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F rüher legten die Hooger ein wei- ßes Bettlaken aufs Dach in kriti- schen Momenten. Dann wussten die anderen Bescheid, und mit Glück schickte jemand Hilfe. Heute ist das Le- ben einfacher; es gibt Telefon, es gibt Handy, im Notfall kommt der Hub- schrauber oder der Seenotrettungs- kreuzer, aber kommod wie auf dem Fest- land ist es deswegen noch lange nicht. Frank Timrott weiß das aus Erfah- rung. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet er als Krankenpfleger auf Hallig Hooge, und man kann sich in etwa vorstellen, was es bedeutet. Wenn der nächste Arzt in 16 Kilometern Entfernung auf dem Festland sitzt, wenn die Fähre nur spora- disch fährt, wenn die Jugend der Hallig den Rücken kehrt und nur die Alten zu- rückbleiben, dann bekommt die Be- zeichnung Krankenpfleger eine ganze andere Bedeutung. „Faktisch ist man Arzt“, sagt er. Frank Timrott ist in Hannover aufge- wachsen, hat ein bisschen Medizin, Phi- losophie, Geschichte studiert. Er ist jetzt 49 Jahre alt, er ist beredt, er spricht in austarierten Sätzen, mit einem Hang zum Sarkasmus. Er nennt seine Arbeit „sehr, sehr interessant“, und wenn man einen Gestaltungswillen habe, könne man den hier ausleben. Er sagt aber auch, dass es schwer sei, sich davon zu distanzieren, „niemand lebt üblicher- weise mit seinen Patienten“. Sein Vor- gänger war 13 Jahre auf Hooge. Weni- ger robuste Naturen wären früher zu- sammengeklappt. „Es ist, als würde ein Motor nonstop im Leerlauf arbeiten.“ Als Frank Timrott im November 2011 auf Hooge anfing, da war er quasi seine eigene Vertretung und es gab in der Pra- xis Medikamente, „das Zeug war älter als ich“. Also räumte er auf. Machte Plä- ne. Hatte Ziele. Heute teilt er sich mit ei- ner Kollegin im 14-Tages-Rhythmus den Dienst, ein Erfolg. Sein Erfolg. Er hat sich viel zugemutet in den ver- gangenen Jahren. Morgens Hausbesu- che, vormittags Sprechstunde, wieder Hausbesuche, nachts Bereitschaft. Tag für Tag, und in der Saison „rockt es dann richtig“. 17 mal kam der Rettungs- hubschrauber im vergangenen Jahr, 30 Einsätze waren es im Jahr zuvor. Und er erzählt, wie es war, als sich eine Urlaube- rin beim Spaziergang beide Fußgelen- ke brach und wie man sie mit Hilfe der Feuerwehr bergen musste, oder wie sich ein anderer beim Rasenmähen ein Fingerteil selbst amputierte. Es ist eine lebhafte Rede, zugleich aber liegt in al- len Geschichten auch ein Abschied. Frank Timrott verlässt die Hallig. Hoo- ge braucht einen neuen Krankenpfle- ger, „einen mit breitem Rücken“ (siehe auch die Stellenausschreibung auf www.hooge.de). Es ist ein fordernder Job. Gleichwohl, sagt Timrott, habe sein Weggang nichts mit der Vergangenheit zu tun. Seit über 30 Jahre arbeitet er im Gesundheitswe- sen, Zeit für neue Pläne. Zusammen mit seiner Frau wird er auf dem Festland ei- ne Galerie eröffnen. „Ich habe keine Ah- nung, wie das alles wird. Nur: Wenn ich es jetzt nicht probiere, dann sitz’ ich hin- terher da und sage, hättest du mal.“ e Mehr über das Hallig-Leben von Autorin Marion Hahnfeldt in ihrem Blog unter www.threemonths.de – und kommende Wo- che an dieser Stelle. Vom Kommen und Gehen Frank Timrott ist seit mehr als drei Jahren Krankenpfleger auf Hooge. Im April verlässt er die Hallig – ein Nachfolger wird noch gesucht. Von Michael Wittler M anga-große Augen wie in den japanischen Comics, eine sehr hohe Stirn für das gewachsene Gehirn – Künstler entwerfen Menschen der Zukunft nicht selten als eine Art Weiterent- wicklung in Richtung Alien: Weit fortentwickelte Weltraumwesen treten in Film und Vorstellung auch gern als feingliedrige Wesen mit übergroßen Köpfen und riesi- gen Augenpartien auf. Sieht so die evolutionäre Zukunft des „Homo sapiens“ aus? Dass die Evolution weitergeht, ist für Forscher keine Frage: „Die biologische Evolution hat nicht mit der Steinzeit aufgehört“, zitiert die Zeitschrift „bild der wissenschaft“ (bdw) den australischen Evolutions- biologen Darren Curnoe in ihrer jüngsten Titelgeschichte. Doch wo- hin, das ist die Frage: „Evolution ist grundsätzlich nicht vorhersagbar“, lautet die Erkenntnis der Münch- ner Anthropologin Gisela Grupe. Was aus der genetischen Grund- ausstattung des Menschen wird, hängt stark von seiner Umwelt ab – steigende Temperaturen etwa durch mehr Sonneneinstrahlung, höhere Belastung durch mehr UV-Strahlung oder veränderte Nahrung (etwa durch immer mehr Antibiotika-Reste) können Men- schen bevorzugen, deren Zellen da- mit „von Natur aus“ besser zurecht- kommen; sie könnten den klimabe- dingten Selektionsdruck besser kompensieren und sich wahr- scheinlich eher fortpflanzen: Ihre Genvarianten würden sich ver- stärkt auf kommende Generatio- nen übertragen und irgendwann durchsetzen. Das ist in der Vergangenheit durchaus geschehen: Als die Stein- zeitmenschen vor Jahrtausenden das Rind domestizierten, hatten je- ne einen Überlebensvorteil, die lak- tose-tolerant waren und Milchpro- dukte auch als Erwachsene vertru- gen. Gerade im lichtärmeren Nor- den, in dem die körpereigene Vita- min-D-Produktion erschwert ist, bo- ten sie neben fettem Fisch eine Vita- min-D-Quelle, die die Knochen län- ger stabil und das Herzkreislaufsys- tem besser intakt hielt. Die Entwicklung des Ackerbaus vor rund 10 000 Jahren hatte sogar deutlich sichtbare Folgen für das Er- scheinungsbild des steinzeitlichen Menschen: Da bis dahin bevorzug- tes Fleisch und Fisch haufenweise Proteine liefern, die ihrerseits die Produktion von Wachstumshormo- nen in der Hirnanhangdrüse stimu- lieren, schrumpfte der bis dahin eher hochgewachsene Mensch, je vegetarischer er sich ernährte und je weiter er sich dank der neuen Bo- denkultivierung von Wäldern, Flüs- sen und Meeresufern entfernen konnte. Das jedenfalls ermittelte ei- ne Berliner Forschergruppe vom In- stitut für Prähistorische Archäolo- gie nach Untersuchung von 30 000 Knochenfunden von Nordeuropa bis Vorderasien. Andererseits ermöglichte der ste- tige und zunehmende Getreidean- bau größere Populationen auf weni- ger Raum: die menschliche Kultur nahm ihren Anfang, wer sesshaft war, dachte, plante und handelte anders, um das Überleben seiner wachsenden Sippe zu sichern. Die so veränderte Nahrung und das ver- änderte Klima durch das Ende der Eiszeit aktivierten andere Gene. „Wir beeinflussen die natürliche Evolution und schaffen uns durch Kultur neuen Selektionsdruck“, so Anthropologin Grupe, da gebe es „Wechselwirkungen“. Die könn- ten sogar „der vorherrschende Me- chanismus in der jüngsten mensch- lichen Evolution sein“, fügt der Evo- lutionsbiologe Kevin Laland hinzu. Das lässt natürlich einen immer größeren Vorhersagespielraum für künftige evolutionäre Entwicklun- gen zu: Das „Anthropozän“, wie es einige Wissenschaftler nennen, das vom Menschen bestimmte Zeit- alter, entwickelt sich derzeit durch immer rasantere technologische Veränderungen immer schneller in ungeahnte Richtungen. Die Minia- turisierung immer leistungsfähige- rer Technik könnte auch die Zu- kunft des Menschen beeinflussen. Denn die „Verschmelzung von Mensch und Maschine“ ist längst kein Thema mehr nur für Sci- ence-fiction á la „Terminator“. „Das Zeitalter des Cyborg hat schon begonnen“, glaubt Stefan Greiner von der Universität Osna- brück. Forscher wie er setzen auf „Sensory Augmentation“, die Er- weiterung der menschlichen Wahr- nehmungsfähigkeit durch techni- sche Implantate. Mit bereits entwickelten und un- ter die Haut eingesetzten RFID-Chips oder Mini-Magneten unter der Fingerkuppe können Pro- banden ihre Computer entsperren oder ihre Türschlösser wie durch Zauberhand entsperren. „Eye- borg“ Neil Harbisson kuriert seine Farbenblindheit, indem ihm eine eingepflanzte Antenne im Schädel Farben in Töne übersetzt, die nur er hören kann. Künstliche Netz- haut könnte Blinden wieder das Se- hen ermöglichen. Weitere Schritte sind angedacht. „Minimal-invasive Interfaces der Zukunft verarbeiten die gedankli- chen Steuersignale und leiten sie an die Muskeln weiter“, prophezeit Christian Elger von der Universität Bonn, nicht mal ein Augenzwin- kern wäre mehr nötig: Irgendwann könnten Menschen Computer per Gedankenkraft bedienen. Die „ulti- mative Mensch-Technik-Schnitt- stelle“ (so „bdw“) könnten „Electro- ceuticals“ (EC) werden – „mikro- chipkontrollierte Elektrodenbün- del im Nanoformat“. Mit ihnen lie- ßen sich Nervenzellen direkt beein- flussen; die Lernfähigkeiten ließe sich bedeutend steigern, Krankhei- ten kurieren. Mit herkömmlicher Evolution hat eine solche Verschmelzung von Mensch und Maschine wenig zu tun. Die „augmented reality“, die erweiterte Wirklichkeit durch immer raffiniertere Technologie, wäre kaum vererbbar. Die Wahr- scheinlichkeit, sie nutzen zu kön- nen, schon eher: Die größte Gefahr sei, „dass wir in Wissende und Un- wissende unterteilt werden“, fürch- tet Elger. Wer die Mittel für die neue Technik hätte, entwickelt und beherrscht sie – und nicht nur sie. Der „Homo maschinensis“ könnte dem alten Homo sapiens sei- ne Vorherrschaft entreißen. In den Achtzigern waren die Fünfzi- ger so lange her wie heute die Acht- ziger: „Back to the Future“ warf da- mals erst einen Blick zurück und dann nach vorn. 2015 war das Jahr, in das Michael J. Fox in dem Film reiste. Den Machern gelangen eini- ge faszinierende Prognosen. Doch rückblickend betrachtet muss man sagen: So sehr Zukunft, wie man es sich 1985 vorstellte, ist 2015 dann doch nicht. Denn Schuhe, die sich selbst zu- schnüren, Jacken, die sich der Grö- ße anpassen und sich automatisch trocken pusten, Roboter, die mit Hunden Gassi gehen oder Rohlinge, die sich innerhalb von fünf Sekun- den im „Hydrator“ zur dampfenden Pizza verwandeln, gibt es bisher ebenso wenig wie fliegende Autos. Manchmal aber gelang der Blick ins Jahr 2015 überraschend gut. Im Film hängen überall Flachbildschir- me an der Wand – das ahnte da- mals nun wirklich niemand. Jeder kommuniziert mit anderen über Vi- deotelefonie à la Skype, und ein Dis- play zeigt vorher an, wer anruft. Ein Apple im Antiquitätenladen? Die ersten Computer der Kalifor- nier sind heute beliebte Sammelstü- cke. „Surf Vietnam“ steht auf einem Plakat, doch zehn Jahre nach Ende des Vietnamkrieges schien ein Strandurlaub im Ex-Feindesland ge- radezu absurd. Heuten fliegen Tau- sende Amerikaner zum Urlaub in das sozialistische Land. Und auch ei- ne von Asiaten geprägte Weltwirt- schaft sahen die Filmemacher schon voraus. Aber manchmal lagen sie doch mei- lenweit daneben. Der Tankwart wur- de durch Roboter ersetzt? Nein, der Tankwart wurde durch den Kunden ersetzt, der sich nun selbst bedient. Mobiltelefone, Smartphones? Fehl- anzeige, Marty und Doc kommuni- zieren per Walkie-Talkie. Und das In- ternet? Keine Spur von der viel- leicht größten technischen Innovati- on der letzten 30 Jahre. Im Film be- kommt Marty die Nachricht von sei- ner Kündigung per Fax. Per Fax! Das Hoverboard ist zwar auch noch nicht erfunden – am Hoverbi- ke, einer Kreuzung aus Helikopter und Motorrad, wird aber schon em- sig getüftelt, es ist als Prototyp auf YouTube bereits zu sehen. Modisch lagen die Filmemacher eher daneben. Nicht nur, dass die ul- tramoderne Automatikkleidung nicht in den Läden hängt. Die Män- ner tragen auch nicht zwei Schlipse nebeneinander und die Jugendli- chen nicht die Hosentaschen nach außen. Aber wenn man sich Mode- trends so anguckt: So schlecht aus- gedacht ist das gar nicht. Neues Lebensretter auf dem Absprung: Frank Timrott (49). Foto: Marion Hahnfeldt Die Film-Vorschau von 1985: Als unsere Gegenwart noch Zukunft war Die Evolutions-Maschine Die Entwicklung des Menschen hat nicht aufgehört, als der Homo sapiens den Neandertaler verdrängte. Veränderte Umweltbedingungen und rasanter Fortschritt der Wissenschaft weisen den Weg in eine technisch erweiterte Wirklichkeit. Wohin geht es, Mensch? Vom äffischen Vorfahren entwickel- te er sich zum Gestalter des „Anthropozän“ – und bald zum Hightech-Menschen? von Hallig Hooge REPORTAGE 56 15./16. März 2015 Sonntag/Montag, < >

Sonntag/Montag, REPORTAGE 15./16. März 2015 DieEvolutions ...hooge.threemonths.de/wp-content/uploads/2013/10/hoogearzt.pdf · nicht selten als eine Art Weiterent-wicklung in Richtung

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Page 1: Sonntag/Montag, REPORTAGE 15./16. März 2015 DieEvolutions ...hooge.threemonths.de/wp-content/uploads/2013/10/hoogearzt.pdf · nicht selten als eine Art Weiterent-wicklung in Richtung

Früher legten die Hooger ein wei-ßes Bettlaken aufs Dach in kriti-schen Momenten. Dann wussten

die anderen Bescheid, und mit Glückschickte jemand Hilfe. Heute ist das Le-ben einfacher; es gibt Telefon, es gibtHandy, im Notfall kommt der Hub-schrauber oder der Seenotrettungs-kreuzer,aber kommod wie auf dem Fest-land ist es deswegen noch lange nicht.

Frank Timrott weiß das aus Erfah-rung. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet erals Krankenpfleger auf Hallig Hooge,und man kann sich in etwa vorstellen,was es bedeutet. Wenn der nächste Arztin 16 Kilometern Entfernung auf demFestland sitzt, wenn die Fähre nurspora-disch fährt, wenn die Jugend der Halligden Rücken kehrt und nur die Alten zu-rückbleiben, dann bekommt die Be-zeichnung Krankenpfleger eine ganzeandere Bedeutung. „Faktisch ist manArzt“, sagt er.

Frank Timrott ist in Hannover aufge-wachsen, hat ein bisschen Medizin, Phi-losophie, Geschichte studiert. Er ist jetzt49 Jahre alt, er ist beredt, er spricht inaustarierten Sätzen, mit einem Hangzum Sarkasmus. Er nennt seine Arbeit„sehr, sehr interessant“, und wenn man

einen Gestaltungswillen habe, könneman den hier ausleben. Er sagt aberauch, dass es schwer sei, sich davon zudistanzieren, „niemand lebt üblicher-weise mit seinen Patienten“. Sein Vor-gänger war 13 Jahre auf Hooge. Weni-ger robuste Naturen wären früher zu-

sammengeklappt. „Es ist, als würde einMotor nonstop im Leerlauf arbeiten.“

Als Frank Timrott im November 2011auf Hooge anfing, da war er quasi seineeigene Vertretung und es gab inder Pra-xis Medikamente, „das Zeug war älterals ich“. Also räumte er auf. Machte Plä-ne. Hatte Ziele. Heute teilt er sich mit ei-ner Kollegin im 14-Tages-Rhythmusden Dienst, ein Erfolg. Sein Erfolg.

Er hat sich viel zugemutet in den ver-gangenen Jahren. Morgens Hausbesu-che, vormittags Sprechstunde, wiederHausbesuche, nachts Bereitschaft. Tagfür Tag, und in der Saison „rockt esdann richtig“. 17 mal kam der Rettungs-hubschrauber im vergangenen Jahr, 30Einsätze waren es im Jahr zuvor. Und ererzählt,wie es war, als sicheine Urlaube-rin beim Spaziergang beide Fußgelen-ke brach und wie man sie mit Hilfe derFeuerwehr bergen musste, oder wiesich ein anderer beim Rasenmähen ein

Fingerteil selbst amputierte. Es ist einelebhafte Rede, zugleich aber liegt in al-len Geschichten auch ein Abschied.Frank Timrott verlässt die Hallig. Hoo-ge braucht einen neuen Krankenpfle-ger, „einen mit breitem Rücken“ (sieheauch die Stellenausschreibung aufwww.hooge.de).

Es ist ein fordernder Job. Gleichwohl,sagt Timrott, habe sein Weggang nichtsmit der Vergangenheit zu tun. Seit über30 Jahre arbeitet er im Gesundheitswe-sen, Zeit für neue Pläne. Zusammen mitseiner Frau wird er auf dem Festland ei-neGalerie eröffnen. „Ich habe keineAh-nung, wie das alles wird. Nur: Wenn iches jetzt nicht probiere, dann sitz’ ich hin-terher da und sage, hättest du mal.“

e Mehr über das Hallig-Leben von AutorinMarion Hahnfeldt in ihrem Blog unterwww.threemonths.de – und kommende Wo-che an dieser Stelle.

Vom Kommen und GehenFrank Timrott ist seit mehr als drei Jahren Krankenpfleger auf Hooge. Im April verlässt er die Hallig – ein Nachfolger wird noch gesucht.

Von Michael Wittler

Manga-große Augen wie inden japanischen Comics,eine sehr hohe Stirn für

das gewachsene Gehirn – Künstlerentwerfen Menschen der Zukunftnicht selten als eine Art Weiterent-wicklung in Richtung Alien: Weitfortentwickelte Weltraumwesentreten in Film und Vorstellungauch gern als feingliedrige Wesenmit übergroßen Köpfen und riesi-gen Augenpartien auf. Sieht so dieevolutionäre Zukunft des „Homosapiens“ aus?

Dass die Evolution weitergeht,ist für Forscher keine Frage: „Diebiologische Evolution hat nicht mitder Steinzeit aufgehört“, zitiert dieZeitschrift „bild der wissenschaft“(bdw) denaustralischen Evolutions-biologen Darren Curnoe in ihrerjüngsten Titelgeschichte. Doch wo-hin, das ist die Frage: „Evolution istgrundsätzlich nicht vorhersagbar“,lautet die Erkenntnis der Münch-ner Anthropologin Gisela Grupe.

Was aus der genetischen Grund-ausstattung des Menschen wird,hängt stark von seiner Umwelt ab –steigende Temperaturen etwadurch mehr Sonneneinstrahlung,höhere Belastung durch mehrUV-Strahlung oder veränderteNahrung (etwa durch immer mehrAntibiotika-Reste) können Men-schen bevorzugen, derenZellen da-mit „von Naturaus“ besser zurecht-kommen; sie könnten den klimabe-dingten Selektionsdruck besserkompensieren und sich wahr-scheinlich eher fortpflanzen: IhreGenvarianten würden sich ver-stärkt auf kommende Generatio-nen übertragen und irgendwanndurchsetzen.

Das ist in der Vergangenheitdurchaus geschehen: Als die Stein-zeitmenschen vor Jahrtausendendas Rind domestizierten, hatten je-ne einen Überlebensvorteil, die lak-tose-tolerant waren und Milchpro-dukte auch als Erwachsene vertru-

gen. Gerade im lichtärmeren Nor-den, in dem die körpereigene Vita-min-D-Produktionerschwert ist,bo-tensienebenfettem Fischeine Vita-min-D-Quelle, diedie Knochen län-ger stabil und das Herzkreislaufsys-tem besser intakt hielt.

Die Entwicklung des Ackerbausvor rund 10 000 Jahren hatte sogardeutlich sichtbareFolgen für das Er-scheinungsbild des steinzeitlichenMenschen: Da bis dahin bevorzug-tes Fleisch und Fisch haufenweiseProteine liefern, die ihrerseits dieProduktion von Wachstumshormo-nen in der Hirnanhangdrüse stimu-lieren, schrumpfte der bis dahineher hochgewachsene Mensch, jevegetarischer er sich ernährte und

je weiter er sich dank der neuen Bo-denkultivierungvon Wäldern,Flüs-sen und Meeresufern entfernenkonnte. Das jedenfalls ermittelte ei-neBerliner Forschergruppe vom In-stitut für Prähistorische Archäolo-gie nach Untersuchung von 30 000Knochenfunden von Nordeuropabis Vorderasien.

Andererseits ermöglichte der ste-tige und zunehmende Getreidean-baugrößere Populationen auf weni-ger Raum: die menschliche Kulturnahm ihren Anfang, wer sesshaftwar, dachte, plante und handelteanders, um das Überleben seinerwachsenden Sippe zu sichern. Diesoveränderte Nahrung und das ver-änderte Klima durch das Ende der

Eiszeit aktivierten andere Gene.„Wir beeinflussen die natürliche

Evolution und schaffen uns durchKultur neuen Selektionsdruck“, soAnthropologin Grupe, da gebe es„Wechselwirkungen“. Die könn-ten sogar „der vorherrschende Me-chanismus in der jüngsten mensch-lichenEvolutionsein“, fügt derEvo-lutionsbiologe Kevin Laland hinzu.

Das lässt natürlich einen immergrößeren Vorhersagespielraum fürkünftige evolutionäre Entwicklun-gen zu: Das „Anthropozän“, wie eseinige Wissenschaftler nennen,das vom Menschen bestimmte Zeit-alter, entwickelt sich derzeit durchimmer rasantere technologischeVeränderungen immer schneller in

ungeahnte Richtungen. Die Minia-turisierung immer leistungsfähige-rer Technik könnte auch die Zu-kunft des Menschen beeinflussen.

Denn die „Verschmelzung vonMensch und Maschine“ ist längstkein Thema mehr nur für Sci-ence-fiction á la „Terminator“.„Das Zeitalter des Cyborg hatschon begonnen“, glaubt StefanGreiner von der Universität Osna-brück. Forscher wie er setzen auf„Sensory Augmentation“, die Er-weiterung der menschlichen Wahr-nehmungsfähigkeit durch techni-sche Implantate.

Mit bereits entwickelten und un-ter die Haut eingesetztenRFID-Chips oder Mini-Magneten

unterder Fingerkuppe können Pro-banden ihre Computer entsperrenoder ihre Türschlösser wie durchZauberhand entsperren. „Eye-borg“ Neil Harbisson kuriert seineFarbenblindheit, indem ihm eineeingepflanzte Antenne im SchädelFarben in Töne übersetzt, die nurer hören kann. Künstliche Netz-haut könnte Blinden wieder das Se-hen ermöglichen.

Weitere Schritte sind angedacht.„Minimal-invasive Interfaces derZukunft verarbeiten die gedankli-chen Steuersignale und leiten siean die Muskeln weiter“, prophezeitChristian Elger von der UniversitätBonn, nicht mal ein Augenzwin-kern wäre mehr nötig: Irgendwannkönnten Menschen Computer perGedankenkraftbedienen. Die „ulti-mative Mensch-Technik-Schnitt-stelle“ (so„bdw“) könnten„Electro-ceuticals“ (EC) werden – „mikro-chipkontrollierte Elektrodenbün-del im Nanoformat“. Mit ihnen lie-ßensich Nervenzellen direkt beein-flussen; die Lernfähigkeiten ließesich bedeutend steigern, Krankhei-ten kurieren.

Mit herkömmlicher Evolutionhat eine solche Verschmelzungvon Mensch und Maschine wenigzu tun. Die „augmented reality“,die erweiterte Wirklichkeit durchimmer raffiniertere Technologie,wäre kaum vererbbar. Die Wahr-scheinlichkeit, sie nutzen zu kön-nen, schon eher: Die größte Gefahrsei, „dass wir in Wissende und Un-wissende unterteilt werden“, fürch-tet Elger. Wer die Mittel für dieneue Technik hätte, entwickeltund beherrscht sie – und nicht nursie. Der „Homo maschinensis“könntedem altenHomosapiens sei-ne Vorherrschaft entreißen.

In den Achtzigern waren die Fünfzi-ger so lange her wie heute die Acht-ziger: „Back to the Future“ warf da-mals erst einen Blick zurück unddann nach vorn. 2015 war das Jahr,in das Michael J. Fox in dem Filmreiste. Den Machern gelangen eini-ge faszinierende Prognosen. Dochrückblickend betrachtet muss mansagen: So sehr Zukunft, wie man essich 1985 vorstellte, ist 2015 danndoch nicht.

Denn Schuhe, die sich selbst zu-schnüren, Jacken, die sich der Grö-ße anpassen und sich automatischtrocken pusten, Roboter, die mitHunden Gassi gehen oder Rohlinge,die sich innerhalb von fünf Sekun-den im „Hydrator“ zur dampfendenPizza verwandeln, gibt es bisherebenso wenig wie fliegende Autos.

Manchmal aber gelang der Blickins Jahr 2015 überraschend gut. ImFilm hängen überall Flachbildschir-me an der Wand – das ahnte da-mals nun wirklich niemand. Jederkommuniziert mit anderen über Vi-deotelefonie à la Skype, und ein Dis-play zeigt vorher an, wer anruft.

Ein Apple im Antiquitätenladen?Die ersten Computer der Kalifor-nier sind heute beliebte Sammelstü-cke. „Surf Vietnam“ steht auf einemPlakat, doch zehn Jahre nach Endedes Vietnamkrieges schien einStrandurlaub im Ex-Feindesland ge-radezu absurd. Heuten fliegen Tau-sende Amerikaner zum Urlaub indas sozialistische Land. Und auch ei-ne von Asiaten geprägte Weltwirt-schaft sahen die Filmemacherschon voraus.

Aber manchmal lagen sie doch mei-lenweit daneben. Der Tankwart wur-de durch Roboter ersetzt? Nein, derTankwart wurde durch den Kundenersetzt, der sich nun selbst bedient.Mobiltelefone, Smartphones? Fehl-anzeige, Marty und Doc kommuni-zieren per Walkie-Talkie. Und das In-ternet? Keine Spur von der viel-leicht größten technischen Innovati-on der letzten 30 Jahre. Im Film be-kommt Marty die Nachricht von sei-ner Kündigung per Fax. Per Fax!

Das Hoverboard ist zwar auchnoch nicht erfunden – am Hoverbi-

ke, einer Kreuzung aus Helikopterund Motorrad, wird aber schon em-sig getüftelt, es ist als Prototyp aufYouTube bereits zu sehen.

Modisch lagen die Filmemachereher daneben. Nicht nur, dass die ul-tramoderne Automatikkleidungnicht in den Läden hängt. Die Män-ner tragen auch nicht zwei Schlipsenebeneinander und die Jugendli-chen nicht die Hosentaschen nachaußen. Aber wenn man sich Mode-trends so anguckt: So schlecht aus-gedacht ist das gar nicht.

NeuesLebensretter auf dem Absprung: FrankTimrott (49). Foto: Marion Hahnfeldt

Die Film-Vorschau von 1985: Als unsere Gegenwart noch Zukunft war

Die Evolutions-MaschineDie Entwicklung des Menschen hat nicht aufgehört, als der Homo sapiens den

Neandertaler verdrängte. Veränderte Umweltbedingungen und rasanter Fortschrittder Wissenschaft weisen den Weg in eine technisch erweiterte Wirklichkeit.

Wohin geht es, Mensch? Vomäffischen Vorfahren entwickel-

te er sich zum Gestalter des„Anthropozän“ – und baldzum Hightech-Menschen?

von Hallig Hooge

REPORTAGE56 15./16. März 2015Sonntag/Montag,

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