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1 Spion wider Willen Eine Spurensuche von Tanya Lieske Wie wird einer, der von den Nationalsozialisten ins Ausland geflohen ist, zum Mitarbeiter der Gestapo? Die Autorin Tanya Lieske ging dieser Frage nach und erzählt die Geschichte des Saaremigranten Gustav Regitz, der 1938 in die Fänge der Gestapo geriet und vor die Entscheidung gestellt wurde, zu kollaborieren oder im KZ Dachau zu sterben. Aus Zeitzeugenberichten und Archivmaterialien hat Lieske den Fall ihres Großonkels Regitz alias Spion "Albert" rekonstruiert. Der Werkstattbericht wird ergänzt durch gelesene Passagen aus ihrem Ihr Buch "Spion wider Willen" - ein literarisches und historisches Dokument über Schuld, Verdrängung und darüber, wie in Familien aus Geschichte Geschichten werden. Sprecher Spion wider Willen. Wie ein dokumentarischer Roman entstand. Ein Feature von: Tanya Lieske Musik: Accordéon Paris Musette CD 1 Track 016 Flambée Montalbanaise (1'30) Autorin Paris, das Künstlerviertel Montparnasse, 1939. Der Krieg hat begonnen. In einem kleinen Hotel in einer kleinen Straße leben deutsche Emigranten. Sie sind vor dem neuen Regime in Deutschland geflohen. Sie haben ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt mitgenommen, ihre privaten Träume, und sie wollen überleben. Unter ihnen ein junges Ehepaar Gustav und Margarete Regitz aus dem Saarländischen Neunkirchen. Gustav steht im Dienst der Gestapo. Er hat die Aufgabe, jene Emigranten zu beobachten, seine Weggefährten. O-Ton 1, Margarete Tape 5 Track 006 0'58 Rue de l'Ouest: es war eine Straße mit vielen kleinen Läden. Es war immer Markt in der Straße. Der Gemüseladen hatte eine Verkäuferin, die

Spion wider Willen Eine Spurensuche von Tanya Lieske · 5 Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25 Autorin: Gustav Adolf Regitz wurde im September 1913 geboren. Er stammte aus

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Spion wider Willen Eine Spurensuche von Tanya Lieske Wie wird einer, der von den Nationalsozialisten ins Ausland geflohen ist, zum Mitarbeiter der Gestapo? Die Autorin Tanya Lieske ging dieser Frage nach und erzählt die Geschichte des Saaremigranten Gustav Regitz, der 1938 in die Fänge der Gestapo geriet und vor die Entscheidung gestellt wurde, zu kollaborieren oder im KZ Dachau zu sterben. Aus Zeitzeugenberichten und Archivmaterialien hat Lieske den Fall ihres Großonkels Regitz alias Spion "Albert" rekonstruiert. Der Werkstattbericht wird ergänzt durch gelesene Passagen aus ihrem Ihr Buch "Spion wider Willen" - ein literarisches und historisches Dokument über Schuld, Verdrängung und darüber, wie in Familien aus Geschichte Geschichten werden.

Sprecher Spion wider Willen. Wie ein dokumentarischer Roman entstand. Ein Feature von: Tanya Lieske Musik: Accordéon Paris Musette CD 1 Track 016 Flambée Montalbanaise (1'30) Autorin Paris, das Künstlerviertel Montparnasse, 1939. Der Krieg hat begonnen. In

einem kleinen Hotel in einer kleinen Straße leben deutsche Emigranten.

Sie sind vor dem neuen Regime in Deutschland geflohen. Sie haben ihre

Hoffnungen auf eine bessere Welt mitgenommen, ihre privaten Träume,

und sie wollen überleben. Unter ihnen ein junges Ehepaar Gustav und

Margarete Regitz aus dem Saarländischen Neunkirchen. Gustav steht im

Dienst der Gestapo. Er hat die Aufgabe, jene Emigranten zu beobachten,

seine Weggefährten.

O-Ton 1, Margarete Tape 5 Track 006 0'58

Rue de l'Ouest: es war eine Straße mit vielen kleinen Läden. Es war

immer Markt in der Straße. Der Gemüseladen hatte eine Verkäuferin, die

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hat so laut geschrieen, dass wir das oben im Zimmer gehört haben.

Quatre Francs Cinquante! Die Bäckerei existiert noch.

Autorin

Die folgenden Aufnahmen waren nie fürs Radio bestimmt. Sie sollten mir

eine Gedächtnisstütze sein, falls ich irgendwann einmal Margaretes und

Gustavs Geschichte aufschreiben würde. Auf meinen Bändern hört man:

Sprecherin: Margarete Regitz

Sprecher: Straßenlärm

Sprecherin: Kaffeetassen

Sprecher: Zigaretten

Sprecherin: Gelächter

Sprecherin: Saarländisch

Musik: Flambée kurz aufnehmen 0'30

O-Ton 2, Tape 2 Track 015 0'27

Ich habe Pullover für die französische Armee geschickt. Einen offiziell,

zwei nebenbei, die wurden bezahlt. Zweieinhalb Tage habe ich an einem

Pullover gestrickt. Damit habe ich den Winter überlebt, mehr schlecht als

recht. Es waren Minus zehn Grad. Im Hotel war es kalt. Vor vier Jahre

stand es noch. Sie haben renoviert. Mauern rausgebrochen und Leitungen

gelegt ... das war ganz primitiv ein Bett und ein Schrank und ein

Waschbecken und sonst gar nichts.

Autorin:

Margarete Regitz ist meine Großtante. Sie ist heute 94 Jahre alt. Als sie

mir ihr Leben erzählt hat, war sie knapp 90. Gustav Regitz, ihr Mann war

da schon lange verstorben. Ihre gemeinsame Geschichte ist die einer

großen Liebe, eines Exils, einer Gefangenschaft. Ob sie auch die

Geschichte eines Verrats ist, das war nie klar. Halb erzählte, halb

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verschwiegene Geschichten bekommen ein Eigenleben. Sie machen, was

sie wollen. Sie schaffen ein Geheimnis. Je weniger geredet wird, desto

größer wird das Geheimnis.

Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25

Autorin

Margaretes Geschichte war eine gute Geschichte, das wusste ich. Viele

Jahre lange habe ich meine Großtante gebeten, sie mir zu erzählen.

Irgendwann hat sie nachgegeben. Mein Entschluss, sie zu veröffentlichen,

war nicht einfach. Vieles spricht dafür, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Andererseits war mir immer klar, dass es hier sehr viel zu erfahren, sehr

viel zu begreifen gab. Für mich auf jeden Fall. Für meine Leser hoffentlich.

Sprecher:

Spion wider Willen. Für Margret geschrieben, den Frauen des Exils

zugedacht.

Sprecherin, S. 14 – 15

Sie saß auf ihrem Platz am Kopfende des Tisches und betrachtete das

Mikrofon, das sich auf der weißen Tischdecke duckte wie ein kleines Tier,

mit Argwohn. Es war ihr angestammter Platz. Immer hat Margarete am

Kopfende dieses Tisches gesessen. Die anderen Plätze sind meist leer. Es

ist, als säße sie, Margarete, in einem Zugabteil, die Fahrt dauert länger als

beabsichtigt, und einer nach dem anderen sind ihre Mitreisenden

ausgestiegen. Die letzten Sätze hängen noch im Raum und auch der

Geruch ihrer Zigaretten, denn Margarete, konsequente Raucherin bis fast

zuletzt, hätte ein Raucherabteil gebucht, und auch nun streift sie die

Asche ab an dem kleinen runden Aschenbecher, der immer neben ihr

steht, ohne den sie nie dort sitzt, am Kopfende des Tisches. Wozu die

alten Geschichten, denkt Margarete, aber sie spricht es nicht aus, nur die

Haltung ihrer Schultern drückt ihren Widerstand aus, sie legt ihren

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Greisenkopf etwas schräg und fokussiert ihr Gegenüber, der graue Star

macht ihr zu schaffen und auch die fließenden Übergänge der Erinnerung,

sitzt dort nun ihre Schwester Louise, deren Tochter oder Enkelin, sie weiß

es nicht zuverlässig, und so spricht sie zu allen Dreien.

Autorin

Der Tisch, von dem die Rede ist, steht im Elternhaus des Gustav Regitz in

einem Vorort von Neunkirchen/Saar. Vor dem Fenster führt eine

Hauptverkehrsstraße vorbei, an deren Lärm man sich so gewöhnt, dass

man ihn nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Ich habe viele Stunden meiner

Kindheit und meines Erwachsenenlebens an diesem Tisch verbracht. Als

Gustav Regitz noch lebte, lieferten wir uns hier erbitterte Wortgefechte.

Worüber wir gesprochen haben? Gott, die Welt, Politik meistens. Worüber

wir nicht gesprochen haben: Seine Vergangenheit als Informant im Dienst

der Gestapo.

Sprecherin, ebda:

Am entscheidenden Punkt wurden die Stimmen derer, die früher um den

Tisch versammelt waren, zu laut. Oder das Gespräch brach unvermittelt

ab. Immer war es Margarete, die die Situation rettete, wer will noch ein

Stück Käse, rief sie; ich habe Mousse au chocolat gemacht. Sie kochte

französisch und es wurde stundenlang in den Abend hinein getafelt an

ihrem Tisch. Man hatte die französische Lebensart aus Frankreich

mitgebracht. Die Kunst der Küche als pièce de résistance gegen die Enge

der Adenauerjahre, so zelebrierten sich die heimgekehrten Emigranten.

Sie verwarfen ein Leben, das sie anderswo geführt hatten, in Paris oder in

Montauban. Das französische Abenteuer starb und lebte immer aufs Neue

an Margaretes Tisch. Ihre eigene Geschichte aber wollte Margarete sicher

verwahren. Eine Hülle bestehend aus fest gefügten, alten Sätzen wollte

sie zurücklassen. Alles, was lebendig war und noch ungesagt, sollte mit ihr

reisen, nur mit ihr.

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Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25

Autorin:

Gustav Adolf Regitz wurde im September 1913 geboren. Er stammte aus

einer Bergarbeiterfamilie, besuchte, und das war nicht selbstverständlich,

das Gymnasium. Er war ein guter Schüler, klug, wortgewandt. Sein

rhetorisches Talent würde ihm nützen oder schaden, je nachdem, von

welcher Seite aus man seine besondere Geschichte betrachtet.

Sprecher S. 61:

Seine endlosen Debatten verdienen die Metapher des Wortgefechts. Er

umkreiste seinen Gegner mit kleinen Tänzelschritten. Er übte einige

Ausfälle und Paraden, taxierte und nahm Maß, bis er die

Gesprächsführung des Gegenübers erkannt hatte, dazu brauchte er im

Regelfall einige Minuten. Die hinter der Bewegung liegende Idee, ein Wort,

welches für ihn neben dem Begriff der Ideologie beheimatet und als

solches abzulehnen war, hatte er schon früher erfasst. Er wusste längst,

wie er den Gegner mit einem finalen Stich ins Herz seiner Idee zur Strecke

bringen würde. Allerdings erst, wenn er seine Überlegenheit zur Genüge

ausgekostet hatte; wenn er sich ausgetobt hatte, wenn er müde geworden

war oder wenn es Zeit war, das Dessert einzunehmen.

Mit Menschen, die er respektierte, diskutierte er nicht. Mit ihnen spielte er

Schach.

Autorin:

Über Gustav Regitz zu schreiben schien mir kaum möglich, weil er eine

Autorität war. Über seine Frau Margret zu schreiben ging auch nicht, denn

ich mag sie zu gerne. Über ihre gemeinsame Vergangenheit zu schreiben,

ging schon gar nicht, denn hier wartete ein Tabu. Ich wollte es trotzdem

tun und suchte nach einer Lösung, und die führt direkt ins Herz der

Literatur. Ich würde nicht über Gustav Regitz schreiben, sondern über

eine fiktive Person gleichen Namens und gleicher Biografie, die beim

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Schreiben neu erstand, die mir von sich verraten konnte, was sie

wünschte. Auch für Margret fand ich einen Ausweg. Ich veränderte ihren

Namen um einen einzigen Vokal, aus Margret wurde Margarete. Schon

war ein wenig Abstand geschaffen, und es ging.

Musik Arvo Pärt, Fratres, ab Anfang

Autorin:

Margaretes und Gustavs Geschichte beginnt in den frühen Dreißiger

Jahren des letzten Jahrhunderts Das Saargebiet steht unter der

Verwaltung des Völkerbunds. Im Januar 1935 sollte darüber abgestimmt

werden, ob es künftig zum Deutschen Reich gehören würde, zu

Frankreich, oder ob der Status Quo erhalten bliebe. Für den Status Quo,

für die Fortsetzung der Völkerbundsverwaltung, gehen die Gegner Hitlers

auf die Straße, sie gehören zum Zentrum, zur Katholischen Kirche, sind

Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, Parteilose. Mit dabei:

Margarete und ihr späterer Mann Gustav. Er ist knapp zwanzig Jahre alt,

und schon ein gefragter Redner auf politischen Versammlungen:

Sprecherin:

Volksstimme Nummer 197, Donnerstag, 30. August 1934

Sprecher (Schlagzeilen)

Antifaschistische Front! Internationaler Jugendtag! Gegen

Jugendversklavung der 3. Reiches, für eine glückliche freie Zukunft!

Gegen den Krieg! Für den Frieden! Gegen Hitler! Für den Sieg des Status

Quo! Heraus zu den antifaschistischen Jugendkundgebungen!

Es sprechen in diesen Kundgebungen:

Erich Honecker, Ernst Braun, Gustav Regitz, Ernst Kunkel, Artur Mannbar,

Fritz Nikolay.

O-Ton 3 Margarete Tape 2 Track 012 0'27

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Man hat ja nur diese Zeitung lesen müssen, die im Badischen

rausgekommen ist, "Der Stürmer", etwas Ekelhafteres konnte man sich

gar nicht vorstellen. Der Judenhass war von Anfang an ein ganz großes

Thema der Nazis. Jeder hat gewusst, die Juden haben ausgespielt, schon

1932.

Autorin

1932 ist Margarete 17 Jahre alt. Der zwei Jahre ältere Gustav Regitz ist

seit zwei Jahren ihr Geliebter. Sie würden fast sechs Jahrzehnte bis zu

seinem Tod in den Achtziger Jahren miteinander leben. Beide stammen

aus Arbeiterfamilien, die an der Saar sehr politisch sind, sehr engagiert im

Kampf gegen Hitler. Margarete hilft seit ihrer Kindheit viel im Haushalt, sie

ist die Jüngste von sieben Geschwistern.

Sprecherin, S. 13:

Der Vater und zwei der fünf Brüder übten das Handwerk des

Zimmermanns aus. Von ihren Einkünften lebte die neunköpfige Familie.

Die Mutter führte ihren Haushalt mit eiserner Hand; sie war eine strenge,

korpulente Frau. Ihre beiden Töchter mussten früh zupacken. Mit Sieben

putzte Margarete das Löffelblech, mit Neun die Fenster, mit Fünfzehn

wusch sie die Wäsche. Männerhemden, Arbeitshemden, Sonntagshemden,

Unterwäsche und Strümpfe waren von Hand zu waschen. Persil weißte

und riss die Finger auf. Wenn sie morgens aufstand, war es immer dunkel.

Die Frauen machten Feuer, bürsteten neun paar Schuhe, kochten Kaffee.

Im Sommer wurde um sechs Uhr gefrühstückt, im Winter um sieben. Für

das Mittagessen wurden drei Kilo Kartoffeln geschält. Kaffee gab es um

vier, Abendbrot um sechs. Auf jede Mahlzeit folgten Berge von Geschirr.

Nachmittags, zwischen Hausarbeiten und Schulaufgaben, übernahm

Margarete die Buchführung für die Schreinerei des Vaters. Sie verstand

sich auch auf die doppelte Buchführung.

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O-Ton 4, Kassette 1, Track 006 0'51

In der Obersekunda hat es mir dann gereicht, da bin ich mit Gustav

ausgebüchst. ... aber das ist schief gegangen ... dann haben wir uns eine

Fahrkarte geholt und sind nach Frankreich gefahren. Immer nachts, wir

haben in der Scheune geschlafen und über Gott und die Welt geredet ...

und dann sind wir natürlich alle beide von der Schule geflogen, Gustav

war drei Monate vorm Abitur und ich zwei Jahre später, das kannst Du Dir

vorstellen!

Sprecherin, S. 18

Margaretes Flucht nach Frankreich würde übergehen in das

Erzählrepertoire der nächsten und der übernächsten Generation. Es war

ein Vorkommnis, welches in den Familien ihrer Geschwister

vagabundierte; jeder, der es erzählte, fand seine eigene Fassung. Sie

seien bis Paris gekommen, sie seien mehrfach von zuhause ausgebrochen,

sie hätten die Geschäftskasse mitgehen lassen. Der Mythos Frankreich

nahm hier seinen Ursprung - es war ein Land gemeinschaftlicher

Sehnsüchte geworden. Das Land der Freiheit und der Lebenskunst; auch,

in einer vorläufigen Form, bereits das Land des Widerstands gegen

Konventionen und Autoritäten.

Musik: Arvo Pärt, Fratres, 1'50 – 2'20

Sprecher S. 17

Der Fall ist aktenkundig geworden. Neben den Einträgen in Schulakten

und Zeugnisse würde sich später, zu gegebenem Zeitpunkt, auch die

Gestapo für jenen frühen Grenzübertritt des Gustav Regitz nach

Frankreich interessieren. Regitz, den man wegen seiner politischen

Aktivitäten verhörte, stand vor der pikanten Situation, sich zu exkulpieren

für ein Ereignis, welches in der Tat privater Natur gewesen war. Regitz

verlegte sich auf den nächsten Ausweg. Er versuchte, seinem Gegenüber

zu imponieren mit seinen frühen amourösen Eskapaden, er setzte sein

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Sie-wissen-schon-ich-bin-eben-ein-ganzer-Kerl-Gesicht auf und hatte den

gewünschten Erfolg. Die Angelegenheit wurde als Jugendsünde verbucht.

Musik Pärt 4'45 – 5'10

Autorin:

Am 13. Januar 1935 stimmen die Saarbürger mit überwältigender

Mehrheit für den Anschluss ans Hitlerdeutschland. Die Gegner des

Regimes sahen einen Ausweg: Das Exil. Ein Exodus setzte ein über die

Grenze ins benachbarte Lothringische Städtchen Forbach. In der

Forschungsliteratur schwanken die Angaben darüber, wie viele Menschen

tatsächlich gegangen sind, es waren wenigstens 3000, vielleicht sogar

8000. Inzwischen bin ich mit einigen betroffenen Familien in Kontakt

gekommen, die mir übereinstimmend berichten, dass die Auswirkungen

dieses Exils in der zweiten und dritten Generation noch spürbar sind.

Besonders schwierig war es für die Frauen, die durch ihre Arbeit ans Haus

gefesselt waren, die durch fehlende Sprachkenntnisse von der Umwelt

abgeschnitten waren. Am Beispiel meiner Großeltern Hans und Louise

Burgard, die nach Südfrankreich, nach Montauban gegangen sind, habe

ich versucht, ein solches Leben mitzuerzählen.

Zu den ersten Emigranten gehörte auch Margarete, sie hatte sich ihrer

Schwester und ihrem Schwager angeschlossen. Sie war nun von Gustav

Regitz getrennt, denn den hatte es in den französischen Wallfahrtsort

Lourdes verschlagen.

O-Ton 5, Tape 2, Track 004 0'24

Und ich bin dann von Montauban aus nach Lourdes gekommen und dort

habe ich als Verkäuferin gearbeitet in einem Andenkenladen. Der Gustav

hat das Heilige Wasser hinterm Haus an einer Pumpe geholt.

Sprecherin, S. 44 f

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Lourdes lag im Winter wie ausgestorben, die Gaststätten und Läden

hatten geschlossen, die Stadt wartete auf die Pilger des Frühjahrs. Sie

wohnten in einem Zimmer in der Nähe der Grotte. Es war kalt. Einmal

versuchte Gustav, die Heizung anzustellen, er drückte den falschen

Schalter und das Licht in der Grotte ging an. Eine unverhofft beleuchtete

Mutter Gottes lächelte sie bleich an, warf ein gespenstisches Licht auf die

Allee, in der die Blätter trieben. Der Wind, der von den Pyrenäen

hinabfegte, drängte durch jede Ritze der Zimmerwand.

Den wenigen Besuchern, die des Winters kamen, verkaufte Margarete,

Medaillons, Rosenkränze und Kruzifixe. Die Veteranen des Großen Kriegs,

Krüppel in Rollstühlen und auf Krücken, hängten sie über ihre

ordensgeschmückten Uniformjacken, dann rollten und humpelten sie auf

die Grotte zu. Kamen sie zurück, händigte ihnen Gustav

phosphoreszierende Blechgefäße aus. Er hatte sie hinter dem Haus an der

Pumpe gefüllt und Margarete mit geradem Gesicht erklärt, es sei Wasser

aus Lourdes, also heiliges Wasser. Sie machten Läusekuren und litten

Hunger. Margarete goss sich Petroleum über die dicken, schwarzen Haare;

Gustav ließ sich eine Glatze schneiden. Was tun wir hier eigentlich, fragte

sie eines Abends, sie stand am Fenster und drehte sich nicht um. Warten,

antwortete Gustav. Warten worauf, fragte sie. Wir warten, bis der irre

Arier aus Berlin sich ausgebrüllt hat.

Im Frühjahr 1936 wurde Margarete schwanger. Sie verließ Lourdes und

kehrte nach Wellesweiler zurück. Die erste Etappe ihres Exils, ihr zweiter

Aufenthalt in Frankreich war beendet.

Musik Pärt, 5'10 – 5'40

Autorin

Meinem Buch Spion wider Willen liegt eine aufwändige Recherche

zugrunde. Neben den Interviews mit Margarete Regitz habe ich

Unterlagen in Archiven gesucht und gefunden, im Bundesarchiv in Berlin

und im Landesarchiv in Saarbrücken, Verhöre, Protokolle, Aussagen. Ich

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hätte daraus einen wissenschaftlichen, historischen Beitrag zur

Saarabstimmung schreiben können oder auch – einen Roman. Ich habe

mich für einen Mittelweg entschieden. Ich wollte auf den Realitätsbezug

nicht verzichten, denn die besten Geschichten schreibt bekanntlich das

Leben. Die Atmosphäre der Zeit sollte deutlich werden, und die

Persönlichkeit meiner Hauptfiguren. Ich habe mir Szenen vorgestellt,

Dialoge nachempfunden, um eine Stimmung, auch eine Emotion zu

transportieren. Dahinter steht meine Überzeugung, dass die historische

Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus geleistet ist. Was noch zu

erzählen bleibt, sind die persönlichen Geschichten, in denen die

Verhältnisse und Verhängnisse der Zeit deutlich werden. Margaretes und

Gustavs Geschichte ist eine solche Geschichte. Sie macht deutlich, dass

wir Menschen in einem Atemzug schwach und mutig sein können, dass wir

fehlbar sind.

Es gibt für das Genre, ich dem ich mich Spion wider Willen bewege, schon

einige Begriffe. Man nennt es einen dokumentarischen Roman, Docufiction

oder, aus Amerika kommend etwas lässig: Faction, also die Verbindung

von Fakt und Fiktion. Ich würde meine Aufgabe am ehesten mit der einer

Übersetzerin vergleichen: ich bin so genau wie möglich und so frei wie

nötig vorgegangen.

Musik, Pärt, 1'19 – 1'45

Sprecher S. 47 ff

Anfang 1937 nahmen das Heimweh und die Sehnsucht nach Margarete

überhand. Seine carte d'identité berechtigte ihn nicht zur Ausreise. Gustav

Regitz war dreist genug, sich auf der Deutschen Botschaft einzufinden,

doch diese verweigerte ihm einen Reichsdeutschen Pass. Regitz ließ sich

nicht beirren, er dachte nach. Dann setzte er sich in ein gutes

französisches Restaurant, der Kellner im Livrée beäugte ihn misstrauisch.

Er bestellte sich eine Consommé, ein Stück Paté aux Truffes, ein Filet

Mignon mit winzigen Röstkartoffeln, ein Soufflée, Käse, Crème Caramel

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und Kaffee, wischte sich mit der gestärkten Serviette sorgfältig den Mund,

hob die Hand, winkte dem Kellner und sagte: "Garçon, arretez-moi, je n'ai

plus d'argent." In weniger als zwölf Stunden brachte ihn die französische

Polizei zur saarländischen Grenze. Er wurde in die Heimat abgeschoben.

(...)

Bis zur Grenze ging die Rechnung des Gustav Regitz auf – er hatte den

schnellsten und billigsten Weg zurück ins Saargebiet gesucht und

gefunden. Was die neue politische Wirklichkeit im Saargau betraf, hatte er

sich grob verschätzt. An der Grenze wurde seine Identität ermittelt, die

NSDAP im heimischen Wellesweiler befragt, die Staatspolizeistelle in

Saarbrücken traf ein. Man sperrte ihn ins Saarbrücker Gefängnis

Lerchesflur. Die Gestapo verhörte ihn am 12.3.1937 zum Sinn und Zweck

seiner Frankreichreisen. Sie stellte Landesverrat fest. Bevor Gustav Regitz

ins KZ Dachau gebracht wurde, gelang es Margarete noch einmal, ihn zu

sehen.

Autorin

Dachau war das erste Konzentrationslager auf deutschem Boden, und

keines bestand länger. Es war der erste rechtsfreie Raum, SS-

Lagerkommandanten hatten hier die alleinige Gerichtsbarkeit. Sie wurden

in diesen Lagern ausgebildet für den Dienst in den Vernichtungslagern. Sie

konnten mit den Gefangenen verfahren, wie es ihnen beliebte. Gustavs

Aufenthalt in Dachau ist eine Leerstelle in der Geschichte seines Lebens,

denn er hat darüber nicht gesprochen. Bekannt ist wenig. Gesichert die

Tatsache, dass er in Dachau fast gestorben wäre.

Sprecher, S. 49 f

Was geschehen war, erfuhr Margarete nach dem Krieg über einen

ehemaligen Mithäftling, der sie ein einziges Mal besuchte. Regitz hatte,

vielleicht durch eine aufsässige Bemerkung, den Zorn der Lageraufseher

auf sich gezogen. Sie schlugen ihn und zertrümmerten seine Brille, ohne

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die er hilflos war. Sie warfen ihn, es war Winter, in einen Graben mit

eisigem Wasser. Regitz verlor das Bewusstsein. Danach schleppte ihn ein

Kapo, dem er sein Leben verdankte, in eine Krankenbaracke. Dort lag

Regitz acht Tage. Als er aufwachte, war seine Jugend vorbei.

O-Ton 6 Tape 1 Track 009 0'51

Eines Tages wird Gustav abgestellt nach Berlin, mit dem Gefängnis wagen

von Stadt zu Stadt ... und von dort ist er zur Gestapo-Hauptstelle

gekommen, und da haben sie ihn dort vor die Alternative gestellt,

entweder er geht in ihrem Auftrag nach Frankreich, dort sollte er diese

Emigranten-Klicke beobachten. Die Alternative war Rückkehr ins KZ mit

der Aussicht, dort nie wieder raus zu kommen. Wie hättest du dich da als

25Jähriger verhalten?

Autorin:

Die Frage der Fragen. Wer ist bereit, sein Leben zu geben für das, woran

er glaubt? Um diese Frage kam ich nicht herum, von ihrer Beantwortung

hing ab, in wie weit ich nicht nur als Erzählerin, sondern auch als

urteilende Instanz gegenüber Regitz auftreten konnte. Ich habe darauf

verzichtet, diese Frage direkt an den Leser weiterzureichen, bin davon

ausgegangen, dass ein jeder sie sich selbst stelle, dass ein jeder seine

Antwort finden möge. Allerdings hat mich diese Frage doch verwandelt,

sie hat im Geheimen mitgewirkt. Beim Schreiben seiner Geschichte habe

ich eine größere Sympathie für Gustav Regitz empfunden, als jemals zu

seinen Lebzeiten.

Musik, Pärt, 1'19 – 1'45

Sprecher:

Wie könnte es sich abgespielt haben?

Regitz wurde in einen fensterlosen Raum geführt. Der Wärter hatte

ihm die Handschellen abgenommen, ihn durch eine schwere Tür

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gestoßen, diese schnell hinter ihm verschlossen. Es war sehr still.

Regitz versuchte, zu fokussieren, doch ohne Brille verschwammen die

Konturen des Raums. Er schrak zusammen, als er in seinem Rücken

ein Räuspern hörte. Ein Tisch, eine Lampe, eine Schreibmaschine.

Halb hockend auf der Tischkante ein schmächtiger, dunkel gekleideter

Mann; seine Brille war fast so dick wie die, die Regitz gebraucht

hätte.

"Regitz", sagte Kriminalsektretär Kling. "Ich habe einen guten

Eindruck von Ihnen gewonnen." Regitz schwieg. Kling erhob sich.

Hinter ihm kam eine Schreibkraft zum Vorschein, sie saß da, neigte

den Kopf und lauschte. Die schwarze Schreibtischlampe warf einen

engen Lichtkegel auf die Triumph Adler, darüber flatterten ihre

Hände.

"Ich möchte Ihnen helfen, Regitz", sagte Kling. "In wenigen

begründeten Ausnahmefällen machen wir unseren Gefangenen ein

Angebot." Er legte eine Pause ein. "Vertrauenswürdigen Gefangenen",

sagte er und lächelte verbindlich. Er zog, ohne sich umzudrehen, ein

Blatt Papier von einem Stapel, der neben der Schreibmaschine lag.

Regitz erkannte sein letztes Schulzeugnis. "Französisch eins, Englisch

zwei", las Kling. "Sie sind ein heller Kopf, Regitz. Und Sie haben

Verbindungen ins Ausland. Leute wie Sie können wir gut

brauchen.""Was wollen Sie von mir", fragte Regitz.

"Nun", sagte Kling. "Bevor ich Ihnen mein Angebot unterbreite, muss

ich mich versichern, dass Sie mit Ihren früheren sozialistischen und

marxistischen Anschauungen unwiderruflich gebrochen haben. Wir

sind keine Unmenschen. In anbetracht ihres Alters sind wir bereit,

über einige Jugendsünden hinwegzusehen." Er zog eine Augenbraue

hoch. "Sollten Sie allerdings noch nicht eingesehen haben, dass Sie

sich auf dem Irrweg befanden, sehe ich mich genötigt, Sie wieder

dem Gefängniswagen zu überstellen, der", er ließ eine Taschenuhr

aufschnappen, "in genau zwei Stunden und 38 Minuten nach Dachau

zurückfährt."

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"Nein", sagte Regitz. "Ich meine, Ja. Ich habe mit meinen früheren

Anschauungen unwiderruflich gebrochen." Die Hände der Sekretärin

stießen auf die Triumph Adler hinab.

Musik, Pärt, Fratres 1'50 – 2'20

Autorin:

Wie hat man sich ein Verhör im Hauptquartier der Gestapo in Berlin im

Jahr 1938 vorzustellen? Wer führte diese Verhöre? Sind die Gefangenen

gefoltert worden? Die Szene ist eine Schlüsselszene, und ich wollte so

genau wie möglich vorgehen. Hilfe wurde mir zuteil, als ich im

Bundesarchiv in Berlin die Handakte des Kriminalsekretärs Kling einsehen

konnte, der das Verhör des Gustav Regitz unterzeichnet hat, vielleicht

auch abgenommen hat. Ich bekam den Eindruck, dass hier kein

Folterknecht, sondern ein preußischer Bürokrat am Werke war.

Sprecher, S. 51 f

Die Verhöre wurden protokolliert, diese mit der internen Signatur II A 2

versehen. Sie sind abgezeichnet mit dem Kürzel des Kriminalsekretärs

Kling, der einige sorgfältig geführte Handakten hinterlassen hat, die sich

heute in der Verwahrung des Bundesarchivs in Berlin befinden. Darunter

auch folgende Dienstanweisung, eine Anleitung zum gelungenen

dienstlichen Verhör.

Sprecherin (ebda):

Vernehmung des Beschuldigten

Die Kunst des Kriminalisten ist es, mit dem Betreffenden in Kontakt zu

kommen, sein Vertrauen zu gewinnen. Daher niemals sofort nach den

Tatumständen fragen, sondern ihn von seiner Jugend erzählen lassen,

freundliche Fragen stellen und allmählich auf das Ziel hinsteuern. Man

kann dem Beschuldigten auch Wünsche, die nicht ungesetzlich und

erfüllbar, gestatten. (...).

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Zur leichteren Orientierung anlegen:

1) Hauptakte, die alle Hauptspuren enthält

2) Nebenakte, die alle Nebenspuren,

Verdachtsrichtungen enthält, darunter

2a) erledigte Verdachtsrichtungen

2b)unerledigte Verdachtsrichtungen. /

Musik: Pärt, 1'19 – 1'45

Autorin

Vor die Alternative gestellt, ins KZ Dachau zurückzukehren oder für die

Gestapo zu spionieren, entscheidet sich Regitz für Letzteres. Sein Name

wird mit dem Kürzel S. 19 in eine Liste eingetragen, auch sein Sold am

unteren Rand vermerkt, der war nicht sehr hoch. Die Spitzel der Gestapo

hießen in der internen Sprache "Vertrauensmann" und wurden nach

Methoden geführt, die schon sehr an das erinnern, was später die Stasi

verrichten würde. Auf dem Weg der Recherche haben sich mir

verblüffende Kontinuitäten zwischen den beiden Geheimdiensten

offenbart. Unter anderem war es schon bei der Gestapo üblich, Menschen,

die man zum Spitzeldienst erpressen wollte, damit zu drohen, dass ihre

Angehörigen Schaden nehmen würden. Im Falle des Gustav Regitz stand

das Wohl seiner Mutter, seiner Geschwister und das seiner zukünftigen

Frau auf dem Spiel.

Sprecher, S. 56 f

Die von der Gestapo geführte Handakte S. 19 lagert im Zwischenarchiv

Dahlwitz-Hoppegarten. Das ehemalige Archiv der Stasi dient heute als

Außenstelle ("Abteilung Reich") des Berliner Bundesarchivs. Dahlwitz-

Hoppegarten, einst Schaltzentrale einer Geheimpolizei, verbirgt sich hinter

einem hohen Zaun. Das Pförtnerhaus steht leer, nur noch wenige

Mitarbeiter kreuzen die Flure, deren Linoleum trotzig auf Hochglanz poliert

Page 17: Spion wider Willen Eine Spurensuche von Tanya Lieske · 5 Musik: Arvo Pärt Fratres, 1'19 – 1'45 0'25 Autorin: Gustav Adolf Regitz wurde im September 1913 geboren. Er stammte aus

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ist. Es riecht so, wie es in Deutschland nach der Wende gerochen hat,

nach Aktenstaub und Desinfektionsmitteln. Es riecht nach einer

untergehenden Bürokratie.

Zwei Diktaturen sind in Deutschland vergangen, seit diese Akte angelegt

wurde. Die Zeichen, das Gekritzel, die Anmerkungen und Häkchen

kommen von verschiedenen Machthabern, sind die Codes verschiedener

Systeme. Jenes elegant geschwungene "S19" mag Kriminalsekretär Kling

auf den Aktendeckel gemalt haben. Das Papier, auf dem die Verhöre

protokolliert wurden, ist vergilbt, die Maschinenschrift gut leserlich, es

finden sich kaum Tippfehler: Die Gestapo arbeitete mit den besten

Schreibkräften des Landes. In den roten und blauen Strichen und

Zeichnen dieser einen Akte begegnen sich zwei Systeme, es sind die

Hieroglyphen ihrer versunken Macht (...) Selbstreferentialität ist von jeher

ein integrierter Bestandteil geschlossener Zeichensysteme.

Musik, Pärt Fratres 4'40 – 5'20

Autorin:

Regitz wird auf seine ehemaligen Weggefährten angesetzt, zunächst in

Forbach und Saarbrücken, dann in Paris. Bevor er im Sommer 1939 seine

Tätigkeit im Hotel Printania in der Rue de l'Ouest antritt, stellt er der

Gestapo eine ungewöhnliche Bedingung: er würde nur nach Paris fahren,

wenn seine junge Verlobte ihn begleiten würde. Das wollte die Gestapo

überprüfen.

Sprecherin S. 64

Der Fall war den Berliner Bürokraten eine Reise wert. Ein hochrangiger

Beamter stellte sich in Neunkirchen ein. Man traf sich in einer Konditorei

in Neunkirchen. Der Beamte nahm Margarete den Mantel ab. Er schob ihr

den Stuhl hin, nannte sie wertes Fräulein und legte dem jungen Paar

nahe, sein Verhältnis zu legalisieren, sich im Namen des Führers das

Jawort zu geben. Er sagte, Gustav müsse den Einsatzbefehl abwarten,

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vorerst werde er noch im Saarland gebraucht und einer Kontaktperson der

Staatspolizei Saarbrücken überstellt. Die gesamte Unterredung dauerte

kaum eine Stunde. Margarete war beeindruckt.

O-Ton 7 Tape 3 Track 009 0'30

Er hat sie informiert über die Lage in Frankreich. Das, was heute ein

Journalist macht. Der Mann, dem er das weiter gegeben hat, hat nicht

mehr an den Endsieg geglaubt. Er hat mit Gustav darüber geredet und

gesagt, dass er Verbindungen nach Amerika hat.

Autorin

Der Name des Kontaktmanns der Gestapo war Margarete entfallen. Lange,

eigentlich bis kurz vor der Veröffentlichung, ist er als der Große

Unbekannte durch mein Buch gegeistert, einer, der den Mummenschanz

selbst nicht glaubte, der sich nach Südamerika absetzen wollte. Dann

stieß ich durch Zufall auf den Namen des Kriminalrats BrUNO Sattler,

Leiter des Referats Sozialdemokratie und Gewerkschaften bei der Berliner

Kriminalpolizei. Kein kleiner Helfershelfer war dieser BrUNO Sattler,

sondern eine rechte Hand Heinrich Himmlers, ein Mann, der furchtbare

Kriegsverbrechen zu verantworten hatte. Was immer Regitz 1939 und

1940 in Paris getrieben haben mochte – mit Belanglosigkeiten war einer

wie Sattler nicht zufrieden zu stellen. Sollte Regitz sich vorgenommen

haben, die Gestapo an der Nase herumzuführen, dann musste er auf der

Hut sein.

Musik: Pärt 4'40 – 5'20

Autorin:

Im Hotel in der Rue de l'Ouest waren Emigranten angekommen. Die

wirklich prominenten, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller

verkehrten im Hotel Lutetia, für sie wäre das kleine Hotel im

Montparnasse zu schäbig gewesen. Dort lebten vor allem Kommunisten,

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ein alter Haudegen namens Karl Firl, KP-Funktionär und Redakteur der

Roten Fahne samt seiner Frau. Lore Wolf war auch dort, eine Kommunistin

aus Frankfurt, die im Auftrag der Roten Hilfe Flüchtlingen und Emigranten

half. Sie war auch Sekretärin der Schriftstellerin Anna Seghers, die sich

gelegentlich im Hotel Printania blicken ließ. Die Emigranten halfen

einander, wo sie konnten. Margarete unterrichte Lore Wolfs Tochter im

Dreisatz, diese revanchierte sich mit einfachen Mahlzeiten. Man war arm,

aber zum Jahresanfang 1939 noch voller Hoffnung, dass es gelingen

könnte, Hitler das Handwerk zu legen.

Musik: Musette Flambée

Sprecher S. 82

In den letzten Monaten vor dem zweiten Weltkrieg vibrierte das Rive

Gauche. Die années folles neigten sich dem Ende zu. Die Menschen waren

aufgescheucht wie Vögel, die das nahende Erdbeben spüren. Die Frauen

schminkten sich stärker und lachten lauter. Aus den Cafés drangen

Chansons und Jazzmusik auf die Straße, ungewohnte, elektrisierende

Klänge für Gustav und Margarete. Sie waren glücklich. Sie hatten nur

dieses Leben und würden es auskosten bis zur Neige. In Regitz war die

Leidenschaft des Spielers erwacht. Trotz seiner dürftigen Bedingungen,

trotz des knurrenden Magens. Er war jünger als die übrigen Emigranten.

Er war klug, sogar gerissen; er fühlte sich keinem politischen Programm

verpflichtet sondern nur Margarete; die Gestapo war weit weg, sein

politischer Status war ungeklärt; er war in gewisser Hinsicht vogelfrei. Im

Sommer 1939 mischte sich Regitz erst als Flaneur, dann als Spieler ins

Geschehen. Paris glich einem Marktplatz.

Autorin:

In jener Zeit war Gustav Regitz mit der Phiosophie des Existentalismus in

Kontakt gekommen. In seinem Besitz befand sich eine Erstausgabe von

Jean Paul Sartres Buch: der Ekel. Die Figur des Einzelgängers, der alle

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Ideologien leugnet und selbst für sein Schicksal sorgen muss, wurde zu

seinem inneren Leitbild. Er hat Sarte sehr verehrt, und seine Gedanken

waren eine Stütze, weit über die Kriegsjahre hinaus. Er hat über sich

selbst wenig gesprochen, doch fand sich eine aufschlussreiche

Niederschrift in seinem Nachlass, von Einsamkeit ist darin die Rede, von

Ideologien, auch von Verrat. Die Autorenschaft dieses Manuskripts ist

nicht klar, und es wurde nie veröffentlicht.

Sprecher:

Es kann sein, dass jeder Verräter sein Verlangen nach Verfemung in sich

trägt, und dass die Auswahl, die er unter den Möglichkeiten des Verrats

trifft, von dem Ausmaß an Einsamkeit abhängt, zu dem er hin will.

Autorin:

Als der Krieg beginnt, ändert sich die Lage der deutschen Emigranten. Die

Männer werden interniert, die Frauen bleiben im Hotel zurück. Der

folgende Winter ist sehr kalt, sie kämpfen ums nackte Überleben. Man

strickt Pullover, hilft sich, so gut es geht. Immer öfter gibt es Razzien der

Polizei.

O-Ton 8, Tape 2, Track 018 0'38

Es gab verschiedene Razzien im Hotel. Die Franzosen waren auch nicht so

kommunistenfreundlich. Lore Wolf war bekannt, die hatte einen Mann in

der Schweiz und Verbindungen gehabt. Sie haben ihr Material bei mir im

Zimmer versteckt. Wäre das aufgeflogen, ich wäre da gestanden wie ein

dummer Esel.

Ich hätte nicht gewusst, was das ist, es hat mich auch nicht interessiert.

Sie haben es bei mir versteckt.

Musik: Pärt, Fratres, Trio 2'30 – 3'15

Autorin:

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Mit Margarete über ihr Leben zu sprechen, war für mich eine große

Bereicherung. Sie ist durch schwierige Zeiten gegangen, macht darum

nicht viel aufhebens. Sie sei sehr jung gewesen, sagt sie, vielleicht naiv,

sie habe einfach nicht nachgedacht, sie habe sich ihren Lebensmut nicht

nehmen lassen. In dem Gespräch mit ihr erfuhr ich auch, was mir noch

keiner so deutlich gesagt hatte – meine Großeltern führten ab 1935 ein

offenes Haus in Südfrankreich. Jüdische Flüchtlinge auf dem Weg ans

Mittelmeer konnten dort unterkommen, auch Interbrigaden auf dem Weg

nach Spanien und zurück. Warum darüber nicht gesprochen wurde? Ich

kann nur mutmaßen. Ein Exil hat immer auch mit Heimatverlust zu tun,

mit einer Niederlage, mit Schande. In der Heimat waren die Emigranten

Verräter, im Ausland verhasste Deutsche.

Sprecher, S. 39

Louise und Johann Burgard zogen weiter mit ihrem Sohn in ein Haus mit

großem Garten außerhalb der nördlichen Stadtgrenze von Montauban. Das

Haus liegt im Tal des Tarn, welches sich zu den Pyrenäen hin öffnet.

Johann Burgard, der charmante Friseur, fasste in diesem Tal schnell Fuß:

Oui Madame und Voilà Madame sagte er in akzentschwerem Französisch,

wenn er den Damen das Haar ondulierte, ihnen mit einer formvollendeten

Verbeugung die scharrende Küchentür öffnete – sie müssen ihn gemocht

haben, den Boche. Das Haus, in dem er wohnte, war von Efeu und Wein

bewachsen; es war groß genug, um später jüdische Flüchtlinge zu

beherbergen, die Rast machten auf dem Weg nach Marseille oder

Casablanca. Es kamen auch Spanienkämpfer, solche auf der Hinreise nach

Spanien, und solche, denen es gelungen war, den Rückweg anzutreten.

Seine Frau Louise Burgard tat das, was sie am besten konnte, sie kochte,

wusch, ordnete. Das Haus, in dem sie nun lebte, war von der Sonne

beschienen, ganzjährig und ganztägig, einer Sonne, die zu stark war für

Louise Burgard; sie hatte Heimweh und Tuberkulose, und ahnte bereits,

dass das eine oder das andere sie hinwegraffen würde.

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Autorin:

Als die Männer interniert wurden, lebten Margarete, Louise und drei

Kinder allein in dem Haus in dem Haus in Montauban. Die Mütter nähen

Schlafsäcke für das französische Militär, werden ums Haar ebenfalls

interniert. Sie schlagen sich durch. Aus jener Zeit hat eine weitere

Anekdote überlebt, den Weg zurück an Margaretes Tisch gefunden. Sie ist

komisch, ein wenig traurig, auch poetisch, genau wie die Zeit.

O-Ton 9, Tape 3, Track 018 0'26

In Montauban wollten wir mal ein Huhn schlachten und keiner hat's fertig

gebracht. Ich habe natürlich groß den Mund aufgemacht, aber als ich das

Huhn und das Beilchen hatte, konnte ich es nicht. Der Nachbar hat es uns

geschlachtet. (überblenden)

Sprecherin, S. 106

Die beiden Frauen brachten es nicht übers Herz, dem Tier, dem

Leckerbissen, der aufgeregt gackerte und in seiner Todesangst mit den

Flügeln schlug, den Kopf abzuhauen. Sie wussten nicht, wie man das

Huhn bei den Beinen packte, es schleudert, damit es still wird, den Kopf

auf den Block legt und mit den Fingern die zarte Stelle unterhalb des

winzigen Schädels sucht, an der die Axt treffen muss: Selbst Margarete,

die Sentimentalitäten nicht zugeneigt ist, war dieser Aufgabe nicht

gewachsen. Sie baten eine Nachbarin um Hilfe, und die tat es mürrisch,

wortlos.

Musik, Trio, 2'30 – 3'15

O-Ton 10, Tape 3, Track 015 0'25

Was hätte sie machen sollen in einem besetzten Land? Da war der Hass

groß auf die Deutschen. Die Nachbarn fangen an und verkaufen keine Eier

mehr, obwohl sie vorher lange da gelebt haben.

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Autorin:

Als die Deutschen Frankreich besetzen, später auch nach Süden

vorrücken, ändert sich die politische Landkarte erneut, auch die Situation

für die Emigranten. Hans und Louise Burgard werden das Haus in

Montauban verlassen, zurückkehren an die Saar. Gustav Regitz wird aus

dem Internierungslager entlassen. Nicht alle Emigranten hatten so viel

Glück – waren sie Kommunisten oder gar Juden, so brachte man sie unter

dem dienstfertigen Regime des Maréchal Pétain weiter in die

Konzentrations- und Vernichtungslager. Regitz versucht zu fliehen, wird

aber von einer Einheit der Feldjäger aufgegriffen, muss erneut in Dienst

der Gestapo in Paris treten. Dies hat nun eine neue Qualität, denn sein

Verbindungsmann BrUNO Sattler ist vor Ort. Regitz findet sich wieder in

dem alten Hotel ein. Margarete schlägt sich mit ihrem neugeborenen Kind

durch nach Norden:

Sprecherin, S. 124:

Der erstbeste Zug fuhr nach Bordeaux. Sie hatte keinen Proviant dabei.

Sie stillte ihr Kind und merkte, wie ihre Lippen aufplatzten, ihre

Fingerkuppen Falten bekamen. Sie hatte Durst, doch das Wasser im Zug

wollte sie nicht zu sich nehmen. Sie wechselte Stoffwindeln im Abteil und

ließ die schmutzigen im Abfalleimer verschwinden. In Bordeaux wartete

sie auf den nächstbesten Zug. Der brachte sie nach Orléans, wo sie am

nächsten Tag ankam. Endlich bekam sie etwas zu trinken.

Der Schaffner in Paris wollte ihre Fahrkarte sehen, sie tat so, als könne sie

weder Koffer noch Kind loslassen. Sie ignorierte ihn, ging durch die

Schranke durch. Als sie an Gustavs Zimmertür klopfte, schien es ihr, als

pochte ihr Herz noch lauter. Er machte auf und stand eine Weile

regungslos. Dann lächelte er. Und wer ist das da, sagte er und deutete auf

das Kind.

Das ist deins. Vermute ich jedenfalls.

Du bist eine Teufelsbraut.

Stimmt genau, sagte sie. Ich bin die Braut. Der Teufel du.

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Musik, Pärt, Fratres 3 – 3'45, Akkorde noch mitnehmen

Autorin:

Auch Lore Wolf ist noch in dem Hotel. Die Gestapo bereitet ihre

Festnahme vor. Ob Gustav Regitz davon gewusst hat, ob er es nur ahnt -

er versucht, Lore Wolf zu warnen. Sie ignoriert diese Warnung aus

unbekannten Gründen. Vielleicht haben dringende Aufgaben sie in Paris

festgehalten, es fehlt ein Marschbefehl der Kommunistischen Partei, oder

sie hat die Warnung nicht verstanden, denn diese kommt daher wie ein

schlechter Scherz. Sehr deutlich kann Regitz allerdings nicht werden, denn

ein Spion, der Emigranten warnt, hätte sein Leben verwirkt.

Sprecher, S. 120

Lore Wolf steht vor dem Schaufenster eines Juweliers ihre halbwüchsige

Tochter steht neben ihr. Sie betrachten Auslagen, Waren, die sie schon

lange nicht mehr kaufen können. Gustav Regitz nähert sich der Mutter von

hinten. Er legt ihr die Hände auf die Schultern, flüstert in ihr Ohr: "Frau

Wolf, Sie sind verhaftet." Lore Wolf erkennt im Schaufenster die Züge

ihres Mitbewohners, und während der Schreck sie durchfährt, dreht sie

sich um, sie will schlagen, treten, schreien.

Regitz hält sie fest und lässt sie nicht zu Wort kommen. Lore, sagt er, und

wechselt zum vertraulichen Du, Lore, denk mal nach. Die Deutschen sind

in der Stadt. Du bist bekannt, sie wissen wo du wohnst. Du bringst dich

und dein Kind in Gefahr. Du musst weggehen aus Paris. Jetzt endlich fängt

Lore Wolf an zu schreien.

Sprecherin, S. 120 f

Ein Bild zu dieser Erzählung, kommt ohne Spiegelungen nicht aus. Die

Blätter der Straßenbäume spiegeln sich in den Fensterscheiben, sie

zeichnen ein Muster aus Licht und Schatten, sodass die Züge des Gustav

Regitz nicht sofort zu erkennen sind, sodass die Wirkung der

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vermeintlichen Verhaftung perfekt war; es war großes Theater und

zeitigte den von Regitz gewünschten Effekt. Die Worte, in denen Gustav

Regitz später von dieser Begegnung erzählte, in denen Margarete sie jetzt

erzählt, sind identisch mit allen früheren Erzählungen, mit allen späteren

Aussagen. Fraglich ist, wie oft man eine Sache erzählen muss, bis sie

wahr wird. Oder wie oft man die Wahrheit erzählen muss, bis sie geglaubt

wird.

Sprecher, S. 121

Als Gustav Regitz nach dem Krieg merkte, dass man ihm nicht glaubte,

wurde er bitter. Er konnte sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer

vergraben. Er studierte die ausländische Presse, Le Point, The Times

Magazine. Fußnoten las er mit der Lupe. Er war bestens informiert über

außen- und innenpolitische Vorgänge. Er war immer mit dem letzten

Argument bewaffnet. Er würde nicht noch einmal die falschen Worte

sagen. Er behielt allzeit das letzte Wort. Er provozierte Diskussionen und

bewegte sich durch sie hindurch mit der tänzelnden Eleganz eines Boxers,

der sich seines Sieges schon gewiss ist. Ständig übte er für den Ernstfall.

Es war die Gabe seiner Rede, die ihn gerettet hatte; und er hatte die

Fähigkeit, sich selbst zu retten, in den Stand einer Tugend erhoben.

Musik 4'45 – 5'20

Autorin

Fünf Jahre lang hat Lore Wolf in den Gefängnissen des Hitlerregimes

verbracht. Nach dem Krieg führt sie deswegen zwei Prozesse gegen

Gustav Regitz, beide verliert sie. Trotzdem klebt an ihm der Makel des

Verrats. Er nahm die Form des Gerüchts an, der Halbwahrheit, der

Unterstellung. Er mäanderte durch die Familien der zurückgekehrten

Saaremigranten und prägte die Lokalpolitik meiner Heimatstadt

Neunkirchen / Saar bis weit in die Siebziger Jahre hinein. An den

entsprechenden politischen Fronten wurde erbittert gekämpft. Gustav

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Regitz, der ein großes politisches Talent war, der vielleicht sogar eine

bedeutende Funktion in der Sozialdemokratie hätte annehmen können,

zog sich ins Privatleben zurück. Sein Spiel war ausgespielt. Er verteidigte

sich nicht, er entschuldigte sich nicht. Stolz mag mit im Spiel gewesen

sein, auch der einsame Triumph desjenigen, der die Tyrannei überlebt

hat.

Sprecherin, S. 158

Von allen Spielarten der menschlichen Schuld habe ich die Vorliegende,

die Seine, immer für die perfideste gehalten. Nicht umsonst wird ein

vergleichbares Schicksal in der griechischen Tragödie über denjenigen

verhängt, dem die Götter zürnen. Viele Male habe ich die Antigone

studiert, die von Sophokles und die von Anouilh, um genau jenen Punkt

ausfindig zu machen, an dem aus Freiheit Schicksal wird. Doch immer

wenn ich mich nähere, wird es dunkel, es ziehen Wolken auf am Horizont,

es ist windstill und kein Blatt regt sich, und dann, wenn ich denke, ich bin

angekommen, schlägt der Blitz ein, jetzt sind die Götter am Werk, und ich

war wieder zu spät. Unsinn, würde Gustav sagen. Was du dir immer so

denkst. Es war wie es war, und ich habe meinen Kopf aus der Schlinge

gezogen, nicht mehr. Und nicht weniger. Es war gar nicht so übel.

Musik, Pärt, 8'30 -9'15

Autorin:

Manchmal fragen mich Leser, ob es statthaft ist, einem Gestapo-Spion so

nahe zu kommen, ihn in seiner Gedankenwelt darzustellen. Ich meine, ja,

denn Literatur soll uns dorthin führen, wohin wir selbst in unserem Leben

nicht gelangen. Ich habe die Nähe zum Verhängnis des Gustav Regitz

gesucht. Dabei ist es wichtig, die letzten Gründe für alle Schuld zu

benennen: Sie liegen in der Zeit, im Ungeist eines totalitären Regimes.

Musik, 2'30- 4'00 (Flambée)

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Autorin:

Kurz vor ihrem 90. Geburtstag ist Margarete mit mir nach Paris gefahren,

und sie hat mir die Stadt ihres Exils gezeigt. Das Hotel in der Rue de

L'Ouest steht noch, Buchsbäume verzieren den Eingang die winzige Lobby

wurde mit dunklem Holz getäfelt. Touristen gehen ein und aus, die nicht

wissen, was sich hier abgespielt hat, und das ist vielleicht gut so.

Margarete hat das Rauchen aufgegeben, aber sie sitzt noch am Kopfende

ihres Tisches. Manchmal kommt es vor, dass sie einen Koffer packen will.

Für ihre Geschichte bin ich ihr dankbar. Alle Geheimnisse habe ich nicht

lüften können. Doch sind die besten Geschichten dazu da, einfach erzählt

zu werden.

Sprecherin: S. 149

Ich erwarte sie am Gare de L'Est. Sie zieht ein Köfferchen hinter sich her

und schwingt einen selbst gehäkelten Brotbeutel. Sie füttert die Spatzen.

Sie trägt eine Sonnenbrille, mit der sie aussieht wie 007. Sie überprüft

diverse Motorräder auf ihre Tauglichkeit für neunzigjährige Benutzerinnen.

All diese Menschen in ihren Häusern, sagt sie. All ihre Gedanken und

Träume. Ein einzelner Mensch ist nicht viel.

Was willst du machen? frage ich.

Was willst du machen? gibt sie zurück. Ich war schon öfter in Paris als du.

Es könnte sein, dass du das letzte Mal in Paris bist, sage ich vorsichtig.

Wenn ich das letzte Mal in Paris wäre, würde ich durch die Stadt streichen.

Gut. Streichen wir durch die Stadt.

O-Ton 11, Tape 5 Track 008 0'50

Track 008 (Fade out)

Du hast das ja gelesen – stimmt alles?

Ja vom Inhalt her stimmt's – es ist ja doch ein verrücktes Leben, das wir

gehabt haben, nicht wie bei normalen Leuten – mit Sprüngen drin. Es

kommt mir manchmal grotesk vor, wir waren trotz allem ziemlich wendig,

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wir haben uns durch gewurschelt, wir hatten viel Glück bei allem Unglück

... zumal in der Zeit, in der man in Deutschland nicht mehr normal leben

konnte – viele Situationen waren am Rande ... sonst wäre die Sache

schlecht ausgegangen.

Musik, Absage

Tanya Lieske: "Spion wider Willen" (Droste Verlag), 175 S., 14,95 Euro