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Thesenpapier von Jürgen P. Rinderspacher anlässlich der Veranstaltung der Allianz für den freien Sonntag Oberösterreich am 1. Dezember 2011
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Jürgen P. Rinderspacher
Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES)
der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster/
Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP), Berlin
Sonntagsruhe?
Teilhabechancen an gemeinsamer Zeit im Wandel
Vortrag auf der Veranstaltung der Allianz für den freien Sonntag Oberösterreich:
Gemeinsam frei: Dafür muss Zeit sein!
am 1. Dezember 2011 - Linz, Linzer Schloss
Thesenpapier
1. Angesichts der strukturellen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft hin zu mehr Fle-
xibilität und Erhöhung der Leistungsbereitschaft der Menschen in der Erwerbsarbeit wie im
Privatleben ist der freie Sonntag bzw. das freie Wochenende als Gegenpol und zeitliches Biotop
unverzichtbarer denn je. Die im Alten Testament formulierte Idee der Unterbrechung der
Normalität des Alltagsgeschehens durch eine regelmäßige, kollektive Wochenzäsur koinzidiert
mit den Erfordernissen der (post-)modernen Welt in kongenialer Weise.
2. Das freie Wochenende erscheint nach einer Phase seiner wiederholten totalen Infragestel-
lung als kollektive Wochenzäsur bis Ende der 1990er Jahre inzwischen als relativ gefestigt. Da-
rin darf man auch einen Erfolg der Protagonistinnen und Protagonisten der Sonntagsruhe bzw.
eines freien Wochenendes, das heißt von Kirchen, Gewerkschaften sowie der Allianzen für den
Erhalt des freien Sonntags sehen.
3. Das bedeutet indes nicht, dass Hinderungsgründe, an der Kultur des freien Wochenendes
teilzuhaben, nicht weiter anwachsen würden. Doch anders als bislang allgemein vermutet,
scheint die weitere Zunahme von Erwerbsarbeit aber auch von Privatarbeiten am Samstag und
Sonntag diese Stabilisierung nicht notwendig zu gefährden, das heißt nicht einherzugehen mit
einem generellen Akzeptanz- oder Wertverlust der Zeitinstitution als solcher in den Augen der
Bevölkerung.
4. Ungeachtet dessen muss unvermindert darauf hin gearbeitet werden, die Verhinderungs-
gründe für die Teilhabe an der Kultur des freien Wochenendes auf ein legitimierbares Mini-
mum zu beschränken. Die Lasten gerechtfertigter Arbeiten am Wochenende im Erwerbs- wie
aber auch im Privatbereich sind möglichst gerecht auf alle Teile der Bevölkerung zu verteilen.
5. Der Druck auf die Zunahme von Wochenendarbeit wird in Zukunft möglicherweise weniger
von Industrie und Handel ausgehen, als von allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen,
darunter dem demographischen Wandel: Dieser dürfte zu einem Zuwachs an notwendiger
Arbeit am Wochenende führen, der sich zum einen im kommerziellen Pflegesektor nieder-
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schlägt, zum anderen im Zuwachs privater Sorgetätigkeit. Letztere schränkt die Möglichkeiten
pflegender Angehöriger, das Wochenende nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten, stark
ein. Diese und andere Problematiken, die aus dem demographischen Wandel erwachsen, wä-
ren künftig stärker zu berücksichtigen.
6. Wenn wir uns am Freitag von unseren Kolleginnen und Kollegen im Büro verabschieden,
sagen wir in der Regel „schönes Wochenende“, nicht „schönen Sonntag“. Die Bedeutung des
freien Samstags für die regelmäßige Wochenzäsur wird im öffentlichen Diskurs um die kollekti-
ve Wochenzäsur nicht angemessen berücksichtigt. Der Samstag war in der vergangenen Deka-
de wesentlich stärker von Strukturwandel bzw. Erosion betroffen als der Sonntag.
7. Der freie Samstag ist eines der Ergebnisse gewachsenen Zeitwohlstandes, den die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet haben,
ebenso wie die Produktivitätsfortschritte der technischen Anlagen und eine hocheffiziente Or-
ganisation der Unternehmen das Ihre dazu beigetragen haben. Der daraus entstandene, erst
einmal nur potentielle Zeitwohlstand, ist von den Gewerkschaften über Jahrzehnte sukzessive,
aber sehr zielgerichtet in den Aufbau der neuen Zeitinstitution des freien Samstag gelenkt
worden. So stand an dessen Wiege, anders als beim Sonntag, kein Gründungsmythos und keine
metaphysische Sinn-Konstruktion, sondern die schlichte Tatsache, dass der Gesellschaft relativ
viel, durch den technisch-sozialen Wandel erwirtschaftete Zeit zur Verfügung stand, die nun
sozial sinnvoll an die Menschen zu verteilen war.
8. Sonntag und Samstag bilden seit mindestens einem halben Jahrhundert eine soziokulturelle
Einheit. Zugleich weisen sie ganz eigenständige Profile auf. Die Menschen brauchen beides. Die
vorfindliche Heterogenität des Wochenendes verkörpert Diversität und entspricht somit in
idealer Weise dem, was eine freiheitliche, plurale Zivilgesellschaft ausmacht. Bildlich gespro-
chen gehören beide, der Samstag wie der Sonntag, in der Gesellschaft der Zweiten Moderne
zusammen wie Dom und Hauptbahnhof in der Kölner Innenstadt oder, wie in Bayern gern ge-
sagt wird, wie Laptop und Lederhose.
9. Die Trennung von Samstag und Sonntag als strategische Option erscheint daher in einer
diversifizierten Gesellschaft inhaltlich nicht sinnvoll und auf mittlere Sicht auch nicht haltbar.
Eine Traditionserweiterung im Kampf um den Erhalt der regelmäßigen Wochenzäsur könnte
daher eine Option sein, die von den Protagonistinnen und Protagonisten des freien Sonntags
neu bedacht werden sollte.
10. Wahrscheinlich wird „Herausgehobenheit“ heute gar nicht mehr so sehr dargestellt durch
die Abwesenheit von Arbeit, als vielmehr durch die Anwesenheit von Zeit – das heißt von ge-
meinsamer Zeit, genauer: von institutionalisierter gemeinsamer Zeit, wie sie uns im freien Wo-
chenende begegnet. Denn in einer Gesellschaft, die ganz auf Zeitökonomie getrimmt ist, ist
Zeit das wertvollste, das man (sich) schenken kann und damit auch die wertvollste Sache, die
man unterbrechen kann. Darin scheint übersetzt auf die Verhältnisse unserer Epoche das auf,
was im Dekalog gemeint sein könnte, wenn davon die Rede ist, dass Gott ruhte: Es gibt noch
etwas anderes als immer noch mehr aus der uns zur Verfügung stehenden Lebenszeit heraus-
zuholen. „Herausgehobenheit“ stellt sich für uns heute dar als die Chance der temporären Be-
freiung von den Zeitängsten unseres Lebens, sprich von den Zeitzwängen des „ganz normalen
Wahnsinns“.