiben, aber dann wird sie aufhören und vorerst nur Hausfrau sein, und wer weiß, vielleicht auch Mutter. – Nun passen Sie mal auf: Unter den Bewerberinnen ist eine, die schon die halbe Lehrzeit hinter sich hat und gern das zweite Jahr in einer Kinderpraxis arbeiten möchte. Ein nettes Mädchen mit sehr guten Zeugnissen. Sie wird also mit ihrer Ausbildung fertig sein und kann in einem Jahr selbständig arbeiten, wenn meine jetzige mich verläßt. Also werde ich in einem Jahr noch einen Lehrling brauchen. Und jetzt kommen Sie ins Bild, Allegra. Ich möchte Sie sehr gern haben, aber – erst in einem Jahr. Möchten Sie das, und sehen Sie eine Möglichkeit, das Jahr zu überbrücken?“ Mutti lächelte.

„Nun ja, dann müssen wir es wohl mit ihr noch ein Jahr hier zu Hause aushalten“, meinte sie. „Oder vielleicht kriegt sie irgendeinen vorübergehenden Job.“

„Höchstens als Babysitter bei den Nachbarn“, sagte ich. „Oder

als Laufmädchen für den Blumenhändler an der Ecke. Aber das nur vor Weihnachten und an den Konfirmationstagen.“

„Also unbedingt Saisonarbeit, so wie der Mann der davon lebte, Glasstückchen bei Sonnenfinsternissen zu schwärzen“, schmunzelte Frau Doktor Oberbach. „Aber im Ernst: Wenn ich Ihnen nun helfen könnte, eine regelmäßige Arbeit für diese Zeit zu finden und sogar gut zu verdienen, wären Sie dann interessiert? Und würden Sie sich dazu verpflichten, in einem Jahr bei mir anzufangen?“

„Letzteres unbedingt!“ rief ich. „Und natürlich möchte ich sehr gern bis dahin auch arbeiten und Geld verdienen. Aber an was für einen Job denken Sie, Frau Doktor?“

„Einen höchst merkwürdigen! Und ich sage gleich, wenn Sie ihn nicht haben wollen, oder wenn Ihre Eltern es nicht erlauben, kann ich es verstehen.“

„Jetzt machen Sie mich aber neugierig, Frau Doktor“, lächelte Mutti.

„Und mich erst!“ rief ich. „Es sind zwei Dinge, die mich auf den Gedanken gebracht haben,

daß Sie vielleicht die Richtige wären“, fing Doktor Oberbach an. „Sie erzählten mir, daß Sie Ihre Großmutter mehrere Monate gepflegt haben. Und Sie sagten, wenn Sie sich erst um einen Menschen kümmerten, wollten Sie ganz für ihn da sein. Nicht, so war es doch?“ Ich nickte.

„Dies geht um einen Menschen, für den Sie wirklich ganz dasein müßten. Es ist nämlich so – nein, fangen wir lieber von vorn an. Ich habe eine sehr nette Patientenfamilie, die Kinder waren meine ersten Patienten nach meiner Praxiseröffnung. Wir treffen uns auch öfters privat. Diese Familie hat ein Problem, nämlich eine achtzigjährige Oma.“

„Ist sie schwer krank?“ fragte ich zögernd. „Im Gegenteil! Sie ist quietschgesund. Sie sieht und hört so gut

wie Sie und ich, und sie ist direkt beunruhigend unternehmungslustig. Um ihren körperlichen Zustand könnte man sie einfach beneiden. Ebenso um ihre finanzielle Lage, sie ist nämlich sehr wohlhabend. Aber mit dem Geist klappt es nicht mehr so ganz. Ihr Gedächtnis ist wie ein Sieb, und sie ist nicht mehr imstande, eine Situation richtig zu beurteilen. Auf der Straße muß man auf sie aufpassen wie auf ein kleines Kind, es ist ein wahres Wunder, daß sie noch nie von einem Auto angefahren worden ist. Sie bringt manchmal die Uhrzeiten durcheinander, wacht aus ihrem

Mittagsschläfchen auf und verlangt Frühstück, oder sie fragt um zehn Uhr morgens nach dem Mittagessen. Wenn sie allein in die Stadt geht, fällt ihr plötzlich ein, sie wollte doch Blumen kaufen, dann bestellt sie einen großen Strauß und läßt ihn nach Hause schicken. Nach fünf Minuten hat sie es vergessen, und geht ins nächste Blumengeschäft, womöglich noch in das dritte und vierte! Dann hat sie wieder ihre hellen Augenblicke, wo sie sich vollkommen normal benimmt, dann kann sie ganz reizend sein. Was vor vierzig oder fünfzig Jahren geschah, weiß sie noch haargenau und kann sehr lustig aus ihrer Jugend erzählen. Aber wer sie am Tage vorher besucht hat, ahnt sie nicht, und ihre Rechnungen bezahlt sie drei-, viermal, wenn man nicht aufpaßt.“ Ich mußte lachen.

„Vielleicht zahlt sie das Gehalt ihrer Betreuerin auch drei-, viermal?“ fragte ich.

„Sie werden lachen, das ist wirklich vorgekommen! Aber wenn es auch nur einmal pro Monat bezahlt wird, ist es reichlich, es ist wirklich ein anständiges Gehalt. Na, darüber müßten Sie mit dem Sohn oder der Schwiegertochter sprechen. Ja, und noch eins: Die alte Dame ist sehr für Abwechslung; wie ich sagte, ist sie beunruhigend unternehmungslustig. Das bedeutet, daß sie furchtbar gern auf Reisen geht. Bald ist sie im Harz, dann macht sie einen Abstecher nach München, dann liest sie in der Zeitung über einen so schönen Kurort im Schwarzwald – dann ist sie nicht zu halten!“

„Und dann muß die Betreuerin mitfahren?“ fragte ich. „Und ob! Mitfahren und aufpassen! Dafür erste Klasse Bahn

fahren und in sehr guten Hotels wohnen, und keine materiellen Sorgen haben.“

Ich sah Mutti an und hatte das Gefühl, daß mein Blick gelinde gesagt fragend war.

„Aber sagen Sie, Frau Doktor…“, fragte Mutti langsam, „können Sie es verantworten, dieses Kind hier für eine solche Stellung zu empfehlen? Sie kennen sie ja kaum.“ Doktor Oberbach lächelte.

„Ich habe eine Schwäche, oder wer weiß, vielleicht ist es eine Stärke. Ich bilde mir sehr schnell eine Meinung über einen Menschen, und bis jetzt ist die Meinung richtig gewesen. Ich habe mir heute vormittag eine Meinung über Ihre Allegra gebildet, und sie fiel so aus, daß ich sie sehr gern in meine Praxis haben möchte. Und jetzt tu ich, wie Sie sehen, alles was ich kann, um ihr zu helfen, dieses Jahr zu überbrücken, damit sie nicht womöglich eine andere Stellung annimmt.“

„Das tu ich unter keinen Umständen“, versprach ich. „Aber – wieviel Bedenkzeit habe ich? Und an wen soll ich mich wenden, falls ich nun den Mut zusammenkratze, die alte Dame zu betreuen?“

„An ihre Schwiegertochter. Hier, ich schreibe den Namen und die Telefonnummer auf. Hoffentlich brauchen Sie nicht allzuviel Bedenkzeit, denn die jetzige Betreuerin hat gekündigt und verläßt die Stellung in vierzehn Tagen.“

„Konnte sie es nicht mehr aushalten?“ fragte ich. „Ehrlich gesagt, genau das ist es. Aber sie ist eine Dame von

sechzig Jahren. Und zu dieser Arbeit braucht man einen jungen Menschen mit Kräften und – nun ja, mit der Fähigkeit, ein bißchen Leben in die Bude zu bringen! Wobei Sie das Wort Bude nicht wörtlich nehmen dürfen, es handelt sich um eine sehr schöne Vierzimmerwohnung.“

„Also geht es darum, Leben in die Vierzimmerwohnung zu bringen“, sagte ich. „Und Sie glauben, daß ich dazu imstande bin, Frau Doktor?“

Die Ärztin sah mich an, lächelnd, aber mit einem kleinen, ganz ernsten Schimmer in den Augen.

„Ja, Allegra. Genau das glaube ich!“

„Wie alt sind Sie, Spatz?“ Ich war beim Kofferpacken.

Heute nachmittag würde Vati mich zu Frau Felsdorf junior fahren – der Schwiegertochter meiner zukünftigen, achtzigjährigen Brötchengeberin – , und sie würde mich dann zu meinem Ziel weiterverfrachten.

Ich gebe zu, daß ich etwas nervös war. Ob es gutgehen würde? Dann mußte ich lachen. Ich dachte an Muttis und meinen Besuch dort, vor drei Tagen, zusammen mit der Schwiegertochter. Ich sollte der alten Dame vorgestellt werden, und das hatte sich in einer höchst merkwürdigen Weise abgespielt.

Frau Felsdorf sah so reizend aus wie eine so alte Dame überhaupt aussehen kann. Sie war klein und zierlich, mit rosigen Wangen, schneeweißen, wunderbar gepflegten Haaren und mit fröhlichen, blauen Augen. Ihre schmalen, hübschen Hände waren dauernd in Bewegung, sie „sprach mit den Händen“, wie mein Vater immer sagt, wenn im Fernsehen ein Redner seine Argumente mit Handbewegungen unterstützt.

Als die Schwiegertochter uns miteinander bekannt gemacht hatte, wandte die alte Dame sich an Mutti.

„Und Sie wollen also zu mir kommen?“ sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Das ist aber nett, wir werden uns bestimmt gut vertragen.“

„Aber Muttchen!“ unterbrach die Schwiegertochter. „Es ist doch nicht Frau Walther, die dich betreuen wird, es ist Fräulein Walther, die Tochter!“

Die leuchtenden blauen Augen wurden auf mich gerichtet. „Was? Das Baby da? Wie alt bist du eigentlich, mein Kind?“ „Ich bin achtzehn gnädige Frau!“ „Ach du Schreck, nur nicht so höflich! Achtzehn – dann sind Sie

ja beinahe erwachsen! Als ich achtzehn war, stickte ich schon Monogramme in meine Brautaussteuer. Sind Sie auch verlobt?“

„Nein“, versicherte ich wahrheitsgemäß. „Ich habe nichts was mich von meiner Arbeit hier ablenken wird.“

„Achtzehn Jahre“, wiederholte Frau Felsdorf. „Nun ja, meinetwegen! Ich mag gern junge Menschen um mich haben. Können Sie kochen?“

„Ja, ich habe einen Kochkursus gemacht und außerdem viel von

meiner Mutter gelernt, und ein halbes Jahr meine Großmutter gepflegt und sie auch bekocht.“

„Wie alt sind Sie?“ „Achtzehn“, wiederholte ich. Hinter dem Rücken von Frau Felsdorf machte die

Schwiegertochter mir ein Zeichen, klopfte mit dem Finger an die Stirn und schüttelte den Kopf.

„Achtzehn, was für ein schönes Alter! Ein so junges Gesicht! Das ist was anderes als der alte Kakadu, mit dem ich es bis jetzt ausgehalten habe.“

Ich warf einen schnellen Blick auf Mutti. Sie hatte die größte Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken.

„Ja, ein Kakadu bin ich wohl nicht“, gab ich zu. „Wenn ein Vogel, dann bestimmt nur ein kleiner fetter Spatz.“

„Ein süßer kleiner Spatz sind Sie“, sagte die alte Dame. „Wir beide werden es uns schon gemütlich machen, und der Kakadu kann uns gestohlen bleiben. Übrigens, Sie erinnern mich an eine Jugendfreundin, warten Sie mal, ich zeige Ihnen…“ Sie verschwand leichtfüßig und emsig ins Nebenzimmer, wo sie anscheinend etwas suchte.

„Na, Fräulein Walther“, fragte Frau Felsdorf junior, „was sagen Sie, werden Sie es wagen?“

„Ich werde es versuchen“, sagte ich. „Ihre Schwiegermutter ist ja reizend, wir werden es bestimmt lustig zusammen haben.“ Da kam sie zurück mit einem Album in den Händen.

„Gucken Sie mal, Spatz! Die kleine Runde da, links, das war meine Freundin Leonore. Sie sieht Ihnen doch ähnlich. Ja, ja, damals waren wir siebzehn! Lang ist es her! Und wie alt sind Sie, Spatz?“

„Achtzehn“, antwortete ich geduldig. Wir verabredeten nachher alles Notwendige mit der

Schwiegertochter. Einen Monat Probezeit. Wenn das gutging und ich den Mut hätte, sollte ich ein Jahr bleiben. Einen Monat Kündigungsfrist. Jeden Sonntag frei, ebenso jeden Mittwochnachmittag. An den Tagen kümmerte sich die Familie um die alte Dame. Das Gehalt war sehr gut und die Arbeit leicht zu bewältigen. Einkaufen, kochen. Dann Frau Felsdorfs Schlafzimmer machen, ein bißchen Staub wischen und die Topfpflanzen pflegen. Eine Zugehfrau kommt dreimal in der Woche und besorgt das ganze Saubermachen, die Wäsche holt die Schwiegertochter einmal pro Woche und bringt sie schrankfertig zurück. „Wir haben es nicht

gewagt, hier eine Waschmaschine zu installieren“, erklärte sie. „Omi würde womöglich rangehen und an allen Knöpfen drehen und das Ding kaputtmachen. Das Kochen ist kein Problem“, versicherte Frau Felsdorf junior. „Unsere Omi weiß nie, was sie am vorhergehenden Tag gegessen hat, Sie können seelenruhig am Dienstag die Reste vom Montag auftischen.“

Also nur ganz leichte Arbeit. Das wichtigste war, daß ich immer da war und immer aufpaßte, vor allem, daß meine liebenswürdige kleine Brötchengeberin nicht allein auf die Straße ging.

Wieder mußte ich lächeln. Meinen Namen hatte ich schon weg. Frau Felsdorf würde mich bestimmt nur „Spatz“ nennen.

Falls sie es nicht inzwischen vergessen hatte! Jetzt war ich also beim Kofferpacken. Da kam Mutti mit einem

Stoß Wäsche auf dem Arm. „Hier, Kindchen, sind deine Küchenschürzen, frisch geplättet.

Hast du deine Strumpfhosen durchgesehen? Alle heil? Den roten Pulli habe ich dir gewaschen, nimm ihn lieber mit, es können noch kühle Tage kommen.“

„Ach, Mutti, ich fahre doch nicht zum Südpol! Sollte mir etwas fehlen, kann ich es doch an meinen freien Tagen holen.“

„Ja, Gott sei Dank“, sagte Mutti, „daß du hier in der Stadt bleibst, meine ich. Aber trotzdem, es wird leer werden im Haus. Alle vier Kinder weg – ich werde ja direkt arbeitslos!“

Ja, meine Brüder waren schon seit Jahren selbständig und aus dem Hause. Oscar wohnte mit Frau und zwei Töchtern in Aachen, wo er an der Technischen Hochschule unterrichtete. Siegwart war im Rahmen der Entwicklungshilfe in Afrika tätig, und Detlef hatte die Fotofachschule besucht, eine Kollegin geheiratet, und jetzt hatten die beiden die Fotodrogerie seines Schwiegervaters in Frankfurt übernommen. Die Erbfolge war auch gesichert, der werdende Fotodrogist hatte es allerdings bis jetzt nicht weiter als zum Kindergarten gebracht und teilte immer mit, daß er Busfahrer werden wollte. Aber seine Zukunftspläne konnten sich ja noch ändern.

Die Nutznießer waren wir. Mein guter Bruder versorgte uns großzügig mit Waschmitteln, Toilettenartikeln und Filmen. Nichts geht über einen guten Drogisten in der Familie! Aber zurück zu Mutti und mir.

„Weißt du, Alli, eigentlich habe ich nur eine Sorge, was deine neue Aufgabe betrifft“, sagte Mutti.

„Welche denn? Meinst du, daß die Tütterigkeit von Frau Felsdorf

mich anstecken könnte?“ Mutti lächelte. „Nicht gerade das. Aber ich denke daran, daß du in der letzten

Zeit nur mit alten Menschen zusammengekommen bist, Kind. Du warst immer so fröhlich, als Schulmädchen hattest du unzählige Freundinnen, du machtest Ausflüge und gingst zu Partys – und jetzt? Jetzt hockst du hier zu Hause bei deinen alten Eltern, und wenn nun endlich eine Veränderung eintritt, ist es keine Veränderung. Du kommst wieder zu einer uralten Frau.“

„Es ist etwas dran, Mutti“, gab ich zu. „Aber weißt du, ich glaube, daß all die Monate bei Momo eine große Rolle spielen, ich habe mich wohl geändert, vielleicht bin ich ernster geworden? Und das mit den Freundinnen – du weißt, nach der Schule kommt man auseinander. Alle kriegen neue Interessen, ein paar von ihnen haben auswärts Arbeit bekommen, und die, die ich am liebsten als Herzensfreundin behalten hätte…“

„Du meinst die Käthe?“ „Ja, klar. Aber sie kam in diese höhere Töchterschule in der

Schweiz, weißt du – nur in der ersten Zeit haben wir einander geschrieben, dann wurde es immer seltener – nun ja, wie es so ist – dann kam die Zeit bei Momo, und damals dachte ich an nichts anderes als an sie. Aber weißt du, ich werde Käthe wieder schreiben, vielleicht kommt sie bald nach Hause, es wäre schön, wenn wir uns wiederfänden.“

„Jedenfalls wünsche ich sehr, daß du wieder Kontakt mit jungen Menschen kriegst“, sagte Mutti. „Siehst du, alles ist ein bißchen verrückt gewesen mit dir. Deine Eltern sind alt, doch, mein Kind, das sind wir, ich war achtunddreißig und Vati fünfundvierzig, als du geboren wurdest. Deine Brüder sind viel älter als du – immer warst du mit Menschen zusammen, die eigentlich zu alt für dich waren. Dann Momo, und jetzt, wo du dich selbständig machst, kriegst du eine achtzigjährige Chefin!“

„Nur halb so schlimm, Mutti“, tröstete ich. „In einem Jahr werde ich andauernd mit sehr jungen Menschen zu tun haben, außerordentlich jung sogar – von Neugeborenen bis zu sechzehn Jahren! Und eine junge Kollegin kriege ich auch und eine junge Brötchengeberin. Ich freue mich ganz schrecklich auf die Lehrzeit bei Frau Doktor Oberbach.“

„Wenn es nur soweit wäre“, seufzte Mutti. „Nun ja, Kind, du hast ja eine Probezeit, wenn es dir zu bunt oder zu anstrengend wird, kannst du ja aufhören.“

„Du wirst lachen, Mutti“, sagte ich. „Weißt du, ich mag die alte Dame. Sie ist so lebhaft und so lustig; letzten Endes werden wir es ganz nett zusammen haben.“

Am späten Nachmittag kam ich zusammen mit Frau Felsdorf junior bei der alten Dame an. Es war ein junges Mädchen, das die Tür aufmachte.

„Meine Tochter Hanni“, machte Frau Felsdorf bekannt. „Hannchen, dies ist also Allegra Walther.“

„Gott sei Dank, daß du kommst“, lächelte das Mädchen. „Ja, es ist dir doch wohl recht, daß ich gleich du sage? Ich bin erst sechzehn…“

„Und ich achtzehn“, sagte ich und reichte ihr die Hand. „Klar, daß wir du sagen. Aber warum ,Gott sei Dank’?“

„Weil ich jetzt etwa fünfundzwanzigmal habe erklären müssen, daß der Kakadu – o Verzeihung, ich meine Frau Schmidt – nun weg ist und daß die neue Betreuerin heute kommt. Außerdem habe ich sozusagen Großsaubermachen gehabt und eine Überschwemmung beseitigt. Omi hatte einen Anfall von Unternehmungswut und hat die Fensterblumen gegossen, das hat sie viermal getan und alles schwamm!“

Na, das konnte ja gut werden! Ob nun die Omi mich wiedererkennen würde? Meine Furcht war begründet. Denn als wir ins Wohnzimmer traten, lächelte sie freundlich. „Ach, wie nett, wieder ein junges Gesicht zu sehen. Sie sind wohl eine Freundin von Hannchen? Reizend, daß Sie eine alte Frau besuchen. Wie heißen Sie, mein Kind?“

„Ich heiße Allegra Walther, gnädige Frau.“ „Allegra? Warte mal – den Namen habe ich doch neulich gehört

– na, das war vielleicht im Fernsehen…“ „München“, ergriff nun die Schwiegertochter das Wort. „Es war

diese Allegra, die du getroffen hast, und sie ist deine neue Betreuerin und Gesellschafterin, sie löst Frau Schmidt ab.“

„Ach – waren Sie schon hier?“ Die Omi sah mich fragend und unsicher an.

„Ja, das war ich – und Sie nannten mich immer ,Spatz’.“ „Oh, jetzt weiß ich! Jetzt weiß ich es genau! Sie sind der kleine

Spatz, der meinen Kakadu ablösen soll. Natürlich, der kleine fette Spatz! Herzlich willkommen, mein Kind!“

Das menschliche Gedächtnis ist ein komisches Ding. Das Wort „Spatz“ hatte Omis verschlissene Gedächtniszellen in Schwung

gebracht. Jetzt war sie plötzlich vernünftig und wirkte normal. Ihre Schwiegertochter gab mir noch ein paar Anweisungen und

legte mir zuletzt nahe, sie anzurufen, falls unlösbare Probleme auftreten sollten. Ich trug meinen Koffer in das nette kleine Zimmer, das neben Frau Felsdorfs Schlafzimmer lag. Auspacken konnte ich ja später, nachdem die alte Dame ins Bett gegangen war.

Der „Kakadu“ hatte das Zimmer in einem vorbildlichen Zustand hinterlassen, pieksauber und aufgeräumt.

Vor der Tür wartete ein Kleinwagen mit einem blonden Jüngling drin. Hanni verabschiedete sich in Windeseile und sauste davon. Einen Augenblick kam mir ein kleiner, beinahe wehmütiger Gedanke: Hanni führte ein Leben, das für ein junges Mädchen normal war. Sie wurde von Freunden in Autos abgeholt, sie ging bestimmt tanzen und machte Ausflüge – und ich? Ich traf nur mit alten Menschen zusammen und war jetzt ganz und gar auf eine Achtzigjährige angewiesen.

Die kleine Verstimmung dauerte nur eine Minute. Dann dachte ich daran, wie schön es war, daß ich eine Lehrstelle bei der reizenden Frau Doktor Oberbach kriegen würde – und Lehrstellen hängen zur Zeit weiß Gott nicht an den Bäumen.

Was hatte ich gerade gedacht? Ich sei auf eine Achtzigjährige angewiesen? Blödsinn! Sie war auf mich angewiesen, ich hatte die Verantwortung, ich war diejenige, welche!

Frau Felsdorf junior machte sich auf den Heimweg, und ich war allein mit meiner kleinen, lieben, rotbackigen, tütterigen Brötchengeberin.

Ich dachte an einen skandinavischen Ausdruck, den man gerade für solche alten, leicht verwirrten Menschen benutzt. „Sie wandert in der Kindheit.“ Ja, gerade das machte meine kleine Frau Felsdorf.

Was hatte meine Momo gesagt? „Weißt du, Kind, ich denke mir das Leben wie einen großen

Kreis. Ganz unten fängt es an, dann geht es nach links und nach oben. Man ist klein und hilflos und weiß nichts und kann nichts, man muß gepflegt und trockengelegt und behütet werden. Dann fängt man an, Erfahrungen zu machen, fängt an zu lernen, es geht immer weiter, und du, mein Kind, du hast nun vielleicht ein Fünftel des Lebens hinter dir. Wenn man ganz nach oben kommt, wenn man reif und erfahren ist, und alles gelernt hat, was man im Leben lernen muß, wenn man vielleicht um die vierzig ist, dann geht es wieder abwärts auf der rechten Seite – siehst du den Kreis vor dir? Ich sehe

ihn ganz deutlich! Man erreicht dieselbe Höhe, die man als Zwanzigjährige erreicht hatte, und als Zehnjährige – und wenn man sehr lange lebt, erreicht man auch die Kleinkindhöhe und sogar – wovor Gott mich behüte – die Säuglingshöhe. Und dann ist der Kreis geschlossen und man verläßt das Leben da, wo man es angefangen hat.“

Meine Momo erreichte den Punkt nicht. Sie war klar und vernünftig die ganze Zeit. Gott hat sie davor behütet, wieder ein hilfloser Säugling zu werden.

Aber ich sah Momos Kreis vor mir und dachte daran, daß Frau Felsdorf jetzt auf der Höhe eines vierjährigen Kindes war.

Vielleicht würde dieses Jahr letzten Endes für mich eine gute Vorbereitung für meine Arbeit mit Kleinkindern werden?

„Nun schlägt es aber dreizehn!“ sagte Hanni Leicht wurde es nicht! Das bißchen Arbeit war einfach zu bewältigen. Für zwei

Personen einholen, kochen und abwaschen, das war nicht der Rede wert. Aber das dauernde Aufpassen! Nach zwei Tagen war ich regelrecht nervös geworden. Wenn Frau Felsdorf bloß nicht so furchtbar unternehmungsfreudig gewesen wäre! Wenn ich Einkäufe machte, ging es in Windeseile, ich stand vor der Kasse und trippelte vor Nervosität, bis ich mit meinem Einkaufskorb drankam und dann im Eiltempo nach Hause rannte.

Am ersten Tag fand ich sie in der Küche, überall umgeben von Apfelschalen, strahlend vergnügt und stolz.

„Ich dachte, wir könnten heute Apfelkompott essen“, verkündete sie. „Jetzt habe ich die Äpfel geschält, dann brauchen Sie es nicht zu tun, Spatz.“

Sie hatte leider Gottes den ganzen Apfelvorrat gefunden und etliche Kilo geschält. Ich mußte den großen Einmachtopf holen und das Ganze kochen. Was ich damit machen sollte, war mir schleierhaft. Einen Tiefkühler gab es nicht im Haus. Also mußte ich den ganzen Segen einwecken, was wiederum bedeutete, daß ich aus dem Keller Weckgläser raufholen und saubermachen mußte, und dann Mutti anrufen, um genaue Erklärungen über den Einweckvorgang zu erhalten. Und der Vormittag war reichlich mit Arbeit ausgefüllt.

Am zweiten Tag wiederholte sie die Nummer mit dem drei-, viermaligen Blumengießen. Am dritten Tag veranstaltete sie eine Überschwemmung. Sie hatte den Stöpsel des Waschbeckens fest

eingedrückt und den Wasserhahn aufgedreht – und alles vergessen. Zum Glück war ihr dieser Einfall anscheinend kurz vor meiner Rückkehr gekommen. Das Wasser lief munter auf den Fußboden im Bad, aber war noch nicht unter der Tür bis in die Diele vorgedrungen.

Dann war sie so unglücklich, daß sie mir leid tat, und ich konnte nicht böse werden. Ebenso war es mit den Äpfeln gewesen. Bei der Gelegenheit war sie so stolz wie ein kleines Kind, das Mutti helfen wollte – sie war rührend, als sie so dastand und mich überraschen wollte, daß ich kein vorwurfsvolles Wort sagen konnte.

Dann saßen wir am dritten Abend vor dem Fernseher. Frau Felsdorf hatte eine Vorliebe für blutige Krimis, je mehr Morde, desto besser.

Dieser kleine, liebe, friedfertige Mensch – was gaben ihr wohl die schrecklichen Krimis? Die Spannung, die sie vielleicht in ihrem Unterbewußtsein vermißte?

Aber nachdem nun der Mörder gefunden und der Krimi zu Ende war, kam ein Bericht aus Paris. Und dann entdeckte ich ganz neue Seiten bei meiner problematischen kleinen Brötchengeberin.

„Oh, das ist ja Montmartre!“ rief sie. „Sehen Sie, das ist Sacre Coeur – von dort hat man den schönsten Blick auf ganz Paris. Und dort, ja das ist Place du Tertre, da stehen die Maler dicht an dicht und malen Touristen und machen sie alle schöner als sie wirklich sind, bei mir hatte ein Maler alle Gesichtsfalten weggelassen, ich sah auf dem Bild aus wie eine Dreißigjährige, und dabei war ich vierundfünfzig!“

Ich ließ sie reden und erzählen. Sie sprach vollkommen vernünftig, in diesem Augenblick würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, daß sie verkalkt war.

„Ja, wissen Sie, mein Mann und ich waren ja mehrmals in Paris, das war vielleicht schön – ach, da ist ja der Tuileriegarten, dort links sehen Sie den Louvre – ja, und ich mußte immer mit den Kellnern und den Verkäufern sprechen, mein Mann konnte viel und wußte viel, aber das Französische war nicht seine starke Seite.“

„Können Sie es noch sprechen?“ fragte ich. „O ja, ich würde wohl zurechtkommen, wenn ich auch viele

Worte vergessen habe, aber wir hatten einen Lehrer in der Schule, der verstand es vielleicht, die unregelmäßigen Verben in unsere Köpfe einzuhämmern, so, daß sie sitzen blieben. Ja, das ist Place de la Concorde, und wenn man die Straße rechts geht und dann wieder

links, dann kommen die großen Modehäuser und die Antiquitätenläden!“

Was hatte Frau Oberbach gesagt? Alles aus ihrer Jugend hatte die alte Dame behalten, aber was gestern oder vor zwei Stunden geschehen war, das ahnte sie nicht.

Es wurde mir klar, daß mein Zusammensein mit Frau Felsdorf unterhaltsam und lehrreich werden könnte, wenn ich bloß ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit leiten konnte.

So wie sie jetzt dasaß und plauderte, wirkte sie ganz normal und durchaus vernünftig!

Am folgenden Morgen ganz früh klingelte das Telefon. „Morgen, Allegra, hier ist Hanni. Was gibt es heute bei euch zu

Mittag?“ „Königsberger Klopse und Obstsalat. Warum fragst du?“ „Weil es zu Hause Milchreis gibt; an den Tagen gehe ich immer

zu Omi. Koch bitte reichlich! Wie geht es sonst?“ „Oh, sehr gut. Deine Omi ist ja eine reizende alte Dame.“ „Fein, daß du das findest. Dann wird Mutti sich freuen. Gut, ich

komme direkt aus der Schule zu euch. Bis dann!“ Ich war ganz aufgekratzt! Endlich eine Abwechslung, endlich ein

junger Mensch! „Frau Felsdorf“, sagte ich, als sie zum Frühstück erschien, „Ihre

Enkelin kommt heute zu Mittag.“ „Ach, wie reizend! Haben wir etwas im Haus, was einem Kind

schmeckt? Und bringen Sie sie nachher nach Hause, oder wird sie abgeholt?“

„Hanni ist doch sechzehn, Frau Felsdorf. Sie ist schon eine junge Dame.“

„Ist sie schon so alt? Ja, die Zeit läuft, und wie sie läuft!“ Wir tranken Kaffee, und nach fünf Minuten fragte Frau Felsdorf: „Wer kommt heute, sagten Sie?“

„Hanni, Ihre Enkelin.“ „Das ist aber reizend! Ach, Spatz, wenn Sie Einkäufe machen,

dann bringen Sie doch ein paar kleine Schokoladenfigürchen mit, darüber freut sich immer ein Kind.“

„Hanni ist kein Kind, Frau Felsdorf. Sie ist schon sechzehn und besucht das Gymnasium.“

„Ach, so alt ist sie schon?“ Dies wiederholte sich noch dreimal. Dann hatten wir gefrühstückt, und ich machte mich auf, um die Besorgungen zu erledigen. Wenn Frau Felsdorf bloß nicht allzu

unternehmungsfreudig sein würde während meiner Abwesenheit! Das war sie aber. Als ich nach Hause kam, hatte sie im unteren

Fach ihres Bücherschrankes gewühlt. Da waren zwei Bilderbücher und ein Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel zum Vorschein gekommen.

„Sehen Sie, da haben wir Unterhaltung für das Kind, Spatz. Und nicht wahr, Sie bringen doch die Kleine nachher nach Hause?“

Hanni war ein lebhaftes, lustiges Mädchen mit einem gesegneten Appetit. Ein Glück, daß ich reichlich gekocht hatte. Zwischen den Bissen beantwortete sie zum siebtenmal die Frage der Großmutter: „In welcher Klasse bist du jetzt, mein Kind?“ und „Kommst du gut mit in der Schule?“ und „Wie alt bist du nun eigentlich geworden?“

Nach dem Essen zog Frau Felsdorf sich zurück, um ihr Mittagsschläfchen zu halten. Ich machte Kaffee für Hanni und mich selbst, und wir plauderten gemütlich: Ich genoß es richtig, mit einem jungen, fröhlichen Mädchen dazusitzen und durch sie für eine Weile in die Welt zurückgebracht zu werden, die eigentlich auch meine war.

Ich fragte sie, wie lange ihre Großmutter schon so gedächtnisschwach sei.

„Ach, schon lange. Es, fing an, kurz nachdem Opa starb, also vor zehn Jahren oder so. Anfangs natürlich nicht so schlimm wie heute. Ist es furchtbar schwer für dich, Allegra?“ Ich mußte lächeln.

„Oh, es geht. Außerdem hat deine Omi wirklich ganz helle Augenblicke, wo sie vollkommen normal ist!“

Ich erzählte von dem Fernsehprogramm und Frau Felsdorfs Bericht aus Paris. Hanni nickte.

„O ja, wenn sie über die Vergangenheit spricht, ist sie vernünftig. Aber weißt du, wir anderen, wir können ja nicht immer einen Hopser zwanzig Jahre zurückmachen, wir leben nun mal in der Gegenwart. Übrigens, hat Omi keine Reisepläne?“

„Nicht, daß ich wüßte.“ „Merkwürdig! Sie ist ja eine so unruhige Seele, sie liebt es, neue

Gegenden zu sehen und neue Menschen zu treffen. Die arme Frau Schmidt, du weißt…“

„Der Kakadu“, nickte ich. „Ja, eben. Die wurde nun kreuz und quer durch die

Bundesrepublik mitgeschleppt, und sie war eben zu alt dafür. Omi kommt in Festlaune, wenn sie in einem Eisenbahnabteil sitzt, und der Kakadu wollte am liebsten zu Hause die Ruhe genießen.“

„Aber wie geht es denn auf Reisen und in Hotels? Das muß doch

wahnsinnig schwierig sein…“ „Nein, weißt du, das ist ganz komisch. Sie ist ja früher so oft mit

Opa unterwegs gewesen; du ahnst nicht, wie viele und weite Reisen sie machten. Ich glaube, das Reisen an sich bringt sie um viele Jahre zurück, und dann ist sie vernünftig. Sie – ja, wie soll ich es ausdrücken – sie ist sozusagen reisediszipliniert. Es sitzt ihr wohl noch in den Knochen, wie man sich in einem Hotel zu benehmen hat. Frau Schmidt sagte auch immer, daß Omi erstaunlich vernünftig auf den Reisen war, sonst hätte der arme Kakadu es nicht ausgehalten, das dauernde Kofferpacken und Eisenbahnfahren und all die Unruhe!“

„Also kann ich es mit Ruhe hinnehmen, falls deine Omi eines Tages wieder einen Anfall von Reiselust kriegt?“

„O ja. Wenn du hier zu Hause mit ihr zurechtkommst, schaffst du es auch unterwegs. Glaubst du wirklich, daß du dies ein ganzes Jahr aushältst, Allegra? Und fürchtest du nicht, daß du hier im Hause verschimmelst?“ Ich mußte lachen. „Genau dasselbe fragte Vati, als ich am Sonntag zu Hause war. Natürlich gebe ich zu, daß ich manchmal Lust hätte, mit jungen Menschen zusammenzukommen. Aber andererseits habe ich eine Art – ja, ich kann beinahe Zärtlichkeitsgefühl sagen – alten Menschen gegenüber. Seit ich meine Großmutter pflegte. Und dann, weißt du, werde ich in einem Jahr Helferin bei Frau Doktor Oberbach werden, dann werde ich wohl alles nachholen können, was ich jetzt entbehren muß.“

„Und was sagen deine Eltern zu dieser merkwürdigen Anstellung, die du hier hast?“

„Oh, sie haben mir nur nahegelegt, immer die Türkette vorzulegen und niemals fremde Menschen in die Wohnung reinzulassen!“

„Tust du es auch? Ich meine das mit der Kette?“ „Das kann ich dir sagen! Man hört doch so viel über Überfälle

gerade bei einsamen alten Frauen, und man sieht so viel Scheußliches im Fernsehen. Wenn ich rausgehen muß, hänge ich ein großes Schild an die Kette, mit ,NICHT AUFMACHEN!’ in Riesenlettern. Ich selbst gehe dann durch die Hintertür, und die schließe ich mit einem extra Einsteckschloß ab.“

„Hoffentlich respektiert Omi auch dein Warnschild.“ „Ja, etwas muß doch bei ihr von all ihren Krimis hängenbleiben“,

meinte ich. „Aber du weißt, deine liebe Omi ist so freundlich gegen alle Menschen, sie denkt nichts Böses; der Himmel weiß, ob sie

nicht irgendeinen schrägen Kerl reinlassen würde, wenn er an ihr Mitleid appellierte.“

Hanni guckte auf die Uhr. „Mensch, es ist halb vier, und ich wollte doch hier meine

Schularbeiten machen! Der Timo holt mich um fünf ab.“ „Hast du denn viel auf?“ „Mehr als mir lieb ist. Das Französische ist das schlimmste.

Möchte mal wissen, wie französische Kinder eigentlich sprechen lernen!“

„Es gibt auch welche, die russisch und tschechisch lernen“, lächelte ich.

Bevor wir mit diesem geistreichen Gespräch weiterkamen, erschien Frau Felsdorf. Freundlich und lieb wie immer.

„Omi“, sagte Hanni, „ich muß unbedingt Schularbeiten machen, darf ich mich in dein Schlafzimmer zurückziehen?“

„Natürlich, Kind, das darfst du. In welcher Klasse bist du nur?“ „In der Untersekunda“, sagte Hanni zum fünftenmal an diesem

Tag. „Ach, so weit bist du schon? Ja, die Zeit vergeht. Wie alt bist du

eigentlich jetzt?“ „Sechzehn“, sagte Hanni mit Engelsgeduld. Dann stand sie auf.

„So, jetzt muß ich aber wirklich was tun, ihr müßt zusehen, daß ihr ohne mich zurechtkommt. Il faut que m’en vais!“

„So heißt es nicht, mein Kind“, kam es sanft von Frau Felsdorf. „Du mußt sagen: ,Il faut que je m’en aille!“ Hanni blieb mit offenem Mund stehen.

„Omi, kannst du – ich meine – warum muß es so heißen?“ „Weil es Konjunktiv sein muß. Du hast Indikativ benutzt“, sprach

die Omi und verließ das Zimmer, Richtung Toilette. „Nun schlägt es aber dreizehn!“ rief Hanni. „Daß von allen

Menschen auf der Welt ausgerechnet meine kleine verkalkte Omi mir mit der französischen Sprache helfen sollte!“

Worauf Hanni kopfschüttelnd ins Schlafzimmer verschwand.

Die zweite Allegra Am folgenden Sonntag machte ich mit den Eltern einen Autoausflug. Es war Mai, überall war es grün, der Buchenwald war so schön, wie er nur im Mai sein kann, und wir hatten ein sagenhaftes Glück: Auf einem stillen und wortlosen Waldspaziergang sahen wir zwei winzige Rehkitzchen, sie konnten höchstens eine Woche alt sein.

Vati war großzügig und lud uns zum Mittagessen in ein nettes Lokal ein. „Dann braucht Mutti nicht zu kochen“, war sein Grund.

„Und wir kriegen das Sonntagsessen am Montag“, sagte Mutti lächelnd.

Am Mittagstisch mußte ich erzählen. Die Eltern nahmen lebhaft teil an meinen Problemen, meinen Pflichten und überhaupt an meinem – oft etwas seltsamen – täglichen Leben bei Frau Felsdorf.

Natürlich erzählte ich von der großen Überraschung mit den französischen Sprachkenntnissen, und wie Frau Felsdorf mir lebhaft und ganz normal über ihre Frankreichreisen erzählt hatte.

Vati nickte. „Weißt du, Alli, das ist ein ganz bekanntes Phänomen. Ich habe es auch mit meiner eigenen Großmutter erlebt. Aus ihrer Jugend wußte sie alles, sehr viel von ihren Schulkenntnissen waren bei ihr hängengeblieben, sie konnte lustig und reizend aus der Kindheit ihrer Kinder erzählen. Alles bis zu einem gewissen Punkt. Was sie in den letzten Jahren gesehen und erlebt hatte, war aus ihrem Gedächtnis wie ausradiert. Geschweige denn, was vor zwei Tagen oder vor drei Stunden geschehen war.“

„Na, dann weißt du ja, wie anstrengend es sein kann“, meinte ich. „Kommt darauf an“, sagte Vati. „Wir lernten ja, daß wir nur das

Gespräch auf die Vergangenheit zu lenken brauchten, dann konnten wir die gute Großmama als einen normalen Menschen betrachten und uns blendend mit ihr unterhalten.“

„Ich überlege etwas“, sagte Mutti langsam. „Ob nicht die weise Natur etwas bezweckte. Der alte Kopf ist müde, er hat genug Eindrücke aufgenommen, eines Tages kann er nicht mehr, und es ist gut so. Dann hat der alte Mensch seine Ruhe. Was das Gehirn aufgenommen hat, das sitzt, und wenn man versucht, mehr reinzustopfen, läuft es eben über. Man kann nicht einen vollen Eimer dazu überreden, mehr Wasser zu fassen. Wenn er voll ist, ist er eben voll.“

„Vielleicht hast du recht“, meinte Vati. „Ich habe mir übrigens

ähnliche Gedanken gemacht. Mein Großvater wurde sehr schwerhörig, und seine wohlmeinende Familie verschaffte ihm ein Hörgerät. Er wurde gar nicht glücklich damit. Die Schwerhörigkeit hatte ihm Ruhe verschafft, er ging seinen eigenen Gedanken nach und wurde nicht von der Unruhe der Umwelt gestört. Versteh mich richtig: Wenn ein junger Mensch das Unglück hat, schwerhörig zu werden, ist es ein Segen für ihn, daß es gute Hörgeräte gibt. Aber ich glaube, die Alten soll man in Ruhe lassen. Da hat die weise Natur dafür gesorgt, daß sie es vermeiden, eine Menge Sachen zu hören, die sie doch nicht aufnehmen und verarbeiten können.“

„Ja, schwerhörig ist Frau Felsdorf nun nicht“, sagte ich. „Aber mit den Gesprächen über die Vergangenheit werde ich es versuchen. Ich glaube, sie ist ein sehr intelligenter Mensch und hat bestimmt eine Menge Interessen gehabt. Ich werde mal sehen, was ich ausgraben kann. Letzten Endes kommt es soweit, daß ich etwas von ihr lernen kann.“

Vati hatte recht. Als ich am folgenden Tag Frau Felsdorf fragte, welche ihrer Reisen am schönsten gewesen sei, holte sie freudestrahlend ein Buch aus ihrem Bücherschrank. Wahrscheinlich standen die Bücher seit Jahren auf demselben Platz, denn sie wußte sofort, wo dieser Band war. Es war ein Bilderband aus Prag.

Sie zeigte und erzählte, wußte alle Namen, konnte zu allem ihre Kommentare geben. Ich nahm alles in mich auf, nicht aus Höflichkeit, sondern weil Prag immer das Ziel meiner Träume gewesen ist. Ich möchte einmal im Leben über die Karlsbrücke gehen, ich möchte auf dem Hradschin stehen und den Blick über die ganze „Goldene Stadt“ gleiten lassen. Ich möchte die „Kleinseite“ sehen und den Wenzelsplatz, und ich möchte an einem Frühjahrsabend in einem gemütlichen Lokal am Ufer der Moldau sitzen, und dann müßte unbedingt ein Orchester Smetanas „Moldau“ spielen.

Warum ich mich gerade in Prag verliebt habe, weiß ich nicht. Alle Menschen haben vielleicht ein Traumziel, und bei mir war es also Prag.

„Ja, die herrliche Goldene Stadt“, sagte Frau Felsdorf und sah träumend vor sich hin. „Ist es Ihnen aufgefallen, Spatz, daß man immer zu dem Wort ,golden’ greift, wenn man ganz was Schönes bezeichnen will? ,Das goldene Dachl’ in Innsbruck, ,Golden Gate’ in San Franzisko…“

„Das Goldene Horn in Istanbul“, ergänzte ich.

„In Wladiwostock ist auch ein ,Goldenes Horn’“, belehrte mich Frau Felsdorf. „Ja, und dann Prag – eine Stadt, die so schön ist, daß man die ganze Stadt ,golden’ nennt.“

Es wurde direkt ein gemütlicher Abend – und meine Sehnsucht nach Prag wurde noch größer. Am folgenden Tag brachte ich sie dazu, aus ihrer Schulzeit zu erzählen und über die Lebensverhältnisse damals. Allmählich wurde eine Art Geschichtsunterricht und Kulturgeschichte daraus. Es fesselte mich, wenn sie so erzählte, und das, was bis jetzt ein trockenes Schulfach gewesen war, rückte plötzlich näher und wurde lebendig. Denn dieser kleine, weißhaarige, rotbackige Mensch hatte das alles erlebt, sie konnte Dinge erzählen, die in keinem Schulbuch stehen. Sie sprach von ihrer Kindheit während der Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg, und ich saß da und zog Vergleiche und wunderte mich darüber, wie enorm die Welt sich in siebzig Jahren ändern kann.

Der Mittwoch kam, und meine kleine reisefreudige Gnädige wurde von ihrem Sohn abgeholt.

„Na, wie geht es, Fräulein Allegra?“ „Oh, es geht gut. Ich habe es urgemütlich mit Ihrer Frau Mutter.“ „Meinen Sie es im Ernst?“ „Unbedingt. Ihre Mutter erzählt so lustig und so – ja, direkt so

lehrreich aus ihrer Jugend, es macht mir furchtbar viel Spaß.“ „Sie glauben also, daß Sie in dieser merkwürdigen Stellung

aushalten werden?“ „Sicher. Aber nur für ein Jahr. Sie wissen ja…“ Er nickte. Er

kannte ja meine Situation und meine Zukunftspläne. „Sie finden es vielleicht komisch, daß wir nicht meine Mutter in

ein Altersheim gesteckt haben. Aber wissen Sie, sie hängt so an ihrem Zuhause, sie ist so fröhlich und unternehmungslustig, daß sie sich in einem Heim todunglücklich fühlen würde. Und warum sollte sie nicht hierbleiben? Sie kann es sich finanziell leisten, es geht nur darum, daß sie immer eine Betreuerin hat. Und Sie scheinen ja die Richtige zu sein, trotz Ihrer Jugend. Oder…“, fügte er hinzu, „oder – vielleicht gerade deshalb!“

Mutter und Sohn zogen los, ich erledigte schnell das kleine Mittagsabwaschen. Mittwochs aßen wir immer rechtzeitig, und mein freier Nachmittag wurde lang und ausgiebig. Das war ja auch meine einzige Gelegenheit, private Besorgungen zu machen. Heute mußte ich Schuhe kaufen. Ich konnte mir sogar ein Paar extra feine Qualitätsschuhe leisten, denn ich hatte mein Gehalt bekommen, eine

wirklich großzügige Summe. Also nichts wie los – Einkaufstasche, Geld, Schlüssel, bloß nichts

vergessen. Wenn Frau Felsdorf nicht zu Hause war, konnte ich ganz einfach die Wohnungstür hinter mir abschließen und das ganze Theater mit Hintertür und Einsteckschloß sparen.

Das Haus lag direkt am Park, und wenn ich den durchquerte, sparte ich Zeit. Außerdem war der Park zu dieser Jahreszeit so schön, daß es eine wahre Wonne war. Ich hatte auch daran gedacht, ein paar alte Brotreste für die Enten einzustecken. Gerade jetzt hatten sie Junge, und es machte immer Spaß, die kleinen, molligen Federbällchen zu füttern.

Bei dieser Beschäftigung war ich gerade, als ich eine ziemlich laute Stimme hinter mir hörte. „Allegra!“

Nanu, wer hatte mich gerufen? Ich drehte mich um. Einige Meter von mir entfernt stand ein junger Mann. Nun rief er wieder, klar und deutlich: „Allegra!“

Wer war das bloß? Ein lustiges, sommersprossiges Gesicht, eine kastanienbraune Haartolle, die ihm auf die Stirn fiel. Einer meiner alten Klassenkameraden? Einer, den ich seit drei Jahren nicht gesehen hatte? Jedenfalls war es einer, der meinen Vornamen kannte. Ich ging ein paar Schritte näher. „Ja?“ sagte ich fragend. Er guckte mich an, verständnislos. „Wieso ja? Sprechen Sie mit mir?“

„Sie haben mich doch gerufen!“ „Ich? Sie gerufen? Den Hund habe ich gerufen, das kleine Biest,

es hat sich losgerissen und… Heißen Sie wirklich Allegra?“ „Ja, unbedingt. Bin so getauft worden.“ „Das ist aber ulkig. Aber die Hündin meines Chefs heißt auch so,

und jetzt ist sie verschwunden, der Himmel weiß wohin, sie war wie ein Blitz.“

„Wie sieht sie aus?“ „Glatthaardackel, schwarz-braun, rotes Halsband und eine rote

Leine, die sie hinter sich herschleppt. Verflixtes Viech, sie machte eben eine plötzliche Bewegung und riß mir die Leine aus der Hand! - Allegra!“

„Da!“ rief ich. „Da bewegt sich etwas – hinter den Rhododendronbüschen!“ Ohne Rücksicht auf das Schild, das klar und deutlich verkündete, daß das Betreten des Rasens verboten war, rannte ich über das Gras und bekam gerade noch die Schlaufe einer roten Leine zu fassen.

Doch was am anderen Ende zum Vorschein kam, konnte man nur

beim allerbesten Willen einen Dackel nennen. Es war vielmehr ein schmieriger, stinkender Klumpen.

„Heiliger Schreck!“ stöhnte der Sommersprossige. „Mit dem da soll ich zurück zum Chef kommen? Nix mit Gehaltserhöhung, darum wollte ich gerade heute bitten. Allegra, du bist ein Untier, was mache ich bloß mit dir?“

„Kommen Sie!“ sagte ich kurz entschlossen. „Wir werden sie waschen. Nehmen Sie sie auf den Arm. Moment mal…“ Ich wühlte in meiner Einkaufstasche, dort hatte ich einen großen Plastikbeutel mit dem Werbeaufdruck eines exquisiten Delikatessengeschäfts. Darin wurde meine Namensschwester eingepackt, und wir wanderten zurück zu meinem Ausgangspunkt, das heißt, zu Frau Felsdorfs Wohnung. „Hier. – Kommen Sie mit! Wir müssen direkt ins Badezimmer!“

Da wurde das kleine Stinktier mit der Handbrause saubergemacht, was nicht ohne energische Proteste geschah, und dann mit einem Frottiertuch abgerubbelt und zuletzt mit dem Fön behandelt. Dann entpuppte sie sich als ein wirklich niedliches, hübsches Tierchen.

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte der sichtbar erleichterte junge Mann. „Wissen Sie, der kleine Unglücksrabe ist ja der Augapfel meines Chefs. Ich habe freibekommen, mitten in der Arbeitszeit, um das gute Stück Gassi zu führen. Der Chef wäre in Ohnmacht gefallen, falls ich den Stinkklumpen zurückgebracht hätte. Weiß der Himmel, worauf sie sich gewälzt hat!“

„Entendreck, nach dem Geruch zu urteilen“, meinte ich. „Machen Sie nun bloß schnell, bevor der Chef ängstlich wird, Herr…“

„Glinde, Hartmut Glinde. Und Sie heißen Allegra…“ Er warf einen Blick auf das Türschild der schon geöffneten Wohnungstür. „Ach, Sie heißen Felsdorf!“

„Nein, ich heiße Walther. Ich wohne nur bei der alten Frau Felsdorf.“

„Die alte Frau Felsdorf! Jetzt fällt bei mir der Groschen! Die reizende alte reisefreudige Frau Felsdorf! Sie ist ja seit Jahren Kundin bei uns und bestellt ihre Karten und Hotelzimmer drei- oder viermal, weil sie immer vergißt… Sind Sie vielleicht Ihre Gesellschafterin oder Babysitter oder wie man es nennen soll?“

„Genau das bin ich. Und es ist mein freier Nachmittag und Frau Felsdorf ist bei ihrem Sohn – zum Glück. Aber wieso ist sie bei Ihnen Kundin? Arbeiten Sie vielleicht in einem Reisebüro?“

„Erraten! Ein Reisebüro, wo man sich jetzt wundert, weil ich so lange wegbleibe. Ich muß rennen – tausend Dank, ich weiß gar nicht, was ich ohne Ihre Hilfe hätte tun sollen – Allegra!“

Ein fester Händedruck, ein Lächeln aus zwei blauen Augen unter einer widerspenstigen Haartolle, und weg war er.

Während ich die Badewanne mit allen zur Verfügung stehenden Reinigungsmitteln saubermachte und das Frottiertuch wusch und zum Trocknen aufhängte, mußte ich plötzlich lachen. Ja, ich war vielleicht eine feine Hüterin des Hauses! Ich hatte stundenlang Frau Felsdorf ermahnt, bloß keine Fremden in die Wohnung zu lassen, und was hatte ich selbst gemacht? Hartmut Glinde hätte ja ein ausgekochter Verbrecher sein können – denn wo steht geschrieben, daß es keine sommersprossigen Verbrecher gibt?

Mit dem Schuhkauf wurde es nichts für heute. Aber der Nachmittag hatte mir was anderes gegeben. Kontakt mit einem jungen Menschen, mit einem freundlichen, lustigen jungen Mann. Das war mir im Augenblick viel wertvoller als ein Paar neue Schuhe, und es war etwas, was ich eigentlich auch dringender brauchte!

Am folgenden Nachmittag, während Frau Felsdorf ihr Schläfchen und ich das Abwaschen absolvierte, klingelte es. Ich legte die Kette vor und machte die Tür einen Spalt auf – und sah zweierlei: Ein sommersprossiges Gesicht und eine Hand, die einen Blumenstrauß hielt.

„Oh, Herr Glinde…“ Ich hakte die Kette aus und öffnete die Tür. „Wo ist meine Namensschwester?“

„Unter Herrchens Schreibtisch im Büro. Sauber und zufrieden. Ich wollte nur – ich weiß nicht, wie ich meine Dankbarkeit ausdrücken soll, deshalb lasse ich Blumen sprechen!“ Er drückte mir den Strauß in die Hand.

„Das ist aber lieb von Ihnen. Die Sprache höre ich gern, oder vielmehr, sehe ich gern! Kommen Sie doch rein, Herr Glinde!“ Er guckte auf die Uhr.

„Viel Zeit habe ich nicht, ich wurde zur Post losgeschickt, na, vielleicht glaubt der Chef, daß ich da lange warten muß. Aber dürfen Sie denn Besucher empfangen?“

„Wahrscheinlich, ich habe nie gefragt“, gestand ich. „Aber Frau Felsdorf schläft gerade. Übrigens, sie ist ja der liebste Mensch, den man sich denken kann, sie würde Sie bestimmt strahlend freundlich begrüßen.“

Ich sollte recht behalten. Denn in diesem Augenblick erschien

sie. „Oh, wir haben Besuch? Wie nett! Ein Freund von Ihnen,

Spatz?“ Bevor ich antworten konnte, ergriff Hartmut Glinde geistesgegenwärtig das Wort.

„Ich weiß nicht, ob Sie mich noch kennen, gnädige Frau. Ich bin in Ihrem Reisebüro angestellt und wollte Ihnen ein paar Prospekte bringen.“

„Das ist reizend von Ihnen. Wie aufmerksam! Und gerade jetzt, wo ich mir so sehr überlege, wo ich dieses Jahr hinfahre. Sagen Sie“, Frau Felsdorf betrachtete Hartmut Glinde aufmerksam, „haben Sie mich eigentlich schon bedient? Ich kann mich nicht erinnern…“

„Nur einmal, gnädige Frau. Vor einem Jahr. Damals war ich ein blutiger Anfänger, jetzt weiß ich etwas mehr Bescheid.“

Aha, dachte ich. Alles, was er über Frau Felsdorf und ihren x-mal wiederholten Bestellungen wußte, hatte er also von seinen älteren Kollegen. Frau Felsdorf war wohl ein fester und etwas komischer Begriff im Reisebüro.

Sie strahlte, als eine Reihe bunter Prospekte ihr vorgelegt wurden, und sie fing sofort an, drin zu blättern.

„Sie können sie alle behalten“, erklärte Hartmut Glinde, „damit Sie in aller Ruhe Ihre Wahl treffen können!“

„Das ist ja wunderbar. Dann haben wir Unterhaltung für den ganzen Abend, nicht wahr, Spatz? – Ach, müssen Sie schon gehen? Es war aber sehr lieb von Ihnen, mit den Prospekten extra herzukommen. Na, wir werden demnächst das Reisebüro aufsuchen, wenn wir uns entschlossen haben.“

Ich brachte Hartmut Glinde zur Tür und bedankte mich noch einmal für die Blumen.

„Laufen Sie immer so herum mit den Taschen voll Prospekte?“ wollte ich wissen.

„Von wegen! Ich habe sie nur eingesteckt, um bei der alten Dame freundlich empfangen zu werden“, grinste Herr Glinde. Gleich darauf verschwand er, und das Knattern eines Motorrollers verkündete, daß er auf dem schnellsten Wege zurück zu seinen Pflichten eilte.

Die Blumen stellte ich in mein Zimmer. Sonst wären lange Erklärungen notwendig geworden.

Dann saßen wir beide am Abend mit all den bunten Prospekten vor uns. Sie waren ganz planlos und anscheinend in großer Eile zusammengeklaubt, denn da war alles, von Bayern bis London, von

Spanien bis Nordkap. „Spanien“, sagte Frau Felsdorf. „Nein, da möchte ich nicht hin.

Einmal genügt mir!“ „Sie waren schon da?“ fragte ich. „Ja, mit meinem kunstliebenden Mann. Denn Kunst gibt es in

Spanien, mehr als in allen Ländern die ich besucht habe. Und Burgen und Schlösser und Gemälde und Gobelins – o ja, die Gobelins! Und Paläste! Und Städte mit mittelalterlichen Mauern. Aber – es gibt auch was anderes. Die grausamen Erinnerungen an die Ketzerverbrennungen, denken Sie an den schrecklichen Herzog Alba – und die Konquistadoren. Ja, das ist lange her, das stimmt, aber mir war es als hätten sie einen Dunst von Blut und Feuer hinterlassen. Und was noch existiert ist all das Blut, das in den Stierkampfarenen fließt.“

Frau Felsdorf sprach mit Leidenschaft. Sie war nicht mehr eine verkalkte Achtzigjährige. Sie war die gesunde, die intelligente und warmherzige Frau, die sie vor vierzig Jahren gewesen war.

„Haben Sie vielleicht Stierkämpfe gesehen?“ fragte ich. „Um Gottes willen, nein! Aber mein Mann und ich waren dabei

als eine Touristengruppe den Hotelportier bat, Karten für einen Stierkampf zu besorgen. Der Portier fragte uns, ob wir vielleicht auch… Da platzte es aus mir heraus: ,Wir sind doch keine Sadisten!’ Einer der Touristen lächelte mitleidig und sagte: ,Dann können Sie auch kein Fleisch essen.’ Der Idiot! Ich antwortete, ich glaube, sehr laut und deutlich: ,Ich habe auch nie Fleisch von Tieren gegessen, die in stundenlangem Kampf Banderillos mit Widerhaken in den Rücken eingejagt bekommen.’ – Oh, wie war ich wütend und unglücklich! Am nächsten Tag erzählten ein paar der Gruppe, es sei so grausig gewesen, am liebsten wären sie weggegangen, aber sie saßen auf der Mitte der Bank und konnten nicht raus. Aber hingehen tun die Leute und tragen dazu bei, daß es weitergeht mit diesen unbeschreiblichen Tierquälereien!“

Frau Felsdorf sprach schnell und fließend. Dies war etwas, was sie oft gesagt hatte, das war mir klar.

„Ich habe irgendwann gehört, daß die Spanier sich immer mehr für Fußball interessieren“, sagte ich. „Mehr Fußball und weniger Stierkämpfe.“

„Möge es stimmen! Aber sehen Sie, die Spanier haben eine ganz andere Einstellung zum Tier. Sie verstehen uns nicht, wenn wir von Tierquälerei sprechen. Die Spielzeugläden verkaufen Mini-

Banderillos und kleine Toreroanzüge für vier- bis fünfjährige Kinder. Ein Spanier kann am Abend einen Stierkampf besuchen und dabei vor Begeisterung laut jubeln, und am folgenden Morgen kann er fromm in die Kirche gehen und beten, mit dem besten Gewissen der Welt. Dabei lehrt doch die katholische Kirche, daß Tierquälerei eine große Sünde ist. Nein, die Spanier selbst verstehen es nicht. Aber daß die Ausländer, die Touristen aus nördlicheren Ländern diese Scheußlichkeit unterstützen, das macht mich wütend und unglücklich!“

Ich sah Frau Felsdorf an. Ihre Augen waren jung, ihre Stimme hatte eine überzeugende Kraft.

Jetzt nahm sie einen anderen Prospekt vom Tisch. „Schauen Sie, hier, Spatz! Das sieht aber schön aus!“ Es war ein

Prospekt von einem Strandhotel im südlichen Norwegen. Ich las schnell den Werbetext: „Norwegen bietet nicht nur tiefe Fjorde, hohe Berge und Mitternachtssonne. Auch für die, die am Meer einen erholsamen, ruhigen Urlaub verbringen möchten, hat Norwegen viel zu bieten. Fahren Sie nach Südnorwegen, genießen Sie das milde Klima, die liebliche Natur, die weißen Badestrände.“ Und so weiter.

Dann natürlich Fotos vom Hotel, mit schönen Zimmern, geschmackvollen Aufenthaltsräumen, mit Tennisplatz, Minigolf und allem was dazugehört.

„Wenn es bloß nicht die Schwierigkeit mit der Sprache gäbe!“ seufzte Frau Felsdorf. „Ich bin einmal in Skandinavien gewesen, und Sie ahnen nicht, was für furchtbar schwierige Sprachen sie da haben!“

„Doch, das ahne ich“, lächelte ich. „Ich spreche selbst eine davon fließend. Nicht Norwegisch, sondern Schwedisch. Damit kommt man auch in Norwegen gut zurecht.“

„Was? Sie sprechen Schwedisch? Aber Spatz, das ist ja großartig. Dann fahren wir nach Norwegen. Wir gehen gleich morgen ins Reisebüro!“

Ich guckte auf die Uhr. Es war schon halb zehn. Frau Felsdorf ging zu dieser Zeit immer schlafen.

Ich wollte sie daran erinnern, aber da sprach sie: „Wollen wir nicht Abendbrot essen, Spatz?“

„Das haben wir doch hinter uns, Frau Felsdorf, wir tranken schon um sieben Uhr unseren Tee.“

„Was? Haben wir schon? Ach ja, ich bin eben alt und vergeßlich.“

„Haben Sie vielleicht noch Hunger? Soll ich Ihnen ein paar Kekse geben?“

„Sie sind aber lieb, Spatz. Ja, legen Sie die Kekse hin, die esse ich dann im Bett.“

Ich wurde etwas aufgehalten. Das Telefon klingelte, es war Hanni, die sich zum Mittagessen am folgenden Tag anmeldete. Dann mußte ich in die Speisekammer, um eine neue Keksdose zu holen, und als ich endlich die Kekse ins Schlafzimmer brachte, schlief Frau Felsdorf fest. Ich stellte das Tellerchen auf den Nachttisch, blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Schlafende. Sie lag so unendlich friedlich da, um ihren Mund lag ein ganz kleines Lächeln, und die Wangen waren rosig wie bei einem schlafenden Kind. Es stieg ein Gefühl der Zärtlichkeit in mir auf, ich empfand eine Güte für dieses liebe, alte Menschenkind. Es war ein Gefühl, das ich aus der Zeit bei Momo so gut kannte.

Ich zupfte vorsichtig das Federbett ein bißchen zurecht, machte das Licht aus und ging lautlos aus dem Zimmer.

Dann rief ich Mutti an und erzählte, daß ich demnächst mit meiner kleinen Brötchengeberin nach Norwegen fahren würde.

„Hoffentlich geht alles gut“, war Muttis Kommentar. „Warum sollte es nicht gutgehen?“ sagte ich. „Du wirst lachen,

Mutti, aber weißt du, ich freue mich auf die Reise. Ja eben, auf eine Reise mit der kleinen verkalkten Omi Felsdorf!“

„Du bist eine komische kleine Nudel, Alli“, schmunzelte Mutti am anderen Ende der Leitung. „Nun ja, wir besprechen alles weiter, wenn du am Sonntag herkommst.“

„Dann gute Nacht, Muttchen, grüß Vati und schlaf gut.“ „Danke, gleichfalls, mein Schatz!“

Gespräch am Straßenrand Am folgenden Tag fand unser denkwürdiger Besuch im Reisebüro statt.

Frau Felsdorf wurde gleich von einer etwas älteren, anscheinend erfahrenen Dame begrüßt. Meine Augen flogen durch den Raum. Ja, da stand Hartmut über ein Kursbuch gebeugt, während ein Kunde auf Auskunft wartete. Als Hartmut von seinen Fahrplänen aufschaute, erblickte er mich. Er zwinkerte mir einen Augenblick zu, schrieb dann dem Kunden die Abfahrtszeiten auf, der Kunde verschwand und in dem Augenblick wurde unsere erfahrene Dame ans Telefon gerufen. So fiel es gar nicht auf, daß Hartmut für ein paar Minuten ihren Platz einnahm und Frau Felsdorfs Fragen beantwortete.

Unsere Betreuerin kam zurück, und Hartmut und ich konnten schnell ein paar Worte wechseln.

„Gehen Sie öfters durch den Park?“ wollte er wissen. „Nur mittwochs gegen Mittag, und am Sonntagmorgen. Dann

habe ich frei und fahre nach Hause.“ „Ach so, Sie gehen durch den Park zur Bushaltestelle?“ „Genau.“ „Wohnen Sie weit weg? Ich meine, ob Ihre Eltern…“ „O ja, außerhalb. Eine halbe Stunde mit dem Bus.“ „Es würde schneller mit dem Motorroller gehen. Dann vermeidet

man all die Haltestellen. Wann gehen Sie sonntags los?“ „So gegen halb zehn.“ Es kam Kundschaft, Hartmut mußte sich um sie kümmern und

ich mußte Frau Felsdorf helfend zur Seite stehen. „Und zwei Einbettzimmer“, sagte Frau Felsdorf.

„Nebeneinander!“ „Ja, gnädige Frau, ich habe es schon notiert.“ „Und nicht in den oberen Etagen. Mein Mann hat einmal einen

Hotelbrand erlebt…“- „Ich weiß, das sagten Sie schon, gnädige Frau.“ „Ja, und mit Blick auf die See… Ach, Spatz, was hatten wir uns

noch notiert?“ Ich übernahm nun die Verhandlungen und bekam zu wissen, daß

man – wenn man nicht fliegen möchte – mit der Bahn bis zur Nordspitze Jütlands fahren könnte und von dort mit einem sehr

schönen Fährschiff nach Kristiansand, der südlichsten Stadt Norwegens. Von dort verkehrten ständig Busse, die uns bis zum Hoteleingang brachten. Das Hotel lag außerhalb eines kleinen Städtchens, allerdings an einer Hauptverkehrsstraße, aber der große Vorgarten lag da, als eine Art „Schalldämpfer“. Aber die meisten Zimmer lagen auf der Rückseite, mit Balkons, mit Blick auf den Park, und den weißen Strand mit Strandkörben und allem, was man sich wünschen konnte.

„Und notieren Sie bitte zwei Einbettzimmer“, sagte Frau Felsdorf. Unsere Betreuerin behielt die Fassung, nickte nur freundlich und bat uns, einen Augenblick Platz zu nehmen, während sie per Fernschreiber erkundete, ob noch Zimmer frei wären.

„Ach, Spatz“, sagte Frau Felsdorf, nachdem wir zwei Minuten in der Empfangsecke gesessen hatten, „gehen Sie doch bitte hin und sagen Sie, daß wir zwei Einbettzimmer nebeneinander haben möchten.“

Hartmut kam mir entgegen. „Ja, ja, ich habe es gehört, sie hat es dreimal gesagt. – Allegra,

ich kann ja nicht per Motorroller durch den Park fahren, gehen Sie doch am Sonntag durch die Haustür direkt auf die Straße…“

Das versprach ich. Dann klappte alles. Im Hotel hatten sie in drei Wochen die

erwünschten Zimmer frei, der Hotelschein und die Karten für Bahn und Fähre könnten am Dienstag abgeholt werden.

Wir verabschiedeten uns. In der Tür drehte sich Frau Felsdorf noch einmal um. „Ach, was ich noch sagen wollte – bitte, zwei Einbettzimmer nebeneinander!“

„Wie gut, daß Sie es erwähnen, gnädige Frau“, sagte Hartmut, der uns höflich die Tür aufgemacht hatte.

Ich war ganz aufgekratzt. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr: Bis jetzt war ich nie in

meinem achtzehnjährigen Leben von einem Jungen per Motorroller abgeholt worden, und per Auto erst recht nicht! In der Schulzeit hatte ich ab und zu eine Radtour mit einem Klassenkameraden gemacht, aber auch nicht allzu oft. Ich war nicht der Typ, der gefragt war. Wir waren schon gute Kameraden, aber die, die zum Tanzen mitgenommen wurden, waren die schicken und gertenschlanken, und ich war weiß Gott keine Gerte. Eher könnte man mich mit einem Baumstumpf vergleichen.

Ich betrachtete mich selbstkritisch in dem großen Spiegel in Frau

Felsdorfs Schlafzimmer. Dann stellte ich mich auf die Waage im Badezimmer – und erblaßte. Lieber Himmel, ich hatte schon wieder zugenommen!

Dies muß ein Ende haben, Allegra, sagte ich mir selbst. Schluß mit Naschen, Schluß mit Butter! Süßstoff, statt Zucker!

Leicht gesagt! Frau Felsdorf sollte doch ein anständiges und nahrhaftes Essen haben, und wenn es erst auf dem Tisch stand, ließ mich meine Charakterstärke vollkommen im Stich. Dann aß ich eben mit.

Und trockenes Brot zum Abendessen, während Frau Felsdorf sich dick Butter und Schweizer Käse einverleibte, das war auch nicht gerade leicht!

Aber, immerhin. Trotz meiner Pfündchen hatte ich eine Verabredung mit einem netten jungen Mann.

Wenn auch ohne Auto – nur mit Motorroller und furchtbar viel Sommersprossen.

Aber als Hanni am nächsten Nachmittag von ihrem Timo mit dem Auto abgeholt wurde, war ich keine Spur neidisch.

Ich freute mich nur so schrecklich auf den Sonntag. Frau Felsdorf wurde schon kurz nach neun Uhr morgens

abgeholt. Da konnte ich mich in Ruhe zurechtmachen, während ich daran dachte, was Frau Felsdorf erzählt hatte. Als Hanni abgeholt wurde, hatte Frau Felsdorf den Gesichtsausdruck, den ich jetzt so gut kannte: Den klaren, bewußten Ausdruck, der mir sagte, daß ihre Gedanken jetzt bei der Zeit waren, an die sie sich klar erinnerte.

„Ja, die jungen Menschen haben es jetzt einfacher als wir“, sagte sie. „Zu meiner Zeit war es gar nicht so leicht, Bekanntschaften zu machen. Gewöhnlich passierte es auf der Schlittschuhbahn. Oh, ich hatte Herzklopfen, wenn ein netter Kavalier mir höflich die Schlittschuhe anschnallte. Ja, damals wurden sie mit Riemen festgemacht. Wir siezten uns, und ich war ,das gnädige Fräulein’. Wissen Sie, Spatz, es ist mir schleierhaft, daß die Ehen, die damals geschlossen wurden, wirklich hielten! Denn wir kannten uns ja kaum. Oh, wenn ich an die Brautwerbung meines Mannes denke! Er kam feierlich in einem unbeschreiblich korrekten Anzug und mit Handschuhen, mit Blumen für Mama, der er die Hand küßte – und ich wurde aus dem Zimmer geschickt, während er mit den Eltern sprach. Erst als wir den elterlichen Segen hatten und ganz offiziell zusammen sein durften, erst dann fingen wir an, uns kennenzulernen. Wir hatten eben Glück, wir paßten zusammen. Aber so viele andere

– ich begreife nicht, daß so viele Ehen wirklich hielten, bis der Tod die beiden schied.“

Daran dachte ich also in diesen Minuten, während ich auf Hartmut wartete, und eigentlich war ich sehr glücklich, daß ich nicht vor zweiundsechzig Jahren achtzehn gewesen war.

Dann hörte ich das Knattern des Motorrollers. „Du bist aber vorbildlich pünktlich“, waren Hartmuts

Begrüßungsworte. Das „Du“ kam so selbstverständlich, als hätten wir uns nie gesiezt.

Mir war es schon recht. Es war eben so natürlich. Ein Mädchen, das man im Park trifft, oder ein Mädchen, das als Kundin im Reisebüro vor einem steht, zu dem Mädchen sagt man „Sie“. Aber ein Mädchen, das man hinter sich auf einem Roller hat und dessen Hände man mit Klammergriff auf den Schultern hat, das Mädchen duzt man.

Es war ein herrliches Wetter, und ich hatte den Eindruck, daß neunzig Prozent der Stadt per Auto unterwegs waren. Unser kleiner Roller verschwand beinahe zwischen großen Autos mit Anhängern mit Booten und Campingausrüstung.

„Wollen wir die alte Straße fahren?“ fragte Hartmut. „Sie ist allerdings stellenweise etwas holperig, aber dafür können wir frische Luft statt Autoabgase atmen!“

„Das holperige stört mich nicht“, sagte ich. „Wie du wohl bemerkt hast, habe ich eine eingebaute Polsterung.“

„Siehst du, das hat auch seine Vorteile“, schmunzelte er. Kurz danach kam die Abzweigung, und wir bogen ein auf die alte, kaum mehr benutzte Straße. Hier war kein einziges Auto, nur ein paar Radfahrer und etliche Menschen, die auf Schusters Rappen ihren Sonntagsausflug machten.

Einmal mußte Hartmut scharf bremsen, weil ein Igel gerade den Weg kreuzte. Als wir an einigen großen Wiesen vorbeifuhren, hielt er an.

„Schau, da rechts, Allegra – nein, weiter – siehst du die Rehe?“ Ja, tatsächlich, ein Stück weg von der Straße ästen friedlich ein

paar schöne, hellbraune Rehe. „Es hat etwas für sich, die kleinen Nebenstraßen zu fahren“,

meinte Hartmut. „Möchtest du ein Stück Schokolade?“ „Vielen Dank, lieber nicht. Denk an die Polsterung“, sagte ich

und mobilisierte dabei meine ganze Charakterstärke. Ich esse ja zu gern Schokolade!

„Kannst du zusehen, wenn ich esse?“ „Na klar, du kannst es dir ja auch leisten. Iß nur!“ Wir stiegen

runter von unserem Gefährt und setzten uns ins Gras am Straßenrand. Hartmut knabberte seine Schokolade.

„Ich habe nämlich nicht gefrühstückt“, erklärte er. „Habe verschlafen!“

„Hast du denn keine Mutter, die dich weckt?“ „Eine Mutter habe ich schon, aber sie kann mich nicht wecken.

Aus dem einfachen Grund, da sie in Köln wohnt.“ „Und keine Geschwister, die frühmorgens rumtoben, so daß du

wach wirst?“ „Wenn ich Geschwister habe, sind es jedenfalls nur

Halbgeschwister“, sagte Hartmut. Er knüllte das Schokoladenpapier zusammen und begrub es unter einem Stein. „Weißt du, es war nämlich ein kleiner Schönheitsfehler an meiner Geburt. Der Trauschein meiner Eltern fehlte leider.“

„Ja, aber…“ „Ne, nix mit ,aber’. Und nix mit nachträglichem Trauschein.

Mein Vater hatte, wenn man es mir richtig erzählt hat, anderweitige Verpflichtungen. Er war Seemann und hatte wohl einen schwachen Augenblick, als er meine Mutter kennenlernte, denn in seiner Heimatstadt saß ein anderes Mädchen, das ihm klargemacht hatte, daß er sie heiraten mußte. Ja, eben mußte. Ich habe also höchstwahrscheinlich einen Bruder oder eine Schwester, die ein paar Monate älter sind als ich selbst. Ulkig, was? Ich bin eben nur ,zweite Sortierung’ oder ,zweite Wahl’ – heißt es nicht so?“

„Doch, so heißt es“, nickte ich. „Zweite Sortierung sagt man in der Porzellanfabrikation und ,zweite Wahl’ steht auf den preiswerten Champignondosen.“

„Ja, siehst du, ich bin eben eine Tasse mit ausgelaufener Glasur oder ein schiefgewachsener Champignon!“

„Bleiben wir bei der Tasse“, schlug ich vor. „Ich finde, daß die ausgelaufene Glasur dir sehr gut steht!“ Dabei guckte ich sein sommersprossiges Gesicht an. Er lächelte. „Ja, jetzt habe ich mich irgendwie damit abgefunden, aber als Kind verfluchte ich oft mein gesprenkeltes Aussehen, wenn meine Schulkameraden fragten, ob ich durch ein Sieb Höhensonnenbestrahlung bekommen hatte oder ob der Morgenkaffee mir ins Gesicht gespritzt sei.“

„Wieso ist deine Mutter in Köln?“ „Weil sie geheiratet hat. Vor neun Jahren. Und ein zwölfjähriger

Junge paßte wohl schlecht rein in die Flitterwochen. Dann blieb ich bei den Großeltern, bis ich mich vor einem Jahr selbständig machte und mir eine Bude mietete. Und dort ist also keine Mutter, die mich weckt, und sind keine Geschwister, die morgens Krach machen. Und der Wecker war aus mir unbekannten Gründen auf halb drei stehengeblieben. Also keine Zeit zum Frühstück, ich holte mir eben schnell die Schokolade aus einem Automaten.“

Er sprach so leicht, so unbeschwert, so vollkommen unsentimental. Als ob es gar nichts Besonderes wäre, unehelich geboren zu sein und mit zwölf Jahren von der Mutter getrennt zu werden.

„Waren deine Großeltern denn nicht lieb zu dir?“ wagte ich zu fragen.

„O doch. Mit den Jahren immer lieber. Denn allmählich gaben sie die Hoffnung auf, einen anderen männlichen Erben zu kriegen. Sie selbst hatten nur zwei Töchter, die eine ist kinderlos geblieben, und die andere, meine Mutter, hat ihnen also einen Enkel verschafft, der sogar den Namen von Opa trägt. Dann wollte Opa, daß ich mich kaufmännisch ausbilden lassen sollte, um sein Geschäft zu übernehmen.“

„Wirst du das denn nicht tun?“ „Ich wollte schon. Ich machte Abitur, und dann fing ich an bei

Opa zu arbeiten. Aber nach einer Zeit kam ein gewaltiger Krach, und dann sah ich mich nach einer anderen Arbeit um, und so landete ich im Reisebüro.“

„Wie schade“, sagte ich. „Daß du dich mit deinem Großvater verkracht hast, meine ich. Hast du was ausgefressen?“

„Nun ja, wie man es nimmt. Eine Freundin von mir hatte Geburtstag, und ich hatte kein Geschenk für sie und kein Geld, denn was Opa mir im Monat bezahlte, war nur ein knappes Taschengeld, das immer schon am fünften des Monats alle war. Na, dann habe ich eben die allerfeinste Packung Briefpapier aus dem Geschäft geholt – ja, es ist ein Papierwarengeschäft – , mit der Absicht, sie zu bezahlen, wenn ich einmal Gehaltserhöhung bekam. Opa war nicht einverstanden, er meinte, ich hätte fragen müssen, und so gab das eine Wort das andere, bis ich fragte, wie lange ich noch für ein Hungergehalt arbeiten müsse – ja, und er meinte, hungern täte ich nun nicht, bei Omas Kochkünsten. – Er begriff anscheinend nicht, daß ein Zwanzigjähriger auch andere Bedürfnisse hat als nur Essen und ein Bett.“

„Wie zum Beispiel Geschenke für Freundinnen?“ fragte ich. „Ja, zum Beispiel. Übrigens war das alles eine Pleite. Als ich zu

ihr hinging, um die feine geklaute Packung zu überreichen, war sie weg, mit einem Rivalen ohne Sommersprossen und mit elterlichem Trauschein und mit Geld in der Tasche. Nach vier Monaten heiratete er sie und nach weiteren fünf kam ein Baby. Ende der Geschichte.“

„Und dann bist du ausgerückt?“ „Dann bin ich ausgerückt, ja.“ „Und warum eigentlich in ein Reisebüro?“ „Na, ich habe wohl eine gewisse Unruhe im Blut. Von meinem

seefahrenden Vater geerbt, vielleicht. Es hat mir immer Spaß gemacht, auf dem Globus zu reisen und Pläne über all die Reisen zu machen, die ich unternehmen möchte. Ich war immer die große Leuchte in Geographie in der Schule, Sprachen lagen mir auch, und beides ist gut, wenn man in einem Reisebüro arbeitet.“

„Und jetzt stehst du da und verhilfst anderen Menschen zu den Reisen, die du selbst nicht unternehmen kannst.“

„Ja, vorläufig. Aber eines Tages fahre ich selbst auch, darauf kannst du dich verlassen. Übrigens macht es mir Spaß, mit so vielen verschiedenen Menschen zu sprechen, ihnen zu helfen – angefangen mit den wohlhabenden Ehepaaren, die Flugreisen nach Australien machen wollen, bis zu den alten Omas, die mit Seniorenkarte nach Hannover fahren und die das als ein enormes Ereignis empfinden.“

„Und welche Kunden ziehst du vor?“ Hartmut lächelte. „Vorziehen tu ich eigentlich junge Damen, die alte Omas

betreuen und mit ihnen nach Norwegen fahren.“ Dann mußte ich lachen. „Und wie viele Kundinnen aus dieser Kategorie hast du?“ „Bis jetzt nur eine. Übrigens eine, die jetzt auf meinem

Luxusfahrzeug Platz nehmen muß, um einigermaßen rechtzeitig zu ihren. Eltern zu kommen.“

Dann saß ich wieder hinter Hartmut und hielt mich an seinen Schultern fest, und dachte über all das nach, was er mir erzählt hatte. Mein eigenes Dasein kam mir so geordnet, so unkompliziert vor. Eigentlich hatte ich es unglaublich gut. So liebe Eltern, und eine schöne Anstellung in Aussicht, und meine jetzige Arbeit gefiel mir eigentlich auch. Verstehe es, wer kann!

„Wir müssen jetzt die nächste Straße rechts abbiegen, Hartmut.“ Gleich darauf waren wir wieder auf der Hauptstraße, fuhren an einer

Bushaltestelle vorbei, und ich bat Hartmut, wieder rechts abzubiegen, dann rief ich: „Halt, da ist ja Vati!“

Hartmut brachte sein „Luxusgefährt“ zum Stehen. „Hallo, Vati! Hier bin ich! Wolltest du nach mir Ausschau

halten?“ „Gerade das wollte ich, wir hatten dich eigentlich mit dem

vorigen Bus erwartet.“ „Ich habe heute Privatbeförderung. Dies ist Hartmut Glinde, ein

Freund von mir – Hartmut, dies ist mein Vater.“ Händedruck, ein paar freundliche Worte. Ich weiß genau, was

Vati dachte: Na, endlich sehe ich meine Alli mit einem jungen Menschen zusammen, Gott sei Dank!

„Ja, dann gehst du wohl mit deinem Vater nach Hause – ich werde also…“

„Kommen Sie doch mit, Herr Glinde“, sagte Vati freundlich. „Der Frühstückstisch ist gedeckt, wir haben reichlich Platz für noch einen.“

Er brauchte Hartmut nicht zweimal zu bitten. Falls Mutti über die Männerbegleitung ihrer Tochter erstaunt war, zeigte sie es jedenfalls nicht. Sie stellte noch einen Teller auf den Tisch, holte noch ein Ei aus dem Kühlschrank und schnitt noch ein paar Scheiben Brot. Dann hatten wir ein sehr gemütliches Sonntagsfrühstück, und Hartmut erzählte, wie wir durch meine vierbeinige Namensschwester uns kennengelernt hatten.

Meine Eltern mochten ihn leiden, das merkte ich. Er war auch so herrlich geradeaus und unkompliziert, immer für einen Scherz zu haben – und gleichzeitig so höflich, wie die ältere Generation es bei der Jugend schätzt. Ob er diese Höflichkeit wohl in seinem Beruf gelernt hatte? In der kurzen Lehrzeit beim Großvater und nachher im Reisebüro?

Er blieb den ganzen Tag bei uns. Er ging mit Vati in den Garten, und die beiden Männer pflückten

Erdbeeren zum Nachtisch, während Mutti und ich uns über meine bevorstehende Reise unterhielten. Er trocknete ab beim Abwaschen, während ich in Vatis Zimmer gute Ratschläge über mich ergehen ließ.

Er half, den Kaffeetisch im Garten zu decken und zeigte sich hoch begeistert über Muttis selbstgebackenen Kuchen. Ein durch und durch schöner Tag.

Beim Abschied baten meine Eltern ihn wiederzukommen, er sei

immer willkommen. Und dann rollten wir zurück in die Stadt, und ich wurde zehn Minuten vor der verabredeten Zeit – Frau Felsdorf wurde um halb zehn nach Hause gebracht, dann mußte ich da sein – plangemäß vor dem Haus sozusagen „entladen“.

„Eigentlich bin ich deinen Eltern zu großem Dank verpflichtet“, sagte Hartmut. „Für das Mittagessen, oder…“

„Das auch. Aber vor allem, weil sie dir einen so ausgefallenen Namen gegeben haben. Hätten sie dich nicht Allegra genannt, hätten wir uns nicht kennengelernt.“

Urlaub am Meer Es war Abend.

Ich stand am offenen Fenster in meinem netten Zimmer im Hotel „Havblikk“ – was soviel wie „Meeresblick“ bedeutet – im Süden von Norwegen. Im Nachbarzimmer schlief Frau Felsdorf sanft und glücklich. Selbst war ich noch nicht schläfrig. All die Eindrücke der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich in meinem Kopf zusammengeballt, sie wollten durchdacht werden. Es war meine erste weitere Reise, meine erste Reise ins Ausland, ausgenommen Schweden.

Daß alles so gut geklappt hatte, ja dafür hatte ich erstens dem Reisebüro und zweitens Frau Felsdorf zu danken. Hanni hatte recht behalten. Sobald Frau Felsdorf in einem Eisenbahnabteil oder auf einem Schiff war, wurden alle ihre Reiseerinnerungen wach, sie machte einen seelischen Sprung vierzig Jahre zurück und war unbedingt Herr der Situation. Sie plauderte nett, aber ganz unpersönlich mit zufälligen Mitreisenden, sie kannte sich aus mit dem Speisewagen, sie wußte, wo die Toiletten zu finden waren, und nachher, auf der Fähre, war sie auch diejenige, welche… Ich trottete hinter ihr mit Koffern und Taschen und fühlte mich sehr klein und sehr unerfahren.

Aber am Abendtisch an Bord konnte ich mich nützlich machen. Der Kellner sprach zwar Englisch, aber herzlich wenig Deutsch. Also mobilisierte ich meine schwedischen Kenntnisse und wurde zum Glück verstanden. Wenn es auch nicht ganz so einfach war wie ich es mir vorgestellt hatte. Trotz allem sind Schwedisch und Norwegisch zwei verschiedene Sprachen, wenn sie sich auch sehr ähneln. Ich mußte sehr konzentriert hinhören, wenn jemand norwegisch sprach, und selbst mit meinem Schwedischen langsam und deutlich sprechen.

Aber letzten Endes ging es. Die See war ruhig, und ich bekam keine Gelegenheit

festzustellen, ob ich seefest war. Als ich in meiner Koje lag, merkte ich kaum die Bewegungen des Schiffes. Ich horchte auf das ruhige, regelmäßige Atmen von Frau Felsdorf – wir hatten eine Zweibettkabine, ich hatte mein Oberbett per Leiter erreicht – und dachte an meine Eltern, an die letzten, etwas hektischen Tage mit Packen und Reisevorbereitungen – und dann dachte ich an Hartmut.

Wir hatten uns mehrmals gesehen, wenn auch kurz, diese zwei Wochen vor unserer Abreise. Hartmut hatte es – der Himmel weiß wie – so einrichten können, daß er seine freie Stunde, seine „Tischzeit“, spät bekam, und ich sorgte dafür, daß wir rechtzeitig aßen, so daß ich schnell in den Park rüberrennen konnte, während Frau Felsdorf ihr Mittagsschläfchen hielt. Dann saßen Hartmut und ich auf einer Bank, er aß seine mitgebrachten Brote und wir plauderten und lernten uns besser kennen.

Er war unsagbar nett, offen und fröhlich. Nur etwas wunderte mich: Alles was er über sich erzählte, kam so kommentarlos, so selbstverständlich – er konnte erzählen, was er erlebt hatte, aber sagte nie ein Wort darüber, was er dabei empfunden hatte. Tat es ihm weh, als die Mutter heiratete und den Sohn den Großeltern überließ? Hatte er es schmerzlich empfunden, sich mit dem Großvater zu verzürnen? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur die Tatsachen und nichts darüber, wie sie sich auf Hartmut ausgewirkt hatten.

Dies war mein letzter Gedanke, bevor die regelmäßigen, gedämpften Stempelschläge des Schiffes mich in den Schlaf lullten.

Am frühen Morgen kamen wir in Kristiansand an, ich erledigte auf einer Mischung von Schwedisch und Norwegisch die äußerst einfachen Zoll- und Paß-Formalitäten, und kurz danach saßen wir im Bus, der uns zum Hotel Havblikk führte. Ja, es stimmte, was im Prospekt stand. Die Natur war hier wirklich lieblich, nichts mit hohen Bergen und tiefen Fjorden – hier waren Wiesen und reizende kleine weißgestrichene Holzhäuser, Gärten und Äcker. Hier und da kleine Wäldchen, und auf der anderen Seite der Straße das blaue, glitzernde Meer mit Segelbooten und Fischerbooten.

Dann hielt der Bus vor dem Hotel, das ich vom Prospekt wiedererkannte, und kurz danach waren wir in unseren reizenden Zimmern untergebracht. Ich packte aus, zuerst für Frau Felsdorf, dann meine eigenen Sachen, und zwischendurch warf ich schnelle Blicke in den Park, wo einige Gäste es sich in Liegestühlen bequem gemacht hatten.

Ich machte das Fenster auf, dann konnte ich den leichten Wellenschlag vom Strandufer hören.

Kein Zweifel. Hier ließ das Leben sich aushalten! An diesem ersten Tag unternahmen wir nichts. Wir lernten das

Haus und den Park kennen, wechselten ein paar Worte mit anderen Gästen – und aßen, leider Gottes, viel zu gut und viel zuviel.

Es wurde nach interkontinentaler Art gegessen. Lunch gegen

dreizehn Uhr, und das große Mittagessen erst abends. Als ich den Lunchtisch sah, traute ich meinen eigenen Augen nicht. Es war ein kaltes Büfett aufgetischt mit so viel herrlichen Sachen, daß ich sofort für meine „Linie“ schwarz sah. Lieber Himmel, war das üblich in Norwegen? Ich versuchte, die unzähligen Schüsseln und Platten zu zählen, mußte es aber aufgeben – wie ich schon gesagt habe, ist Mathematik nicht meine starke Seite, und hier müßte man rechnen können!

Und nachdem wir uns von den kalten Delikatessen nudelsatt gegessen hatten, kam ein warmes Gericht und ein Nachtisch! Ich wollte mir die Süßspeise schenken, aber als sie sich als frischgepflückte Walderdbeeren mit Sahne entpuppte, schmolzen meine guten Vorsätze dahin.

Ich würde wie eine Kugel in Deutschland angerollt kommen! Bewegung mußte ich mir verschaffen! Aber wie? Ich konnte ja

keinen Augenblick Frau Felsdorf aus den Augen lassen. Die große Hauptstraße war gefährlich nahe, und gegenüber vom Hotel war ein Andenkenladen. Wenn nun Frau Felsdorf plötzlich die Idee käme, dort etwas zu kaufen und sich in das Gewühl des Nachmittagsverkehrs zu stürzen! Ich wußte genau, was Frau Doktor Oberbach gesagt hatte: „Es ist ein wahres Wunder, daß sie nie von einem Auto angefahren worden ist!“

Nun war also der erste Ferientag zu Ende, und ich stand am Fenster und ließ den Blick über das dunkle seidenblanke Meer gleiten. Jetzt da draußen in einem Boot sitzen – mit einem netten Menschen, mit einer guten Freundin oder einem Freund – ja, mit Hartmut!

Ob er auch für eine solche schöne Abendstimmung zu haben wäre? Konnte er ein bißchen Sentimentalität aufbringen, oder würde er dann auch nur nüchtern und sachlich sein?

Ich guckte rein zu Frau Felsdorf. Sie schlief fest. Ach was – eine Viertelstunde konnte ich schon weggehen, nur eben schnell zum Strand und zurück. Eine Viertelstunde nur Allegra zu sein und nicht Babysitter oder Betreuerin oder Gesellschafterin oder Kammerkätzchen.

Ich schlich hinaus, machte die Tür lautlos hinter mir zu. Als ich aus dem Korridor in die Halle um die Ecke ging, stieß ich

mit einer Dame zusammen. In der Verwirrung entschlüpfte mir ein „Oh, Verzeihung!“ statt des schwedischen „Förlat“ oder des norwegischen „Undskyld!“

Die andere blieb stehen. „Sagen Sie – sind Sie Deutsche?“ Ich bejahte es. „O wie herrlich! Ich habe eine Woche lang meine

Muttersprache nicht gesprochen!“ „Was sprechen Sie dann?“ fragte ich. „Ein sonderbares Norwegisch. Ich bin mit einem Norweger

verheiratet, und mit ihm spreche ich deutsch, aber hier muß ich ja wohl oder übel die Muttersprache meines Mannes radebrechen. Mein Mann hat mich nämlich hier untergebracht, zwecks Erholung, und kommt nur zum Wochenende mich besuchen.“

Ich sah meine Landsmännin an. Sie war jung, ich würde sie so um fünfundzwanzig schätzen. Ein frisches, offenes Gesicht, eine angenehme Stimme.

„Bleiben Sie noch lange hier?“ fragte ich. „Mindestens noch zwei Wochen. Und Sie?“ „Wahrscheinlich drei.“ Ich erzählte, wieso und warum ich hier gelandet war, und daß

mein achtzigjähriger Schützling jetzt schlief. Ich wollte eben runter zum Strand gehen…

„Darf ich mitkommen?“ „Und ob! Furchtbar gern!“ Sie hieß Barbara Flagtvedt, kam aus Kassel und war seit einem

Jahr in Norwegen verheiratet. Im Winter war sie krank gewesen, der Arzt hatte Seeluft empfohlen, und deswegen war sie nun hier.

„Schön ist es ja hier“, sagte sie. „Aber ich bin so total unbegabt in puncto Sprachen, es ist ein Skandal, wie wenig Norwegisch ich gelernt habe, und das hat zur Folge, daß ich keinen richtigen Anschluß mit anderen Menschen finde. Oh, wie ist es doch himmlisch, wieder sprechen zu können!“

Wir wanderten vielleicht zwanzig Minuten am Strand entlang, ich erzählte, wieso ich hier gelandet sei. Ich gab ihr auch ein paar Kostproben von der Unternehmungslust meiner kleinen Gnädigen, erzählte von ihrem Blumengießen, Apfelschälen und anderen Sachen.

Barbara lachte hellauf. „Ach, die Dame muß ich unbedingt treffen! In ihrer Gesellschaft

langweilt man sich bestimmt nicht.“ „Und Sie können mit ihr deutsch sprechen“, ermunterte ich sie. „Au fein! Müssen Sie schon zurück? Wir treffen uns bestimmt

morgen früh. Der Strandkorb neben dem meinen ist noch frei, vielleicht können Sie den mieten?“

Barbara war eine nette Bekanntschaft. Mit dem Strandkorb klappte es, und schon am nächsten Morgen saßen wir zusammen da, Frau Felsdorf war begeistert, und ich auch. Denn Barbara unterhielt Frau Felsdorf, während ich schnell in die Wellen sprang. Das Wasser war kalt, aber erfrischend. Ich genoß richtig das Schwimmen. Und Bewegung tat not, das war mir noch klarer geworden, seit ich den Frühstückstisch des Hotels erlebt hatte. Barbara erzählte mir, daß sie die Schüsseln gezählt hatte: sieben Sorten Käse, fünf Schälchen Marmelade und Gelees, sechs Brotsorten, elf verschiedene Sorten Aufschnitt. Außerdem Eier, Milch und Butter soviel wie wir wollten, ebenso Kaffee. War eine Kanne oder ein Brotteller leer, wurde sofort nachgefüllt.

Ein Schlemmerleben war es! Ich fragte Barbara, ob alle Norweger so lebten.

„Durchaus nicht!“ tröstete sie mich. „Sie essen mehr Fleisch und vor allem mehr Fisch als wir, und weniger Gemüse, aber solche verrückten Frühstücks- und Lunchtische findet man in keinem Privathaus.“

Nach zwei Tagen gesellte sich ein pensionierter Studienrat zu uns, oder vielmehr zu Frau Felsdorf. Er hatte Französisch als Unterrichtsfach gehabt, und die beiden Alten unterhielten sich nun großartig auf französisch. Dann konnten Barbara und ich zusammen schwimmen gehen, denn der Studienrat hatte hoch und heilig versprochen aufzupassen und unter keinem Umstand Frau Felsdorf allein auf die Hauptstraße zu lassen.

So hatten wir es wirklich urgemütlich. Abends war Frau Felsdorf immer sehr müde nach all der frischen Luft und dem lebhaften Geplauder – oft auch nach Spaziergängen im Wald – und ging früh zu Bett. Dann konnte ich noch schnell ein Stündchen rausgehen. O ja, das Leben ließ sich schon aushalten. Dann kam eine Karte von Hartmut.

Liebe Allegra! Vielen Dank für Deinen Kartengruß. Dies schreibe ich im Zug,

unterwegs nach Köln. Mein Stiefvater ist plötzlich gestorben, und ich muß zu meiner Mutter. Habe meinen Sommerurlaub vorverlegen können, so daß ich drei Wochen in Köln bleiben kann. Ich lasse wieder von mir hören. Augenblicklich habe ich ein bißchen viel im Kopf.

Herzliche Grüße, alles Gute,

Dein

Das war alles. Kein Wort darüber, was er bei dieser Situation

empfand. Kein Kommentar. Nur Tatsachen auf einer Postkarte. Wenn ich bloß aus ihm schlau werden könnte! Der Dummkopf, nicht einmal seine Anschrift in Köln hatte er mir

gegeben. Na, das würde er wohl nachholen. Dann geschah das Furchtbare. Es wäre nicht passiert, wenn Frau

Felsdorf nicht die unglückselige Idee gehabt hätte, nach Lindesnes zu fahren.

Es wäre auch nicht passiert, wenn Barbaras Mann nicht zum Wochenendbesuch gekommen wäre. Wäre er nicht gekommen, hätte Barbara uns auf dem Ausflug Gesellschaft geleistet und hätte mir geholfen, auf Frau Felsdorf aufzupassen.

Es wäre vielleicht auch nicht passiert, wenn der Studienrat mitgefahren wäre. Aber er saß hinter einem dicken Buch vergraben und hatte außerdem Schmerzen im Bein und wollte den Tag in Ruhe verbringen.

Es war ein strahlender Samstagmorgen. Irgend jemand sprach am Frühstückstisch über Lindesnes, das war ja der südlichste Punkt von Norwegen. Man sah rechts den Atlantik, links den Skagerrak. Natürlich nicht ganz so aufregend wie das Kap der Guten Hoffnung, wo man den Atlantik rechts und den Indischen Ozean links hatte, oder Kap Horn zwischen dem Pazifik und dem Atlantik, aber immerhin – ein sehenswerter Punkt war es. Und eine Abwechslung von unserem Strandkorb-Faulenzerleben.

Unternehmungsfreudig wie immer, sagte Frau Felsdorf: „Dort fahren wir heute hin, Spatz!“

Ich erkundigte mich beim Portier. Ja, um zehn Uhr würde der Bus abfahren, man würde zwei Pausen unterwegs haben, damit man die Beine vertreten und etwas essen konnte. Nachmittags um fünf würden wir zurück sein.

Also nichts wie los. Es war viel Verkehr auf der schönen Autostraße, die zum Teil am

Wasser entlang verlief. Wir fuhren westwärts und hatten auf der rechten Seite Wald und sanfte Hügel, sozusagen Vorläufer für die immer höher werdenden Berge dahinter. Wir kamen durch

entzückende, kleine verträumte Städte mit kleinen weißgestrichenen Holzhäusern und engen Straßen mit holperigem Pflaster. Dann wieder auf die neue, breite, bequeme Hauptstraße.

Hier war Kristiansand, die Stadt, wo wir mit dem Schiff angekommen waren. Weiter – nach Fotopause, auf Wunsch der vielen Fotografen – an Sommerhäuschen, kleinen Bauernhöfen und Hotels entlang.

Dann erreichten wir den berühmten südlichsten Punkt, Lindesnes. Frau Felsdorf sah verzückt auf das Meer, auf die kleinen braunen

Fischerboote und die Sportsegler, die hier einen frischen Wind hatten und mit gesetzten Spinnakern nur so dahinbrausten. Wie müßte das schön sein, einmal in einem solchen schlanken, weißen Boot unter gespannten Segeln zu sitzen und so über das Meer hinwegfliegen!

Frau Felsdorfs Gesichtsausdruck änderte sich. Ich kannte diese Nuancen jetzt, ich wußte, daß ihre Gedanken zurück in der Zeit waren, wo sie wach und bewußt und intelligent war, sie erinnerte sich an irgend etwas.

Ja, ganz richtig, da kam es: „Wissen Sie, Spatz, wie lang Norwegen ist?“

„Wie lang? Nein.“ „Wenn Sie nun eine riesengroße Schraube hier einschrauben

würden, genau hier, wo wir stehen, und ganz Norwegen um diese Schraube drehen bis die Nordspitze im Süden wäre, wo glauben Sie wäre sie dann?“

„Die Nordspitze – ich weiß nicht – vielleicht irgendwo in Deutschland?“

„Nein, in Rom! Es stimmt wirklich. Mein Mann zeigte es mir einmal auf der Karte. Er schnitt den Umkreis von Norwegen vom Papier aus und steckte eine Stecknadel am Lindesnes durch, und drehte – und wirklich, die Nordspitze, Nordkap, landete in Rom!“

Ein Herr, der in der Nähe stand und anscheinend Deutsch verstand, nickte lächelnd.

„Die Dame hat recht. Übrigens ist es auch ganz komisch, daran zu denken, daß wir nur ein ganz klein wenig südlicher als die Südspitze von Grönland sind und auf demselben Breitengrad wie das südliche Alaska.“

Wieder änderte sich Frau Felsdorfs Ausdruck. Der helle Augenblick war vorbei.

„Warum ist nun die nette junge deutsche Dame nicht mitgekommen?“

„Die Barbara? Sie hat doch heute Besuch von ihrem Mann.“ Wir hatten ihn vor ein paar Stunden am Frühstückstisch

kennengelernt! „Ach, ist sie schon verheiratet?“ sagte Frau Felsdorf. Dann ging es zurück, diesmal fuhren wir ein Stück auf dem alten

idyllischen Weg mit Gärten, hübschen Wohnhäusern und kleinen Anlegebrücken mit Badehäuschen und Booten. Hier zu wohnen – das müßte ja das reinste Paradies sein!

Der Weg war anscheinend beliebt, sonst wäre wohl nicht ein kleines Café mit Eis und Getränken hier gewesen. Aber da war es nun, und der Bus hielt.

„Wenn jemand was trinken möchte…“, sagte der Fahrer. „Wir können hier eine Viertelstunde Pause machen.“

Frau Felsdorf hatte Durst, ich übrigens auch, und wir tranken schnell einen Sprudel. Frau Felsdorf guckte sich um. Ihre Augen blieben an einem international verständlichen Schild hängen: „Toilette“ und darunter ein orientierender Pfeil.

Ich hatte denselben Wunsch, also gingen wir los. Der Pfeil zeigte zur hinteren Ausgangstür. Dahinter befand sich das Ziel unserer Wanderung in einem kleinen Hinterhaus.

Ich ließ Frau Felsdorf den Vortritt und wartete im Vorraum am Waschbecken. Dann war ich an der Reihe und legte Frau Felsdorf nahe, unbedingt hier im Vorraum zu bleiben, ich käme gleich.

Das tat ich auch, aber dann war der Waschraum leer. Nanu, wo war sie denn geblieben? Wahrscheinlich zurück ins Lokal, sie hatte bestimmt vergessen, daß wir unseren Sprudel schon bezahlt hatten.

Nein. Im Lokal war sie nicht. Um Gottes willen – war sie denn direkt vom Toilettenhäuschen

auf die Straße gegangen? Und warum? Warum – das bekam ich nie zu wissen. Denn in dem Augenblick

wo ich aus der Tür rannte, hörte ich Schreien, Schreien von vielen Menschen – und quietschende Bremsen von einem Auto, das mit Gewalt zum Stehen gebracht wurde.

Um Gottes willen – o lieber Gott – bitte, das nicht – vielleicht war es ein Hund oder eine Katze…

Dann sah ich sie. Sie lag vor dem Auto, mit geschlossenen Augen, mit einer

Wunde an der Stirn, sie lag in einer merkwürdig verdrehten Stellung. Nein, nein! Das konnte nicht wahr sein! O lieber Gott, laß es ein

Traum sein, lieber Gott, laß mich aufwachen – es darf nicht wahr sein!

Aus dem nächstliegenden Haus kam ein Mann gerannt, da kam noch einer, da kam der Cafebesitzer. Ich hockte neben der bewußt-losen Frau Felsdorf, ich versuchte, mit meinem Taschentuch das Blut von ihrer Stirn wegzuwischen, und die Tränen liefen mir übers Gesicht.

Aus dem Wirrwarr klang eine laute, verzweifelte Stimme: „Sie lief mir direkt vor den Wagen – es ist schrecklich, aber ich konnte wirklich nicht – bitte, rufen Sie die Polizei!“

Ich weiß nicht, woher die Männer mit einer Art Bahre kamen. Ich glaube, es war eine Tür, die man schnell aus den Angeln gehoben hatte. Dann wurde Frau Felsdorf getragen, in einen kleinen Seitenweg, durch ein Gartentor. Jemand sagte: „Hier wohnt ein Arzt“ – ich blieb neben der Trage, jemand steckte mir etwas in die Hand, es war Frau Felsdorfs Handtasche.

Ein Zimmer mit einem Untersuchungstisch. Ein junger Mann, der blitzschnell in einen weißen Kittel schlüpfte und nach seinem Stethoskop griff. Eine junge Frau, die auf all die Menschen leise einredete und sie dazu brachte, das Zimmer zu verlassen. Zurück blieben nur der Autofahrer und ich. Er kreideweiß und ich – schluchzend, verzweifelt, und wahrscheinlich genauso blaß wie der Autofahrer.

Der Arzt horchte auf Frau Felsdorfs Herz, fühlte den Puls. Dann wurde der Blutdruck gemessen, und während er dabei war, kam Frau Felsdorf wieder zu sich. Sie öffnete die Augen halb, und flüsterte: „Es tut weh – es tut so weh…“

Der Arzt drehte einen Augenblick den Kopf und sah mich an. „Die Dame ist Deutsche?“

„Ja-“ Wieder beugte er sich über sie und sprach ruhig und freundlich –

in fehlerfreiem Deutsch: „Ja, es tut noch weh, wissen Sie, Sie haben ein bißchen Pech gehabt, aber gleich wird es besser…“ Er sagte leise ein paar Worte zu seiner Frau, sie nickte und ging zu einem kleinen Instrumententisch. Gleich darauf reichte sie ihrem Mann eine Spritze.

„So, nur ein winziger Piks, dann werden schon die Schmerzen nachlassen. Wo tut es am meisten weh?“

„Das Bein – ganz oben – linkes Bein…“ Während der Arzt darauf wartete, daß die Spritze wirken sollte,

führte die Frau den Autofahrer aus dem Zimmer. „Kommen Sie, Sie können im Wohnzimmer warten.“

„Hast du die Polizei benachrichtigt, Katrin?“ fragte der Arzt, ohne die Augen von Frau Felsdorf zu nehmen.

„Ja, ich glaube, sie sind schon auf der Straße. Soll ich schon das Krankenhaus anrufen?“

„Warte ein bißchen. Wenn es eine Fraktur ist, müssen wir das Bein schienen, damit sie transportfähig wird.“

Katrin fing an, das Blut von Frau Felsdorfs Stirn wegzuwischen. Ihr Mann fühlte immer noch den Puls.

„Ich würde gern einen Verband anlegen, aber…“, sagte Katrin. Endlich fing mein Kopf an zu funktionieren. Ich wischte meine Tränen ab, ging hin und faßte ganz vorsichtig Frau Felsdorfs Kopf.

„Gut“, sagte Katrin. „Nur ein Ideechen anheben, damit ich die Binde um den Kopf legen kann – ja, so ist es gut.“

Frau Felsdorf flüsterte etwas. Sie sprach sehr leise und sehr undeutlich, aber ich habe es doch verstanden: „Armer kleiner Spatz. Ich bin auch ein alter Esel.“

Dann mußte ich wieder heulen. Der Arzt nickte mir beruhigend zu.

„Das Herz funktioniert normal, der Kreislauf scheint auch in Ordnung zu sein. Übrigens, sind Sie auch Deutsche?“

„Ja, aber ich verstehe norwegisch.“ Frau Felsdorf lag wieder still mit geschlossenen Augen. Jetzt

wurde das Bein untersucht, nachdem Katrin und ich ganz vorsichtig ein paar Kleidungsstücke entfernt hatten.

„Ja“, sagte der Arzt zuletzt, „ohne Röntgenaufnahme kann ich es ja nicht hundertprozentig sicher sagen, aber ich glaube, daß es ein sogenannter eingekeilter Schenkelhalsbruch ist. Das muß natürlich operiert werden, aber es hat den Vorteil, daß es nicht so schmerzhaft ist. Katrin, du kannst jetzt den Krankenwagen bestellen und dem Krankenhaus Bescheid sagen. Kann ich die Personalien der Patientin haben, Fräulein…“

„Walther, Allegra Walther. Ja, hier ist Frau Felsdorfs Paß und die Impfkarte.“

„Sehr schön. Sagen Sie, ist die alte Dame Ihre Verwandte?“ „Nein. Ich bin ihre Gesellschafterin und sollte auf sie aufpassen

und…“ Es klingelte an der Tür. Es war die Polizei. Ich bestätigte, daß

Frau Felsdorf sehr spontan war, daß man immer auf sie aufpassen müsse und daß ich überzeugt sei, daß der Autofahrer ganz ohne Schuld sei.

Dasselbe hatten all die Zeugen oben auf der Straße gesagt. Der Autofahrer gab Personalien und Anschrift an, ich tat es auch. Kurz danach lag Frau Felsdorf mit einem sorgfältig geschienten Bein und einem sauberen Kopfverband da, schön zugedeckt, fertig für den Transport.

„Katrin“, sagte der Arzt – ich hatte übrigens durch sein Gespräch mit der Polizei erfahren, daß er Rywig hieß –, „ich fahre mit im Krankenwagen, ich möchte die Patientin nicht aus den Augen lassen. Du kommst dann nach in unserem Wagen, mit Fräulein Walther. Fahre direkt zur Röntgenabteilung, da treffen wir uns. Du brauchst erst in zwanzig Minuten loszufahren, all die Aufnahmen sollen ja entwickelt und begutachtet werden.“

„Ist es weit zum Krankenhaus?“ fragte ich. „O nein, etwa zwanzig Minuten. Es handelt sich um das

Krankenhaus in Mandai, dort habe ich übrigens auch meine Praxis. Nein, dies hier ist nur ein kleines Not-Behandlungszimmer für die Leute, die mit ihren Unfällen und Wehwehchen hier ins Haus kommen.“

Die Leute mit der Bahre waren da. Gleich darauf startete der Krankenwagen, und Katrin und ich waren allein.

Jetzt erst sah ich, daß sie hoch schwanger war. „Armes Kind“, sagte sie und strich mir über die Wange. „Weißt

du was, ich mache dir gleich eine anständige Tasse Tee, oder trinkst du lieber Kaffee?“

Sie sagte „du“ so ganz selbstverständlich. Ja, ich hatte es ja schon gehört diese Tage, beinahe alle Norweger duzten sich. Ich hatte auch erlebt, daß ein Taxifahrer mich geduzt hatte und der Portier im Hotel. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zurückzuduzen. Dr. Rywig hatte mich allerdings gesiezt, aber er hatte deutsch mit mir gesprochen.

„Es ist furchtbar nett von dir, Katrin…“ „Von wegen nett! Ich glaube, wir brauchen beide eine kleine

Entspannung, bevor es weitergeht.“ „Ja, und wie soll es nun weitergehen?“ fragte ich und fühlte mich

dabei unsagbar hilflos. „Das kommt darauf an, wie der Röntgenbefund ist. Hat die alte

Dame Verwandte?“ „Ja, mehrere. Der Sohn und die Schwiegertochter wohnen in

ihrer Nähe. Die kenne ich gut.“ „Ja, dann müssen die benachrichtigt werden. Eine Sekunde,

Allegra, ich hole nur das heiße Wasser, wir machen es einfach, mit Teebeuteln – nimmst du Zucker? Sahne? Gar nichts? Also, mein Mann war ja zufrieden mit Herzfunktion und Kreislauf, und einen Beinbruch kann man heilen. Trinken wir nun zuerst unseren Tee. Wie sagt ihr gleich in Deutschland? ,Abwarten und Tee trinken’, heißt es nicht so?“

„Ja, doch, genau. Kannst du gut deutsch?“ „Ich? Ach du liebe Zeit, ich kam eben mit Ach und Krach durch

die mittlere^Reife. Aber ich habe einen deutschen Schwager, das heißt, der Mann von der Schwester meines Mannes, mit dem spricht die ganze Familie deutsch, ich allerdings englisch, aber dann läßt es sich nicht vermeiden, daß man hin und wieder deutsche Ausdrücke aufschnappt.“

„Dein Mann spricht ja phantastisch gut deutsch.“ „Der Bernt? Ja, der ist nun so ein Unikum. Alles was er kann,

kann er phantastisch gut. Er war eine Leuchte in der Schule, immer der Beste seiner Klasse. Wenn ich für Minderwertigkeitskomplexe veranlagt gewesen wäre, wäre ich längst reif für einen Psychiater. Weißt du, Bernt war schon als Kind mit seinem Vater in Österreich, und später tauchte der deutsche Schwager auf, außerdem hat er haufenweise medizinische Lehrbücher in deutsch. Es wäre beinahe ein Wunder, wenn er nicht gut Deutsch könnte.“

„Glaubst du, daß er es auf sich nehmen will, mit Frau Felsdorfs Sohn zu sprechen? Ja, denn ich muß ja anrufen…“

„Sicher tut er das.“ „Ich mache mir so schreckliche Vorwürfe, Katrin…“ „Weil du auf dem Klo warst? Du lieber Himmel, das muß dir

doch erlaubt sein! Das darf sogar ein Babysitter. Und sonst hast du ja anscheinend wie ein Schießhund auf die alte Dame aufgepaßt.“

„Ja, das habe ich. Es war nicht immer leicht.“ „Eine ulkige Arbeit, die du gewählt hast!“ „Gewählt habe ich sie nicht. Der Job wurde mir angeboten, weil

ich ein Jahr überbrücken muß. Ab ersten April ist mir eine Stelle als Arzthelferin gesichert.“

„Sieh einer an! Dann werden wir ja Kolleginnen!“ „Arbeitest du in der Praxis deines Mannes?“ „Ja, bis jetzt. Wie du an meiner Figur siehst, werde ich bald

aufhören müssen. Übrigens bin ich eigentlich keine Arzthelferin, ich bin medizinisch-technische Assistentin. Was den Vorteil hat, daß ich meinem Mann die Laborarbeiten abnehmen kann. Wenn er mir bloß

nicht noch die Urin- und Blutproben ans Wochenbett bringt, damit ich sie da untersuche!“

„Wann kommt das Kind?“ „In sechs Wochen, wenn wir richtig gerechnet haben. – So,

Allegra, jetzt glaube ich, müssen wir starten. Sei so lieb und stell die Tassen in die Küche, ich hole eben den Wagen raus.“

Kurz danach saß ich neben Katrin, die mit geübter Hand den Wagen Richtung Mandai und Krankenhaus lenkte.

Meine erste, bodenlose Verzweiflung hatte sich einigermaßen gelegt. Ich hatte das Gefühl, daß zwei liebe Menschen mir jetzt helfen würden, bei allem was mir bevorstand.

Zwei liebe Menschen Wie war mein Gefühl richtig.

Doktor Rywig und seine Katrin dachten für mich, handelten für mich, faßten Entschlüsse für mich, nahmen mir alle Last von den Schultern.

Im Krankenhaus erfuhren wir, daß Doktor Rywigs Verdacht richtig war. Frau Felsdorf hatte einen sogenannten eingekeilten Schenkelhalsbruch. Sie mußte operiert werden, aber heute würde man noch keine Vollnarkose riskieren. Man wollte bis morgen oder Montag warten. Die Wunde am Kopf, die zum Glück nicht allzu tief war, wurde in Lokalbetäubung genäht.

Dr. Rywig hatte erreicht, daß eine Krankenschwester, die Deutsch konnte, mit einer Kollegin tauschte, so daß sie, die deutschsprechende, die Pflege von Frau Felsdorf übernahm.

Ich durfte einen Augenblick rein zu ihr, als die Untersuchungen erledigt waren und sie in einem Zweibettzimmer zur Ruhe gekommen war. Sie war noch etwas mitgenommen von ihren Spritzen, aber sie lächelte mir zu.

„Geben Sie meinem Sohn Bescheid, Spatz“, flüsterte sie. „Sagen Sie, daß alles nur halb so schlimm ist. Unkraut vergeht nicht! Wenn es auch achtzig Jahre alt ist.“

„Humor hat die alte Dame jedenfalls“, schmunzelte Dr. Rywig. „Und ob!“ bestätigte ich. „Wenn sie ihre klaren Augenblicke hat, ist sie überhaupt entzückend. Ich habe sie richtig liebgewonnen.“

Wir verabschiedeten uns, und ich versprach, gleich morgen früh zu kommen, wenn ich es durfte.

Der Chefarzt erlaubte es, „wegen der besonderen Umstände“, wie er sagte.

„Ja“, sagte Dr. Rywig, „dann sind wir soweit. Dann müssen wir wohl die Familie benachrichtigen. Wäre es Ihnen lieb, Allegra, wenn ich das täte?“

„O ja – ich wäre Ihnen ganz schrecklich dankbar.“ „Bernt“, sagte Katrin, „du kannst sehr gut norwegisch mit

Allegra sprechen, du hast ja gehört, wie gut sie mit ihrem Schwedisch-Norwegischen zurechtkommt. Wenn du deutsch sprichst, verstehe ich kaum die Hälfte.“

„Ja, wenn es Allegra recht ist! Übrigens“, jetzt sprach er norwegisch, „wo wohnst du, Allegra?“

„Im Ferienhotel Havblikk.“ „Ach du heiliger Strohsack! So weit! Und du willst morgen früh

zum Krankenhaus! Da ist nur eins zu machen: Wir fahren jetzt nach Hause zu uns, telefonieren in aller Ruhe von dort, und dann übernachtest du bei uns. Morgen ist ja zum Glück Sonntag, und ich kann dich dann ganz schnell zum Krankenhaus fahren.“

„Aber Herr Doktor, das geht doch nicht…“, fing ich an. „Was nicht geht, ist, daß du ,Herr Doktor’ zu mir sagst“,

unterbrach Doktor Rywig. „Jedenfalls nicht, wenn wir norwegisch sprechen. Hier sagen die Leute ,du, Doktor’, und die Schulkinder sagen ,du, Direktor’, und die Studenten ,du, Professor’. Nur ganz alte Menschen bleiben beim ,Sie’, und das kommt so selten vor, daß ich ein Kreuzchen auf die Karteikarte von einem solchen ,Sie-Patienten’ mache, damit ich daran denke, zurückzusiezen.“

„Und wie reden dann die Schulkinder eine Lehrerin an, oder die Patienten Katrin?“

„Die Kinder sagen ,du, Fräulein Hansen’ oder ,du, Frau Meyer’ und Katrin wird immer mit ,du, Frau Rywig’ angeredet. Ja, es ist komisch, das finde ich selbst, aber es hat sich nun so eingebürgert.“

„Aber fang bloß nicht an, mich Frau Rywig zu nennen!“ rief Katrin. „Ich finde diese Kombination von ,du’ und ,Frau’ furchtbar.“

„Also, du, Katrin und du, Doktor“, sagte ich, „das geht doch nicht, daß ihr mich so ganz einfach nach Hause nehmt, ihr habt weiß Gott genug für mich getan…“

„Natürlich geht es“, beruhigte mich Katrin. „Es ist doch das einzige Vernünftige. Wir haben Platz und Bettwäsche genug, und du kannst ja nicht so weit weg im Hotel Havblikk sitzen, wenn du schnell zum Krankenhaus mußt. Jetzt wollen wir vor allem die Familie Felsdorf benachrichtigen, dann wollen wir Mittag essen, oder nenn es Abendbrot, es ist schon halb fünf Uhr – und dann wollen wir versuchen, nach dieser Aufregung ein bißchen zu entspannen.“

„Habe ich vielleicht nicht eine kluge Frau?“ schmunzelte Doktor Rywig. „Hat mir aus der Seele gesprochen.“

„Soll ich fahren?“ fragte Katrin. „Ja, tu das“, nickte ihr Mann. „Du weißt doch, daß du die

Fahrbegabte von uns beiden bist. – Weißt du, Allegra“, wandte er sich zu mir, „es war nämlich Katrin, die mir das Fahren beigebracht hat. Als ich noch nicht den Unterschied zwischen Ganghebel und Handbremse kannte, war sie schon eine versierte Fahrerin und

chauffierte für meinen Vater. Und das mit achtzehn Jahren!“ „Siehst du, eine Begabung habe ich auch“, lächelte Katrin, ließ

den Motor an, schaltete den Gang ein und gab Gas. Ich schrieb die Telefonnummer von Herrn Felsdorf auf, und

Bernt Rywig ging zum Telefon, während Katrin den Mittagstisch deckte. Als er den Anschluß hatte, schaltete er einen kleinen Lautsprecher an, der mit einem Gummisaugnapf ans Telefon anmontiert war. So konnte ich das ganze Gespräch verfolgen.

Er drückte sich so geschickt aus, teilte alles in einer nüchternen und vorsichtigen Art mit, und versäumte nicht zu sagen, daß ich ganz ohne Schuld war. Die Fragen nach dem Zustand der Patientin, nach ihren Verletzungen und überhaupt alles Medizinische beantwortete er kurz und klar. Ja, er hielt sie für transportfähig, aber er wollte sicherheitshalber den Chefarzt fragen.

Herr Felsdorf wollte gern seine Mutter so bald wie möglich nach Deutschland haben, er wollte sie abholen und sie per Flugzeug nach Bremen bringen, damit die Operation dort gemacht werden könne. Wenn sie ein langes Krankenlager vor sich hätte, wäre es ihm eine Beruhigung, wenn er sie jeden Tag sehen und immer mit dem Krankenhaus in Verbindung bleiben könne.

Zuletzt bat er, mit mir sprechen zu dürfen, und ich nahm mit zitternder Hand den Hörer. Aber zum Zittern war kein Anlaß. Er war freundlich und voll Verständnis, und sagte dasselbe wie Katrin: „Es muß Ihnen ja erlaubt sein, zur Toilette zu gehen.“

Dann bat er mich, Frau Felsdorfs Koffer zu packen und zu untersuchen, ob man im Hotel das im voraus bezahlte Zimmer noch an einen anderen Gast vermieten könne. Und wenn ich Lust hätte, noch eine Woche zu bleiben, stünde dem nichts im Wege. Für die alte Dame konnte ich ja vorläufig gar nichts tun.

„Das solltest du tun, Allegra“, sagte Katrin. „Es wäre doch schön für dich, als freier Mensch hier zu sein und etwas mehr von diesem Land kennenzulernen.“

„Ja…“, sagte ich, „und im Hotel wohnt eine junge Deutsche, mit der könnte ich…“

„Siehst du! Das wird doch schön für dich sein, auch mit jungen Menschen zusammenzukommen“, meinte Bernt.

„Ja – ich weiß nicht – ja, doch, vielleicht…“ Meine Gedanken waren im Augenblick bei einem bestimmten jungen Menschen, einem mit Sommersprossen, einem der augenblicklich in Köln saß.

„Dann kommt zu Tisch!“ rief Katrin, die in die Küche

verschwunden war. „Der Himmel weiß, wie das Essen geworden ist, ich mußte ja den ganzen Herd ausschalten, als das Unglück passierte.“

Dann aßen wir und plauderten weiter. Jetzt war eine wohltuende Ruhe über mich gekommen. Herr Felsdorf wußte Bescheid und machte mir keine Vorwürfe. Der alten Dame ging es verhältnismäßig gut. Und ich saß hier mit diesem entzückenden jungen Ehepaar, das so ganz selbstverständlich eingesprungen war, als ich Hilfe brauchte.

„Sind alle Norweger so wie ihr?“ fragte ich, als der größte Hunger gestillt war.

„So wie wir? Meinst du so komisch oder so impulsiv oder…“, fragte Bernt.

„Ich meine, so lieb. So hilfsbereit. So selbstverständlich hilfsbereit, wenn jemand Hilfe braucht.“ Bernt lächelte.

„Schön, daß du das findest. Nein, alle sind wohl nicht so, und ich war es ursprünglich auch nicht. Ich habe es lernen müssen. Ebenso Katrin. Wir haben eine gemeinsame Lehrmeisterin gehabt, das heißt, wir haben sie noch.“

„Was ist das für ein Wundermensch, wenn ich fragen darf?“ „Meine Stiefmutter“, sagte Bernt. „Also meine Stief-Schwiegermutter“, ergänzte Katrin. Ich sah

von dem einen zum anderen. „Komisch. Die beiden Worte, die in Witzen und in Märchen

immer als Sinnbild des Bösen hervorgehoben werden. Stiefmutter und Schwiegermutter.“

„Die Märchendichter und Witzemacher hätten unsere Beatemutti kennen müssen!“ rief Katrin. „Ich kenne keinen Menschen, der so geliebt wird wie sie. Daß ihr Mann und ihre eigenen zwei Kinder sie lieben, das ist klar. Aber ich liebe sie auch. Und ihre Schwiegersöhne auch!“

„Gar nicht von meinen beiden Schwestern und meinem Bruder und mir zu reden“, ergänzte Bernt.

„Die alte Dame möchte ich kennenlernen“, sagte ich. Die beiden brachen in ein schallendes Gelächter aus.

„Alte Dame ist gut! Unsere Beatemutti ist vierzig und sieht aus wie eine Fünfundzwanzigjährige“, erzählte Bernt. „Als ich vierzehn war, kam sie als Haushälterin zu uns – ja, meine Mutter starb schon als ich neun war – , und sie brachte Ordnung in unser Haus und viel mehr als das: Sie brachte Sonnenschein und Fröhlichkeit mit…“

„Und als ich dann als Haustochter ins Haus Rywig kam, hat sie

sich wie eine Mutter um mich gekümmert“, unterbrach Katrin. „Ich habe nämlich auch sehr früh meine Mutter verloren und wuchs so ziemlich wild auf. Bei Beatemutti lernte ich alles, und vor allem, glaube ich, lernte ich, fröhlich zu sein. Und zu helfen, wie du also meinst, daß wir es tun. Weißt du, Beatemutti drückt es so einfach aus. Wenn es darum geht, was Gutes zu tun, Hilfe zu leisten und so was, dann fragt sie nicht: ,Warum sollte ich das tun?’ sondern: ,Warum sollte ich es nicht tun? Gibt es einen einzigen Grund dafür, daß ich nicht helfen sollte?’ Siehst du, das Prinzip hat sie uns beigebracht. Unter vielem, vielem anderen.“

„Also, ihr habt gedacht, als ich hilflos dastand neben der armen angefahrenen Frau Felsdorf: ,Warum sollten wir dem jungen Mädchen nicht helfen?’“

Bernt lachte. „Wir haben gar nicht gedacht, Allegra. Das war doch so

selbstverständlich!“ An diesem Abend ging ich in einem netten kleinen

Fremdenzimmer bei Bernt und Katrin zu Bett – in einem Schlafanzug von Katrin. Ich hatte Waschlappen, Seife, Handtücher und sogar eine funkelnagelneue Zahnbürste ausgehändigt bekommen. Ich hatte im Hotel Havblikk angerufen und mitgeteilt, daß ich bis morgen wegbliebe.

Ich stand am Fenster und guckte raus in die helle nordische Sommernacht. Da, auf der anderen Seite des Gartenzaunes lag ein kleines weißes Holzhaus, das über und über mit Kletterrosen bedeckt war. Das war Katrins Elternhaus. Nach dem Tod der Eltern gehörte das Haus ihren Halbgeschwistern, es war eine Erbschaft von deren Mutter. Aber sie hatten Katrin einen großen Teil von dem Grundstück geschenkt, und darauf hatten sie und Bernt das Haus gebaut, in dem ich mich befand. Es war ein sogenanntes Fertighaus – „schrecklich billig, sonst hätten wir uns vorläufig kein eigenes Haus leisten können“ – , hatte Katrin mir erklärt.

Wie glücklich waren doch die beiden. Wie rücksichtsvoll war Bernt zu seiner schwangeren Frau, und wie freuten sie sich auf das Kind!

„Es wird auch Zeit“, hatte Katrin mir freimütig erzählt. „Wir heirateten schon, als Bernt Student war, dann konnten wir ja noch nicht an Kinder denken. Später kamen wir nach Nordnorwegen, wo er sein Pflichtjahr absolvierte, ja, ja, das Land der Mitternachtssonne, das stimmt schon, aber auch das Land mit dem dunklen sonnenlosen

Winter! Dann arbeiteten wir uns langsam in südlicher Richtung vor, Bernt machte seine Praxis auf und wir bekamen dieses Haus, und jetzt wollten wir gern Kinder haben, aber dann wollte der Klapperstorch nicht. Bis ich zum Arzt ging, es mußte ja was geschehen, ich war beinahe dreißig geworden, es war höchste Eisenbahn. Nun ja, dann hat der Frauenarzt eben einen kleinen Eingriff gemacht – und du siehst mit welchem Erfolg!“

„Und nun wird deine junge Schwiegermutter Oma“, sagte ich. „Ist sie doch längst! Meine eine Schwägerin, die Senta, hat einen Sohn, die andere, Sonja, hat zwei Töchter, Zwillinge!“

Und nun freute Katrin sich unsagbar auf ihr Kind. Wie war die Nacht still. Ich konnte das kleine Glucksen von den

Wellen da unten am steinigen Ufer bis hierher hören. Was für ein schönes Fleckchen war dies doch, ein kleines,

ruhiges Paradies auf Gottes Erde. Ich schlief ein mit dem Gefühl, ich hätte ein paar wirkliche

Freunde gefunden. Zwei Menschen, die in mein Leben traten, gerade in dem Augenblick, wo ich sie am dringendsten brauchte.

Ich wachte früh auf, schlich ins Bad und machte mich fertig. Ich hatte Katrin gestern beim Aufräumen geholfen und kannte mich einigermaßen in der Küche aus. Jedenfalls so, daß ich den Frühstückstisch fertig hatte, als die beiden erschienen.

„Oh, Allegra, wie himmlisch!“ rief Katrin. „Sonst komme ich nur bei unseren Besuchen bei Bernts Eltern zu einem gedeckten Tisch. Jetzt können wir auch rechtzeitig losfahren, wir haben ja heute viel zu erledigen.“

Eine Stunde später waren wir schon unterwegs zum Krankenhaus. Frau Felsdorf hatte eine ruhige Nacht verbracht und schlief noch, sie hatte ja ein Schlafmittel bekommen.

„Aber bevor sie einschlief, hat sie mich achtmal gefragt, wie ich heiße“, schmunzelte die nette Schwester, die wegen ihrer deutschen Sprachkenntnisse die Pflege übernommen hatte. „Außerdem wollte sie wissen, wie dieses Hotel heißt, und hat einfach nicht kapiert, daß sie in einem Krankenhaus ist.“

Der Chefarzt meinte, daß die Patientin transportfähig sei. Aber länger als bis morgen meinte er, sollte man nicht mit der Operation warten.

Von Bernt Rywigs Praxis, die dicht beim Krankenhaus lag, riefen wir dann Herrn Felsdorf an.

„Ich habe mich schon erkundigt“, teilte er mit. „Ich kriege einen

Platz im Flugzeug morgen früh, komme gegen elf Uhr in Kristiansand an und wäre sehr dankbar, wenn meine Mutter dann dorthin gebracht würde. Wir können anderthalb Stunden später zurückfliegen.“

„Siehst du, jetzt kommt alles ins Lot“, sagte Bernt. „Wir können jetzt nach Havblikk fahren und Frau Felsdorfs Gepäck abholen. Und du mußt mit zurückkommen, Allegra, du fährst dann morgen mit uns in die Stadt, das haut genau mit der Zeit hin, wir fahren immer um acht Uhr. Dann fährst du mit im Krankenwagen nach Kristiansand, kannst mit Herrn Felsdorf sprechen, und nachher fährst du per Bus nach Havblikk. Ist das alles klar?“

„Sonnenklar, und ich bin euch so schrecklich dankbar!“ „Nun höre bloß mit der Dankbarkeit auf. Wir wollten sowieso

einen Autoausflug heute machen, warum denn nicht nach Havblikk? Hoffentlich können wir da essen, dann braucht meine vielgeplagte Frau heute nicht zu kochen.“

Jetzt konnte ich die schöne Fahrt nach Havblikk richtig genießen. Langsam fing ich auch an, mich auf diese Tage ohne Verpflichtungen zu freuen.

Heute war Bernt am Steuer, und Katrin setzte sich zu mir auf den Rücksitz. „Dann können wir ein hübsches Schwätzchen machen, ohne Einmischung von meinem lästigen Mann“, sagte sie schmunzelnd.

Sie fragte mich freundlich und interessiert, wieso ich auf den Gedanken gekommen sei, Arzthelferin zu werden. Und ich erzählte, daß ich erstens einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und später monatelang meine Großmutter gepflegt hätte.

„Und das mit siebzehn Jahren“, staunte Katrin. „Das war aber eine Leistung! Aber sag mal, warum gehst du dann nicht lieber in die Krankenpflege?“

Dann holte ich tief Luft und versuchte, in meinem selbstgebastelten Schwedisch-Norwegisch, dasselbe auszudrücken was ich damals Frau Doktor Oberbach geantwortet hatte.

Katrin nickte und verstand. Aber dann sagte sie: „Allegra, du sprichst aber so, als müßten alle Krankenhauspatienten sterben. Die meisten werden doch, Gott sei Dank, als geheilt entlassen.“

„Das weiß ich. Aber es sind viele die sterben, besonders die Alten. Und jedesmal würde ich ein klein bißchen mitsterben. Ich habe eine besondere Art Liebe zu alten Menschen…“

„Durch deine Großmutter, das verstehe ich“, nickte Katrin. „Ja,

das vor allem. Aber ich hänge komischerweise auch an Frau Felsdorf. Sie ist irgendwie – irgendwie so rührend in ihrer Hilflosigkeit und so ulkig in ihrer Unternehmungslust.“

Dann erzählte Katrin von sich. Wie sie schon als Kind ihre Mutter verlor und kurz danach den Vater. Daß sie für ihre beiden älteren Brüder den Haushalt gemacht hatte.

„Aber frag nicht wie!“ lachte sie. „Wenn ich mit meinen Freunden Segeltouren machte statt abzuwaschen, wenn der Staub zentimeterdick lag, weil die sogenannte Hausfrau zum Angeln losgezogen war, wenn meine Brüder kein einziges sauberes Hemd vorfanden, und wenn kein geplättetes Tischtuch im Schrank lag! Ich war schrecklich, das weiß ich jetzt!“

„Und es ist also deine einmalige Schwiegermutter, die das alles geradegebogen hat?“ fragte ich.

„Ja, sie vor allem, aber auch meine Schwägerin Senta, mit der zusammen erledigte ich das Kochen im Hause Rywig – sie war sechzehn und ein Kochgenie, und ich…“

„Katrin war achtzehn und eine perfekte Mörderin“, kam es vom Führersitz. „Das erste, was sie mir beibrachte, war, wie man Aale und Taschenkrebse tötet, damit die armen Viecher nicht lebendig gehäutet, beziehungsweise gekocht werden.“

„Und das nächste war das Autofahren?“ „Ja, und dann das Segeln und Angeln, und das Zubereiten von

Miesmuscheln, die man selbst aus der See geholt hat. Katrin ist ja in dieser Gegend aufgewachsen, und alles was mit dem Meer zu tun hat, ist ihr geläufig.“

„Ich kriege Minderwertigkeitskomplexe“, seufzte ich. „Du scheinst ja alles zu können.“ Katrin lachte hellauf.

„Von wegen! Du hättest mich sehen sollen, wenn ich, allerdings sehr selten und nur in höchster Not, eine Nähnadel in die Hand nehme! Als ich bei Bernts Familie wohnte, machte ich die mittlere Reife – mit Bernts Hilfe, natürlich – und unsere Beatemutti mußte mir die Handarbeit beibringen. Ich schwitzte und fluchte – letzteres nur innerlich – , und Beatemutti mußte mir immer Mut zusprechen. ,Hab Mut, Katrin, es wird schon gehen’, waren ihre trostreichen Worte, und es ging. – Aber ich legte damals das heilige Gelübde ab, nie mehr eine Nähnadel oder zwei Stricknadeln in die Hand zu nehmen.“

„Aber hast du denn nichts für dein Baby gestrickt oder genäht?“ „Ich habe doch zum Glück kinderreiche Schwägerinnen! Die

haben mir eine dreifache Babyausstattung leihweise zur Verfügung gestellt. Senta hat mir sogar ihr Babykörbchen geschickt, es muß nur neu bezogen werden. Aber es ist mir klar, daß unser Sprößling seine ersten Lebensmonate in einem nackten und unbezogenen Körbchen verbringen muß.“

„Oh, wie gern würde ich dir helfen!“ rief ich. „Weißt du, nebst Deutsch war Handarbeit das einzige, was mir eine Eins in der Schule einbrachte. Mir macht so was einen Heidenspaß.“

„Ich komme darauf zurück!“ rief Katrin. „Dadurch kannst du dich tausendmal revanchieren! Du bleibst doch einige Tage in Havblikk? Ich rufe dich an, wir müssen uns irgendwie verabreden.“

Gesegnetes Babykörbchen! Die Aussicht darauf, wieder diese reizenden Menschen besuchen zu dürfen und Katrin bei einer so schönen Arbeit wie Babykorbbeziehen helfen zu dürfen – die Aussicht war so schön, daß ich direkt Herzklopfen bekam.

Als wir kurz danach Hotel Havblikk erreichten, wurde mein Herzklopfen noch spürbarer. Denn zusammen mit dem Zimmerschlüssel reichte mir der Portier einen Brief. Und zwar einen mit dem Poststempel Köln.

Lächerlich! Wieso bekam ich Herzklopfen, weil ein sommersprossiger Jüngling mir aus Köln schrieb? Nachdem wir ein paar nette Ausflüge gehabt und einen dreckigen Hund gemeinsam gebadet hatten? Das war ja alles. Kein sentimentales Wort war zwischen uns gefallen. Kein Wort über Wünsche, Gefühle oder eine fortgesetzte Freundschaft.

Aber Herzklopfen hatte ich trotzdem. Und kaum war ich in meinem Zimmer, habe ich den Brief aufgerissen.

Liebe Allegra! Ich möchte Dir nur erzählen, daß meine Mutter mich dazu

überredet hat, meine Zukunftspläne zu ändern. Erstens braucht sie mich jetzt, es ist viel zu ordnen und zu regeln nach dem Tod meines Stiefvaters. Dann hat sie durch einen Bekannten erreicht, daß ich hier meine kaufmännische Ausbildung vollenden kann. Ich werde dann voraussichtlich doch das Geschäft meines Großvaters in einem Jahr übernehmen. Aber wir treffen uns bestimmt zu Weihnachten, dann besuchen Mutter und ich die Großeltern.

Meine Mutter hat eine große und schöne Wohnung, ich habe ein prima Zimmer und werde auch in der Lehrzeit so viel verdienen, daß ich keine Geldsorgen haben werde.

Ja, dies wollte ich Dir nur erzählen. Hoffentlich geht es Dir gut in Norwegen. Laß mal von Dir hören!

Viele Grüße, Dein Freund

Ich las den Brief zweimal, dreimal. Wie konnte er nur so

furchtbar nüchtern sein, mir das alles zu erzählen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was er selbst dabei empfand? Kein Wort über das Verhältnis zu der Mutter, keine Silbe darüber, was er bei dem Gedanken empfand, doch als Opas Erbe das Geschäft zu übernehmen. Und nichts über die Tatsache, daß wir uns viele Monate kaum sehen würden.

Der Himmel allein wußte, wie alles in einem Jahr aussehen würde. In Köln gab es bestimmt hübsche Mädchen, und mich, den fetten kleinen Spatz in Norddeutschland, würde er vielleicht vergessen.

Ich schluckte einen Kloß im Hals herunter, steckte den Brief in die Tasche, ging rüber in Frau Felsdorfs Zimmer und fing an, ihre Sachen zu packen.

Dabei fielen ein paar Tränen mit in den Koffer. Was sie ins Rollen gebracht hatte, wußte ich selbst nicht.

Ich bleibe bei euch! Ich stand an der Sperre im Flughafen Kristiansand und sah das

Flugzeug starten. Ich winkte aus Leibeskräften, wenn ich auch eigentlich wußte, daß Frau Felsdorf es nicht sehen konnte. Weder Frau Felsdorf senior noch junior. Ja, denn es war die Schwiegertochter, die letzten Endes gekommen war. „Es ist besser für Omi, eine Frau bei sich zu haben, für alle Fälle“, hatte sie mir erklärt.

In der Wartezeit hatten wir dann alles Praktische erledigt. Ich durfte in Havblikk bleiben, alles war ja im voraus bezahlt, und wenn ich Lust hätte, wäre es ja schön, wenn ich das ausnutzen könnte. Außerdem bekam ich ein Monatsgehalt in die Hand gesteckt.

„Leider werden wir Sie wohl kaum mehr brauchen, Fräulein Walther“, sagte Frau Felsdorf junior. „Wenn Omi aus dem Krankenhaus entlassen wird, nehmen wir sie zu uns. Es ist zu riskant, sie allein wohnen zu lassen, wenn Unfälle sogar passieren können, wenn die Betreuerin auf der Toilette ist.“

Sie hatte mir überhaupt keine Vorwürfe gemacht, im Gegenteil. Sie bedankte sich sehr herzlich für das, was ich für die Omi getan

hatte und versprach, mir ein paar Worte zu schreiben. „Ich habe Ihre Schwiegermutter richtig liebgewonnen, Frau

Felsdorf“, sagte ich. „Und ich kann gar nicht ausdrücken, wie mir dies alles leid tut. Ich wäre auch so gern bei der lieben alten Dame geblieben.“

Die Patientin lag im Halbschlaf auf ihrer Bahre. Sie hatte vor der Abfahrt vom Krankenhaus ein schmerzstillendes Mittel bekommen. Die Autofahrt war sehr ruhig verlaufen, sie hatte kaum etwas gesagt.

Frau Felsdorf junior beauftragte mich, die Krankenhausrechnung zu bezahlen und alles im Hotel zu regeln. Hoffentlich würde ich es nun richtig machen. Mit solchen Dingen hatte ich ja keine Erfahrung. Nun, sollte ich Probleme haben, könnte ich Bernt und Katrin anrufen. Sie würden mir bestimmt helfen.

Dann wurde unsere Patientin behutsam ins Flugzeug getragen, danach wurden die übrigen Fluggäste aufgerufen.

Jetzt stand ich also da und sah die große Düsenmaschine über die Startpiste rollen, sich in die Luft heben und dann hinter einer leichten Wolkendecke verschwinden.

Ich kam mir plötzlich so einsam vor. Klein und häßlich und allein.

Kurz danach saß ich im Bus und fuhr zurück, die ziemlich weite Strecke ins Hotel Havblikk.

Eine war es, die sich freute: Barbara Flagtvedt. Ihr Mann war wieder weggefahren, und sie war froh, daß sie Gesellschaft hatte und ihre Muttersprache sprechen konnte. So gingen wir zusammen zum Schwimmen, machten es uns im Strandkorb gemütlich, plauderten über alles mögliche, aßen gut, und ich empfand es ganz komisch, plötzlich ein freier Mensch, ganz ohne Verpflichtungen zu sein.

Zwischendurch dachte ich an Bernt und Katrin. Ob es Katrin ernst gewesen war, daß ich ihr beim Babykörbchen helfen sollte? Ja, es war ernst.

Denn, als ich am zweiten Tag spätnachmittags von einem Spaziergang mit Barbara zurückkam, stand Bernts Auto vor dem Hoteleingang.

„Na, da bist du endlich!“ sagte Katrin. „Wie geht’s? Ich muß unbedingt mit dir reden! Wo sind wir ungestört?“

„Am besten in meinem Zimmer“, meinte ich. „Du bist so feierlich, Katrin, als hättest du Staatsgeheimnisse mit mir zu

besprechen!“ „Ja, es fehlt nicht viel“, lächelte Katrin. „Wo ist dein Zimmer, ich

habe eine Frage an dich, die ich schleunigst loswerden muß, ich bin so wahnsinnig gespannt auf deine Antwort!“

„Und ich auf die Frage“, sagte ich, holte den Schlüssel und führte Katrin in mein nettes Zimmer.

„Also“, sagte Katrin, „mir ist eine Idee gekommen, und Bernt sagte, sie sei genial. Aber zuerst mußt du mir sagen, ob du bestimmte Pläne für die nächsten Monate hast. Fährst du zurück zu deiner alten Dame, und wenn nicht, hast du einen Freund, oder so was, der in Deutschland auf dich wartet, oder bist du ein freier Mensch?“

„Der Freund sitzt leider Gottes in Köln“, berichtete ich. „Und ich bin unbedingt ein freier Mensch bis zum ersten April.“

„Das ist fein, dann kann ich dir ja meine Idee verraten. Du wirst ja Arzthelferin werden. Wie wäre es, wenn du in Bernts Praxis ein bißchen Erfahrung sammeltest? Ich muß ja jetzt aufhören, sonst riskiere ich, daß das Baby im Wartezimmer oder im Labor ankommt. Das war der erste Teil meiner Idee. Was sagst du dazu?“

„Es kommt so plötzlich, Katrin – aber – ja, warum nicht, wenn du meinst, daß ich ihm helfen kann – ich habe ja keine Erfahrung – habe zum Beispiel keine Ahnung von Laborarbeiten…“

„Aber du kennst hoffentlich das Alphabet? Das ist das wichtigste, damit du die Karteikarten heraussuchen und nachher richtig einräumen kannst. Du hast bestimmt auch eine Ahnung von der ärztlichen Schweigepflicht? Dachte ich mir doch. Du kannst Verbände machen, stimmt das? Und überhaupt den Kleinkram, den man in einem Erste-Hilfe-Kursus lernt? Gut, das würde genügen. Nur, daß Bernt einen zuverlässigen Menschen dahat, der ihm eben solche Sachen abnehmen kann.“

„Ja, Katrin – wenn Bernt es wagt – natürlich täte ich es liebend gern…“

„Fein. Dann ist nur die Frage, ob du das andere auch liebend gern tust, was ich ausgeheckt habe.“

„Und das wäre? Außer das Babykörbchen zu beziehen?“ „Ja, paß mal auf: Bernt hat seine Sprechstunde von neun bis

zwölf, ja, so machen es die norwegischen Arzte, sie haben keine Nachmittagssprechstunde, jedenfalls sehr selten. Bis du mit dem Aufräumen und so was fertig bist, ist es ungefähr dreizehn Uhr. Dann fährst du mit Bernt zusammen nach Hause, wir essen Mittag, dann verschnaufst du ein bißchen – und dann kommt es: Würdest du

dich um all das kümmern, das bei mir liegengeblieben ist, sprich Näh- und Stopf- und Flickarbeiten?“

„Herzlich gern, Katrin. Aber wenn du dann in die Klinik kommst, dann muß ich ja…“

„Das wollte ich ja gerade sagen. Dann mußt du für mich einspringen, Einkäufe machen, nachmittags für den nächsten Tag vorkochen…“

„… und stehengebliebenes Geschirr abwaschen…“, ergänzte ich. „Nein, das nicht. Wir haben zum Glück einen Geschirrspüler.

Aber, kurz und gut, dafür sorgen, daß mein armer Mann etwas zu essen bekommt, und außerdem, daß er während der Sprechstunde einen helfenden Geist in der Nähe hat.“

„Aber – Arbeitserlaubnis?“ fragte ich. „Glaubst du, daß ich das bekommen würde?“

„Überlasse das ruhig Bernt. Sollte es nicht klappen, nennen wir dich Au-pair-Mädchen und dein Gehalt taufen wir um und nennen es Taschengeld. Das ist das wenigste. Aber sonst? Wir möchten dich sehr gern haben, und…“

„Unfaßbar“, sagte ich. „Dabei bin ich in keiner Weise spannend, nicht besonders hübsch, viel zu dick, ich war zum Teil doof in der Schule – ich bin kurz gesagt ein ganz langweiliger, uninteressanter Durchschnittsmensch.“

„Gerade deswegen“, sagte Katrin. „Gerade weil du ein ganz gewöhnlicher Mensch bist, möchten wir dich haben. Denn das sind wir auch. Also, was meinst du denn, Allegra? Fährst du nach Hause nach Deutschland oder bleibst du vorläufig bei uns?“

Ich sah Katrin an. Ihr Gesicht war so offen, so lieb, ihre Augen voller Güte. So unkompliziert, so geradeaus – wie mochte ich doch diese junge Frau furchtbar gern!

„Das brauchst du doch gar nicht zu fragen“, antwortete ich. „Das ist doch sonnenklar. Ich bleibe bei euch, Katrin!“

Ein kleines Paradies Ich saß in einem blütenweißen Kittel am Schreibtisch in Bernts Vorzimmer. In zwei riesengroßen Schüben hatte ich die Karteikarten, auf dem Tisch den Telefonapparat, durch den Bernt mich vom Sprechzimmer aus bitten konnte, zum Assistieren reinzukommen oder zu fragen: „Sind noch viele da, Allegra?“ oder: „Ist irgendwas Dringendes dazugekommen?“

Die beiden ersten Tage waren leicht, denn dann war Katrin dabei und hatte mir alles mögliche gezeigt und erklärt.

„Aber sind die Karten denn nicht nach Kassen geordnet?“ hatte ich gefragt.

„I wo! Das Kassensystem bei uns ist denkbar einfach. Alle, die überhaupt versichert sind, sind in der hiesigen Ortskrankenkasse, und die, die sehr wohlhabend sind, bezahlen selbst. Ebenso die, die von auswärts kommen, sie kriegen dann das Geld von ihrer Kasse zurück. Ja, ja, ich weiß schon, unser deutscher Schwager hat uns von dem Kassensystem in Deutschland erzählt, das ist ja zum Auswachsen! Ortskassen und Landkassen, Innungskassen und Betriebskassen…“ „Ersatzkassen und Privatkassen und Sozialhilfe…“, ergänzte ich. „Ja, so was haben wir also hier nicht. Ja, und denk daran, daß Ö hier ein selbständiger Buchstabe ist, Und zwar der Vorletzte im Alphabet, räume nur nicht die Ö-Karten als ,Oe’-Karten ein. Die Buchstaben Æ und Å kennst du? Fein. Also, nach Z kommen noch Æ, Ø und Å. Æ ist eine Kombination von A und E wie das deutsche Ä, Ø kannst du genausogut auf deutsch schreiben, also O mit Tüpfelchen und Å ist – ach ja, das kennst du aus Schweden, ein A mit einem kleinen Ring drüber, wird wie das deutsche O ausgesprochen. Kapiert?“

Ja, ich hatte es begriffen. Überhaupt war das mit der Kartei nicht so schwer. Bei den Arbeiten im Sprechzimmer und im Labor mußte ich aber sehr aufmerksam sein. Katrin zeigte mir die Handhabung der Zentrifuge und des Sterilisators, und ermahnte mich: „Da draußen im Wartezimmer und außerhalb der Praxis ist die Schweigepflicht das wichtigste. Hier drin ist die Sauberkeit deine erste Pflicht. Alles, was steril bleiben muß, nur mit Zangen anfassen. Fällt dir eine Kanüle auf den Tisch, dann gleich zu den gebrauchten Sachen legen und neu sterilisieren!“

Ich lernte die einfachen Urinuntersuchungen – die mehr

komplizierten Tests machte Bernt selbst –, und ich lernte, wo jedes Instrument seinen Platz hatte.

Außer Sprechzimmer, Wartezimmer und Labor waren noch zwei winzige Räume da, das waren die „Ansteckungskabäuschen“, wie Katrin sie nannte. Wenn zum Beispiel ein Kind mit Ausschlägen oder einem verdächtigen Husten kam, durfte es nicht im Wartezimmer sitzen, sondern wurde in ein „Kabäuschen“ geschickt. In ihm standen zwei Stühle, einer für das Kind und einer für die Mutter. Zwei Haken an der Wand, eine kleine Ablage, weiter nichts.

„Die Ansteckungsverdächtigen immer so bald wie möglich drankommen lassen“, ermahnte mich Katrin.

Es war viel zu behalten, aber es machte mir Spaß. Und ich freute mich schon auf Frau Doktor Oberbachs überraschtes Gesicht, wenn ich erzählte, daß ich all diese Dinge schon kannte.

Ich gab mir redliche Mühe, und es ging im großen und ganzen gut. Nur hatte ich manchmal Schwierigkeiten mit der Verständigung. Wenn die Leute ganz gewöhnliches „Hochnorwegisch“ sprachen, ging es gut, aber die Patienten vom Lande, die Dialekt sprachen, brachten mich ab und zu zum Verzweifeln. Es kam vor, daß andere Patienten dann helfend einspringen mußten. Sie meinten alle, daß ich Schwedin sei, und ich ließ sie bei dem Glauben.

Was mir am meisten Spaß machte, war das Assistieren bei der Behandlung. Verbände machen, Kinder festhalten, Senkungsspritzen zurechtmachen, Impfmesser ausglühen und so was. Kurz gesagt, dabeizusein.

„Es geht ja gut, Allegra“, sagte Bernt nach meinem ersten selbständigen Tag in der Praxis. Und ich freute mich wie in der Schule, wenn meine deutschen Aufsätze gelobt wurden.

Lob gab es auch nachmittags zu Hause. Drei Abende saß ich über dem Babykörbchen und bezog es mit einem rosa-hellblau kleinkarierten Stoff. „Dann paßt es sowohl für einen Jungen als auch für ein Mädchen“, sagte die praktische Katrin.

Ich machte mir große Mühe, fabrizierte feine Krausen und Blenden mit den allerkleinsten Stichen, und das Resultat konnte sich wirklich sehen lassen.

„Lieber Himmel“, sagte Katrin. „Das Kind wird ja ganz verwöhnt – es wird Komplexe kriegen, wenn es nachher von meinen Nähkünsten abhängig wird!“

Dann setzte ich mich hin und nähte Aufhänger an Handtücher, stopfte Bernts ganzen Vorrat an Wollsocken und fand ein Tischtuch

mit einem Loch von einem Zigarettenfunken. „Beklag dich bei meinem Bruder“, sagte Katrin. „Er ist der

einzige Raucher in der Familie.“ Leider bekam ich dazu keine Gelegenheit, da der rauchende

Bruder in Amerika war. Das Loch in das gute Tischtuch hatte er bei einem Norwegenbesuch voriges Jahr gemacht.

Dafür lernte ich den anderen Bruder kennen, der mit Frau und zwei Kindern im Nachbarhaus wohnte, also in Katrins Elternhaus.

„Deine Schwägerin ist reizend“, sagte ich zu Katrin, als die Familie uns eines Abends besucht hatte.

„Ja, das ist sie. Kein Wunder, sie ist eine Kusine von unserer Beatemutti. Durch Anja lernte ich damals Beatemutti kennen und kam zu Familie Rywig als Haustochter, und das war das beste, was mir in meinem Leben passiert ist.“

„Ohne Anja hättest du also auch nicht Bernt kennengelernt?“ fragte ich.

„Eben! Ich habe also allen Grund dazu, Anja dankbar zu sein. Wir verstehen uns auch blendend, und wir lachen oft darüber, wie wütend ich war, als sie sich mit Andreas verlobte.“

„Warst du wütend? Warum in aller Welt…“ „Weil ich ein Schaf war! Ich platzte vor Eifersucht! Ich war

stinkwütend, weil eine fremde Frau plötzlich auftauchte und mir meinen ältesten Bruder wegnahm. Ich wohnte ja mit meinen Brüdern zusammen und wollte, daß sie nur für mich dasein sollten. Ja, ja, so sagenhaft dumm kann man mit achtzehn Jahren sein!“

„Ich bin jetzt achtzehn, Katrin, aber ich glaube nicht, daß ich…“ „Nein, du würdest bestimmt vernünftiger sein. Aber du hast

Eltern, die dich anscheinend ganz gut erzogen haben…“ „Danke für das Kompliment, ich werde es weiterleiten!“ „Das darfst du gern. Siehst du, ich verlor meine Eltern so früh,

ich war immer ,die arme kleine Katrin’ und wurde verhätschelt und verwöhnt von besagten Brüdern. Nun ja, Beatemutti hat es dann geschafft, einen halbwegs brauchbaren Menschen aus mir zu machen, und was sie nicht fertigbrachte, das schaffte die Liebe.“

Wahrscheinlich war es das Wort „Liebe“, das mich zu einem tiefen Seufzen brachte.

„Nanu?“ lächelte Katrin. „Hast du Liebeskummer?“ „O nein, Kummer nicht. Nur ein ganz kleines Problem.“ „So, ein Problem – ach ja, dein Problem sitzt in Köln, war es

nicht so?“

„Stimmt.“ „Ja, dann pack aus, wenn du Lust hast oder wenn du meinst, daß

ich dir helfen könnte.“ Dann erzählte ich. Von der Begegnung mit Hartmut, von meiner

Dackel-Namensschwester, die dafür sorgte, daß wir uns kennenlernten, von unseren Ausflügen, von dem Sonntag zu Hause bei meinen Eltern.

„Ja, bis jetzt ist ja alles schön und gut“, sagte Katrin. „Vorläufig sehe ich kein Problem.“

„Vielleicht gibt es auch keins. Aber weißt du – ja, ich mag ja Hartmut gern, und wir haben es so nett zusammen gehabt – aber – ja, er erzählt auch von sich, er ist sehr offen zu mir – aber ich ahne nicht, was in ihm vorgeht! Er erzählt Tatsachen, aber ganz ohne Kommentare. Seine Mutter heiratete, als Hartmut zwölf war, er blieb bei den Großeltern, das hat er erzählt. Aber ich ahne nicht, was er dabei empfand. Ich weiß nicht, ob er verbittert wurde, oder ob er es in Ordnung fand. Und jetzt ist der Stiefvater gestorben, das hat er kurz erzählt, ebenso, daß er vorerst bei seiner Mutter bleibt. Aber ob es aus Liebe zu der Mutter geschieht oder aus Pflichtgefühl, oder weil er dort eine gute Ausbildung kriegen kann – ich ahne es nicht!“

„Dann frag ihn doch“, sagte Katrin. „Das könnte ich, selbstverständlich. Aber ich mag andererseits

nicht um Vertrauen bitten! Wenn jemand mir Vertrauen schenkt, dann soll es auch ein Geschenk sein, es soll freiwillig sein.“

„Das kann ich natürlich auch verstehen“, nickte Katrin. Sie machte eine kleine Pause, dachte nach – dann sprach sie weiter: „Weißt du, ich glaube, viele Männer sind so. Ich denke an meinen eigenen Mann. Er hat mir erzählt, daß er als Kind ganz verschlossen war, es rührte sich viel in seinem Inneren, er hatte Probleme und Sorgen, aber er behielt alles für sich. Man sagte ihm nach, daß er ,ein schwieriges Kind’ war. Es war alles Quatsch, von einer alten Tante erfunden, die ihnen den Haushalt machte, nachdem die Mutter starb. Das mit der ,Schwierigkeit’ war nur Einsamkeit. Sein Vater hatte immer wahnsinnig zu tun, und wenn er todmüde nach Hause kam, brauchte er seine Ruhe. Die Geschwister waren jünger, die beiden Schwestern sind Zwillinge und hatten mit sich genug zu tun. Sie hingen zusammen wie Pech und Schwefel. Der Bruder war viel jünger, und Freunde hatte Bernt kaum. Ganz einfach, weil der Kerl so superintelligent ist, er war weit voraus allen Gleichaltrigen. Ja, dies hat mir sein Vater erzählt. Also, Bernt war genauso verschlossen

wie dein Hartmut. Aber dann…“ „Dann“, unterbrach ich mit einem Lächeln, „dann kam eure

Beatemutti!“ „Eben! Dann kam sie! Und aus fünf einsamen Menschen wurde

allmählich eine glückliche Familie, die zusammenhielt und sich lieb hatte. Bernt lernte zu lächeln, und er lernte, mit seinen Problemen zu dem Vater oder zu Beate zu gehen. Als ich ihn kennenlernte, war er fröhlich und aufgeschlossen – und ich habe mich sofort in ihn verliebt!“

„Vielleicht…“, sagte ich langsam, „… vielleicht könnte Hartmut auch so eine Beatemutti brauchen.“

„Sicher!“ bestätigte Katrin. „Alle Menschen brauchen das, was Beatemutti mitbrachte: Liebe, Freude, Lächeln, Sonnenschein! Und siehst du, Allegra, da dein Hartmut keine Beatemutti hat, mußt du versuchen, ihm das alles beizubringen. Liebe, Freude, Sonnenschein!

Wie ist es, du hast doch erzählt, daß dein Name ,Freude’ bedeutet? Dann mußt du eben ,Live up to your name’ – ich weiß nicht wie ich das übersetzen soll.“

„Ich auch nicht“, gestand ich. „Ich verstehe aber den Sinn. Ich muß in Übereinstimmung mit meinem fröhlichen Namen leben.“

„Eben. Und vorläufig mußt du es per Brief tun, da so viele Kilometer dich von deinem Hartmut trennen!“

Ich hatte oft solche Plauderstündchen mit Katrin. Sie war so vernünftig, so geradeaus, daß es leicht war, offen zu ihr zu sein.

Überhaupt hatte ich es wunderschön bei Bernt und Katrin. Und es war ein sehr schönes Gefühl zu wissen, daß ich ihnen auch nützlich war. In der Praxis ging es immer besser, und ich lernte jeden Tag was Neues – Dinge, die mir bei Frau Doktor Oberbach sehr nützlich sein würden. Nachmittags, wenn Bernt seine Krankenbesuche machte, hatten Katrin und ich es immer urgemütlich, wenn wir zusammen in der Küche arbeiteten, oder wenn wir auf der Terrasse faulenzten.

Und dann die herrliche Natur! Das blaue Meer, das wir immer vor den Augen hatten, die kleinen braunen Bootshäuser da unten am Ufer, die grünen Wiesen, die gepflegten Gärten, die reizenden weißgestrichenen Holzhäuser, beinahe nur Einfamilienhäuser. Es war als ob diese freundliche, schöne Natur auch die Menschen freundlich gemacht hatte. Alle hatten ein nettes Lächeln, alle ein liebenswürdiges „Guten Tag“ bei einer zufälligen Begegnung – einen „Guten Tag“ in dem singenden, freundlichen Dialekt, von dem

ich zum Glück immer mehr verstand, nachdem meine Ohren sich daran gewöhnt hatten.

Ich schrieb meinen Eltern und erzählte, wie herrlich ich es hatte, ich schrieb auch eine Karte an Frau Doktor Oberbach und teilte ihr mit, daß ich mich in Norwegen auf die Arbeit bei ihr vorbereitete.

Hartmut hatte ich noch nicht geschrieben, außer einer Karte, wo ich ihm meine neue Anschrift mitteilte. Ein Brief an ihn mußte gründlich überlegt werden.

Von Frau Felsdorf junior bekam ich ein Briefchen. Die Omi war operiert worden, es ging ihr gut, aber ihr Kopf hatte durch den Schock gelitten. Die Verkalkung machte sich viel mehr bemerkbar, und es sei ausgeschlossen, daß sie zurück in ihre eigene Wohnung kommen könnte. Nun, vorläufig war sie noch im Krankenhaus, in einem schönen Zimmer auf der Privatstation, und es ginge ihr den Umständen entsprechend gut.

Und mir ging es also prima. Es war jeden Morgen so schön, aufzuwachen und sich auf den Tag freuen zu können. Jeder Tag brachte mir was Gutes. Ich freute mich auf die Sprechstunde, und wenn ich gegen Mittag neben Bernt im Auto saß, freute ich mich auf den Nachmittag mit Katrin.

„Du lächelst so geheimnisvoll“, sagte Katrin eines Tages am Mittagstisch.

„Tu ich das? Ja, aber dazu habe ich allen Grund“, antwortete ich. „Ich sitze nämlich hier und denke daran, daß ich bei euch ein kleines Paradies auf Erden gefunden habe!“

Petri heil! „Bernt“, sagte Katrin an einem Sonnabendmorgen am

Frühstückstisch. „Kann deine Patientenschar heute ohne dich zurechtkommen?“

„Ich hoffe“, sagte Bernt. „Jedenfalls wissen sie, daß ich am Samstag keine Sprechstunde habe. Was hast du mit mir vor?“

„Ich will endlich mal eine anständige Fischmahlzeit haben“, verkündete Katrin. „Wir müssen rausfahren und sehen, daß wir ein paar genießbare Viecher auf den Angelhaken kriegen.“

„Glaubst du, daß eine Angeltour das richtige für eine Frau im neunten Monat ist?“ fragte Bernt.

„Na klar! Ich bin doch so gesund wie die Fische im Meer. Und Doktor Rosenberg hat mir doch gesagt, daß ich ein ganz normales Leben führen kann – ja ich soll es sogar!“

„Mein Kollege Rosenberg hat anscheinend keine Ahnung davon,

was du als normales Leben bezeichnest“, meinte Bernt. „Schwimmen, rudern, segeln, angeln, Boote in Ordnung halten – nun ja, dann also heute angeln. Aber eins sage ich dir: Du darfst nicht rudern, du sitzt gefälligst hübsch und bequem im Achtersteven und siehst zu, wenn Allegra und ich uns abrackern.“

„Gut, ich sitze also mit gezücktem Fahrtenmesser und kümmere mich ums Töten. Ich kenne dich, lieber Mann, du haßt es, Fische zu töten! Ich bezweifle sehr, daß Allegra es fertigbringt!“

„Ich will überhaupt nichts töten“, sagte Bernt. „Wir nehmen die Fischkiste mit und wenn wir Glück haben, können wir uns ein Depot anlegen. Dann haben Allegra und ich immer was zu essen, während du in der Klinik bist.“

„Du unterschätzt mich“, protestierte Katrin. „Für Vorrat ist längst gesorgt, der Tiefkühler ist voll Beefsteaks und gebratenem Fisch und Tomatensuppe mit Klößen, und…“

„Gut, gut, aber trotzdem, falls wir viel fangen, ist es doch besser, die Viecher vorläufig am Leben zu halten. Also, machen wir uns fertig! Allegra, zieh deine ältesten und dreckigsten Blue jeans an, ich borge dir eine scheußliche alte Jacke, die im Bootshaus hängt.“

Alles klang für mich spanisch. Was in aller Welt war eine Fischkiste? Und wie angelte man vom Boot aus? Ach ja, ich hatte ja so was in Deutschland gesehen, man saß im Boot und hatte ein paar lange Angelruten festgemacht – nun ja, ich würde ja gleich zu sehen bekommen, wie man es hier machte.

Unten im Bootshaus holte Katrin von einem Bord drei kleine Holzbretter, die mit dünnen, starken Leinen umwickelt waren. Am Ende jeder Leine hing ein kleiner Fisch aus Blech. Aha, damit lockte man also die Fische an! Ich guckte mir die Leinen genauer an. Ganz richtig. Unter dem kleinen Blechfisch befand sich ein Angelhaken.

In einem Boot fühle ich mich so hilflos wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Meine bisherigen Bootsausflüge konnte ich glatt an den Fingern abzählen, dazu brauchte ich nicht einmal die zweite Hand.

Was ich an diesem Vormittag alles lernte! Ich gebrauchte Ohren und Augen und versuchte, all die Worte zu

behalten, die mir ganz neu waren: Bug und Achtersteven, Steuerbord und Backbord, Ducht, Öhsfaß und was es noch alles gab.

Das Angeln selbst spielte sich in einer merkwürdigen Weise ab. Wir nahmen jeder so ein Holzbrett in die Hand, warfen die Angel in die See, und ließen dann die Leine sich vom Brett abwickeln. Dann

wurde das letzte Ende der Leine zusammen mit dem Brett um eine Ruderbank gewickelt, damit die anbeißenden Fische nicht mit der ganzen Leine davonschwimmen sollten. Mit einer Hand mußte man dann um die Leine fassen, und wenn man einen Ruck merkte, hieß es nur Leine reinziehen. „Nicht zu schnell, ganz regelmäßige Bewegungen“, ermahnte mich Katrin.

Bernt ruderte auch langsam und regelmäßig. Hier und da winkten wir anderen Anglern zu, die alle nach demselben seltsamen System ihr Glück versuchten. Diese Art des Angelns nennt man „dorge“, wurde mir erklärt.

Hinter dem Boot schleppten wir die Fischkiste mit. Es war eine viereckige Holzkiste mit vielen kleinen Löchern drin. Das Ding war also mit Wasser gefüllt; Wasser, das sich beim Rudern stets erneuerte. Im Deckel war eine Luke zum Öffnen, durch die wurden nun die Fische in die Kiste gesteckt und blieben dort bis zum Verzehr. Aber in frischem Salzwasser.

„Hoppla“, sagte Katrin. Sie zog ihre Leine ein, die eine Hand immer über der anderen, ganz regelmäßig. Dann das allerletzte Stück mit dem Angelhaken, im ausgestreckten Arm senkrecht aus dem Wasser, und – wuppti – ins Boot. Mit unglaublich geschickten Händen holte Katrin den Haken aus dem Maul eines zappelnden Dorsches, und ebenso geschickt öffnete sie die Fischkiste und ließ den Fisch runter in sein Gefängnis.

Es graute mir bei dem Gedanken, einen zappelnden Fisch anzufassen. Das blieb mir aber erspart. Als ich an der Reihe war, so einen Zappelfritzen an Bord zu ziehen, übernahm Bernt das Weitere.

Es machte Spaß. Als ich meinen zweiten Fisch glücklich ins Boot gebracht hatte, war ich beinahe stolz.

„Habt ihr hier immer Anglerglück?“ fragte ich. „Ja, beinahe immer. Diese Bucht ist sehr fischreich“, erklärte

Bernt. „Hoppla, da ist was Großes! Zieht die Leinen ein, ich lege die Ruder rein, muß mich um dieses Zappeltier kümmern – liebe Zeit, was wird das wohl sein!“

Die ganze Leine zitterte. Bernt zog langsam und regelmäßig, dann sah er anscheinend da unten im Wasser, was er an der Angel hatte.

„Allegra, nimm den Kescher, da, links – halt ihn unter den Fisch – aber in Gottes Namen, was hast du?“

Ich hatte laut geschrien, und Bernt erzählte mir nachher, daß ich leichenblaß gewesen sei. Ich ließ den Kescher – das Fangnetz an

einem langen Stiel – fallen, ich drückte mich so weit wie möglich weg von Bernt und von dem Ungeheuer, das er – ohne Kescher – ins Boot reinbugsierte.

„Weg damit!“ schrie ich. „Es ist eine Schlange – weg damit, laß sie nicht an mich heran – ich springe über Bord – wirf das Tier weg!“

Bernt überließ es Katrin, das „Untier“ vom Angelhaken zu lösen. Seelenruhig hielt sie es mit der linken Hand fest, während sie mit der rechten die Luke der Fischkiste aufmachte.

„So, Allegra, jetzt ist der Aal weg“, sagte Bernt ruhig. „Und wir haben Fische genug, wir hören jetzt auf. Komm, setz dich wieder hin!“

Er legte den Arm beruhigend um meine Schulter. „Aber was ist denn mit dir, Allegra?“ fragte Katrin. „Hast du

Angst vor einem Aal?“ „Ja“, schluchzte ich. „Vor allem was kriecht. Ich kann nichts

dafür – ich kann keinen Regenwurm anfassen, ja kaum noch sehen – ich fiel beinahe in Ohnmacht, als ich einmal im Wald eine Blindschleiche sah – ich kann nichts dafür!“

„Heiliger Bimbam!“ sagte Katrin, und ihr Gesicht war ein einziges Staunen.

„Nein, Allegra, du kannst nichts dafür“, sagte Bernt mit seiner ruhigen Arztstimme. „Es gibt Menschen, die diese Schlangenangst haben, genau wie andere dieselbe Angst vor Katzen empfinden. Ein erfahrener und geduldiger Psychiater könnte dir diese Angst nehmen, aber vorerst hast du sie noch, und wir werden Rücksicht daraufnehmen.“

Katrin schüttelte den Kopf. „Wenn mein kluger Mann es versteht, ist es ja gut“, sagte sie.

„Mir ist es schleierhaft. Ein Aal ist doch bloß ein Fisch!“ Ich war zusammengesunken auf meinen „Ducht“ und saß da,

blaß und zitternd. „Es ist so furchtbar – ich schäme mich so – ich bin ein Feigling –

aber ich möchte lieber einen ausgehungerten Löwen als eine Ringelnatter treffen. Lieber einen wilden Bären als eine Blindschleiche.“

„Und lieber einen menschenfressenden Hai als einen Aal“, sagte Katrin. „Beruhige dich jetzt, Allegra, der Aal ist sicher in der Kiste untergebracht, und wenn du ihn das nächste Mal siehst, liegt er als gebratene Stücke auf einer Platte auf dem Mittagstisch.“

„Schämen brauchst du dich nicht, Allegra“, sagte Bernt. Er hatte wieder die Ruder genommen und ruderte jetzt Richtung Heimat. „Das, woran du leidest, ist eine Phobie, das bedeutet: eine krankhafte Angst. Es gibt viele Arten Phobien, zum Beispiel Klaustrophobie – Angst vor dem geschlossenen Raum – oder Agoraphobie, Angst vor dem offenen Platz – oder Hydrophobie, Angst vor dem Wasser.“

„Und Allegra leidet an Aalophobie“, sagte Katrin. „Und an Regenwurmophobie! Sei froh, daß du nicht vor zehn Jahren hier warst, Allegra. Damals hatten wir Kreuzottern auf unseren Grundstücken, meine Brüder haben sich nicht schlecht abgequält, um die Biester loszuwerden.“

„Um Gottes willen…“, flüsterte ich. „Alks mit der Ruhe, es hat sich seit Jahren keine einzige gezeigt.

Andreas machte sozusagen Großaufräumen, als seine Kinder auf die Welt kamen und später immer draußen spielten. Und die Regenwürmer lassen wir hübsch in der Erde, und beim Angeln werden wir uns alle Mühe geben, keine Aale zu erwischen.“

„Diese Angst ist also eine Krankheit, Bernt?“ fragte ich. „Ja, unbedingt. Wie ich dir sagte, ein erfahrener Psychiater

könnte dir vielleicht helfen. Ich werde dir was sagen, Allegra. Mich hat es auch Überwindung gekostet, Aale und Schlangen anzufassen, aber mein Widerwille gegen diese Viecher war wohl nicht krankhaft, so wie bei dir. Ich glaube, es lag viel daran, daß ich als Kind immer zu hören bekam: ,Uff, die widerlichen Biester’ oder: ,Diese scheußlichen, kriechenden Tiere’ und so was. Es war meine alte Tante, die diese Einstellung hatte, ja, die Tante, die uns damals den Haushalt führte. Es wurde mir immer ein Widerwille eingeimpft, und um den loszuwerden, brauchte ich meine ganze Vernunft…“

„… und deine energische Frau“, vollendete Katrin. „So, dann sind wir da, verschwinde nun, Allegra, du brauchst ja nicht das Ende des Aales mitanzusehen. Wenn du etwas Gutes für das allgemeine Wohl tun möchtest, könntest du Kartoffeln aus dem Keller holen, und außerdem habe ich noch nicht die Betten gemacht.“

Ich war froh, daß ich gleich nach oben zum Haus laufen konnte. Aber auf halbem Wege drehte ich mich um und sah, wie Katrin den scheußlichen Aal ausgestreckt über den Kopf hielt und ihn mit voller Kraft auf die zementierte Anlegebrücke warf.

Also wußte ich jetzt theoretisch, wie man einen Aal tötet, aber ich wußte auch, daß ich es nie, nie in meinem Leben praktizieren würde.

Mein einziger Trost war, daß ich nichts dafür konnte, daß es eine Krankheit war und daß ich mich nicht zu schämen brauchte.

Ich machte mich ans Kartoffelschälen und dachte daran, daß ich lieber zehn Zentner davon schälen möchte, als das schreckliche, sich windende Tier eine Sekunde anzufassen!

Meine Bewunderung für Katrin kannte jetzt keine Grenzen.

Briefeschreiben mit Unterbrechung Klein-Eschenheim, 21. Juli Lieber Hartmut! Herzlichen Dank für Deinen Brief. Ja, ich denke auch sehr gern an unsere netten Motorroller-Ausflüge. Ich habe mich noch nicht so richtig mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß Du gar nicht dasein wirst, wenn ich wieder nach Hause komme. Ob ich Weihnachten nach Hause fahre, weiß ich noch nicht, es kommt darauf an, ob ich hier noch gebraucht werde. Die beiden Menschen, bei denen ich gelandet bin, sind so reizend, daß Du es Dir kaum vorstellen kannst. Ich bin furchtbar gern bei ihnen.

Siehst Du, ich erzähle jedenfalls, daß ich gern hier bin. Aber Du schreibst

kein Sterbenswort darüber, ob Du gern in Köln geblieben bist. Ich weiß nicht, ob Du Dich mit Deiner Mutter gut verträgst. Ich weiß auch nicht, was Dich zum Umsatteln gebracht hat, so daß Du doch Deinem Opa die Freude machen wirst, sein Geschäft zu übernehmen. Ich weiß nicht, was Du als Kind empfunden hast, als Deine Mutter heiratete und Dich bei den Großeltern zurückließ. Es ist eigentlich ein so komisches Gefühl, einen Freund zu haben – ja, denn ich betrachte Dich unbedingt als einen guten Freund – und nicht zu ahnen, wie es eigentlich in seinem Inneren aussieht! Ich frage mich manchmal, woran es liegt, daß Du so sehr nüchtern und so wenig mitteilungsfreudig bist. Wenn Du ein klein bißchen über Dich selbst erzählen würdest, würde ich es als Beweis dafür betrachten, daß Du Vertrauen zu mir hast und auch eine wirkliche Freundschaft…

„Allegra! Komm mal bitte runter!“ Der Kugelschreiber fiel mir aus der Hand. Es war etwas in

Katrins Stimme, das mich dazu brachte, die Treppe runterzurasen. Da stand sie mit einem verzerrten Gesicht und versuchte, ein

Lächeln zustande zu bringen. Es wurde aber eine Grimasse daraus. „Allegra, es ist soweit – lauf bitte schnell rüber zu meinem

Bruder, er oder Anja muß mich in die Klinik fahren, ich weiß ja nicht, wann Bernt – aua!“

Sie krümmte sich einen Augenblick vor Schmerz. Ich stützte sie und führte sie zu einem Sessel. Dann raste ich durch den Garten, rüber zum Nachbarsgrundstück, und durch die offene Tür, direkt in

die Küche, wo Anja beim Butterbrotmachen war. „Anja, Katrin muß in die Klinik, Bernt ist noch nicht zurück von

den Krankenbesuchen – kannst du…“ Anja feuerte die Küchenschürze in die Ecke, griff wie der Blitz

nach Handtasche und Führerschein, rief den Kindern zu, sie sollten selbst die Brote fertig machen, sie käme in einer Stunde, und schon war sie unterwegs zur Garage.

Als ich zurück zu Katrin kam, war sie ruhig, sie hatte wohl eine Pause in den Wehen. Sie stand startklar vor dem Haus, mit dem seit Wochen fertiggepackten Köfferchen in der Hand.

„Na, dann paß auf meinen Mann und das Haus gut auf, Allegra – Bernt wird wohl gleich kommen, grüß ihn und sag, er soll vorsichtig zur Klinik fahren, bloß nicht rasen. Er soll an den Nachmittagsverkehr denken – du auch, Anja, es dauert wohl etwas, bis…“

Sie unterbrach sich selbst, biß sich auf die Lippe. Schweißperlen traten auf ihre Stirn.

„Hals- und Beinbruch, Katrin! Ich halte dir die Daumen!“ „Tu das, Allegra. Am liebsten auch die großen Zehen!“ Sie

brausten los, und zehn Minuten später erschien Anjas Mann, der anscheinend angeln gewesen war, denn er trug zwei große Dorsche – zum Glück keinen Aal.

„Hätte sie nun nicht die paar Minuten warten können“, sagte Andreas. „Na, vielleicht hat sie es so eilig wie Anja beim ersten Kind. Es war ein Glück, daß es nicht im Auto zur Welt kam, es fehlte nicht viel! Kommst du mit rüber zu uns?“

„Nein, ich muß ja auf Bernt warten – oh, da ist er ja!“ Ich rannte hin zum Auto und brauchte nur drei Worte zu sagen, dann reichte Bernt mir seine Besuchstasche.

„Stell bitte die Tasche ins Untersuchungszimmer, Allegra, und wenn Patienten anrufen, dann müssen sie sich an den Notarzt wenden, die Telefonnummer steht auf dem Block.“

„Bernt, ruf mich an, wenn das Kind da ist! Wenn es auch mitten in der Nacht wird. Ich schlafe unten, dann höre ich das Telefon.“

„Mache ich. Vergiß nicht, alles abzuschließen, wo du allein im Haus bist. Also, tschüß!“

Schon wendete er das Auto, und ich konnte ihm Katrins Ermahnungen nur nachrufen.

Es war spät am Abend. Vier Stunden waren vergangen, seit Anja mit Katrin losfuhr. Vielleicht würde es noch lange dauern. Ich

wußte, daß es Frauen gibt, die sich vierundzwanzig Stunden abquälen müssen, aber ich wußte auch, daß manche es ruckzuck schaffen, so wie zum Beispiel Anja.

Ob Katrin sehr leiden muß? Sie war selbst so ruhig gewesen. „So sind wir nun alle auf die

Welt gekommen“, hatte sie schmunzelnd gesagt. „Es wird wohl für mich nicht schlimmer sein als für andere. Und sollte es sehr weh tun, dann werde ich mir selbst sagen: ,Es geschieht dir recht, Katrin, so weh hast du auch deiner Mutter getan!’“

Ich aß ein bißchen Abendbrot, und dann holte ich meine Schreibsachen aus meinem Zimmer und fuhr fort, Hartmut zu schreiben:

Hier wurde ich unterbrochen. Katrin mußte in die Klinik, jetzt erwarte ich jede Minute und jede Sekunde einen Anruf, daß das Kind geboren ist.

Aber zurück zu dem, was ich schrieb, bevor ich unterbrochen wurde: Erinnerst Du Dich an den Sonntag, als Du mich nach Hause zu meinen Eltern brachtest? Als wir am Straßenrand saßen, Du bei Deinem Schokoladenfrühstück, und Du erzähltest mir von Deiner Geburt, von Deinen Großeltern, von der Heirat Deiner Mutter. Du hast eine Menge erzählt, aber ohne mit einem Wort Deine eigenen Gefühle dabei zu erwähnen. Ich weiß nicht, ob Du Dein Schicksal als sehr schwer empfunden hast, ich weiß nicht, ob Du als Kind gelitten hast, weiß nicht, ob Du Dich manchmal auch ganz schrecklich freuen konntest. Für mich ist es so natürlich zu sagen: „Oh, wie war das schön“ oder: „Das hat mir furchtbar leid getan“ – Du sagst überhaupt nichts!

Ich habe einmal einen sehr guten Spruch gehört, ich glaube sogar, daß er aus der Bibel stammt: „Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen, geteilte Freude ist doppelte Freude.“ Hast Du nie die Erfahrung gemacht?

Nun, um endlich zu einem Schluß zu kommen: Wenn Du einmal Bedarf hast, Deine Sorgen zu halbieren oder Deine Freuden zu verdoppeln, bin ich immer bereit, beides mit Dir zu teilen. Oder, man kann es so ausdrücken: Wenn Du mal was hast, was Du unbedingt loswerden mußt, kannst Du mich als Mülleimer für die Sorgen und als Schmuckkästchen für Deine Freuden betrachten!

Ich hoffe, daß Du Dich in Köln wohl fühlst, und daß Deine Arbeit Dir Spaß macht. Mir geht es wie gesagt blendend!

Recht viele herzliche Grüße schickt Dir

Ich sprang hoch. Das Telefon klingelte schrill und aufdringlich in

die stille Nacht hinein. Mit zitternder Hand nahm ich den Hörer auf, mit zitternder Stimme antwortete ich: „Hier bei Doktor Rywig.“

„Allegra! Warst du noch wach? Allegra, wir haben einen Sohn! Seit einer halben Stunde. Katrin geht es ausgezeichnet, sie läßt herzlich grüßen. Ja, ja, groß und gesund. 3800 Gramm, 52 Zentimeter, er ist ein Prachtkerl! Ich komme bald nach Hause. Allegra, kannst du etwas Eßbares organisieren, ich habe einen Mordshunger. Ich werde nur schnell meine Eltern anrufen und noch einen Blick auf meine Frau und meinen Sohn werfen – hast du gehört? Auf meinen Sohn! Also, tschüs, Allegra, renn in die Küche und schustere etwas für einen hungrigen Vater zusammen!“

Der Hörer wurde aufgelegt. Ich stand da und lächelte und ahnte selbst nicht, warum ich schnell ein paar Tränen wegwischen mußte.

Ich „rannte“ nicht gleich in die Küche. Ich ging zurück zu meinem Brief und fügte ein „P.S.“ hinzu:

P.S. Entschuldige die verunglückte Unterschrift! Das Telefon

klingelte! Katrin hat einen Sohn! Bernt war vollkommen aus dem Häuschen vor Freude. Er ist sonst sehr ruhig und beherrscht, aber jetzt platzte die Freude wie eine Explosion aus ihm heraus. Und ich frage mich, ob Du auch bei einer wirklich großen Freude explodieren könntest?

Ich muß blitzschnell in die Küche! Noch einmal viele herzliche Grüße von

Anderthalb Stunden später saß Bernt, übermüdet und glücklich,

in der Küche und aß einen Suppenrest vom Mittag, Butterbrote, Spiegeleier und gezuckerte Johannisbeeren. Zwischen den Bissen sprach er andauernd. O ja, Katrin sei so tapfer gewesen, und alles war normal verlaufen, und er, Bernt, hatte seinen Vater aus tiefstem Schlaf geweckt, und Beate sei auch an den Apparat gekommen, und sie würden beide zur Taufe nach Klein-Eschenheim kommen.

„Wie soll der Kleine nun heißen?“ fragte ich in einer kurzen Pause, als Bernt gerade den Mund voll Spiegelei hatte. Bis jetzt war ich kaum zu Wort gekommen.

„Sven Gerhard Rössler Rywig. Nach den beiden Großvätern! Ach ja, richtig, ich muß ja Sonja anrufen…“

„Deine Schwester in England?“ „Ja, falls sie nicht zufällig auf Galapagos oder auf dem Südpol

das Tierleben studiert oder auf der Chinesischen Mauer rumtänzelt. Bei der kann man nie wissen. Aber sie muß das Familien-Taufkleid schicken, ihr Beatchen war das letzte Kind, das es anhatte.“ Schon war Bernt unterwegs zum Telefon.

„Einen Augenblick, Bernt“, sagte ich. „Es ist ein Uhr nachts, glaubst du nicht, daß das Taufkleid auch dann rechtzeitig ankommt, wenn du bis morgen früh wartest? Außerdem hat deine Schwester es bestimmt nicht mit auf dem Südpol oder auf der Chinesischen Mauer.“

Bernt lachte. „Ausnahmsweise hast du recht. Dann muß sie eben ein paar

Stunden auf die freudige Nachricht warten, daß sie die Tante des achten Weltwunders geworden ist!“

Stärker als die Angst Die große Glückwunschwelle hatte sich gelegt. Die Telegramme lagen säuberlich geordnet in einem Schub, die meisten der Gratulationsblumen waren verwelkt. Das von mir bezogene Babykörbchen stand im elterlichen Schlafzimmer, auf der Wäscheleine hing ständig Babywäsche, im Badezimmer befanden sich Babybadewanne und Wickeltisch. Kurz gesagt, das ganze Haus war von dem Vorhandensein eines neugeborenen Kindes geprägt.

Unser Tagesrhythmus hatte sich geändert. Wir mußten unsere Eßzeiten nach denen des Goldkindes richten, das heißt, nach den Stillzeiten. Vorläufig bekam er nur Muttermilch und gedieh wunderbar dabei.

An einem schönen, sommerwarmen Nachmittag saßen Katrin und ich auf der Terrasse, und sie legte das Kind an. Es trank gierig, und ich saß da und freute mich über den schönen Anblick – diese glückliche Ruhe, die vollkommene Harmonie, Katrins strahlende Augen, wenn sie ihr Söhnchen ansah.

„Weißt du, Katrin“, sagte ich, „ich sitze hier und denke an etwas, was die alte Frau Felsdorf mir einmal erzählte, in einem ihrer klaren Augenblicke.“

„Anscheinend etwas, was mit Säuglingen zu tun hatte“, sagte Katrin mit einem kleinen Lächeln. „Dann interessiert es mich! Worum ging es?“

Dann erzählte ich Katrin von dem Gespräch damals. Aus irgendeinem Grund war das Wort „Muttermilch“ gefallen, und das brachte Frau Felsdorf dazu, sich zu erinnern.

Sie erzählte, daß sie, als ihr erstes Kind geboren wurde, einen Kampf mit ihrer Schwiegermutter auszukämpfen hatte. Ganz einfach, weil sie ihr Kind stillen wollte. Das gehörte sich nicht für eine „feine Dame“, meinte die Schwiegermutter. Selbst hatte sie immer Ammen für ihre Kinder gehabt, und sie möchte doch die Schwiegertochter dringend bitten, dasselbe zu tun. Ja, es war so weit gegangen, daß die Schwiegermutter eine geeignete Amme ausfindig gemacht und sie ins Haus der damals jungen Frau Felsdorf geschickt hatte.

„Ist sie denn mit Pauken und Trompeten rausgeschmissen worden?“ fragte Katrin.

„Nein, im Gegenteil. Frau Felsdorf hat lange mit dem Mädchen

gesprochen – es war nicht verheiratet – und hatte sie gefragt, was sie denn mit ihrem eigenen Kind machen wolle. Dann bekam das Mädchen feuchte Augen, und ihr Mund zitterte als sie erzählte, das Kind sei bei Verwandten auf dem Lande, wurde mit Kuhmilch ernährt – damals hatte man nicht die wissenschaftlich ausgeklügelten Babynahrungsmittel wie heute – und sie, die junge Mutter, war gezwungen, Geld zu verdienen und wußte keinen anderen Ausweg als diesen. Dann würde sie ja ein Dach über den Kopf haben, und das Essen und noch etwas Gehalt. Dann hat Frau Felsdorf ihr gesagt: ,Nun fahren Sie bloß los und holen Ihr Baby, Sie können hier als Stubenmädchen arbeiten, und Ihr Kind bei sich haben und es pflegen und stillen. Ich habe Milch für mein eigenes Kind, und Ihr Kind soll die Milch haben, die ihm zusteht. So hat der liebe Gott es gewollt, und so wollen wir es auch machen!’“

„Mein Respekt!“ sagte Katrin. „Sie ist ein guter Mensch, deine alte Frau Felsdorf. Nur möchte ich wissen, was die feine Schwiegermutter dazu sagte?“

„Das möchte ich auch, aber das hat Frau Felsdorf nicht erzählt. Jedenfalls blieb das Mädchen zwei Jahre bei ihr – mit Kind! – , dann hat es geheiratet und sein Leben kam sozusagen auf das richtige Gleis. Du weißt, damals war es ein Unglück für eine unverheiratete Frau, ein Kind zu kriegen. Es war eine Schande und eine Sünde…“

„So war es hier auch“, nickte Katrin. „Weißt du, ich habe ein Buch gelesen, eine Autobiographie von einer Frau, die über ihre Reisen und ihre Erlebnisse erzählt. Ja, das liegt wohl etwa vierzig Jahre zurück, ich fand das Buch im Bücherschrank meines Vaters. Und diese Verfasserin erzählte von einer Gemeindeschwester, die darum gebeten wurde, ein uneheliches Kind zur Taufe zu tragen. Weißt du, was das Biest antwortete? ,Es ist mir immer eine Freude, ein Kind bei der heiligen Taufe vor Gottes Antlitz zu tragen, aber ein Kind, das in Sünde empfangen wurde, trage ich nicht!’“

„Gibt es wirklich so was!“ rief ich entsetzt. „Das gab es jedenfalls damals. Aber, Allegra, kannst du das

begreifen: Die sogenannten ,feinen Damen’, die so moralisch waren, daß sie ein solches Mädchen gnadenlos verurteilten, die von Sünde und Unglück sprachen – sie holten gerade ein solches Mädchen als Amme für das eigene Kind! Sie ließen sich Medikamente geben, damit die Milchproduktion zurückging, und überließen ihr Kind einer ,sündigen’ Frau, die ihr eigenes Kind verlassen mußte! Gott, was haben die Menschen durch die Zeiten alles an Unsinn gemacht!

Die Frauen haben sich geschnürt, um die erstrebte Wespentaille zu kriegen, geschnürt, so daß sie ernste Leberschäden davontrugen. Sie haben Schuhabsätze getragen, die die Füße vollkommen deformierten – geschweige denn, was die Chinesen früher mit den Füßen der armen kleinen Mädchen machten!“ Ich nickte.

„Und was man noch in Afrika macht!“ sagte ich. „Die Naturvölker sind genauso verrückt. Mein Bruder, der lange in Afrika gewohnt hat, hat es erzählt. Von Tätowierungen über den ganzen Körper, von aufgeschnittenen Lippen, Lippen mit Löchern so groß, daß man tellergroße Scheiben darin reinquetscht – alles vollkommen gegen die Natur, alles erfunden als Zeichen an ,Feinheit’! Und das schlimmste, finde ich, war der Blödsinn, daß es nicht ,fein’ war, das eigene Kind zu stillen!“

„Es sind erschreckend viele Frauen, die noch heute nicht stillen“, sagte Katrin. „Ich weiß es aus der Praxis. Die, die es nicht können, entweder weil sie keine Milch haben, oder weil sie ganztags arbeiten müssen, die tun mir herzlich leid. Aber es gibt auch viele, die es aus Bequemlichkeit nicht machen. Oder weil sie Angst um die Figur haben. Das mit der Bequemlichkeit begreife ich allerdings nicht, denk bloß, wie bequem ich es habe, keine Flaschen sauberzumachen, keine Babynahrung zuzubereiten, die Nahrungsquelle meines Kindes ist immer bereit, und ich gebe ihm das Beste, was man einem Säugling geben kann: die Muttermilch!“

„Dasselbe sagte meine Mutter“, nickte ich. „Sie erzählte doch, daß ich so gierig trank, daß ich wahrscheinlich schon damals den Grundstein für meine unerwünschten Kurven legte.“

„Wenn sie unerwünscht sind, warum machst du dann nichts dagegen?“ fragte Katrin. „Es würde dir sehr gut stehen, wenn du ein paar Pfündchen abnehmen könntest.“

„Ich weiß es“, sagte ich kleinlaut. „Und ich bin ganz neidisch, wenn ich gertenschlanke Mädchen sehe. Aber es ist so hoffnungslos!“

„Quatsch!“ sagte Katrin energisch. „Hör ganz und gar auf mit Süßigkeiten, iß wenig Soßen und wenig Fett. Ich habe eine Kalorientabelle, die gebe ich dir, dann kannst du selbst herausfinden, was dick macht und was nicht. Kein Mensch erwartet, daß du regelrecht hungern sollst, du sollst nur ein bißchen vorsichtig sein und nur soviel essen, daß du gerade satt wirst, nie mehr!“

„Ich werde es versuchen“, sagte ich. Das, was mich dazu trieb, war der Gedanke: Wie schön, wenn ich

als hübsches, schlankes Mädchen Hartmut wiedertreffen könnte! Wie schön, wenn er stolz darauf sein könnte, sich in meiner Begleitung zu zeigen!

Ich hatte zwei Tafeln Schokolade in meinem Zimmer. Die schenkte ich am gleichen Tag Anjas Kindern.

Und an dem Abend ging ich zu Bett mit der Kalorientabelle als Bettlektüre.

Wir hatten einen sehr arbeitsreichen Tag in der Praxis gehabt, und Bernt hatte eine Unmenge Hausbesuche.

„Ich glaube, du mußt heute mit dem Bus nach Hause fahren, Allegra“, sagte er, als die Sprechstunde endlich zu Ende war. „Ruf bitte Katrin an und sage ihr, daß ich eine Stunde später zu Mittag komme.“

„Wird gemacht“, versprach ich. Bernt verschwand, ich räumte auf, legte die Instrumente in den

Sterilisator und schaltete den Strom an. Das Ding hatte zum Glück eine Zeitschaltuhr, so daß ich nicht zu warten brauchte. Ich konnte die sterilen Instrumente am folgenden Morgen rausholen.

Dann wanderte ich zur Bushaltestelle und beschleunigte meine Schritte und biß die Zähne zusammen, als ich an einem Schokoladengeschäft vorbeiging. Ich war heute früh auf der Waage gewesen und hatte festgestellt, daß ich ein halbes Pfund abgenommen hatte.

Zu Hause fand ich eine verschlossene Tür mit einem angehefteten Zettel: „Allegra, ich bin bei Anja. K.“

Gut, also rüber aufs Nachbargrundstück. Da fand ich Katrin vor dem Haus. Sie saß im Schneidersitz auf dem Rasen, neben sich die Baby-Tragetasche mit ihrem schlafenden Sohn, vor sich auf einem großen weißen Handtuch eine Sammlung Schrauben, ein paar Zangen und Schraubenzieher, ein kleines Kanisterchen Öl und noch ein paar undefinierbare Sachen.

„Was in aller Welt machst du?“ fragte ich. „Repariere Anjas elektrischen Dosenöffner“, antwortete Katrin.

„Die Ärmste hat lauter Pech heute. Ihr Eintopf ist ihr hoffnungslos angebrannt, das ganze Haus stinkt danach. Dann wollte sie eine Konservendose aufmachen, aber der Dosenöffner wollte nicht mehr. Dann wurde ich gerufen mitsamt einem ganz altmodischen Offner, und jetzt versuche ich, dieses Biest hier heilzumachen.“

„Und dazu sitzt du auf der Erde?“ „Klug durch Erfahrung!“ erklärte Katrin. „Wenn ich die losen

Schrauben auf die Erde lege, können sie nicht weiter runterfallen, was sie von einem Tisch mit tödlicher Sicherheit tun. Deswegen auch das weiße Tuch, damit ich sie sehen kann. Mensch, sieht es hier drin aus, eine retrospektive Ausstellung von Anjas Dosen vom letzten halben Jahr – kein Wunder, daß das Ding streikt, so voll wie es ist – Tomatenmark und Sardinenöl, da ist etwas Marmelade, hier ist Fett, sicher von einer Corned-beef-Dose – Allegra, lauf doch rein und frage Anja, ob sie Benzin hat und einen ganz dünnen Lappen.“

Katrin hatte so flinke, geschickte Finger, sie hantierte mit Schraubenzieher und Zangen unheimlich sicher. „Sag mal, du bist wohl auch ein halber Elektriker?“ fragte ich. „Ja, und zur Hälfte Spielzeugreparateur“, lachte Katrin. „So was macht viel mehr Spaß als Nähen und Stricken. So, nun wollen wir mal sehen – nur ein paar Tröpfchen Öl hier rein, dann müßte das blöde Ding doch funktionieren!“

Sie stand auf, bat mich auf das Kind aufzupassen und ging ins Haus. Da hörte ich durch die offene Tür Gelächter, dann das regelmäßige Surren von einem Elektrogerät.

„Allegra!“ rief Katrin von der Küche. „Gibst du mir bitte den kleinen Schraubenzieher, er liegt auf dem Tuch!“

Ich brachte den Schraubenzieher – es war der Griff einer Stielpfanne, der locker war – , bewunderte den jetzt tadellos arbeitenden Dosenöffner und ging wieder raus zu meinen Aufpasserpflichten.

Na, es wäre wohl besser, das Kind jetzt rein ins Haus zu tragen. Ich machte zwei Schritte – und dann erlebte ich das, was man mit den Worten „das Blut erstarrte mir in den Adern“ auszudrücken pflegt.

Über der Kante der Baby-Tragetasche bewegte sich etwas. Etwas Langes, Schlankes – ein gleitender Körper, etwas Bräunliches mit einem deutlichen schwarzen Zickzackstreifen auf dem Rücken.

Ich öffnete den Mund, aber es kam kein Schrei. Ich konnte es nicht. Aber dann – ich glaube, es war keine Sekunde vergangen – stürzte ich zum Kind, meine rechte Hand faßte um etwas Glattes, sich Windendes – ich riß es weg, weg vom Kind – ich wollte wieder schreien, es wurde nur ein Gurgeln, ein Stöhnen daraus – und von dem Augenblick an setzte mein Gedächtnis aus.

Was in den nächsten zwei Minuten geschah, weiß ich nur aus Katrins und Anjas Erzählung. Sie hatten das merkwürdige Stöhnen gehört, rannten raus und fanden mich, schneeweiß im Gesicht, mit

starrem Blick, die Hand fest um den Schlangenkörper gepreßt. Anja riß das Kind an sich, und Katrin rief: „Laß los, Allegra! Laß

sofort los!“ Ich fühlte einen Schmerz im Handgelenk, dann fiel die

Kreuzotter auf die Erde, und ich tat genau dasselbe. Als ich zu mir kam, lag ich auf der Couch in Anjas

Wohnzimmer. Um meinen rechten Arm war etwas ganz fest gebunden. Neben der Couch kniete Katrin. Sie hatte ihren Mund fest an mein Handgelenk gedrückt und saugte Blut aus einer Wunde. Zwischendurch spuckte sie aus, dann saugte sie weiter.

„Ruhig, Allegra“, sagte Anja, die danebenstand. „Katrin saugt die Wunde aus, das ist ein bewährtes altes Mittel gegen solche Bisse. Lieg nur ganz still, alles ist vorüber.“

„Das Kind“, flüsterte ich. „Dem Kind ist nichts geschehen.“ Katrin ließ meinen Arm los. „So, jetzt habe ich wohl das meiste von dem Zeug rausgekriegt.

Anja, sind die Kinder schon da? Sie müssen auf der Straße aufpassen und Bernt gleich hier reinholen. Und jetzt soll Allegra eine anständige Tasse Kaffee haben. Pulverstark!“

Ich konnte die Tasse nicht halten. Katrin stützte meinen Kopf mit der einen Hand und hielt mir die Tasse mit der anderen.

„Besser jetzt?“ „Ja…“, flüsterte ich. „Bernt muß gleich kommen. Wir warten zehn Minuten, wenn er

bis dann nicht hier ist, fahre ich dich zum Krankenhaus, damit du eine Serumspritze kriegst.“

„Wurde ich gebissen?“ „Ja, denkst du, daß ich dein Blut sauge, weil es mir Spaß macht?

Ich bin doch kein Vampir“, lächelte Katrin. Dann strich sie mir über die Stirn. „So, jetzt kriegst du wieder ein bißchen Farbe, das ist fein.“

„Katrin – ist das nicht gefährlich für dich?“ „Von wegen! Ich habe doch das Zeug ausgespuckt und nachher

den Mund mit Mundwasser gespült, Andreas wird vielleicht Augen machen, wenn sein teures Mundwasser alle ist. Gott sei Dank, ich glaube, da ist Bernt!“

Ja, da war er. Ein paar schnelle Worte wurden gewechselt, und Bernt kam zu mir. Hatte ich eine sachkundige Untersuchung erwartet, so täuschte ich mich. Bernt beugte sich über mich, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und gab mir einen Kuß.

„Ich weiß genau, was du geleistet hast, Allegra“, sagte er. „Aber

darüber sprechen wir später. Kannst du laufen, glaubst du? Wir müssen rüber zu uns, ins Behandlungszimmer.“

„Ja…“, flüsterte ich, verwirrt durch all die Geschehnisse und am meisten über Bernts Kuß.

Als ich aber auf den Beinen stand, zitterte ich noch so, daß Bernt mich kurzerhand auf seine Arme nahm und mich rübertrug, zu Serumspritze, Kreislaufmittel und als Extrabehandlung eine herzhafte Umarmung von Katrin.

Aber außer Bernts Kuß und Katrins Umarmung wurde keine große Nummer aus der Geschichte gemacht. Beide waren ruhig, freundlich, kümmerten sich in einer nüchternen, netten Weise um mich. Ich konnte wieder stehen und gehen, das Zittern ließ nach, und als Katrin uns zu Tisch bat, konnte ich mit ins Eßzimmer gehen, ich konnte sogar etwas essen.

Nachher wurde ich allerdings zum Hinlegen kommandiert, auf die Couch im Wohnzimmer.

„Gott sei Dank, daß ihr mich nicht ins Bett schickt“, sagte ich, als ich mich folgsam hinlegte.

„Das wäre eine schlechte Behandlung“, schmunzelte Bernt. „Sich vorzustellen, du würdest einschlafen und von lauter Kreuzottern träumen, schweißtriefend aufwachen und keinen Menschen bei dir haben. Jetzt sind wir beide in deiner Nähe, für den Fall, daß du uns brauchst.“

„Ihr seid so lieb zu mir!“ sagte ich. „Ach, was du nicht sagst! Erstens bin ich Arzt, habe einen

Ärzteeid geleistet, und bin dazu verpflichtet, immer da zu helfen, wo Hilfe nötig ist. Zweitens habe ich nur das gemacht, was ich nach jedem Schlangenbiß tue, ich habe Serum und ein Kreislaufmittel gespritzt. Nur das übliche, was ich bei jedem Patienten tue!“

„Ach so“, sagte ich. „Kriegt denn auch jeder gebissene Patient einen Kuß und eine Umarmung?“

„Das war allerdings eine Extrabehandlung, die ich nur Privatpatienten verpasse“, lächelte Bernt. „Siehst du, Allegra, du bist trotz allem ein Sonderfall. Dadurch nämlich, daß du höchstwahrscheinlich das Leben unseres Kindes gerettet hast.“

„Du warst phantastisch tapfer, Allegra“, sagte Katrin leise. „Da irrst du dich“, widersprach ich. „Ich war überhaupt nicht

tapfer, ich hatte eine solche Angst wie nie in meinem Leben. Eine solche Angst, daß ich nicht einmal schreien konnte. Aber weißt du, wenn du zum Beispiel auf einem Sprungbrett stehst und das Wasser

da ganz tief unten siehst, und es nicht wagst, zu springen…“ „Dann kennst du Katrin schlecht“, unterbrach Bernt sie. „Sie

springt von jedem Sprungbrett!“ „Du auch?“ fragte ich. „Nein, ich würde mich nicht auf mehr als drei Meter wagen.“ „Also, falls du auf einem Zehnmeterbrett stündest, und du

trautest dich nicht zu springen, und dann käme jemand von hinten und gäbe dir einen kräftigen Schubs, dann würdest du schon runterplätschern. Aber deswegen wärest du ja nicht mutig!“

„Ich verstehe den Vergleich nicht“, sagte Katrin. „Verstehst du das nicht? In dem Augenblick, als ich die

Kreuzotter sah, empfand ich einen solchen Schreck, daß ich ihn überhaupt nicht beschreiben kann. Aber da war etwas drinnen in mir, es war etwas in meinem Kopf oder in meiner Seele oder – ja, ich weiß nicht, wo es war oder was es war, aber es war etwas, das mich schubste, etwas, das mich dazu zwang, so zu handeln wie ich es tat. Es war – nein, ich weiß nicht was es war. Ich kann nur eins sagen: Dieses ,Etwas’ war stärker als die Angst!“

Ein paar Tage später trat ich frühmorgens aus dem Haus, um mit Bernt in die Praxis zu fahren. Es hatte in der Nacht geregnet, und auf der Terrasse, direkt vor der Tür, lagen ein paar große Regenwürmer. In solchen Fällen hätte ich früher auf der Stelle kehrtgemacht und wäre zur Hintertür rausgegangen. Diesmal bückte ich mich und entfernte mit der Hand die Würmer.

Bernt kam gerade, als ich den letzten ins Gras warf. „Donnerwetter“, sagte er. „Was ein Psychiater dir in

monatelanger Arbeit behutsam beigebracht hätte, das hast du durch diese ungewollte Schockbehandlung erreicht. Macht es dir nichts aus, die Regenwümer anzufassen?“

„Nun, ausgesprochen angenehm ist es ja nicht, aber ich kenne schon Schlimmeres. Jedenfalls kriege ich keine Zustände mehr, wenn ich einen Regenwurm sehe.“

„Ich danke dem lieben Gott und St. Lukas, daß du anscheinend ohne Dauerschaden den Schock überlebt hast!“ sagte Bernt, als wir im Auto saßen. „Ich kann dir sagen, ich habe nicht schlecht um dich gebangt!“

„Wegen des Bisses?“ „Von wegen Biß, so was schaffen wir mit Serum und

Kreislaufmittel – ja, und Aussaugen, wie meine kluge Frau es gleich getan hat. Nein, ich fürchtete, daß du nach dem Schock…“

„… in die Klapsmühle geschickt werden müßtest?“ ergänzte ich. „Pfui, schäme dich! Im Ernst, Allegra. Eine solche ,Phobie’ wie

du sie hattest ist nicht von Pappe. Und was man dabei immer vermeiden muß, ist der große Schock! Einen Hydrophobiepatienten darf man nicht ins Wasser werfen, einen Klaustrophobiepatienten nicht in einen Schrank sperren! Man muß die Behandlung sehr langsam und schrittweise durchführen. Dann kannst du wohl begreifen, daß ich sehr erleichtert bin, weil du anscheinend alles gut überstanden hast.“

„Aber wenn nun der Kleine gebissen worden wäre?“ fragte ich. „Hättest du ihn nicht auch mit Serum retten können?“

„Das ist sehr fraglich. Für einen Säugling ist ein Kreuzotterbiß gelinde gesagt lebensgefährlich. Man könnte direkt tödlich sagen. Hättest du das Biest nicht gesehen und so blitzschnell reagiert, ist es sehr wahrscheinlich, daß das Kind irgendeine Bewegung gemacht hätte, die Schlange hätte es als Angriff aufgefaßt und hätte zugebissen. Nein, Allegra, es läßt sich nicht leugnen, daß du mit 75 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Menschenleben gerettet hast. Und wenn du das mit einem Dauerschaden hättest bezahlen müssen…“

„Siehst du“, sagte ich, „jetzt bist du um eine medizinische Erfahrung reicher. Ich habe eine sehr wirksame Kur durchgemacht.“

„Wirksam, ja“, gab Bernt zu. „Aber ich empfehle sie nicht weiter! Das war im wahrsten Sinne des Wortes eine Roßkur!“

Traurige Tage „Guten Morgen, Fräulein Schlangenbändigerin!“

Ich drehte mich um. In der Tür stand Andreas, Katrins Bruder. Er hielt die Hände auf dem Rücken und grinste breit. „Guten Morgen, Andreas! So früh auf den Beinen?“

„Das nennst du früh? Ich bin schon lange auf und habe den Tag mit einer guten Tat angefangen, wie es sich für einen ehemaligen Pfadfinder geziemt. Wie ist es, bist du jetzt soweit, daß du eine Schlange sehen kannst? Jedenfalls eine tote?“

„Eine tote, ja. Mein Bedarf an lebendigen Schlangen ist vorerst gedeckt.“

„Das kann ich mir schon denken. Na, dann guck mal!“ Er hielt eine grausig lange, dicke Kreuzotter hoch, damit ich sie richtig bewundern konnte. „Da hast du den Übeltäter! Erkennst du ihn wieder?“

„Eigentlich nicht. Es könnte auch sein Zwillingsbruder sein.“ „Theoretisch ja. Aber ich glaube schon, daß es diese ist. Seit

einer Woche wühle ich rum und suche das Untier. Heute früh ist es mir über den Weg gelaufen, und hier ist es, bitte sehr!“

„Ich danke! Begrab es oder verbrenne es, ich weiß nicht was man mit toten Schlangen macht. Aber glaubst du nicht, daß es noch Familienangehörige hat?“

„Nein, ich glaube, es war ein Einzelgänger, der sich auf unser Grundstück verirrt hat. Na, du willst ihn also nicht haben. – Es duftet so gut bei euch, du bist wohl beim Kaffeemachen?“

Das war ich. Es war Samstag und keine Sprechstunde. Also war ich früh aufgestanden, um den Frühstückstisch zu decken.

„Hast du denn kein Frühstück gekriegt?“ fragte ich und goß Andreas eine Tasse Kaffee ein.

„Doch, aber nur einen Schnellimbiß, weil mein Weib und meine Sprößlinge nach Kristiansand gefahren sind, zwecks Geldverjubeln, das heißt, Kinderkleidung kaufen. Ich könnte mir unbedingt ein zweites Frühstück bei euch vorstellen.“

Bevor ich antworten konnte, erschien Bernt. Ich überließ es den beiden Männern, die tote Kreuzotter wegzuschaffen, und legte ein viertes Gedeck auf den Tisch. Kurz danach kam auch Katrin.

„Mein Sohn hat 150 Gramm zugenommen“, verkündete sie. „Wenn er so weitermacht, wird er ein Riese! Und ich habe einen

Mordshunger!“ Es wurde ein lebhaftes Frühstück, und ich genoß es. Mutti hatte

recht gehabt. Es war höchste Zeit, daß ich auch mit jungen Menschen

zusammenkam! „Hast du Liebeskummer, Allegra?“ fragte Andreas. „Nein, wieso?“ „Du ißt ja kaum! Und du trinkst den Kaffee schwarz!“ „Ja, ich mache tapfere Versuche, ein paar Pfündchen

loszuwerden. Bis jetzt habe ich ungefähr so viel abgenommen wie Sven Gerhard zugenommen hat. Heute muß ich mich hinsetzen und meine Jeans und einen Rock enger machen.“

„Und ich dachte, du würdest mit uns angeln fahren!“ „Dazu ist Katrin besser geeignet. Ich passe auf das Goldkindchen

auf, und gleichzeitig kümmere ich mich um meine zu weiten Kleidungsstücke.“

„Oh, wie schön, endlich wieder zu angeln!“ rief Katrin. „Was täten wir bloß ohne dich, Allegra?“

„Dann hättest du eben das Angeln den Männern überlassen müssen! Verschwindet bloß, in drei Stunden soll dein Sohn seine nächste Mahlzeit haben!“

„Als ob ich das nicht wüßte! Also los, ihr faulen Mannsbilder, mal sehen, wie viele Fische wir in drei Stunden schaffen!“

Die drei machten sich fröhlich auf den Weg, ich räumte ab und holte den Kleinen runter ins Wohnzimmer, damit ich immer ein Auge auf ihn werfen konnte. Er schlief fest – mollig, rosig, quietschgesund und zum Fressen süß.

Ich fing an mit Trennmesser und Meßband die Hosen aufzutrennen.

Das ist eine Arbeit, die einem erlaubt, die Gedanken in andere Richtungen laufen zu lassen. Meine liefen Richtung Köln.

Hast du Liebeskummer, hatte Andreas gefragt. Nun, Liebeskummer hatte ich nicht unbedingt, aber ich wunderte mich über Hartmut. Er hatte wochenlang nichts von sich hören lassen, nicht, seit ich ihm einen langen Brief schrieb, an dem Abend, als Sven Gerhard geboren wurde. Und das war jetzt fünf Wochen her!

Unfaßbar, daß Hartmut gar nicht auf den Brief reagiert hatte. Gerade auf den Brief. Hatte er meine Fragen als lästig empfunden? Oder überlege er sich, was er antworten sollte – war er womöglich dabei, einen langen, lieben und ausführlichen Brief zu schreiben?

Ich stand auf, um die Nähmaschine rauszuholen. Ich sah auf die Uhr. Schon zehn, dann müßte die Post dasein!

Nichts wie raus zu unserem Briefkasten, der draußen neben dem Tor hing.

Ja, ganz richtig. Einen Brief für Bernt aus Oslo, und dann zwei für mich. Der eine von Mutti, der andere, maschinegeschrieben, aus Köln.

Also doch! Endlich ein Lebenszeichen von Hartmut! Aber seit wann schrieb

er mit der Maschine? Wie ein Kind, das die Kirschen in der Suppe bis zuletzt liegen

läßt, um sie ganz zuletzt richtig genießen zu können, legte ich Hartmuts Brief beiseite und öffnete den von Mutti.

Mein liebes Allilein! Innigen Dank für Deinen lieben Brief. Ich werde ihn ausführlich beantworten, aber heute muß ich Dir leider etwas Trauriges mitteilen.

Frau Felsdorf junior rief mich an und bat mich, Dir zu erzählen, daß die alte Dame sanft eingeschlafen ist. Es war ein Herzschlag. Ein barmherziger Tod, sie hat gar nicht gelitten. Es war wohl das beste, was geschehen konnte, denn in der letzten Zeit hatte sie geistig so abgebaut, daß man sich kaum mit ihr unterhalten konnte. Sie kannte nur noch ihre allernächste Familie, hatte vollkommen vergessen, daß sie in Norwegen gewesen war, fragte nicht nach ihrer eigenen Wohnung – sie war ja, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bei dem Sohn.

Ich weiß, daß die Nachricht Dich sehr beeindrucken wird, Du hattest ja die liebe alte Dame so gern. Deswegen bat die Schwiegertochter mich, es Dir zu erzählen. Sie wollte ungern nur so eine gedruckte Todesanzeige schicken, und zum Briefeschreiben hatte sie begreiflicherweise jetzt keine Zeit. Sie läßt Dich vorerst sehr herzlich grüßen, und sie dankt Dir für alles, was Du für ihre Schwiegermutter getan hast.

Ich habe in Deinem Namen einen Kranz zur Beerdigung besorgt, das ist Dir bestimmt recht?

Ich machte eine Pause im Lesen. Ich mußte mir tatsächlich die Augen wischen. Es war irgendwie so unendlich wehmütig. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, wenn ich wieder nach Deutschland

zurückkehrte, die alte Frau Felsdorf zu besuchen. Dann las ich weiter. Mutti freute sich für mich, daß ich es so gut

hatte, daß ich gern in der Praxis arbeitete und daß ich jetzt sogar ein bißchen Säuglingspflege praktizieren konnte. Und vor allem freute sie sich, weil ich mit netten jungen Menschen zusammen war.

Aber ich muß zugeben, daß wir unser Nesthäkchen sehr vermissen, und wir freuen uns unsagbar darauf, Dich wieder bei uns zu haben.

So endete der Brief. Und dann machte ich Hartmuts Brief auf.

Liebe Allegra! Vielen Dank für Deinen Brief. Aber was ist bloß mit Dir los? Ich bin doch immer sehr offen zu Dir gewesen, Du kannst doch nicht erwarten, daß ich meine ganze Seele umstülpe und Dir ihre Linksseite zeige! Das Rumwühlen im Seelenleben liegt mir nicht. Mit seinen Sorgen muß man schon allein fertig werden, das habe ich bis jetzt geschafft und werde es hoffentlich auch weiterhin fertigbringen. Es ist schön und gut, daß Du bei so „reizenden Menschen“ bist, aber werde nur nicht sentimental. Und bitte, verschone mich mit Bibelzitaten!

Mir geht es prima. Wie Du siehst, habe ich eine Schreibmaschine gekriegt, sie gehörte meinem Stiefvater. Was noch besser ist, ich habe auch das Auto! Das heißt, es gehört eigentlich meiner Mutter, sie hat aber keinen Führerschein, den ich gottlob habe. Also machen wir schöne Sonntagsausflüge. Es ist ulkig, aber die Leute glauben immer, daß ich mit meiner Freundin fahre. Nun ja, meine Mutter ist ja erst siebzehn Jahre älter als ich, und Ihr Frauen könnt ja immer mit Hilfe von Friseur und Masseur und Cremes und der Himmel weiß was, Euch etliche Jahre jünger machen.

Also, wenn wir uns wieder treffen, kann ich Dich standesgemäß im Auto spazierenfahren. Das wird fein!

Finanziell geht es mir auch nicht schlecht. Mein Lehrlingsgehalt habe ich ja ungeschoren, da ich umsonst bei meiner Mutter wohne. Also werde ich Dich bestimmt zur Autofahrt mit feinem Sonntagsmittagsessen einladen können.

Du fährst doch wohl nach Hause zu Weihnachten? Meine Mutter

möchte unbedingt Weihnachten bei den Großeltern feiern. Meinetwegen! Vielleicht kommt es zu einer rührenden Versöhnung zwischen Opa und mir. Rührende Versöhnungen sind mir genauso widerlich wie Seelenforschen und Bibelzitate! Na, vielleicht geht es auch ohne Rührung.

Laß wieder von Dir hören, falls Du zwischen Patienten und Kochen und Windelwaschen Zeit hast.

Viele Grüße!

Ich blieb sitzen mit dem Brief in der Hand. Dann las ich die erste

Hälfte noch einmal. Ich war bitter enttäuscht. Wenn er nun so scheu wäre, daß er nichts von sich und seinen Gefühlen erzählen wollte, hätte er das nicht mit freundlicheren Worten sagen können? Warum diese brutale Reaktion auf etwas, das wirklich nur gutgemeint war?

Es tat mir schrecklich weh. Und warum war er so ungerecht? Ich wollte durchaus nicht in

„seinem Seelenleben rumwühlen“ – ich wollte ihm nur klarmachen, daß ich immer für ihn da sei, wenn er das Bedürfnis hätte, sich mal auszusprechen. Und daß das Zusammensein mit Bernt und Katrin mich sentimental machen sollte! Er war himmelschreiend ungerecht!

Ich war unglücklich und ich war wütend. So ein Eiszapfen, so ein Idiot! Was für Freundschaft empfand er wohl, wenn er keinen Augenblick daran dachte, mir einen kleinen Einblick in sein Inneres zu geben? Und meinte er, daß ich sentimental war, wenn ich ihm erzählte, was mich froh stimmte, worüber ich mich ärgerte, was mich zum Lachen oder Weinen bringen konnte? Warum trug er so einen Eispanzer?

Vielleicht – vielleicht weil gar nichts hinter dem Panzer war? Vielleicht weil er wirklich gefühllos war?

Ja, wenn es so war, wäre es besser, die ganze Freundschaft aufzugeben und zu vergessen, daß wir einmal gemeinsam ein kleines Hündchen namens Allegra gebadet hatten, daß er mir einen Blumenstrauß gebracht hatte, daß wir damals einen so schönen Sonntag bei meinen Eltern verbrachten. Vergessen, daß wir an einem Sonntagmorgen am Straßenrand gesessen hatten, wo er mir von seinem Schicksal erzählt hatte. Erzählt, ja – aber ganz ohne

Kommentare. Bloß vergessen, Allegra, sagte ich mir selbst. Nicht mehr an den

Kerl denken. Du warst auf dem besten Weg, dich zu verlieben – in einen dummen, sommersprossigen Jüngling mit Motorroller, aber ohne Gefühle!

Denk an was anderes, Allegra! Streich ihn mitsamt seinen Sommersprossen aus deinem Gedächtnis!

Leichter gesagt als getan. Als ich zum Taschentuch greifen mußte, versuchte ich, mich

selbst davon zu überzeugen, daß ich weinte, weil die gute alte Frau Felsdorf gestorben war.

Diese Erklärung gab ich auch den drei Anglern, als sie mit fünf großen Goldbutts nach Hause kamen und gleich entdeckten, daß ich ein verheultes Gesicht hatte.

„Glaube mir, Allegra, das war das beste für die liebe alte Dame“, tröstete Bernt. „Würdest du nicht selbst einen sanften Tod vorziehen – lieber als ein langsames Dahindämmern, wo du nicht mehr zurechnungsfähig bist?“

„Doch“, sagte ich. Dann fiel mir Momos private Philosophie ein, mit dem Lebenskreis. Das erzählte ich Bernt und Katrin, und sie nickten und verstanden.

„Siehst du“, sagte Katrin, „Frau Felsdorf war nun zurück aufs Kleinkindstadium gekommen, und du sollst froh sein, daß sie nicht bis zur Säuglingszeit zurückkehrte.“

„Du weißt, ich betreue etliche Patienten im Altersheim“, sagte Bernt. „Mir tut es immer weh, wenn ich so was sehe – die ganz Alten, die gefüttert werden müssen, die sich nicht sauberhalten können, die keine Kontrolle über ihre Körperfunktionen mehr haben. Gewiß, es ist schön, alt zu werden, wenn man noch einen klaren Kopf hat. Aber den hatte nicht deine gute alte Frau Felsdorf.“

Sie sprachen so lieb und so klug mit mir, aber was half das alles? Das, was mich wirklich bedrückte, wußten sie ja nicht.

Eine Sorge kommt nie allein, heißt es immer. Gerade in diesen Tagen hatte ich auch Ärger in der Praxis. Arger über meine eigene Dummheit.

Katrin hatte neuen Lesestoff für das Wartezimmer gekauft. Unter anderem ein paar sehr schöne Bilderbücher für die Kinderecke. „Unheimlich teuer“, gab sie zu. „Aber sie waren so hübsch, daß ich nicht widerstehen konnte!“

Die kleinen Patienten stürzten sich auf die Bücher, und ich mußte

aufpassen, daß sie auch zurückgelegt wurden – wir hatten leider erlebt, daß sowohl Bilderbücher als auch andere Dinge verschwanden.

Eines Tages war furchtbar viel los in der Praxis. Das Wartezimmer war voll, und dann kam eine Mutter mit einem vierjährigen Jungen, der über und über mit Ausschlägen besät war. Also nix wie rein in eine „Ansteckkabine“ mit ihm. Der junge Mann war äußerst ungnädig. Er versuchte dauernd aus seinem Gefängnis auszubrechen, war unempfänglich für gutes Zureden und fing zuletzt an, laut zu brüllen. Bernt konnte ihn beim besten Willen nicht sofort annehmen, er hatte gerade eine komplizierte Untersuchung im Sprechzimmer.

Ich schnappte das größte und feinste Bilderbuch und steckte es zu dem Brüllkind, und das half anscheinend.

Als Bernt ihn untersucht hatte, stand es fest, daß der kleine Patient blühende Masern hatte und unbedingt ins Bett gehörte.

Nach der Sprechstunde fragte Bernt so beiläufig, wie ich das Kind zum Schweigen gebracht hatte, und ich antwortete, daß es eins der feinen Bilderbücher sei, das das Wunder bewirkt hatte.

„Aber Allegra!“ rief Bernt. „Du hast doch wohl nicht einem ansteckenden Kind ein Bilderbuch aus dem Wartezimmer gegeben? Willst du denn, daß all unsere kleinen Patienten Masern kriegen? Wo ist das Buch? Noch in der Kabine? Na Gott sei Dank, also nicht zurück ins Wartezimmer. Schnell verbrennen, und wasch dir die Hände mit der antiseptischen Seife!“

Ich tat, was er sagte und kam ganz klein und unglücklich zurück. „Ich schäme mich so, Bernt, daß ich so gedankenlos sein

konnte…“, und plötzlich stürzten mir die Tränen aus den Augen. „Aber Allegra!“ sagte Bernt entsetzt. „So schlimm war es nun

auch nicht, du brauchst nicht zu weinen! Fehler machen wir doch alle. Und den Verlust eines Bilderbuches kann ich schon verschmerzen!“

„Entschuldige, Bernt“, stammelte ich. „Ich weiß nicht, warum ich heule – es ist als ob die Tränen immer parat liegen und nur auf einen Vorwand warten, um loszubrechen!“

Bernt sah mich an mit seinem forschenden Ärzteblick. „Allegra, du weinst nicht wegen des Bilderbuches. Es ist etwas

anderes, habe ich recht? Du trägst etwas mit dir rum, womit du nicht fertig wirst, stimmt es?“ Ich nickte und schniefte.

„Wenn wir dir helfen können, weißt du, daß wir für dich da sind.

Nun räume mal schnell auf, ich hole dich in etwa einer Stunde ab. Wer weiß, vielleicht können wir dir helfen, wenn dich etwas bedrückt.“

Er legte den Arm tröstend um mich, und einen Augenblick drückte ich mein verheultes Gesicht an seine Schulter.

„Hmmm“, klang es hinter uns. Wir drehten uns um. Hinter uns stand eine Patientin, die wir

beide fürchteten. „Die schlimmste Klatschbase der Stadt“, hatte Bernt einmal gesagt.

„Die Sprechstunde ist zu Ende, Frau Helgesen“, sagte Bernt. „Haben Sie was Dringendes?“

Das hatte sie nicht. Es ging nur um die Verlängerung eines Rezeptes auf ein Medikament, das sie seit Jahren einnahm.

„Na, dann geben Sie her“, sagte Bernt, schrieb ein paar lateinische Worte und dann seinen Namen.

„Wie geht es Ihrer Frau?“ fragte plötzlich Frau Helgesen. Sie war eine der wenigen älteren Patienten, die noch das „Sie“ benutzten.

„Danke, ausgezeichnet“, antwortete Bernt ein bißchen erstaunt. „Das ist ja gut. Dann wird sie wohl bald in der Praxis wieder

arbeiten.“ „Bestimmt. Aber ich habe ja zum Glück eine sehr gute

Vertreterin für sie“, sagte Bernt und nickte freundlich in meine Richtung.

„Das sehe ich. Sehr gut“, antwortete Frau Helgesen, worauf sie zur Tür raussegelte.

„Aha!“ sagte Bernt. „Deswegen die Frage nach meiner Frau! Weil ich dir den Arm um die Schultern gelegt habe. Morgen glaubt wohl die ganze Stadt, daß ich ein Verhältnis mit dir habe.“

Katrin lachte laut, als wir von unserer „Liebesszene“ im Wartezimmer erzählten und wie wir auf frischer Tat ertappt wurden.

„Und ausgerechnet Frau Helgesen!“ sagte sie. „Na, dann können wir uns auf etwas gefaßt machen!“

„Ja, du lachst“, brummte Bernt. „Und wenn nun in zwei Tagen all meine Patienten uns schief ansehen und mitleidig von dir sprechen und so weiter – du weißt doch, wie es mit Kleinstadtklatsch ist!“ Katrin dachte einen Augenblick nach.

„Gut, dann werden wir etwas unternehmen“, sagte sie kurz entschlossen. „Nur schnell essen, nachher fahre ich in die Stadt, ich pumpe mir Andreas’ Wagen, du wirst vielleicht unseren brauchen. Allegra, du mußt auf die Hauptperson des Hauses aufpassen, alle

Schlangen aus seinem Körbchen entfernen…“ „Wie du redest!“ Ich stöhnte beim bloßen Gedanken. „Stöhne bloß nicht, die Schlange muß herhalten und unseren

guten Ruf retten“, sagte Katrin, und mit diesen rätselhaften Worten verschwand sie in der Küche, um das Mittagessen aufzutragen.

Gleich nach dem Essen fuhr sie los, und nach anderthalb Stunden kam sie zurück, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Dann erstattete sie Bericht.

„Zuerst war ich in der Praxis und fand Frau Helgesens Anschrift auf der Karteikarte. Dann nix wie los zu ihr. Bernt, du weißt vielleicht nicht, daß sie mir einmal Kaktusableger angeboten hat? Mir fiel es zum Glück ein. Also, ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf, erinnerte sie an ihr Versprechen, und sie war so freundlich wie ein schnurrendes Kätzchen. Ich bekam eine ganze Tüte voll Ableger – scheußliche Dinge, ich schmeiße sie in den Mülleimer! – und dann bot sie mir Kaffee an. Während wir den tranken, fragte sie, gottlob, ob ich bald wieder in die Praxis käme. Das war das Stichwort! Dann sang ich eine Lobeshymne über dich, Allegra, servierte die ganze Schlangengeschichte, so dramatisch wie nur möglich, und sie horchte mit Ohren und Augen und auch mit dem Mund, jedenfalls hatte sie ihn aufgesperrt. Natürlich erzählte ich auch, daß Bernt dir aus lauter Dankbarkeit einen Kuß gegeben hatte, und dann sagte ich ihr, daß wir in solchen Dankbarkeitsschulden zu dir sind, daß wir dich zehnmal pro Tag umarmen müßten. Zuletzt bedauerte ich sehr, daß du uns in absehbarer Zeit verlassen mußt, weil dein Verlobter sich so nach dir sehnt.“

„Mein was? Ver-verlobter?“ stammelte ich. „Ja, du mußt entschuldigen, daß ich dir einen Bräutigam

angedichtet habe, das war eine Sicherheitsmaßnahme! Jedenfalls erreichte ich, daß sie einen Begeisterungsschwall losließ, als sie die Sprache wiederfand. Sie hätte dich immer so gern gemocht, du seist ein so reizendes Mädchen, wie schade, daß du nicht ständig hierbleiben könntest! Also, die Schlangengeschichte habe ich preisgeben müssen, aber es ist schließlich besser, daß die Leute etwas Gutes zu hören bekommen, was wahr ist, als eine unwahre bösartige Geschichte!“ Bernt schüttelte den Kopf.

„Du bist einmalig, Katrin“, schmunzelte er. „Aber eins sage ich euch!“ kam es energisch von Katrin.

„Künftig müßt ihr eure Liebesszenen im Sprechzimmer ablaufen lassen und nicht im Wartezimmer! Ein zweites Mal rette ich euch

nicht!“ Sie stand lachend auf, gab Bernt im Vorbeigehen einen schnellen

Kuß und wanderte ins Schlafzimmer, um das achte Weltwunder zu stillen.

Eins war mir klar. Ohne Katrins energisches Eingreifen hätte dies eine böse Klatschgeschichte werden können. Ich versprach mir selbst, nie, aber auch nie etwas zu sagen oder zu unternehmen, was mißverstanden werden könnte, nichts was Stoff für Klatschtanten abgeben konnte.

Das hätte mir nämlich gerade noch gefehlt. Ich war so herunter, so unglücklich, daß ich so eine schlimme Klatschgeschichte nicht hätte hinnehmen können.

Dann kam noch eine Dummheit in der Praxis, etwas, was mir noch nie passiert war, und das nur deswegen geschah, weil all meine Gedanken bei einem sommersprossigen Dummkopf in Köln waren und nicht da, wo sie sein sollten, nämlich bei zwei Urinproben, die ich in der Zentrifuge hatte.

Als ich die Gläser rausholte, entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß ich vergessen hatte, sie zu kennzeichnen. Du liebe Zeit, jetzt ahnte ich nicht, welche Probe von Herrn Berg und welche von Frau Peters war!

Also mußte ich Bernt errötend meine Vergeßlichkeit beichten. „Ich sehe mir die Proben an“, sagte Bernt kurz. „Wenn beide negativ sind, ist kein Unglück geschehen, hat die eine oder die andere einen Befund, müssen wir uns neue Proben geben lassen.“

Kein vorwurfsvolles Wort, kein Schimpfen. Er legte die Proben unters Mikroskop, studierte sie gründlich. „Glück, Allegra“, sagte er mit einem kleinen Lächeln. „Sie sind beide in Ordnung. Aber künftig…“

„… muß ich besser aufpassen, ich weiß es“, unterbrach ich. „Schimpf mich nur tüchtig aus, Bernt, ich verdiene es.“ – So, nun zitterte mein Mund wieder. „Oder – kündigst du mir jetzt?“ Dann lachte er.

„Nein, das tu ich bestimmt nicht. Aber ich fange so langsam an zu glauben, daß du selbst einen Arzt brauchst, Allegra. Irgend etwas ist mit dir los!“

Ja, es war irgend etwas mit mir los. Da hatte er recht. „Hör, Allegra“, sagte Katrin eines Tages am Tisch. „Es ist schön

und gut, daß du abnehmen willst, aber jetzt treibst du es zu weit! Du ißt ja kaum! Und was sagt die Waage?“

„Ich weiß nicht, ich habe mich lange nicht gewogen“, gestand ich.

„Dann tu es. Du bist jetzt wirklich schlank geworden, aber es ist zu schnell gegangen. So was muß man langsam und schrittweise tun!“

„Hör auf meine weise Frau“, nickte Bernt. „Sie hat nämlich ausnahmsweise recht.“

„Ich höre immer ausnahmsweise! Habe ich nicht immer recht?“ fragte Katrin inquisitorisch.

„Jedenfalls kommt es manchmal vor“, räumte Bernt ein. „Und wenn es nicht stimmt, dann lasse ich dich doch in dem Glauben, weil ich ein rücksichtsvoller und liebender Ehemann bin.“

„Na, du kannst dich auf etwas gefaßt machen!“ brummte Katrin. „Und dieses Etwas wird weder Rücksicht noch Liebe…“

„… sondern angebranntes Essen sein“, meinte Bernt. „Viel schlimmer!“ drohte Katrin. „Ich lehne es ab, deine kaputte

Nachttischlampe zu reparieren! Das kannst du selbst tun!“ „Geliebtes Eheweib“, sagte Bernt. „Du hast immer und

ausnahmslos recht. Betrachte alle anderen Äußerungen als nicht gesagt!“

„Na gut“, lachte Katrin. „Dann hol deine blöde Lampe, ich werde mal sehen, was sich machen läßt!“

Ja, die beiden konnten gut scherzen. Sie waren glücklich und hatten keine Probleme. Sie hatten niemanden, der in Köln saß und ihnen Unfreundlichkeiten schrieb.

Warum in aller Welt konnte ich es nicht lassen, an den dummen Kerl zu denken?

Ich hatte in dieser Zeit viel Norwegisch gelernt, unter anderem einen derben Spruch: „Die Liebe hat keinen Willen. Sie fällt genausogut auf einen Dreck wie auf eine Lilie!“

Hartmut war beileibe keine Lilie. Aber ein Dreck war er nun auch nicht!

Daß die Liebe keinen Willen hat, das stimmte aber. Jedenfalls was mich und meine Liebe betraf.

Das Leben ging weiter, ich nahm mich zusammen und tat meine Arbeit, paßte höllisch auf, so daß ich keine weiteren Schnitzer in der Praxis machte – und wurde jeden Tag schlanker und trauriger.

Wie vom Himmel gesandt Katrin kam die Kellertreppe hoch, atmete auf und sank auf einen Küchenhocker nieder.

„So!“ sagte sie. „Das wäre erledigt! Falls ich jetzt noch das Bedürfnis hätte, eine Stecknadel einzufrieren, könnte ich es nicht tun. Es gäbe dafür keinen Millimeter Platz in der Tiefkühltruhe.“

„Du bist auch wirklich fleißig gewesen“, lobte ich. „Ich glaube, da ist kein einziger Fallapfel mehr im Garten.“

„In Anjas und Andreas’ auch nicht! Alles befindet sich jetzt als selbstgemachtes Kompott in unseren Tiefkühltruhen. Ich freue mich natürlich über unsere Obstgärten, nur an einem Tag des Jahres verwünsche ich sie, nämlich an dem Tag, wo ich von früh bis spät Äpfel schäle und koche. Genau wie Bernt: Nur an einem Tag des Jahres findet er, daß er zuviel verdient, nämlich wenn er seine Steuererklärung schreibt.“

Plötzlich horchten wir auf. Kein Zweifel. Vor unserem Tor hielt ein Auto.

„Hoffentlich ein Patient“, sagte Katrin. „Angelhaken in der Hand oder Schürfwunde auf einer Kindernase. Wenn es Besuch für uns ist, fliegt er raus, ich bin müde wie ein Kuli.“

Schritte auf dem Kiesweg. Katrin stand auf und guckte raus. „Nein!“ rief sie. „Das kann nicht wahr sein! Das ist doch nicht möglich!“

Sie riß die Tür auf und rannte jemandem entgegen. Es war eine hübsche, schlanke, lächelnde junge Dame. „Liebste Beatemutti, woher kommst du bloß?“

„Aus Oslo, wo sonst? Ich mußte doch endlich mein Enkelchen sehen!“

Jetzt rannte Bernt auch raus, er hatte wohl vom Wohnzimmer aus Katrins Ausruf gehört.

„Beate! Was hast du bloß für eine glänzende Idee gehabt, daß du herkommst! Gib mir den Koffer – Beate, dies ist…“

„Allegra, die Schlangenbeschwörerin, das begreife ich“, lächelte Beate Rywig und reichte mir die Hand. „Ich habe mich so darauf gefreut, Sie kennenzulernen, Allegra!“

Endlich ein Mensch, der bei der ersten Begegnung „Sie“ und nicht das oft aufdringliche „Du“ sagte.

„Und ich freue mich ganz schrecklich, daß ich Sie kennenlernen

darf“, sagte ich. „Nein, Katrin, bleib nur hier, ich gehe in die Küche…“

„Eilt nicht!“ sagte Frau Rywig. „Ich habe unterwegs gegessen, aber wenn ich was Kaltes zu trinken bekommen könnte…“

Ich holte Orangensaft aus dem Kühlschrank, und gerade als ich ihn reinbrachte, sagte Bernt: „Aber warum hast du denn nicht geschrieben oder angerufen, Beate? Damit wir das fette Kalb schlachten und den roten Teppich ausrollen könnten?“

„Angerufen? Ich hing an der Strippe den ganzen Morgen, aber da meldete sich kein Mensch bei euch! Auch bei Anja nicht!“

„Dann waren wir im Garten und sammelten Fallobst, und Bernt und Allegra waren höchstwahrscheinlich unterwegs zur Praxis, um sich um die leidende Menschheit zu kümmern. Aber wieso kommt es, daß du ganz plötzlich Mann und Kinder verlassen kannst?“

„Weil meine Schwester unangemeldet bei uns aufkreuzte. Sie hatte etwas in Oslo zu erledigen und bot sich an, drei, vier Tage meine Familie zu versorgen, damit ich endlich euren Sohn zu sehen bekomme. Sie kam gestern mittag, ich bestellte die Flugkarte, versuchte also heute früh euch schonend vorzubereiten, was mir wie gesagt nicht gelang – zuletzt mußte ich es aufgeben, weil Gerhard losfahren mußte, er wollte mich ja zum Flughafen bringen, noch vor der Sprechstunde. Ja, dann also per Flugzeug nach Kristiansand, dann per Bus nach Mandai, von dort mit Taxe hierher. Ach ja, richtig, Pause in Kristiansand wegen Mitbringseleinkäufe, in Oslo hatte ich ja keine Zeit, gegessen habe ich also auch dort. Das wäre es, und ich packe gleich meine Mitbringsel aus, aber zuerst muß ich unbedingt das Wunderkind sehen!“ Katrin sah auf die Uhr.

„In einer Viertelstunde wird er gebadet und abgefüttert, dann kannst du…“

„… ihn baden! Oh, ich habe so lange keinen Säugling gebadet und gewickelt! Nur das Abfüttern mußt du selbst besorgen.“

„Frau Rywig“, sagte ich. „Sie kriegen natürlich mein Zimmer, ich werde gleich…“

„Und wo wollen Sie denn schlafen?“ „Auf der Bank im Untersuchungszimmer, das geht großartig.“ „Ach, Blödsinn! Es sind doch zwei Betten im Fremdenzimmer,

wenn ich mich recht erinnere? Na also! Wir beide können doch bestimmt es miteinander aushalten, Allegra?“

„Ja, sicher, wenn es Sie nicht stört!“ Beate Rywig lachte hell auf. „Stören ist gut! In meinem ganzen langen Leben habe ich nur

fünf Monate ein eigenes Zimmer gehabt, das war, als ich bei dieser furchtbaren Familie Wirtschafterin war…“

„Und dann hast du dich in deinem Zimmer so einsam gefühlt, daß du Papa heiratetest, nur um nicht mehr allein zu sein.“

„Natürlich, warum sonst? Ach ja, richtig, ich hatte mich wohl in ihn verliebt, wenn ich mich recht erinnere. Du bist ein Quatschkopf, Bernt. Aber im Ernst, Allegra, ich habe sieben Geschwister, dann können Sie sich denken, daß bei uns der Begriff Einzelzimmer ein Fremdwort war. Ich schnarche nicht, und wenn Sie es tun, macht es nichts. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich!“

„Dann werde ich schnell das zweite Bett beziehen“, sagte ich und wanderte nach oben zum Wäscheschrank.

Während ich auf- und umräumte in meinem Zimmer, hörte ich, daß Katrin und Frau Rywig nach oben kamen. Begeisterte Ausrufe – „oh, ist er allerliebst“ – „guck, er lächelt tatsächlich“ – „ja, ich glaube, er wird Bernt ähnlich, aber das kleine Kinn hat er von dir, Katrin“ – „komm zu Oma, mein Schatz, oh, hast du naß gemacht…“

Ich beeilte mich mit dem Bettbeziehen und ging dann runter, um das Abendessen zu richten. Heute abend sollte Katrin frei sein, um das Zusammensein mit ihrer geliebten Beatemutti genießen zu können!

Am Abendtisch wurde geplaudert, gefragt, erzählt. Aus Frau Rywigs Handtasche kamen Fotos, Bilder von der ganzen Familie, auch von der weitgereisten Sonja in England, mitsamt Ehemann und Zwillingstöchtern.

„Wie fühlt man sich, wenn man in einem so jungen Alter schon vier Enkelkinder hat, Frau Rywig?“ fragte ich.

„Glänzend! Wenn auch die Leute etwas schockiert aussehen, wenn Sentas Sohn mich laut ,Oma’ ruft. Übrigens, so jung bin ich nun auch nicht, ich bin schon vierzig. Also biologisch gesehen alt genug, um Großmutter zu sein.“

Sie erzählte von ihren beiden eigenen Kindern, Stefan und Annette, und von Hans Jörgen, der die Absicht hatte, sich demnächst mit seiner langjährigen Freundin Lieselotte zu verloben.

„Und er rechnet unbedingt damit, daß ihr zur Verlobungsfeier kommt“, fügte sie hinzu. „Und wir rechnen mit eurem Weihnachtsbesuch. Wenn Sie zu der Zeit noch hier sind, Allegra, werden Sie meine ganze, unruhige Familie kennenlernen.“ Also galt die Einladung auch für mich.

„Nichts wäre mir lieber“, sagte ich. „Nur weiß ich nicht, wie es

wird, ob ich vielleicht zu Weihnachten nach Hause fahre.“ „Nun ja, das kann man ja verstehen. Aber wenn nicht, dann

kommen Sie mit, nicht wahr? Der Himmel weiß, wie wir euch alle unterbringen sollen, ein paar von euch müssen nachts auf der Wäscheleine hängen!“

Nach dem Abendessen konnte Katrin ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken. Sie entschuldigte sich: „Es bedeutet nicht, daß ich mich langweile, Beatemutti, aber ich habe einen tollen Arbeitstag hinter mir, ich arbeite seit halb sechs Uhr früh.“

„Liebes Kind, geh doch ins Bett! Du siehst auch nicht gerade taufrisch aus, Bernt! Geht nur, um so schöner wird es, wenn wir uns alle ausgeruht und morgen frisch am Frühstückstisch treffen!“

„Und du selbst, Beatemutti. Bist du nicht müde?“ „Nicht so sehr. Ich werde mit Allegra häßlich über euch reden,

sobald ihr weg seid. Es sei denn, Allegra ist auch so müde?“ „O nein!“ versicherte ich. „Ich kann stundenlang über Bernt und

Katrin häßlich reden.“ „Na gut, dann habt ihr ja Unterhaltung“, sagte Katrin und stand

auf. „Ehrlich gesagt, freue ich mich unsagbar aufs Bettchen!“ „Plaudert nur nicht zu lange!“ ermahnte Bernt uns. „Ihr sollt ja

schließlich auch morgen ausgeruht sein.“ Dann saßen wir allein, Beate Rywig und ich. Sie holte eine

Strickarbeit aus der Tasche, und ich folgte ihrem Beispiel. Ich strickte einen kleinen Ausfahranzug für Sven Gerhard.

Daß Frau Rywig auch, für den Kleinen strickte, dürfte überflüssig sein zu erwähnen.

„Ein Glück für Katrin, daß sie uns beide hat“, lächelte Frau Rywig. „Sie hat nämlich das heilige Gelübde abgelegt, nie Kindersachen und auch nichts anderes zu stricken, sie verläßt sich ganz auf geerbtes Zeug und sonst auf den Fleiß der übrigen weiblichen Mitglieder der Familie.“

„Ich weiß es“, nickte ich. „Sonst kann sie alles, wirklich alles, aber Handarbeit…“

„Sehen Sie, wir fangen schon an, häßlich über sie zu reden!“ schmunzelte Frau Rywig.

„Dafür werde ich über Bernt nicht häßlich reden“, versicherte ich. „Es macht mir soviel Spaß, in der Praxis zu arbeiten. Und übrigens genausoviel Spaß, Katrin im Haus zu helfen. Ich bin so schrecklich froh, daß ich hier gelandet bin.“

„Und was sagen nun Ihre Eltern dazu, daß Sie ganz einfach hier

in Norwegen geblieben sind?“ „Sie freuen sich! Ja wirklich! Weil ich endlich mit jungen,

aufgeschlossenen Menschen zusammen bin, nachdem ich sehr lange nur mit alten, sogar sehr alten Menschen zu tun hatte.“

„Aufgeschlossen“, wiederholte Beate Rywig langsam. „Wenn jemand mir damals gesagt hätte, Bernt würde als aufgeschlossen’ charakterisiert, dann…“

„Was meinen Sie mit ,damals’?“ „Damals, als ich ihn kennenlernte. Einen schweigsamen, ernsten

Jungen von knapp vierzehn Jahren. Er hatte ganz unverdient den Ruf ,ein schwieriger Junge’ zu sein. Das war Unsinn! Er war keine Spur schwierig, er war nur verschlossen, kämpfte sich allein durch seine Probleme durch.“ Ich nickte.

„Ja, ich weiß. Katrin hat mir erzählt, daß Sie es waren, die Bernt half, ihn zum Sprechen und zum Lächeln brachte, kurz gesagt, ihn zu einem glücklichen Menschen machte. Ich wünsche, ich hätte Ihr Rezept, wie man so was schafft.“ Beate lächelte.

„Ich habe kein Rezept. Ich glaube, es lag alles daran, daß ich selbst glücklich war. Vielleicht war das ansteckend.“

„Ganz so einfach, wie Sie es sagen, war es nun bestimmt nicht“, meinte ich. „Ich wünschte, Sie könnten mir genau sagen, wie man sich einem Menschen gegenüber verhält, der an sich sehr nett ist, und munter und… ja was soll ich sagen, oberflächlich aufgeschlossen ist, aber der nie ein Sterbenswort über seine Probleme, seine Schwierigkeiten, seine Freuden – überhaupt über seine Gefühle sagt.“

„Wenn Sie ein solches Problem haben, gibt es nur eins. Sie müssen eben versuchen, den Grund herauszufinden. Was hat ihn so gemacht? Ich weiß ja nichts über diesen Mann – ja, denn Sie sprechen ja von einem Mann? Ich weiß nicht was ihn, vielleicht schon in der Kindheit, gequält oder ihm Schwierigkeiten bereitet hat. Ob er überhaupt die Gelegenheit gehabt hat, mit anderen Menschen über sich zu reden. Ich weiß nicht, ob er ein glücklicher Mensch ist.“

„Ich auch nicht“, gab ich zu. „Aber ich möchte Ihnen furchtbar gern alles über ihn erzählen, wenn Sie die Geduld haben. Ich weiß, daß Sie anderen Menschen so enorm geholfen haben…“

„Enorm geholfen“, wiederholte Frau Rywig. „Wenn die lieben Kinder es so dargestellt haben, sehen sie alles sehr einseitig. Gut, ich habe ihnen geholfen, aber warum? Weil sie mir das wunderbare Gefühl gaben, daß ich gebraucht wurde! Ja, sie brauchten mich alle,

das machte mich glücklich, und von meinem eigenen Glück heraus konnte ich helfen.“

„Man wird also glücklich, wenn man gebraucht wird?“ sagte ich. „Und ob! Wissen Sie, ich war immer ein glücklicher Mensch. In

meinem Elternhaus wurde ich gebraucht, das können Sie sich denken, ich, als die älteste von acht Geschwistern. Wenn ich für meine Mutter einspringen mußte, dann fühlte ich, wie mein Vater und die Geschwister mich brauchten, und ein schöneres Gefühl gibt es wohl nicht! Dann kam ich zu der Familie, die also jetzt meine ist – zu einem Witwer mit vier Kindern. Die brauchten mich erst recht! Katrin, meine liebe, elternlose Katrin, kam als Haustochter zu uns, ach, wie dringend brauchte sie einen – einen – sagen wir Mutterersatz! Und wissen Sie was das Schöne ist, Allegra? Meine Stiefkinder, die jetzt erwachsen und längst verheiratet sind und selbst Kinder haben, die brauchen mich noch – das behaupten sie jedenfalls!“

„Und ob sie das tun!“ rief ich. „Verstehen Sie, daß so was ein tiefes, wunderbares Glücksgefühl

gibt? Daß mein Mann und die beiden Kleinen mich brauchen, das ist ja natürlich. Aber daß die Großen und Erwachsenen mich brauchen, ja, das empfinde ich als ein Gottesgeschenk!“ Ich überlegte einen Augenblick.

„Vielleicht fühle ich mich deswegen hier so wohl“, sagte ich. „Weil ich gebraucht werde.“

„Klar! Sie werden gebraucht, in der Praxis und hier zu Hause, nicht nur zum Schlangenentfernen aus Baby-Tragetaschen, sondern überhaupt! Und wie war es, bevor Sie herkamen? Da wurden Sie doch auch gebraucht! Bei der alten Dame, da waren Sie wohl so ziemlich unentbehrlich…“

„Auch vor der Zeit“, erzählte ich. „Als ich viele Monate meine Großmutter pflegte. Ja, Sie haben recht, Frau Rywig. Ich bin die ganze Zeit glücklich gewesen, denn ich wurde tatsächlich gebraucht.

Und wenn ich jetzt nicht so unbedingt glücklich bin…“ Ich unterbrach mich selbst. Ich wußte nicht so richtig weiter.

„Ja, das wollten Sie mir doch erzählen. Aber wissen Sie was, dann gehen wir jetzt ins Bett, ich möchte nicht allzu spät ins Bad gehen, vielleicht störe ich dann die beiden – ich meine, die drei Schlafenden da oben. Wir können doch weiterplaudern im Bett?“

Gesagt, getan. Eine Viertelstunde später lagen wir in unseren Betten, nachdem wir uns so geräuschlos wie möglich durchs Haus

bewegt hatten. Mein Zimmer war so gemütlich – ein Mansardenzimmer mit Schrägdach auf beiden Seiten. Darunter waren die Betten aufgestellt, und dazwischen war ein geräumiger Tisch. Auch zwei kleine Nachttische hatten Platz, und ein Kleiderschrank, in dem ich ganz schnell meine Sachen zusammengerückt hatte, damit Frau Rywig für ein Kleid und einen Bademantel auch Platz fand.

„Also, erzählen Sie, Allegra“, sagte Frau Rywig. „Wenn Sie es selbst wollen.“

„Nichts will ich lieber“, sagte ich. Dann holte ich tief Luft und versuchte, so kurz und so klar wie möglich zu berichten. Über Hartmuts Geburt, über seine unverheiratete siebzehnjährige Mutter, über die Kindheit bei den Großeltern, die Heirat der Mutter, wie sie dann mit ihrem Mann nach Köln übersiedelte und Hartmut den Großeltern überließ. Ich erzählte auch, daß Hartmut sich mit dem Großvater verkracht hatte, seine Ausbildung unterbrach, im Reisebüro eine Anstellung bekam, und daß er jetzt nach dem Tod des Stiefvaters bei der Mutter geblieben war und nun seine kaufmännische Ausbildung vollendete, damit er Opas Geschäft nachher doch übernehmen konnte. Und zuletzt erzählte ich von dem Brief, der mir so maßlos weh getan hatte. Daß er mich beschuldigte, sentimental zu sein und in seinem Seelenleben rumstochern zu wollen. Als ich so weit gekommen war, fing meine Stimme an zu zittern, und ich schwieg.

Beate Rywig schwieg auch einen Augenblick. Dann sprach sie, langsam und irgendwie gut überlegt: „Wissen Sie, Allegra, ich glaube, daß alles, was Sie mir erzählt haben, das beweist, was ich vorhin sagte: Man wird glücklich, wenn man gebraucht wird! Wer hat jemals Ihren Hartmut gebraucht? Er kam als unerwünschtes Kind auf die Welt. In seinen ersten Lebensjahren war alles bestimmt sehr problematisch – gerade die Jahre, die für ein Kind von entscheidender Bedeutung ‘sind. War seine junge Mutter vielleicht berufstätig, war er hauptsächlich den Großeltern überlassen? Hat er mit dem feinen Instinkt eines Kindes gespürt, daß man nicht besonders glücklich über sein Vorhandensein war?

Und später, als die Mutter ihn verlassen hat, weil sie ihn nicht brauchte! Niemand brauchte ihn! Er war – denke ich mir jedenfalls – sehr einsam. Er lernte früh seine Gedanken und seine Gefühle für sich zu behalten. In einem solchen Fall wird ein Kind entweder unausgeglichen, schwierig, unartig, ein Problemkind – oder es wird

hart und verschlossen. Niemand weiß, was er empfand, als die Mutter weg war, niemand weiß, ob es dem kleinen Jungen klar und bewußt war, daß seine Mutter ihn nicht brauchte. Niemand weiß, wieviel Tränen er darüber vergossen hat. Er hat gelernt, sich mit einem seelischen Panzer zu schützen – sich zu schützen gegen alles, was weh tut.

Dann starb also der Stiefvater. Warum, glauben Sie, hat Hartmut seine ganzen Zukunftspläne geändert, warum ist er bei der Mutter geblieben? Weil sie ihn braucht! Weil er zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl hat, gebraucht zu werden! Die Mutter hat ihn vielleicht auch davon überzeugt, daß die Familie ihn braucht, als Erbe des großväterlichen Geschäfts. Glauben Sie nicht, daß es so zusammenhängt?“

„Doch“, sagte ich. „Ich glaube es. So wie Sie es erklären – ich verstehe es, und – ja, Hartmut tut mir wahnsinnig leid!“

„Mir auch. Aber wenn Sie nun den Grund wissen – falls ich also recht habe – , dann haben Sie jedenfalls einen Ausgangspunkt, dann haben Sie etwas, worauf Sie bauen können. Vielleicht gelingt es Ihnen, Ihren Hartmut aufzutauen, vielleicht wird er freier und offener, wenn er das Gefühl kriegt, daß er gebraucht wird. Ein Mensch, der nur für sich selbst lebt, wird nie ein glücklicher Mensch, Allegra! Sie haben es bestimmt auch selbst erfahren. Man muß auch für andere leben, man muß an den Freuden und Sorgen anderer Menschen teilnehmen können. Man muß in einer menschlichen Gemeinschaft leben. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Und ob!“ sagte ich. „Und ob ich das verstehe!“ Wenn es schnell gehen muß… „Beate“, sagte Bernt am Frühstückstisch, „wie lange kannst du

bleiben?“ „Kommt darauf an, wie lange ihr es mit mir aushalten könnt“,

lächelte Beate. „Euer vielbeschäftigter Vater hat die Möglichkeit in Erwägung gezogen, mich am Sonntag per Auto abzuholen. Nicht weil er ein so besorgter Ehemann ist, sondern weil er endlich den Enkel sehen will.“

„Heute ist Donnerstag“, sagte Bernt. „Menschenskinder, dann werden wir Sven Gerhard am Sonntag taufen lassen! Katrin, schaffst du es, das Taufkleid zu plätten…“

„Das tu ich!“ rief Beate. „… und ein Festessen für – ja, für wieviel Personen – hier sind

wir vier, Papa fünf, Anja und Andreas sieben, die Kinder neun –

also, kannst du so ein Festessen auf die Beine stellen?“ „Klar kann ich das, wenn ihr mir helfen werdet!“ „Und ob wir helfen!“ rief Beate. „Ich fahre gleich in die Stadt

und kaufe ein, das heißt, zuerst muß ich mit Gerhard sprechen, wie spät ist es – vielleicht ist er noch nicht losgefahren…“ Beate verließ den Frühstückstisch und rannte zum Telefon.

Fünf Minuten später kam sie zurück. „Kinder, euer Papa macht sich am Montag frei! Er kommt Samstag, dann haben wir einen ganzen Sonntag ungestört mit Taufe und Festessen – ist das eine Idee von dir, Bernt!“

„Du mußt mit dem Pastor sprechen, Bernt“, verlangte Katrin. „Alles andere machen wir Frauen. Und laßt den Staub in der Praxis liegen, damit Allegra schnell nach Hause kommen kann, wir haben viel zu tun!“

Von der Praxis aus rief Bernt beim Pastor an. Ja doch, natürlich wollte er gern am Sonntag den Kleinen taufen!

Dann ging es los mit Vorkochen, mit Umräumen, mit Durchsehen der feinsten Tischwäsche. Diesmal würde ich wirklich im Untersuchungszimmer schlafen, klar, daß die stolzen Großeltern das Fremdenzimmer haben sollten!

Es war eine glückliche, fröhliche Emsigkeit im Haus. Beate fabrizierte eine Prachttorte, Anja kam rüber und teilte mit, sie würde einen Haufen Kleingebäck machen und sie hätte im Tiefkühler eine herrliche Ochsenschwanzsuppe, die stelle sie zur Verfügung.

Trotz der vielen Arbeit nahm ich mir die Zeit, eine Besorgung zu machen. Ich kaufte einen silbernen Essenschieber als Taufgeschenk. Ich konnte mich noch schwach daran erinnern, daß ich selbst als kleines Kind so ein Ding gehabt hatte und daß es mir sehr geholfen hatte, als ich die schwierige Kunst des Essens mit Gabel lernen sollte.

„Allegra“, sagte Katrin Freitag morgen, „heute müssen wir dem Pastor die Namen der Paten sagen. Nun wollten wir dich fragen, ob du Mützenpatin sein willst?“

„Mützenpatin – was in aller Welt ist das?“ fragte ich. „Ach, das kennst du nicht? Also, hier ist es so, daß ein Taufkind entweder von der Mutter selbst oder von einer Großmutter oder einer anderen verheirateten Frau zur Taufe getragen wird. In diesem Fall selbstverständlich Beatemutti. Neben dem Taufbecken steht dann die Mützenpatin, gewöhnlich ein junges Mädchen, und nimmt dem Kind die Mütze ab und setzt sie nach der Taufe wieder auf. Also, willst du

das?“ „O Katrin, furchtbar gern, schrecklich gern – aber daß ihr

ausgerechnet mir diese Ehre erweisen wollt…“ „Ausgerechnet dir, ja. Dir, der wir zu verdanken haben, daß wir

am Sonntag ein gesundes, unverletztes Kind zur Taufe tragen können.“

„Ach, du übertreibst, Katrin…“ „So, das tu ich? Und wenn nun die Kreuzotter das Kind gebissen

hätte?“ „Hör mir bloß mit der Kreuzotter auf! Ja, ja, ich werde

Mützenpatin sein, und ich freue mich schrecklich darauf.“ Am Freitag abend herrschte Hochbetrieb im Haus. In der Küche

arbeiteten Katrin und Anja unter Hochdruck, oben im Schlafzimmer stand Beate und plättete das Taufkleid, im Keller stand Bernt und kümmerte sich um die Weinflaschen, die für das Fest parat stehen sollten. Ich war dabei, all die Zeitungen wegzuräumen, die sich im Zeitungsbord angesammelt hatten. Und als das Telefon klingelte, war ich diejenige, die am besten von der Arbeit loskonnte. Eine helle, fröhliche Stimme klang in mein Ohr.

„Hallo, hier ist Senta! Bist du es, Katrinchen?“ „Nein, hier spricht Allegra Walther.“ „Ach, Allegra, guten Tag, ich weiß ja…“, plötzlich fing sie an,

deutsch zu sprechen. „Wie herrlich, wieder die Gelegenheit zu haben, seine Sprachkenntnisse zu praktizieren! Sagen Sie, Allegra, besteht die Möglichkeit, mit meinem Bruderherz oder meiner immer beschäftigten Schwägerin zu sprechen? Und wenn nicht, dann mit Beatemutti?“

„Sicher! Ich werde gleich…“ „Moment mal, Allegra. Ihr habt doch so einen Mithörer am

Telefon? So einen Minilautsprecher mit Gummisaugnapf? Schön, schalten Sie bitte den an, mit voller Lautstärke, ich werde nämlich alle drei auf einmal beschimpfen!“

„Das kann ja gut werden. So, jetzt ist er eingeschaltet. Also, ich hole den einen oder den anderen!“ Bernt kam gerade aus dem Keller.

„Bernt, Telefon! Deine Schwester!“ „Nanu? Sonja, Senta oder Annette?“ „Senta. Ihr müßt alle herkommen, sie wollte euch per

Lautsprecher ausschimpfen!“ Bernt ging ran, gleich darauf kamen auch die beiden anderen. „Seid ihr nun versammelt?“ klang die Stimme im Lautsprecher.

„Ihr seid mir vielleicht eine Bande! Hier höre ich von Papa, daß ihr am Sonntag Taufe habt. Warum sind wir nicht eingeladen? Habt ihr euch mit uns erzürnt? Bernt, hast du vergessen, daß du eine Schwester hast?“

„Ich meine, drei zu haben“, antwortete Bernt, als Senta Luft holen mußte. „Und das mit der Taufe wurde so blitzschnell bestimmt, aber wenn ihr kommen wollt – ich ahne allerdings nicht, wie wir euch nachts unterbringen können…“

„Bei uns!“ rief Anja. „Senta, hörst du mich? Also, ihr könnt das eine Kinderzimmer haben, wir stellen ein Feldbett…“

„Fein, Anja. Außerdem kann mein Herzallerliebster nicht mitkommen, er hat keinen Vertreter, der die Plomben und die Prothesen übernehmen kann. Aber ich komme, ich fahre mit Papa, und dann Montag zurück. Mein Sohn und mein Mann werden von meinen Schwiegereltern betreut, macht euch keine Sorgen. Und seid recht lieb zu mir, versucht das gutzumachen, was ihr mir angetan habt. Keine Einladung zur Taufe!! Katrin, hast du genug Fressalien im Haus? Du kennst meinen Appetit! Du, ich habe eine Dose dänischen Schinken, den bringe ich mit.“

Ich mußte lächeln. Sentas Stimme war so fröhlich, sie sprach so lustig – und wie fließend hatte sie doch mit mir deutsch gesprochen! Ich freute mich richtig auf sie!

„Kinder, paßt mal auf“, sagte Anja. „Allegra kann ihr Bett behalten, Senta kommt zu ihr, und Beate und Gerhard kommen zu uns! Es ist an der Zeit, daß ich endlich mal wieder meine Lieblingskusine als Übernachtungsgast habe!“

„Na gut“, stimmte Katrin zu. „Aber daß du nicht meine Eltern den halben Tag bei dir behältst! Gegessen wird hier, daß ihr das wißt! Ja, es wird voll, aber für deine Sprößlinge decken wir eben einen Katzentisch, das wird schon gehen.“

Die geänderten Pläne machten natürlich mehr Arbeit, aber es ging großartig, mit Witzen und Gelächter. Ich genoß es richtig!

Während des ganzen Trubels hatte ich auch wenig Zeit, an meine eigenen Probleme zu denken. Nun ja, zwischendurch plante ich schon im Kopf den Brief, den ich Hartmut schreiben wollte. Jetzt würde ich es können, nach allem, was die wunderbare Beate Rywig mir klargemacht hatte.

Am Samstag nachmittag rollte dann Doktor Rywigs Auto vor unser Tor, mit Senta am Steuer.

„Wir sind wie die nackten Wilden gefahren!“ teilte Senta mit.

„Wir haben uns am Steuer abgelöst, und der Reihe nach gegessen während der Fahrt – ja klar hatte ich Freßkorb und Thermos mit. Nur einmal fünf Minuten Pause, um ,Herren’ beziehungsweise ,Damen’ aufsuchen zu können!“

Sie war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Blond, lächelnd, fröhlich und plauderfreudig. Ihr Vater war ruhig, freundlich, ein gutaussehender Mann mit grauen Schläfen und zwei klugen, lebhaften Augen hinter der Brille.

Dann wurde der Grund des ganzen Familientreffens feierlich vorgeführt, frisch gebadet, entzückend in seinen feinsten Strampelhöschen.

Senta holte in Windeseile ihren Fotoapparat aus dem Koffer, und alle wurden der Reihe nach mit dem Goldkind geknipst.

„Setzen Sie sich dazu, Senta, ich kann die Aufnahme machen“, schlug ich vor.

„Ja fein, und dann mache ich nachher eine Aufnahme von Ihnen mit dem Kleinen. Nur schade, daß die Kreuzotter fehlt!“

Sie sprach deutsch mit mir, nachher ging sie zum Norwegischen über, und dann duzten wir uns plötzlich.

„Soll ich bei dir schlafen? Prima!“ rief Senta. „Es ärgert mich ja immer, daß ich so wenig Gelegenheit habe, Deutsch zu sprechen, ich möchte es doch nicht verlernen.“

„Du sprichst es ja ganz fließend“, meinte ich. „Kunststück! Zwei Jahre als Haustochter in Deutschland, nachher

zwei Jahre Ausbildung als Diätküchenassistentin an der Uniklinik in Kiel! Wenn ich dann nicht die Sprache beherrschen sollte!“

Als wir endlich, nach einem urgemütlichen Abend, in unsere Betten gekrochen waren, gab Senta mir das Kompliment zurück.

„Du sprichst doch auch phantastisch gut Norwegisch. Wie kommt das?“ wollte sie wissen.

„Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Ich spreche Schwedisch, dann ist es nicht so sehr schwer, sich auf Norwegisch umzustellen. Aber mehr kann ich auch nicht. Du hättest bloß meine Englischzensuren in der Schule sehen sollen!“

„Sie waren bestimmt nicht schlimmer als meine. Aber ich habe ja etwas zulernen müssen. Ich war in Afrika, da ging alles auf englisch, und voriges Jahr waren mein Mann und ich mit Sonja und Heiko in Amerika. Da mußten wir ja wohl oder übel Englisch sprechen.“

„Du bist aber weit rumgekommen auf dieser Welt!“ „Nichts im Vergleich mit meiner Schwester. Wir wissen nie, wo

auf der Welt sie sich zufällig aufhält! Und sie fühlt sich sauwohl – oh, Entschuldigung, das darf man wohl nicht sagen?“

„Du kannst ja pudelwohl sagen! Das klingt ein bißchen besser!“ „Ich möchte wissen, warum die Hunde immer herhalten müssen. Man ist mopsfidel und fühlt sich pudelwohl. Also, so geht es

Sonja. Eigentlich komisch, wie das alles kam. Und nichts wäre geschehen, wenn sie sich nicht ein Bein gebrochen hätte!“ Ich sah wahrscheinlich aus wie ein Fragezeichen.

„Ja, paß mal auf: Sie lag im Krankenhaus und mopste sich – wieder ein Mops, siehst du! – und verschlang alles, was man ihr an Lesestoff brachte. Unter anderem einen Artikel über das Tierleben in Afrika. Dann wurde sie afrikabesessen, las alles, was sie in Bibliotheken und von Bekannten kriegen konnte, und hatte nur einen Wunsch: Nach Afrika zu kommen, das heißt, nach Ostafrika. Und was soll ich dir sagen: Dann hatte ich hinter ihrem Rücken ein Los in der deutschen Fernsehlotterie auf unsere beiden Namen gekauft – und wir gewannen eine Ostafrikareise! Sie heulte wie ein Schloßhund vor Freude. Auf der Reise lernte sie ihren Heiko kennen, der genauso afrikabesessen war, und jetzt sitzen sie beide in England und arbeiten in dem Mary-Green-Institut, wo Heiko mit der Zeit Chef werden soll. Und zwischendurch flattern sie also kreuz und quer über den Globus.“

„Und du selbst, du flatterst also auch hin und wieder?“ „O ja, ein bißchen. Wenn mein Mann zu Zahnarztkongressen

flattert, dann flattere ich mit. Voriges Jahr nach Kanada, und in diesem Sommer waren wir in Wien, was ich mir nebenbei gesagt immer gewünscht habe.“

„Das kann ich verstehen! Wenn auch mein höchster Wunsch Prag ist.“

„Da wirst du bestimmt mal hinkommen. Es ist ja nicht weit.“ „Ja – es ist nur das Problem, daß so viele Bedingungen damit

verknüpft sind. Ich habe mich unbekannterweise so in Prag verliebt, daß ich nur mit einem Menschen dorthinfahren könnte…“

„… in den du auch verliebt bist!“ schmunzelte Senta. „Nun ja – jedenfalls mit einem Menschen, mit dem ich mich sehr

gut verstehe – mit einem, mit dem ich Hand in Hand über die Karlsbrücke gehen könnte und oben am Hradschin stehen – und die Kleinseite erleben…“

„Und die Przewalskipferde im Zoo“, ergänzte Senta. „Die Wasfürpferde?“

„Przewalski. Ich habe meine Weisheit von meinem zoologischen Schwager. Im Prager Zoo züchtet man nämlich diese seltenen Wildpferde.“

„Nun ja, meinetwegen das auch.“ „Aber wie dem auch sei“, sagte Senta, „Prag hin, Prag her, wir

müssen jetzt schlafen. Morgen ist Taufe, vergiß das nicht!“ „Ich glaube, ich werde es schon behalten. Dann gute Nacht,

Senta. Ich bin sehr froh, daß ich dich kennengelernt habe!“ „Danke, gleichfalls, Allegra. Und ich bin auch froh, daß Bernt

und Katrin dich hier haben. Du wirst wirklich hier dringend gebraucht.“

Wir machten unsere Nachttischlampen aus. Kurz danach hörte ich das regelmäßige Atmen von der schlafenden Senta. Selbst lag ich noch einige Minuten wach. Es war so schön zu wissen, daß man dringend gebraucht wurde!

Dann lächelte ich vor mich hin, in die Dunkelheit hinein. Senta und ich hatten uns auch auf deutsch geduzt!

Eine Schlange aus Gold Der gute Petrus hatte Einsicht und Verständnis. Er saß wohl da oben in seinem Himmel und dachte: Na, für das süße kleine Taufkind da unten müssen wir wohl was tun, und dann öffnete er seinen Sonnenscheinsack und goß eine strahlende, goldene Herbstsonne über das ganze südliche Norwegen.

Die ganze Gesellschaft zog los in drei Autos. Wir waren ja elf Personen, das Taufkind mitgezählt. Es lag sicher in Omas Armen, in dem feinen, langen Taufkleid mit Spitzen und Biesen; ein Taufkleid, in dem sein Vater und Großvater auch getauft worden waren, ebenso seine Tanten, Onkels, sein Vetter und die eine Kusine. Ja, denn Sonjas Zwillinge waren ja gleichzeitig getauft worden, und die eine hatte das Brunner-Taufkleid angehabt. „Wie war es eigentlich mit Sonja und mir?“ wollte Senta wissen. „Na, das war vielleicht ein Theater“, erinnerte sich der Vater schmunzelnd. „Zuerst wurde Sonja getauft, es waren an dem Tag zum Glück sehr viele Taufkinder, sie war das erste. Dann blitzschnell in die Sakristei getragen, Kleid aus, dich da reingesteckt, das ging gerade so, daß du als letztes Kind drankamst. Übrigens hast du gebrüllt wie am Spieß, nebenbei gesagt.“

Der kleine Sven Gerhard brüllte nicht. Er schlief friedlich in Omas Armen, wachte nur auf, als ich ihm das Mützchen abnahm, und als er das Wasser auf dem Köpfchen fühlte, nieste er – das war alles.

Ich empfand es ganz feierlich, dazustehen und Patin zu sein. Es war das erstemal in meinem Leben.

Es war mir schleierhaft, wie sie alle es geschafft hatten, bei der kurzfristigen Festsetzung des Tauftages Geschenke hervorzuzaubern. Aber Tatsache war, daß Beate schnell ein richtiges Geschenktischchen aufbauen mußte, während Katrin das Taufkind wickelte und abfütterte.

Senta und ich übernahmen die Küche, und als die kleine Hauptperson versorgt war, konnten wir zu Tisch gehen.

Ich stellte fest, daß die Norweger ein redefreudiges Völkchen sind. Kaum hatten wir den Braten intus, ging es los. Opa Rywig redete, Onkel Andreas redete, der stolze Vater ebenso. Es wurde auf die Gesundheit des Kindes angestoßen, auf das Wohl der jungen Eltern und auf dieses und jenes.

Als ich dachte, jetzt könnten wir wohl das Eis aus dem Kühlschrank holen, stand Katrin auf.

„Ich weiß nicht, ob es Sitte ist, daß auch eine bescheidene Ehefrau und frischgebackene Mutter das Wort ergreift“, fing sie an. „Und wenn es gegen die Etikette ist, pfeife ich drauf. Ich will nämlich einen ganz bestimmten Toast ausbringen, nämlich auf das tapfere junge Mädchen, dem wir zu verdanken haben, daß wir heute ein gesundes Kind zur Taufe tragen konnten. Allegra, ich werde dich mit Einzelheiten verschonen, du weißt woran ich denke, und ihr alle wißt es auch. Aber was ihr nicht wißt, ist, daß ich im Banksafe etwas hatte, was meiner Urgroßmutter gehörte, etwas, was ich heute Allegra schenke. Und ich möchte dazu sagen, daß ich nie in meinem Leben so gern etwas verschenkt habe. Bitte, Allegra, laß dir dieses Geschenk eine Erinnerung sein, eine Erinnerung von zwei unsagbar glücklichen Eltern!“

Sie reichte mir ein altmodisches, verschnörkelt dekoriertes Etui, und ich machte es mit hochroten Wagen und zitternden Händen auf.

Auf dem blauen, alten, verschossenen Samt lag ein Armband, ein wunderbares Armband aus fein ziseliertem Gold. Es war wie eine Schlange geformt, und als Auge war ein herrlicher Rubin einmontiert. „Katrin – ich – ich bin sprachlos – du sollst doch nicht…“

„Doch“, sagte Katrin. „Gerade das soll ich! Auf dein Wohl, Allegra! Trage das Armband bei Gesundheit, wie wir hier sagen – und – nun ja, kurz und gut: Danke, Allegra!“

Sie verließ ihren Platz am Tisch, kam hin zu mir mit ihrem Sektglas in der Hand. Den freien Arm legte sie um meinen Hals und küßte mir die Wange. Und dann hoben alle die Gläser, alle prosteten mir zu – und ich stand da, so hilflos, so befangen, so ratlos – und gleichzeitig sehr, sehr glücklich!

Das Armband machte die Runde, wurde bewundert – mit Recht – , und Senta konnte sich natürlich nicht verkneifen zu sagen, wenn ihre Schwägerin noch so ein Ding im Banksafe habe, würde sie, Senta, sich auch dazu überwinden, eine Kreuzotter anzufassen.

Dann kam das Armband zurück zu mir, und ich schob es auf meinen linken Arm. Ich hatte mir nie träumen lassen, daß ich jemals ein so schönes Schmuckstück besitzen würde. Und dann konnten wir endlich das Eis essen.

Am Nachmittag kam ein Anruf von Sonja – mit Lautsprecher! – , und dann kam ihr Heiko an den Apparat und gratulierte auf deutsch.

„Und dann einen Extraguß an die Schlangenbändigerin!“ sagte er zuletzt. „Ich weiß viel über Schlangen und etwas über die Schlangenphobie, und es ist mir ein ewiges Rätsel, wie eine solche Phobiepatientin eine Schlange anfassen kann!“

„Ich bin doch keine Phobiepatientin mehr!“ rief ich. „Die Geschichte hat mich kuriert! Und im Augenblick trage ich eine Schlange um den Arm!“

Der Tag ging zu Ende, er war urgemütlich und ziemlich anstrengend gewesen. Bevor wir zu Bett gingen, waren wir noch einmal schnell, der Reihe nach, am Babykörbchen und warfen noch einen Blick auf die kleine nichtsahnende, schlafende Hauptperson des Tages.

Über einer Stuhllehne hing noch das Taufkleid. „Das nehme ich gleich mit“, sagte Senta. „Du? Willst du es vielleicht für mich waschen?“ schmunzelte

Katrin. „Das auch. Aber ich nehme es nun eben mit, weil ich es in sieben

Monaten brauchen werde!“ sprach Senta, nahm das Kleid und verließ erhobenen Hauptes das Zimmer und ihre gaffende Familie.

Es wurde wieder Alltag, das ruhige Leben ging weiter. Dann kam endlich der friedliche Abend, als ich mal Zeit hatte, mich um meine persönlichen Sachen zu kümmern. Was in diesem Falle bedeutete, daß ich Hartmut schreiben konnte.

Ich hatte es so lange überlegt, ich hatte mir hundertmal eine Antwort ausgedacht und dann wurde der Brief doch anders.

Lieber Hartmut! Ich danke für Deinen Brief. Du hast mich ein bißchen

mißverstanden, ich wollte nicht in Deinem Seelenleben rumstochern. Vielleicht ist es nur meine weibliche Neugier, daß ich Dich ein bißchen näher kennenlernen möchte? Weißt Du, ich brauche Dich eben als Freund, und Du hast mir den Eindruck gegeben, daß das auf Gegenseitigkeit beruht. Denn Du hast mir ja die ganze Zeit regelmäßig geschrieben, und zwar sehr nett geschrieben!

Ich gratuliere Dir herzlichst zum Auto und natürlich auch zur Schreibmaschine. Du scheinst Dich in Köln wohl zu fühlen, das freut mich. Für Deine Mutter ist es bestimmt ein Segen, daß sie Dich hat. Was hätte sie bloß ohne Dich machen sollen?

Die Zeit läuft so schnell, in einem halben Jahr fange ich bei Frau

Doktor Oberbach an. Und in gut zwei Monaten ist Weihnachten! Wann bist Du eigentlich mit Deiner Ausbildung fertig? Und

wann kehrst Du zurück zu Briefpapier und Ansichtskarten und Kuverts und Kugelschreibern und Geschenkpapier in Opas Geschäft? Na, er wird ja froh sein, daß Du Dich doch dafür entschlossen hast. Vielleicht hat er im letzten Jahr feststellen müssen, daß Du ihm doch so ziemlich unentbehrlich bist.

Ich glaube schon, daß ich zu Weihnachten nach Hause fahre. Aber irgendwann werde ich ganz bestimmt besuchsweise hierher zurückkommen, denn ich habe hier wirklich gute Freunde gefunden.

Der Kleine ist jetzt getauft, und bei der Gelegenheit lernte ich Bernts Eltern und seine eine Schwester kennen. Ich bin hell begeistert von der ganzen Familie.

Ich habe auch ein wunderbares Geschenk bekommen, ein herrliches antikes Armband, aber wie ich dazu gekommen bin, ja, das ist eine lange Geschichte, die ich Dir lieber mündlich erzähle. Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis ich dazu Gelegenheit bekomme.

Bis dahin: Alles Gute, fahr vorsichtig mit Deinem neuen Wagen, damit ich in einem beulen- und schrammenfreien Auto Platz nehmen kann, wenn wir uns wiedertreffen.

Viele herzliche Grüße

Ich las den Brief dreimal durch. Ja, es war gut so. Dann schickte ich ihn ab und fing an, die Daumen zu drücken.

Frühjahrsgefühle im Herbst Kein Zweifel. Der Herbst war gekommen, mit Regen und Sturm. Sagen wir, der Spätherbst. September und Oktober waren schön gewesen, aber jetzt! Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, die Bäume wurden vom Sturm durchgerüttelt, die kleine, nicht gepflasterte Nebenstraße, an der unser Haus lag, bestand aus lauter Pfützen.

Doppelt gemütlich war es im Haus. „Weißt du, wie die Leute hier in Südnorwegen sagen?“ schmunzelte Katrin. „Wie gut, daß die Häuser hohl sind!“

Ja, das war tatsächlich gut. Wenn Bernt und ich aus der Praxis kamen, wurden wir pitschnaß auf der kleinen Strecke vom Tor zum Haus. Oder in der Stadt – von der Praxis bis zum Hof, wo der Wagen stand.

Und wie war es dann schön, in das warme, gemütliche Wohnzimmer zu kommen und ein gut zubereitetes Essen zu kriegen, nicht mehr raus zu müssen! Bernt tat mir oft leid, wenn er weggerufen wurde und bei dem Wetter losfahren mußte.

„Ja, siehst du, dies ist der Preis, den wir für den schönen Sommer bezahlen müssen“, erklärte Katrin. „Ich kenne es nicht anders, ich bin ja hier aufgewachsen, hier auf dem Lande, in der rauhen Natur – lieblich im Sommer, rauh im Winter. Aber für jemanden, der in einer Großstadt gelebt hat, mit Theater und Konzertsälen in der Nähe und Kino an der nächsten Ecke, ist es bestimmt komisch…“

„Nicht komisch“, protestierte ich, „aber natürlich ungewohnt. Ich glaube, bei den beliebten Ferienorten denkt man gar nicht daran, daß das Jahr nicht nur aus Sommer besteht, so wie man die Bilder in den Prospekten gesehen hat. Man vergißt, daß in den Ferienparadiesen auch Herbst und Winter mit Sturm und Regen kommen. Übrigens vermisse ich weder Kino noch Theater, wir haben ja das gesegnete Fernsehen.“

„Und wir haben einander“, lächelte Katrin. „Zugegeben, daß wir etwas isoliert wohnen, aber dafür haben wir unsere Ruhe, und die braucht Bernt vor allem. Und ebenso unerträglich wie es ist, mit unsympathischen Menschen isoliert zu sein, genauso schön ist es, mit lieben Menschen allein in Ruhe zu leben. Wir jedenfalls genießen es! Und was für ein Glück, daß wir uns auch so mit dir befreundet haben!“

„Wenn jemand von Glück reden soll, bin ich es wohl“, meinte ich.

Und das war meine ehrliche Meinung. Was hatte ich doch für Glück gehabt – wie wunderbar hatte ich die erste Hälfte von dem Jahr verbracht, das überbrückt werden sollte!

Aber zu Weihnachten würde ich nach Hause fahren. Meine Eltern hatten mich so sehr darum gebeten, und trotz allem sehnte ich mich ein bißchen nach zu Hause. Und was hatte ich alles zu erzählen! Und so viele Photos zu zeigen!

Außerdem würde ja Hartmut zu seinen Großeltern fahren – von dort und zu meinem Elternhaus war es mit dem Auto nur ein Katzensprung.

Er hatte mir wieder geschrieben, diesmal kurz, sehr nett und freundlich. Es lief alles darauf hinaus, daß er sich sehr auf Weihnachten freute.

Das war ja schon etwas! Es war das erstemal, daß er direkt gesagt hatte, er freue sich auf etwas.

An einem kalten Novembertag, einem Freitag, war ich dabei, nach der Sprechstunde aufzuräumen. Bernt sammelte gerade die Karteikarten für seine Hausbesuche. Da klingelte das Telefon.

„Wenn das noch ein Besuch ist…“, murmelte Bernt und nahm den Hörer. Nach „Hier Doktor Rywig“ kam eine kleine Pause, und als er wieder sprach, drückte er sich in meiner Muttersprache aus:

„Nein, nein, Sie stören gar nicht, einen Augenblick…“, er reichte mir den Hörer.

„Für dich, Allegra. Etwas Deutsches ist es, wie du hörst.“ Nanu! Vielleicht Frau Flagtvedt, die ich in „Havblikk“ kennengelernt hatte – ach nein, sie würde doch mit Bernt nicht deutsch sprechen. Dies fuhr mir in einem Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, und schon hatte ich den Hörer am Ohr.

„Bitte, hier Allegra Walther.“ „Grüß dich, Allegra! Hier ist Hartmut!“ Ich japste nach Luft und

stammelte: „Hartmut – in aller Welt – wo bist du?“ „In Norwegen! Besser gesagt in Bergen, im allerwestlichsten

Norwegen. Sag mal, Allegra, kannst du übers Wochenende frei kriegen?“

„Ja – ich glaube schon – ich werde fragen…“ „Ja, frag mal schnell, ich warte.“ Vollkommen verwirrt drehte ich

mich um zu Bernt. „Bernt, kann ich dieses Wochenende frei kriegen?“

„Selbstverständlich, es ist an der Zeit, daß du endlich ein paar freie Tage hast. Mach ruhig deine Verabredung. Tschüs, ich eile zu meinen Patienten!“

Weg war Bernt und ich nahm wieder den Hörer. „Ja, Hartmut, ich kriege schon frei. Was soll ich denn…“ „Nun paß mal auf! Hops heute abend in den Zug nach Stavanger.

Du weißt, wo diese Stadt liegt? Also gut. Heute abend fahre ich dorthin mit dem Schiff, bin ganz früh morgen da, wir treffen uns also auf halbem Wege, verstehst du?“

„Ja – ich verstehe – aber ich verstehe bloß nicht, warum du plötzlich in Norwegen bist!“

„Das erkläre ich dir morgen, und vieles andere auch. Also, wenn du aus dem Bahnhof kommst, gehst du nach links etwa zweihundert Meter, da siehst du ein großes Hotel, es heißt Atlantic, du siehst es schon vom Bahnhof aus. Dort wartest du in der Halle, es ist übrigens möglich, daß ich als erster da sein werde. Jedenfalls treffen wir uns dort morgen in aller Herrgottsfrühe! Sonntag muß ich zurück, du wahrscheinlich auch. Alles klar?“

„Nichts ist klar, ich bin vollkommen verwirrt“, gestand ich. „Aber jedenfalls habe ich kapiert, daß ich mich heute abend in die Bahn nach Stavanger setze und daß das Hotel Atlantic heißt.“

„Das genügt auch vorerst. Dann auf Wiedersehen, Allegra! Ich freue mich mächtig!“

„Und ich erst recht, Hartmut! Ich freue mich wahnsinnig!“ „Das war wohl eine Überraschung!“ lächelte Katrin, als ich sie

schnell und mit verwirrten Worten orientiert hatte. „Kann ich etwas für dich tun, etwas plätten oder so was – hast du alles, was du brauchst?“

Das hatte ich. Nachdem ich so erfreulich viel abgenommen hatte, war es mir eine Riesenfreude gewesen, meine Garderobe zu ergänzen. Außerdem war es notwendig, weil ich ja damals im Juni nur mit Sommersachen losgefahren war. Ich hatte nicht viel, aber was ich hatte, war neu und hübsch. Zum Glück sahen meine Haare auch anständig aus, ich mußte ja in der Praxis immer tadellos aussehen.

„Allegra!“ rief Katrin. „Ich habe gerade das Kursbuch hier, ist es dir klar, daß der letzte Bus nach Kristiansand um dreiundzwanzig Uhr losfährt und daß du dann bis zwei Uhr nachts auf den Zug dort warten mußt?“

„Ja, ich habe mir die Zeiten geben lassen, ich rief aus der Praxis

an.“ „Weißt du was? Zu der Zeit schläft ja sowieso mein Goldschatz

und braucht seine treusorgende Mutter nicht. Ich fahre dich nach Kristiansand, dann hast du jetzt etwas mehr Zeit.“

„Aber Katrin, mitten in der Nacht…“ „Macht nichts, morgen ist Samstag, da können wir ausschlafen.“ „Und wenn Bernt einen Nachtbesuch machen muß?“ „Nimmt er Andreas’ Wagen. Wozu hat man Verwandtschaft im

Nachbarhaus?“ „Es ist wahnsinnig lieb von dir, Katrin!“ „Von wegen lieb. Endlich eine Gelegenheit für mich wieder Auto

zu fahren, ich tu es viel zu selten, und ich bin ja eine leidenschaftliche Autofahrerin. Bernt kann auf seinen Sohn aufpassen, und wird er weggerufen, muß eben Anja herhalten.“

„Was seid ihr eigentlich für eine liebe Familie“, sagte ich nachdenklich. „Ihr seid immer bereit, einander zu helfen!“

„Wir haben es von Beatemutti gelernt“, lächelte Katrin. „Und was Anja betrifft, ist sie ja mit Beatemutti verwandt, das merkt man auch!“

Kurz vor zwei Uhr nachts winkte ich aus dem Abteilfenster Katrin zu. Der Zug setzte sich in Bewegung, ich machte es mir in einem leeren Abteil bequem. Die meisten Fahrgäste hatten wohl Schlafwagen. Ich konnte mich auf eine Bank legen, mich mit meinem hübschen neuen Wintermantel zudecken und versuchen zu schlafen.

Es war nicht leicht. In meinem Kopf rumorten allerlei Fragen und eine große, eine unbändige Freude. Was machte Hartmut in Norwegen? Warum wollte er sich mit mir treffen? Bedeutete ich mehr für ihn als ich selbst wußte? Was würden wir nun in Stavanger unternehmen? Wo würden wir wohnen?

Fragen über Fragen. Nun ja, morgen würde ich alle Antworten bekommen. Das einzige Vernünftige, was ich jetzt machen konnte, war zu schlafen. Sonst wäre ich morgen zu nichts zu gebrauchen.

Auf dem kleinen Klapptisch lag eine Zeitung. Ich blätterte drin, in der Hoffnung, etwas zu finden, was schlaffördernd wirkte.

Ich fand ein halb gelöstes Kreuzworträtsel. Darin bin ich nie eine Expertin gewesen, und auf norwegisch erst recht nicht. Ich fand eine deutsche Stadt und ein Fleischgericht. Während ich weiterstudierte, wurden meine Lider schwer, und ich schlief ein zwischen einem indischen Strom und einer Oper von Verdi.

Es war noch ganz dunkel, als ich erwachte, ich guckte auf die Uhr. Gerade fünf durch. In einer Stunde sollten wir in Stavanger sein. In einer Stunde oder vielleicht in zwei würde ich Hartmut wiedersehen! Wie klopfte mein Herz!

Ich goß mir Kaffee ein aus der Thermosflasche, die die vorsorgliche Katrin mir mitgegeben hatte. Ihr Butterbrotpaket ließ ich liegen, ich war viel zu aufgeregt, um essen zu können!

Ich ging in den Waschraum, wusch mir Hände und Gesicht und putzte die Zähne. Dann die Haare durchkämmen, mehr konnte ich nicht, tun. Dann nur warten, mein Herzklopfen spüren, die Minuten zählen – und endlich kam der Augenblick, wo der Zug langsamer wurde, ein Bahnhofsgebäude tauchte auf, eine Stimme im Lautsprecher: „Stavanger Hauptbahnhof, bitte aussteigen!“

Eine dunkle Straße, wenig Menschen. Ein grauer Himmel, Novemberkälte. Ich guckte nach links. Ja, ganz richtig: Die Worte „Hotel Atlantic“ in Leuchtbuchstaben gegen den grauen Himmel.

Also nichts wie… nanu! Eine Hand auf der Schulter… Ich drehte mich um. „Allegra!

Menschenskind, beinahe hätte ich dich nicht erkannt! Wo ist der Rest von dir? Du siehst ja aus wie ein Strich! Allegra, es ist großartig, daß du gekommen bist…“ Was er weiter sagte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich Hartmuts Arme um mich hatte, daß ein liebes, sommersprossiges Gesicht ganz nahe kam und daß er mich küßte.

Hätte mir jemand vor einem halben Jahr erzählt, daß ich an einem kalten Novembermorgen vor einem Bahnhofsgebäude im westlichen Norwegen einen der schönsten Augenblicke meines Lebens erleben sollte, hätte ich es als ein Phantasieprodukt eines unzuverlässigen Wahrsagers betrachtet.

„Denk dir, mein Schiff kam früher als ich dachte an! Nix wie in eine Taxe gesprungen, zum Glück sind ja die Straßen leer, und der Fahrer war ehrgeizig und wollte es schaffen! Komm, diesen Weg, Allegra, im Hotel Atlantic gibt es ab sechs Uhr Frühstück, und das brauchen wir!“

„Hartmut, ich bin noch vollkommen verwirrt, ich begreife überhaupt nichts…“

„Begreifst du, daß ich dich soeben geküßt habe?“ „Ja, das ist das einzige, was mir klar ist.“ „Gut, das ist die Hauptsache! Alles andere am Frühstückstisch!“

Im Hotel mußte ich dolmetschen. Alle waren dort auf Englisch

eingestellt wie in vielen norwegischen Hotels. Mit dem Deutschen war es so eine Sache. Also bestellte ich das Frühstück und sagte was gesagt werden mußte.

„So“, atmete ich auf, als der Kellner mit unserer Bestellung verschwand, „kannst du nun endlich anfangen? Das heißt, zuerst muß ich dich fragen, was eigentlich mit dir geschehen ist. Du sagst, daß ich schlank geworden bin, was zum Glück stimmt. Aber du bist – du bist irgendwie – erwachsen jetzt! Du hast eine – oh, wie soll ich es ausdrücken – eine erwachsene Sicherheit – du wirkst sozusagen größer! Du siehst nicht mehr aus wie ein schlaksiger Jüngling, du bist ein erwachsener Mann geworden.“ Hartmut lachte.

„So? Ich war ein schlaksiger Jüngling? Na ja, du hast vielleicht recht. Und wenn ich mich geändert habe, liegt es wohl daran, daß ich plötzlich da saß mit der Verantwortung eines erwachsenen Mannes. Ich habe für meine Mutter denken und handeln müssen.“

„Hast du es gern getan?“ „Ja. Sehr gern sogar. Und ich habe erst in dieser Zeit meine

Mutter richtig kennengelernt. Als Kind hatte ich sie ja nie so für mich. Am Tag hat sie gearbeitet, abends waren immer die Großeltern dabei. Ich habe eigentlich nie so richtig darüber nachgedacht, wie verdammt schwer meine Mutter es gehabt hat.“ Der Kellner brachte das Frühstück.

Als Hartmut wieder sprach, wechselte er das Thema: „Ja, also warum ich plötzlich hier bin. Du weißt wahrscheinlich nicht, daß am letzten Mittwoch in unserem Vaterland Büß- und Bettag war? Nein, siehst du, du ahnst nicht, was in der Heimat passiert. Aber, so fiel ein Berufsschultag aus. Nun haben wir in der Berufsschule einen Lehrer, der immer über die großen Papierfabriken in Norwegen spricht. Du weißt sicherlich, daß Norwegen nicht nur Konservenfabriken und Fischmehlfabriken hat, sondern auch Papierfabriken? Besonders viel hat er von einer ganz alten Fabrik in der Nähe von Bergen erzählt, so was müßten wir eigentlich sehen, wir, die wir in die Papierbranche reinwollten. Nun ja, dann habe ich meine Verbindungen mit Reiseunternehmen ausgenutzt, und ehe wir uns selbst darüber im klaren waren, hatten fünf von uns sich für eine Billigreise nach Norwegen eingetragen. Ja, jetzt ist ja die tote Zeit im Reiseverkehr, weißt du, also die Zeit der Billigreisen.“

„Mit Preisermäßigungen in Hotels und so was…“, nickte ich. „Eben. Besonders großzügige Ermäßigungen, wenn eine Gruppe

Jugendlicher zum Studienzweck losfährt. Also, Mittwoch in aller

Herrgottsfrühe losgefahren, ja, mein Chef hat mir großzügig zwei Tage freigegeben, samstags habe ich sowieso frei – nachmittags per Schiff von Cuxhaven, Donnerstag Ankunft in Bergen, Einquartierung in einer Jugendherberge. Fabrikbesichtigung gestern, nebenbei gesagt sehr interessant, und dann hieß es Samstag, also heute, die Sehenswürdigkeiten in Bergen besichtigen. Die habe ich also links liegenlassen, weil die einzige Sehenswürdigkeit, die mich interessierte, nicht in Bergen, sondern in Klein-Eschenheim war. Dann rief ich also an, mitten in der Besichtigung gestern, von der Fabrik aus, und hier bin ich. Und du bist da. Alles herrlich geklappt. Und wir haben zwei ganze Tage für uns!“

„Eins verstehe ich nicht, Hartmut“, sagte ich. „Damals, zu Hause, als wir unsere Rollerausflüge machten und so – es war furchtbar nett, aber ich ahnte nicht, daß ich so viel für dich bedeutete!“

„Ich ahnte es ja selbst nicht! Das heißt, ich fand es blöde, daß du wegfuhrst. Aber soviel habe ich auch nicht darüber nachgedacht. Dann zeigte es sich, daß ich den Gedanken an dich gar nicht los wurde, du Teufelsmädchen! Immer sah ich dich vor mir, wie du damals im Badezimmer von Frau Felsdorf den dreckigen Hund saubermachtest. Ich sah die Bewegung deiner Hände, ich hörte deine Stimme – und nun ja – Herrgott noch mal, muß ich dir eigentlich schildern, wie es ist, wenn man entdeckt, daß man sich verliebt hat?“ Ich legte meine Hand über die seine.

„Nein, Hartmut. Das brauchst du mir nicht zu schildern. Das weiß ich.“

Wir schwiegen beide einen Augenblick. Dann sagte ich: „Es ist mir nur so unbegreiflich, daß du

ausgerechnet an mir etwas finden konntest. Ich weiß sehr gut, daß ich ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch bin. Nicht besonders intelligent, nicht besonders hübsch und durchaus nicht spannend.“

„Vielleicht gerade deswegen“, sagte Hartmut. „Mir ist es genauso unbegreiflich, daß du etwas an mir findest. Du hattest mich in der Erinnerung nur als – was hast du vorhin gesagt? -Ja, als schlaksiger Jüngling mit Sommersprossen…“

„Vielleicht gerade deswegen“, sagte ich. Mein Herzklopfen war nicht mehr zu spüren. Ich war wieder

ruhig. Ruhig und unsagbar glücklich. Die ganze Unsicherheit von den letzten Monaten war weg. Was mich jetzt erfüllte war eine große, schöne, feste Sicherheit. Es war so richtig, daß ich hier mit

Hartmut saß. So richtig, daß ich mit ihm allein zwei Tage verbringen würde.

Verbringen, ja – aber wie und wo? Ach, das war ja ganz egal. Alles was er vorschlagen würde, sollte

mir recht sein. Auch das, was kam. „Allegra“, sagte er mit einem kleinen verschmitzten Lächeln.

„Jetzt muß ich dir etwas erzählen – ach wo, nein, das hat Zeit. Zuerst mußt du übersetzen. Komm mit!“

Wir verließen das Restaurant und gingen in die große Hotelhalle. „Frag mal, bitte, ob ein Brief für mich abgegeben wurde“, bat

Hartmut. Ja, da war ein Brief. Ohne Marke, persönlich abgegeben. „Das klappt ja wie am Schnürchen!“ sagte Hartmut zufrieden.

Aus dem Brief holte er einen Schlüssel und einen Papierbogen, auf dem etwas gezeichnet war.

„Und wenn du dann den Portier fragen würdest, wo man ein Auto mieten kann. Also keine Taxe, das Fahren besorge ich schon selbst.“

Ja, der Portier wußte Bescheid. Eine halbe Stunde später saßen wir in einem gepflegten, anständigen Opel, und Hartmut fuhr aus der Stadt raus.

„Hilf mir auf die Schilder aufzupassen“, bat er. „Wir müssen früher oder später, am liebsten früher, ein Schild mit einem Pfeil Richtung Algard finden.“

„Wie war das?“ „A wie Allegra – L wie Liebe – G wie Glinde – noch einmal

Allegra – Reisebüro – Dummkopf.“ „Ach so. Sag mal, haben die A zufällig einen kleinen Ring als

Tüpfelchen?“ „Ja, das haben sie wohl.“ „Dann wird es Olgord ausgesprochen.“ „Verrückte Sprache“, murmelte Hartmut. „Aber mein Glück, daß

du sie kennst.“ Bald hatten wir die Stadt hinter uns. Jetzt fuhren wir durch eine

merkwürdige eintönige Landschaft. Flach, flach, überall. Kleine Bauernhöfe, Äcker, Wiesen – kaum ein Baum, keine Andeutung von Bergen. Aber weite Strecken mit abgeblühtem Heidekraut.

„Und dies soll Norwegen sein“, sagte ich. „Ja, es ist wohl die einzige große berglose Landschaft von

Norwegen. Die Winterstürme sind hier nicht von Pappe, um so mehr, weil vor dieser Küste keine schirmenden Inseln liegen.“

„Wie du Bescheid weißt. Warst du schon mal hier?“ „Nein, aber ein Norweger hat es mir beschrieben. Ja, das wollte

ich dir also erzählen. Kurz bevor ich mein Reisebüro verließ, kam ein junges norwegisches Ehepaar ganz unglücklich und fragte, ob ich ihnen ein Hotelzimmer verschaffen könne. Sie wollten eigentlich campen, aber ihr Zelt, das oben auf dem Autodach verstaut gewesen war, war ihnen geklaut worden. Und die Ärmsten waren ausgerechnet auf Hochzeitsreise! Dann war kein Hotelzimmer zu haben, nur in dem allerfeinsten Hotel, und das konnten sie sich nicht leisten. Na, sie taten mir eben leid. Dann habe ich ihnen für zwei Nächte meine Bude überlassen und schlief selbst im Schlafsack im Büro. Sie waren dann so unbeschreiblich dankbar und baten mich dringend, wenn ich mal nach Stavanger käme, müßte ich mich unbedingt melden, sie wollten sich so gern revanchieren, und sie hätten ein Wochenendhaus, das sie mir jederzeit mit tausend Freuden zur Verfügung stellen wollten.“

„Und das Wochenendhaus liegt vielleicht in Ålgård?“ fragte ich. „Deine Kombinationsfähigkeit ist einmalig!“ lachte Hartmut. „Ja, in der Nähe von Ålgård. Also, als diese Reise bestimmt wurde, rief ich Herrn Sande – ja, so heißt das Ehepaar – an, und fragte ob… Und er war ganz begeistert, weil ich ihm die Gelegenheit gab, sich zu revanchieren. Heute bekam ich also den Schlüssel, wie du weißt, und einen kleinen selbstgebastelten Dorfplan, wir werden schon das Häuschen finden.“

Ich antwortete nicht. Ich war so unerfahren, hatte ja nichts erlebt, ich wußte nicht, was ich bei dem Gedanken empfand, zwei Tage und eine Nacht ganz allein mit Hartmut in einem kleinen Wochenendhäuschen zu verbringen.

Vielleicht las Hartmut meine Gedanken, denn er sagte mit einem kleinen Lächeln: „Wir schauen uns eben das Ding an, Allegra. Wenn du lieber zurück in die Stadt möchtest und im Hotel übernachten, bin ich keine Spur beleidigt. Du sollst mir nur versprechen, ganz ehrlich zu sein und mir sagen, was du möchtest!“

„Das verspreche ich!“ Aber in dem Augenblick wußte ich schon, wie es weitergehen

würde, was wir zusammen erleben würden. Ich warf einen Blick auf Hartmut, der gerade sehr aufmerksam am Steuer war, wir fuhren durch eine Ortschaft mit spielenden Kindern auf der Straße. Sein Gesicht war so erwachsen geworden, seine Augen hatten einen neuen Glanz, sein Ausdruck war wärmer, die Stimme war die eines

erwachsenen Mannes. Dann erreichten wir das Dorf Ålgård, jetzt studierte Hartmut den

Plan. Ja, es war gut, daß der liebe Herr Sande den gezeichnet hatte, denn hier lagen kleine hölzerne Hüttchen und Wochenendhäuser zu Hunderten. Alle gepflegt, alle mit kleinen Gärtchen, alle mit einem kleinen weißgestrichenen Flaggenmast. Ja, die Norweger hissen ja bei allen Gelegenheiten die hübsche Fahne, bei Familiengeburtstagen und Hochzeitstagen. Und als der kleine Sven Gerhard getauft wurde, wehte auch die blau-weiß-rote Fahne am Flaggenmast in Bernts und Katrins Garten.

Hartmut hielt an. „Hier müßte es sein.“ Es war ein Minihäuschen, richtig ein Puppenhaus! Rot gestrichen

mit weißen Fensterrahmen, einem kleinen weißen Lattenzaun, ein Gärtchen, wo man noch die Spuren von der herbstlichen Blumenpracht ahnen konnte.

Ein kleines Zimmerchen mit einem Tisch, einem Eckschrank, zwei Kiefernholz-Sesselchen mit losen Kissen. Eine Miniküche mit einer Propangas-Kochgelegenheit. Dann ein Schlafzimmer mit zwei Betten und einem altmodischen Waschgestell.

Es war alles denkbar einfach, aber die wenigen Möbelstücke waren hübsch, die Farben schön abgestimmt, die kleinen geblümten Gardinen wirkten so freundlich.

Ja, hier konnte man sich wohl fühlen. Hartmut sah mich an. „Du hast versprochen, ehrlich zu

antworten, Allegra. Willst du zurück in die Stadt oder willst du mit mir hierbleiben?“

Ich fühlte, wie mir die Röte in die Wangen stieg, und jetzt klopfte mein Herz wieder, so daß man es beinahe hören mußte!

Hartmuts Augen hatten einen so unendlich lieben, sanften Ausdruck. Seine Stimme hatte ganz leise geklungen.

Ich ging dicht hin zu ihm und verbarg mein Gesicht an seiner Brust. „Wir bleiben hier, Hartmut. Wir beide zusammen.“

Antwort auf meine Frage Ich wachte aus einem tiefen Schlaf auf. Es war ganz dunkel im Zimmer. Neben mir hörte ich die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge von Hartmut. Er schlief fest, glücklich, entspannt.

Ich rührte mich nicht. Blieb regungslos liegen, und in Gedanken erlebte ich die letzten vierundzwanzig Stunden noch einmal.

Unsere Begegnung am Bahnhof, das Frühstück im Hotel, die Fahrt hierher. Dann, wie wir uns eingerichtet hatten. Hartmut konnte mit dem kleinen Ölofen gut umgehen, er hatte denselben Typ in seiner Bude gehabt. Bald verbreitete sich eine mollige Wärme in den kleinen Räumen.

Dann waren wir zum Kaufmann ins Dorf gefahren, hatten Kaffee, Brot, Butter, Käse und ein paar Konservendosen gekauft. Ich hatte Mittagessen gemacht, Hartmut hatte beim Abwaschen abgetrocknet, dann hatten wir die Betten bezogen und uns zu einem Mittagsschläfchen hingelegt.

Stille um uns. Das wohltuende Gefühl, hier würde uns niemand stören. Wir waren allein, so wunderbar allein. Wir beide, die das erlebten, was dem Leben Sinn und Meinung gibt. Das, was man nur dann erleben sollte, wenn man einen Menschen wirklich liebt, so daß man weiß, von nun an gehören wir zusammen.

Ja, das Gefühl war es, das uns beide erfüllte als ich dalag, mit meinem Kopf auf Hartmuts Schulter. Lange sprachen wir nicht. Aber zuletzt klang Hartmuts Stimme leise in mein Ohr.

„Weißt du, Allegra, jetzt kann ich die Frage beantworten, die du mir einmal gestellt hast. Die Frage, worauf ich so häßlich reagierte. Weißt du noch?“

„Du meinst das, was du Rumwühlen in deiner Seele nanntest?“ „Ja, gerade das. Damals konnte ich nicht antworten, schriftlich

erst recht nicht. Aber jetzt möchte ich es versuchen, wenn du noch eine Antwort haben möchtest.“

„Und ob ich das möchte, Hartmut!“ Er drückte mich dichter an sich, küßte mein Gesicht, meine

Augen. Dann sprach er, leise und ruhig. „Es stimmt schon, daß ich immer alle Gefühle verschwiegen

habe. Daß ich keinem Menschen zeigen wollte, was in mir vorging. Es fing schon an, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich war sehr einsam. Meine Mutter war berufstätig, kam erst abends müde nach

Hause. Ich war ja klein, wußte nicht so richtig was los war, was mein Dasein anders machte als das von anderen Kindern. Erst als Erwachsener habe ich es begriffen: Die Großeltern betrachteten immer ihre Tochter als ein Kind, sie nahmen ihr alle Entscheidungen ab und machten aus meiner Mutter einen ganz unselbständigen Menschen. Sie ließen sie auch verstehen, daß sie dankbar sein müßte, weil sie ihr unerwünschtes, uneheliches Kind aufgenommen hatten. Und was die Erziehung betraf, waren sie – die Großeltern – besser dazu imstande als ein junges, ,in Unglück geratenes Mädchen’.

Versteh mich nun richtig. Meine Großeltern sind keine schlechten Menschen. Sie wollten ganz bestimmt ihrer Tochter helfen, aber sie taten es in einer ganz verkehrten Weise. Eine Frau, die in einem so jungen Alter Mutter wird und weiß, daß sie immer allein für ihr Kind sorgen muß, die sollte doch vor allem zu Selbständigkeit erzogen werden!

Und dann lag etwas in der Luft – etwas, was nie in Worte umgesetzt wurde, aber Kinder haben einen feinen Instinkt. Ich fühlte, daß ich unerwünscht war. Ich fühlte, daß meine Mutter unglücklich war. Sie war gut zu mir, in ihrer ratlosen, ungeschickten Weise, ich hatte sie lieb. Sie war der einzige Mensch, den ich wirklich lieb hatte.

Ich war anders als meine Schulkameraden. Ich durfte zum Beispiel nie Freunde mit nach Hause bringen. Oma hatte Angst um ihre frisch gebohnerten Fußböden, Opa um seinen gepflegten Garten. Sie wollten nicht, daß eine Horde fremder Kinder da rumtobte.

Es war mir peinlich, sagen zu müssen: ,Ich darf es nicht’, wenn meine Kameraden mit mir nach Hause wollten. Dann zog ich mich zurück, ging auch nicht mehr zu den anderen, ich konnte mich ja nie revanchieren.

Weißt du, das schlimmste war das Gefühl, daß ich überflüssig war. Ich hatte keine Aufgaben, man brauchte mich ganz einfach nicht!

Es war hart für mich, als meine Mutter heiratete. Später habe ich begriffen, daß es eine sogenannte Vernunftehe war. Meine Großeltern haben bestimmt tüchtig nachgeholfen und meine Mutter überredet. Welch Glück für sie, einen Mann zu finden, der sie heiraten wollte, sogar einen ziemlich wohlhabenden Mann! Daß er zwanzig Jahre älter als sie war und daß er sich zu alt dazu fühlte, plötzlich Vater für ein zwölfjähriges Kind zu sein, das spielte für die

Großeltern keine Rolle. Ihre Erleichterung bei der Aussicht, die mißratene Tochter endlich unter die Haube zu kriegen, war so groß, daß sie es auf sich nahmen, das überflüssige, unerwünschte Kind bei sich zu behalten.

,Es macht ja überhaupt keinen Eindruck auf Hartmut’, sagte meine Großmutter, als mir die Situation mitgeteilt wurde. Keinen Eindruck! Lieber Himmel! Ich war bodenlos unglücklich. Aber – es schickt sich nicht für einen zwölfjährigen Jungen zu heulen. Das besorgte ich dann nachts, wenn ich allein lag, in dem Zimmer, das ich früher mit meiner Mutter geteilt hatte. Ich legte mich in ihr leeres Bett, ich spürte noch ihren Körperduft, ich konnte mein Gesicht in ihre hinterlassenen Kleidungsstücke begraben und merken: es riecht noch nach Mutti. Aber siehst du, ein zwölfjähriger Junge hat Ehrgeiz, er hat seine männliche Würde und Ehre zu hüten. Also bekam kein Mensch etwas über meine Schwäche und meine Tränen zu wissen. – Nanu, Allegra, Spatz, was hast du?“

„Seine Ehre und Würde zu hüten“, schniefte ich und wischte die Tränen mit dem Bettzipfel weg. „O Hartmut, wenn ich dich damals gekannt hätte… vielleicht hättest du ein kleines, dickes, aber glückliches Mädchen als Spielkameraden brauchen können…“

„Oder die kleine Dicke hätte mich brauchen können, und das wäre das allerbeste gewesen“, sagte Hartmut. „Ich sage dir, das Gefühl, von niemandem gebraucht zu werden, das ist furchtbar. Na, allmählich arbeitete ich mich in eine ,Ihr-könnt-mir-alle-gestohlen-bleiben-Mentalität’ hinein. ,Wenn ihr mich nicht braucht, dann brauche ich euch auch nicht.’ Und mein nächtliches Weinen blieb mein Geheimnis und ist es bis zu diesem Augenblick geblieben.“

„Hast du es nicht einmal deiner Mutter erzählt?“ fragte ich. „Um Gottes willen, sie ist doch der letzte Mensch, dem ich es

erzählen würde. Denk bloß daran, wie das ihr weh täte! Nein, Spatz, das bleibt zwischen dir und mir, versprichst du mir das?“

„Ja, Hartmut. Mein Ehrenwort!“ „Nun ja, was gibt es denn weiter zu erzählen? Ich machte meinen

Schulabschluß, war ein Jahr in der Lehre bei Opa und besuchte die Berufsschule, dann kam der Krach und ich landete im Reisebüro. Wo der Chef einen kleinen ungehorsamen Hund namens Allegra hatte!“

Hartmut drückte mich einen Augenblick an sich, bevor er weitersprach.

„Nun, dann starb also mein Stiefvater, ich fuhr zu meiner Mutter und erlebte zum erstenmal, daß ein Mensch mich brauchte. Und wie

sie mich brauchte! Es war schön, mit ihr endlich allein zu sein, mit ihr in Ruhe alles besprechen zu können, ohne die wachsamen Augen der Großmutter und ohne Opas ewige gute Ratschläge. Ich bin meiner Mutter richtig nahegekommen, wir verstehen uns blendend – manchmal habe ich das Gefühl, daß sie versucht, das alles nachzuholen, was sie mir diese Jahre nicht geben konnte. Den Tod ihres viel älteren Mannes hat sie eigentlich sehr ruhig hingenommen, es war ja sowieso keine Liebesheirat.“

„Du, wie muß das furchtbar sein. Eine Heirat ohne Liebe! Alle ehelichen Pflichten – Tag und Nacht – erfüllen zu müssen, ja überhaupt, das als Pflicht zu empfinden, was das allergrößte Glück sein sollte!“

„Nun ja, ich glaube, die Ehe meiner Mutter war wohl nicht direkt unglücklich, es ging wohl ruhig und friedlich, und eine Hilfe war es ihr natürlich auch, daß mein Stiefvater ganz wohlhabend war. Nun, wir haben alles miteinander besprochen, und sie hat mich endlich davon überzeugt, daß es sozusagen meine Pflicht ist, das Familiengeschäft zu übernehmen. Opa war bitter enttäuscht, weil er keinen Sohn bekam. Nun ist es ihm wohl allmählich klargeworden, daß der unerwünschte Enkel ihm doch nützlich sein kann. Er will sich nächstes Jahr vom Geschäft zurückziehen und es mir ganz überlassen. Und unter der Bedingung habe ich nichts dagegen, es weiterzuführen. Nur kann ich nicht mit Opa zusammenarbeiten. Vielleicht hat er es auch eingesehen.“

„Siehst du“, sagte ich. „Noch einer der dich braucht. Außer mir also zwei Menschen die dich brauchen.“

„Außer dir? Brauchst du mich auch?“ „Ob ich dich brauche, Hartmut! O Gott, und ob ich dich brauche!

Ich brauche dich immer, ich kann dich nie, nie mehr entbehren – begreifst du denn nicht – du bedeutest mir doch alles auf der Welt!“

Hinter den kleinen geblümten Gardinen brach der Tag langsam hervor. Im ersten kahlen Morgenlicht sah ich Hartmuts Gesicht. Das friedliche, entspannte, glückliche Gesicht eines erwachsenen Mannes. Jetzt bewegte er sich und schlug die Augen auf.

„Du bist also wirklich da“, flüsterte er mir ins Ohr. „Beinahe dachte ich, es sei ein Traum gewesen.“

„Ich kann dir in den Arm zwicken, dann wirst du merken, daß ich Wirklichkeit bin!“

„Tut nicht nötig. Es ist mir jetzt klar.“ Er erhob sich auf die Ellbogen, sah mir ins Gesicht. Seine Augen

leuchteten. „Spatz, du wolltest doch wissen, was ich fühle, was ich so denke.

Ich antwortete so häßlich auf deine Frage im Brief, ich hatte mich wohl noch nicht aus dieser schrecklichen ,Laßt-mich-endlich-in-Ruhe-Mentalität’ herausgearbeitet. Jetzt kann ich aber antworten, Spatz. Ich bin glücklich, ich bin so glücklich wie ich nicht ahnte, daß ein Mensch es sein könnte. Du hast mir ein Glück geschenkt, das all das Schlimme in meinem Leben tausendmal aufwiegt!“

Ich konnte nicht antworten. Ich legte nur meine Arme um seinen Hals und küßte seinen Mund.

„Wenn wir ein Auto gemietet haben, müssen wir es ja auch benutzen“, meinte Hartmut nach dem Frühstück. „Wollen wir uns ein bißchen mehr von dieser eigenartigen Landschaft angucken?“

„Ich will alles angucken was du willst, wenn es auch eine Krokodilzucht oder eine Schlangenfarm ist!“

Hartmut lachte. „Ja, eine Schlangenfarm wäre das richtige! Weißt du noch, als

ich den Sonntag mit dir bei deinen Eltern war, da hast du laut aufgeschrien wegen eines Regenwurms? Es wundert mich, daß du überhaupt das Schlangenarmband tragen kannst – es ist übrigens sehr hübsch. Ist es das, das du in einem Brief erwähntest?“

„Ja, ich habe es von Katrin bekommen.“ „Na, sie muß ja großzügig sein. Du lächelst so komisch, Spatz,

was hat es mit dem Armband auf sich?“ Dann erzählte ich ihm die Geschichte, und er machte ein gelinde

gesagt entsetztes Gesicht. „Sag nun bitte ausnahmsweise nicht was du denkst!“ bat ich.

„Die Geschichte hängt mir zum Halse raus, ich bin ganz unverdient eine Heldin geworden, was alles Quatsch ist. Ich hatte einfach keine Wahl, ich konnte ja das Kind nicht im Stich lassen. Bernt sagt, daß es für mich eine Roßkur war, aber ich bin also geheilt und kann jetzt jederzeit Regenwürmer anfassen, falls du es von mir verlangst!“

Hartmut schüttelte den Kopf. „Was bist du doch für ein Mädchen, Spatz!“ sagte er.

Dann machten wir eine schöne Autofahrt bei kühlem, windigem Novemberwetter. Und allmählich ging dann unser viel zu kurzes Zusammensein zu Ende.

Ein schnelles Essen, dann noch ein paar Nachmittagsstunden für uns allein in dem gesegneten kleinen Wochenendhäuschen, und dann ging es zurück nach Stavanger.

Am späten Abend verabschiedeten wir uns am Bahnhof, und Hartmut mußte zu seinem Schiff.

Dann rollte ich wieder südwärts – genauer gesagt südostwärts – , saß in meiner Abteilecke, ganz still, ohne zu lesen oder mich irgendwie zu beschäftigen. Mein Herz war voll, mein Kopf war voll von all dem, was ich diese zwei Tage an Glück erlebt hatte.

Der Abschied war schwer gewesen. Aber Hartmuts letzte Worte durchs Abteilfenster sangen in meinen Ohren: „Nur noch fünf Wochen, Spatz! Aber auf eins mußt du dich gefaßt machen: ich werde dich meiner Familie als meine Braut vorführen!“

Die Nacht verging, und beim ersten grauen Tageslicht war ich am Ziel. Als Bernt in die Praxis kam, fand er mich dort vor, im weißen Kittel und in voller Arbeit bei Karteikarten und Instrumente einräumen.

Er sah mich mit einem kleinen Lächeln an. „Weißt du was, Allegra?“ sagte er. „Du siehst irgendwie anders

aus – beinahe hätte ich gesagt, du bist ein neuer Mensch!“ „Stimmt haargenau, Bernt“, antwortete ich. „Ein neuer Mensch,

gerade das bin ich!“ Und der neue Mensch machte den Karteischub zu und packte die

Arbeit des Tages an.

Weihnachten Ich kam gerade rechtzeitig nach Hause, um Mutti beim Weihnachtsbacken beizustehen.

Der Abschied von Bernt, Katrin und dem Kleinen war mir schwergefallen. Aber wir hatten alle das Gefühl, daß es kein Abschied für immer war. Irgendwann wollten Hartmut und ich in Südnorwegen Urlaub machen, und ich war davon überzeugt, daß er sich genauso mit Bernt und Katrin befreunden würde, wie ich es getan hatte.

„Grüßt eure Beatemutti“, sagte ich. „Grüßt sie sehr, sehr herzlich und sagt ihr, daß sie vollkommen recht hatte.“

„Recht womit?“ fragte Katrin. „Das wird sie schon wissen. Sagt bloß, daß sie recht hatte, und

ihr könnt gern hinzufügen, daß sie eine kluge Frau ist!“ Dann fuhr ich also nach Hause, um ein kostbares Armband, ein

großartiges Zeugnis und eine wunderbare Freundschaft reicher. Ich kam eine Woche vor Weihnachten an. Außer dem Backen

gab es noch allerlei zu tun, unter anderem Besorgungen in der Stadt. Ich besuchte Familie Felsdorf, und ich guckte auch bei Frau

Doktor Oberbach rein. „Nanu“, sagte sie. „Was haben Sie mit sich selbst gemacht?

Waren Sie krank? Sie haben ja so abgenommen!“ „Zum Teil Verzicht auf Süßigkeiten, zum Teil seelische

Probleme“, erklärte ich. „Sie sehen aber nicht so aus, als hätten Sie Probleme!“ „Sie sind auch vorüber“, sagte ich. „Mir geht es blendend. Und

ich kann jetzt besser gerüstet zu Ihnen kommen. Ich wollte Ihnen eigentlich das Zeugnis von Ihrem norwegischen Kollegen zeigen.“

Das Zeugnis von Bernt war in vorbildlichem Deutsch abgefaßt. Frau Doktor Oberbach las es lächelnd und kopfnickend.

„Donnerwetter, das nenne ich ein Zeugnis. Und nun bleibt es also dabei, daß Sie am ersten April hier anfangen?“

„Ganz sicher, Frau Doktor. Ich freue mich ganz schrecklich darauf.“

Glück muß der Mensch haben! Am dreiundzwanzigsten fuhr Mutti frühmorgens mit Vati in die

Stadt. Sie mußte zum Friseur, sie hatte noch Einkäufe zu machen, sie mußte ein Weihnachtskörbchen zu einer einsamen alten Frau im

Altersheim bringen. Das bedeutete mindestens eine Stunde Plaudern. Dann wollte sie nach Büroschluß Vati treffen, und die beiden hatten dann irgend etwas in puncto Einkaufen vor. Ich ahnte nicht was, und am Tage vor Weihnachten fragt man auch nicht! Sie wollten in der Stadt eine Kleinigkeit essen; im Kühlschrank stand noch ein Rest von gestern, genug für mich – und ob ich vielleicht den Weihnachtsbaum putzen würde und die Füllung für die Weihnachtspute machen?

Das wollte ich. Um acht Uhr morgens fuhren dann die Eltern los, und ich beeilte mich nach Leibeskräften mit dem Frühstücksabwasch und Staubwischen, denn ich hatte eine Ahnung…

Die Ahnung stimmte. Ich hatte gerade das abgewaschene Geschirr eingeräumt und den großen Karton mit dem Christbaumschmuck vom Boden geholt, da hielt ein Auto vor der Tür. Als ich das Kölner Kennzeichen sah, rannte ich zur Tür hinaus, und im Gartentor fiel ich Hartmut in die Arme, wahrscheinlich zur größten Freude der neugierigen Nachbarn.

„Was!“ rief Hartmut, als ich ihn über die augenblickliche Lage informiert hatte. „Das bedeutet, daß wir einen ganzen Tag für uns haben?“

Ich bestätigte es. Und was für ein Tag! Eine glückliche Fortsetzung von unseren

unvergeßlichen zwei Tagen im Wochenendhaus bei Ålgård – ein Tag, wo wir sprechen, fragen und erzählen konnten, all das, was man soviel besser mündlich als schriftlich besprechen kann.

Er war gestern abend spät angekommen, zusammen mit der Mutter, und heute früh hatte er kurz und klar gesagt, er führe jetzt zu seiner Braut.

„Muttchen läßt dich unbekannterweise herzlich grüßen“, sagte Hartmut. „Sie freut sich darauf, dich kennenzulernen. Und übrigens ist sie dabei, ihre Zukunftspläne etwas umzukrempeln, da ihr Sohn ihr nun den Streich spielt, heiraten zu wollen!“

„Aber doch nicht jetzt!“ meinte ich. „Du mußt doch zuerst deine Ausbildung fertig machen, und das Geschäft übernehmen und dich etwas einarbeiten…“

„Klar muß ich das. Aber nächstes Jahr, Spatz! Dann heiraten wir doch! Und fahren auf Hochzeitsreise nach Südfrankreich!“

„Warum ausgerechnet nach Südfrankreich?“ „Oh, das habe ich mir immer gewünscht. Ich habe so vielen

Menschen das Lôiretal und Lourdes und das Toulouse-Lautrec-

Museum und den französischen Wein empfohlen – ja, in meiner Reisebürozeit – und so viele Karten verkauft und Hotelzimmer bestellt, jetzt möchte ich endlich mal selbst dorthin!“

„Gut, also fahren wir nach Südfrankreich! Hast du übrigens auch Karten nach Prag verkauft?“

„Nach Prag? Die Goldene Stadt? Na klar, das habe ich. Warum fragst du?“

„Weil Prag mein Traum ist. Ach, ich sprach doch mit Bernts Schwester Senta darüber, ich glaube, ich sagte, daß ich nur mit einem Menschen, der mir sehr lieb wäre, dorthinfahren könnte – ich habe so viel über diese Stadt gelesen, ich habe mich einfach in sie verliebt, so sehr, daß ich nicht mit einer mir gleichgültigen Reisegruppe hinfahren könnte – damals sagte ich: ,Mit einem Menschen, mit dem ich mich gut verstünde’ – jetzt sage ich, mit dir! Nur mit dir möchte ich das erleben!“

„Sollst du auch, Spatz! Das Leben ist lang, früher oder später werden wir dorthinfahren! Aber konzentrieren wir uns vorerst auf das Nächstliegende: Ausbildung, Geschäft, Wohnung, Heirat, Südfrankreich – das ist doch ein ausgiebiges Programm vorläufig?“

„Unbedingt!“ Worauf wir uns auf das absolut Nächstliegende konzentrierten!

Am Heiligen Abend mußte Hartmut bei seiner Mutter sein und ich bei meinen Eltern. Aber am ersten Feiertag würden wir uns ganz bestimmt treffen, und weiter jeden Tag, so lange, bis er wieder zurück nach Köln mußte, kurz nach Neujahr.

Ich half Mutti, die Zimmer so weihnachtlich wie möglich zu machen, mit Kerzen und Tannenzweigen. Es war so schön friedlich. Ich war doch froh, daß ich zu Weihnachten nach Hause gefahren war.

Und in mir loderte die Glücksflamme, das Glück, das nur Hartmut und mir gehörte – und ich wußte, daß er auch den ganzen Tag an mich dachte, so wie ich an ihn.

Es war nur ein ganz winziger, ein ganz mikroskopischer Wermutstropfen in meinem Glücksbecher. Als wir gestern von Prag und von Südfrankreich sprachen – wie wäre es schön gewesen, wenn Hartmut gesagt hätte: „Möchtest du lieber nach Prag, Schatz, dann selbstverständlich, dann warten wir noch etwas mit Frankreich!“

Ach, Quatsch! Er hatte ja gesagt, daß wir natürlich, selbstverständlich hinfahren sollten, irgendwann. Nur wollte er zuerst zu seinen Loireschlössern und Lourdes und zum Toulouse-

Lautrec-Museum. War das eine kleine Warnung für mich – sollte ich mich darauf

gefaßt machen, daß er immer zuerst seine eigenen Wünsche erfüllen würde und dann meine?

Unsinn, Allegra, sagte ich mir selbst. Mach doch keinen Elefanten aus einer Mücke!

Ich schüttelte den dummen Gedanken weg, schüttelte die mikroskopische Wermutmenge aus meinem Glücksbecher aus.

Als wir nachmittags am Kaffeetisch saßen, klingelte es an der Tür. Ich sprang hoch. Könnte es sein…

Es war! Es war Hartmut! Eine ganz schnelle Umarmung, einen Kuß – und ein kleines Päckchen wurde mir in die Hand gesteckt.

„Aber Hartmut, Lieber, ich habe doch schon gestern ein Päckchen von dir gekriegt…“

„Dies ist ein Extrageschenk. Weil du es bist! Ich muß los, Spatz, Opa sitzt schon mit der Streichholzschachtel in der Hand und wartet auf mich, damit wir die Baumkerzen anzünden können! Bis morgen, mein Schatz, mein Spatz, mein Spatzeschatz!“

Dann war er weg. Brennende Kerzen, Tannenduft, Weihnachtslieder im Radio.

Bescherung, freudige Danksagungen, Überraschungen – „Nein, wie konntest du wissen, daß ich mir gerade das wünschte“ – „hast du das wirklich selbst gestrickt“ – das letztere bezog sich auf ein Paar Fingerhandschuhe in Norwegermuster, die ich Mutti in Norwegen gestrickt hatte.

Dann machte ich Hartmuts Pakete auf. Zuerst das, was er mir gestern überreicht hatte.

Es war ein kleiner Kassettenrecorder. Wie konnte er nur wissen, daß ich mir so ein Ding so sehr wünschte? Ich freute mich ganz schrecklich darüber.

Dann machte ich mit klopfendem Herzen das andere, ganz kleine Päckchen auf. Es enthielt eine Kassette, in einem beschriebenen Briefbogen eingewickelt. Ich faltete das Papier auseinander und las die feierlichen, schön hingemalten Zeilen:

Gutschein Dieser Schein berechtigt Fräulein Allegra Marianne Walther mit einem Begleiter nach eigener Wahl zu einer Osterreise nach Prag. Die Reise umfaßt Flug hin und

zurück und vier Tage Aufenthalt. Der Schein ist nicht übertragbar. Hartmut Joachim Glinde

„Aber Allikind, weinst du?“ fragte Vati. „Nein – doch, ja – ich freue mich so – ich freue mich so

schrecklich – ich habe ein so wunderbares Geschenk bekommen…“ Ich reichte den Eltern das beschriebene Papier.

Sie lasen und sahen mich fragend an. „Stimmt“, antwortete ich auf die nicht gestellte Frage. „Hartmut ist euer zukünftiger Schwiegersohn!“

Ich konnte es nicht lassen. Ich mußte Hartmut sofort anrufen. Es wurde ein kurzes und leises Gespräch, denn das was ich zu sagen hatte, eignete sich nicht für andere Ohren. Nicht einmal für die eines liebevollen Elternpaares.

Als ich an dem Abend ins Bett gekommen war, legte ich die Kassette in den Recorder und stellte die Lautstärke ganz leise. Ich hatte so eine Ahnung, was auf dem Band war.

Meine Ahnung war richtig. Denn in die stille Nacht hinein tönte Smetanas „Moldau“ aus

dem kleinen Apparat. Ich machte die Augen zu und horchte. Ich hatte nicht gewußt, daß es möglich war, so glücklich zu sein!

Dreieinhalb Monate später Es war unser letzter Tag in Prag.

Wir saßen in „Malostranskâ Kavârna“ – einem der ältesten Kaffeehäuser Prags, am Kleinseiter Ring. Wir hatten die herrliche Barockkirche besichtigt, wir waren auf dem Hradschin gewesen, wir hatten in Kunst und Schönheit geschwelgt. Hand in Hand waren wir über die Karlsbrücke gewandert, wir hatten die alte Synagoge gesehen und den herrlichen Fürstenberggarten. Wir waren vier Tage lang ununterbrochen auf den Beinen gewesen, hatten alles mitgekriegt, wovon ich geträumt hatte, und viel, viel mehr.

Und trotzdem sagte Hartmut jetzt: „Weißt du, Spatz, eigentlich dürfen wir dies nur als eine erste Orientierung betrachten. Für eine Stadt wie Prag braucht man vier Monate und nicht vier Tage!“

„Können wir uns nicht über vier Wochen einigen?“ schlug ich vor.

„Wir werden mal sehen. Jedenfalls müssen wir hier zurück, das ist mir klar. Lieber Himmel, was gibt es hier an Kunst und Schönheit! Und ich bin dir ewig dankbar, daß du diesen Wunsch hattest – nebenbei gesagt, wenn du lieber zum Nordpol gefahren wärest, hätte ich das auch mitgemacht – aber, Gott sei Dank, daß du dich unbekannterweise ausgerechnet in Prag verliebt hattest!“

„Und wie schön, mit dir zu fahren! Was wäre diese Reise ohne dich gewesen?“

„Na, du hättest vielleicht mit deinen Eltern fahren können!“ „Ich danke! Sollte ich all diese Schönheit sehen und immer daran

denken: Und dies wollte der einzige Mensch den ich liebe, nicht mit mir teilen? Du, ich hätte vor lauter Tränen weder Hradschin noch die Synagoge oder die Kleinseite sehen können, oder den Wenzelsplatz oder die Przewalskipferde!“

Ja, für die berühmten Przewalskipferde hatten wir auch eine Stunde spendiert. Sonst hatten wir die Prager Zootiere links liegenlassen. „Gute Zoos haben wir genug in Deutschland“, hatte Hartmut gesagt. „Aber diese Hottehüs sehen wir nur hier!“

Wir tranken unseren Kaffee und guckten auf die Uhr. Nur noch wenige Stunden, dann die letzte Nacht im Hotel, und morgen früh mußten wir zurückfliegen. Hartmut zu seinem Papierwarengeschäft und seiner Berufsschule, ich zu Frau Doktor Oberbach und zu meiner Berufsschule. Eine Woche hatte ich bei Frau Doktor

Oberbach gearbeitet und fühlte mich da wie der Fisch im Wasser. Es war so schön, immer mit Kindern umzugehen – ich mochte das noch viel lieber als die „allgemeine Praxis“ von Bernt. Und Frau Doktor war bis jetzt mit mir zufrieden. „Sie haben wirklich allerlei gelernt bei meinem norwegischen Kollegen“, hatte sie ein paarmal gesagt.

Ja, ich liebte meinen Beruf und war glücklich, daß ich ihn gewählt hatte!

„Was möchtest du nun tun?“ fragte Hartmut. „Wie verbringen wir die letzten teuren Stunden hier?“

„Du wirst lachen“, sagte ich. „Aber weißt du, ich bin jetzt so vollgestopft mit Kunst, mit herrlichen Bauwerken, mit Geschichte und Denkmälern – jetzt möchte ich einen stillen friedlichen Spaziergang am Moldauufer mit dir machen!“-

„Gut, das mache ich mit!“ Der Abend war kühl, es war ja noch Vorfrühling, aber die Luft

war klar und weich, und in den Parkanlagen blühten Krokusse, Veilchen und Osterglocken. Die sinkende Sonne warf ein goldrotes Licht über all die Schönheit.

„Es ist so unfaßbar“, sagte ich leise. „Was ist unfaßbar? Der Sonnenuntergang, oder…“ „Der auch. Aber das Unfaßbare ist, daß es die Moldau ist, die

hier strömt. Daß meine kleine Wenigkeit am Ufer der Moldau steht, daß es Moldauwellen sind, die hier gegen das Ufer glucksen.“

Hartmut schwieg ein Weilchen. Dann sagte er: „Wie hattest du eigentlich recht, Spatz!“

„Hatte ich? Wann und wo?“ „Als du mir den Brief schriebst, worauf ich so häßlich

antwortete. Ich habe ihn später öfters gelesen. Du schriebst: ,Geteilte Freude ist doppelte Freude.’ Und ich Idiot wollte das nicht einsehen!“ Ich drückte seinen Arm.

„Es stimmt aber doch!“ „Und ob es stimmt!“ „Weißt du, jetzt ist es genau ein Jahr her, seit ich der Tatsache

gegenüberstand, daß ich ein Jahr überbrücken mußte. Wenn ich geahnt hätte, was für eine Brücke das werden sollte!“ Hartmut lächelte.

„Das kann man wohl sagen. Vielleicht die wichtigste Brücke deines Lebens!“

„Ja“, nickte ich. „Man könnte sagen: die Karlsbrücke des Glücks!“