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Stand: 09.06.2015 Teil 3
öffentlich
Ausschussvorlage RTA/19/14
Ausschussvorlage SIA/19/33
Ausschussvorlage INA/19/20
Ausschussvorlage KPA/19/14
Eingegangene Stellungnahmen
zu der mündlichen Anhörung des Rechtspolitischen Ausschusses, des Sozial- und In-
tegrationspolitischen Ausschusses, des Innenausschusses und des Kulturpolitischen
Ausschusses
zu dem
Dringlichen Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend
Alkohol- und Suchtprävention stärken
– Drucks. 19/1177 –
RTA, SIA, INA, KPA
18. Prof. Dr. Andreas Reif S. 126
19. AIDS-Hilfe Frankfurt am Main S. 134
20. Polizeipräsidium Frankfurt am Main S. 143
21. Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl S. 155
22. Dr. Leo Teuter S. 161
Sehr geehrte Mitgliederinnen und Mitglieder des Landtages,
sehr gern komme ich Ihrer Bitte nach einer schriftlichen Stellungnahme zu der
Vorlage 19/1177 nach.
Die spezifischen Themenkomplexe, die in der Anhörung generell behandelt
werden sollen, sind insbesondere: 1) allgemeine Informationen zum Problem
von Cannabis und zur Situation in Hessen; 2) Prävention, insbesondere bei
Jugendlichen; 3) medizinische Nutzung und 4) aktuelle Situation der
Cannabisgesetzgebung für die Akteure und Institutionen der Justiz- und
Innenpolitik, insb. Praktikabilität der Strafverfolgung.
Meiner Expertise entsprechend, möchte ich vorwiegend zu den medizinischen
Punkten Stellung nehmen, also zu den Punkten 1 und 3. Zur Praktikabilität der
Strafverfolgung bin ich sicher nicht berufen, eine qualifizierte Meinung
abzugeben; vielmehr möchte ich die spezifischen psychiatrischen Risiken und
Folgen des Cannabis-Gebrauches darstellen und die Konsequenzen, die sich
daraus ableiten.
Cannabis-Gebrauch und daraus folgende medizinisch-psychiatrischen
Konsequenzen
Cannabis ist die weltweit am häufigsten konsumierte illegale Droge, ca. 12
Millionen Menschen alleine in der EU konsumieren es täglich. 4,5% aller
Deutschen haben während der vorhergehenden 12 Monate Cannabis
konsumiert – besonders häufig 18- bis 20jährige, bei denen der Anteil bei über
15% lag (Pabst et al., Sucht 2013). Wie bei zahllosen anderen Sucht- und
Rauschmitteln auch – als Paradebeispiel Alkohol – wird der Gebrauch bei einem
Großteil der Konsumenten ohne gravierende Folgen vertragen; ein Teil der
Zentrum für Psychische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Direktor der Klinik: Prof. Dr. Andreas Reif
E-Mail: [email protected] Sekretariat: Helge Becker E-Mail: [email protected] Tel.: 069 6301-5222, Fax: 81674 Website: www.psychiatrie.uni-frankfurt.de Datum: 8. Juni 2015
Postanschrift: Klinik für Psychiatrie, Heinrich-Hoffmann-Str. 10 . 60528 Frankfurt
Hessischer Landtag z.Hd. Frau Knaier Postfach 3240 65022 Wiesbaden
Durchwahl Klinikum: Tel.: 069 6301-1 Anmeldung / Information: Tel.: 5079, Fax: 7087 Stellv. Direktor: Dr. S. Hornung Tel.: 4769, [email protected]
Leitung Bereich Psychosomatik: Prof. Dr. R. Grabhorn Tel.: 6764, [email protected]
Ltd. OÄ: Dr. S. Kittel-Schneider, Tel. 5347 [email protected]
Dr. A. Krasnianksi, Tel. 6883 [email protected]
Pflegedienstleitung: Hr. M. Pipo Tel.: 7082, [email protected] Stationen: 93-2, Wahlleist./Bipolar: Tel.: 6880 93-3, Ther.resist. Depr.: Tel.: 5985 93-4, Akutstation: Tel.: 5218 93-5, Abhängigkeitserk.: Tel.: 6065 93-6, Psychosom. TK: Tel.: 84727 93-7, Psychosomatik 1: Tel.: 84724 93-8, Psychosomatik 2: Tel.: 5535 93-9, Gerontopsychiatrie: Tel.: 5226 93-10, Psychosen: Tel.: 5152 93-11, Psychiatr. TK: Tel.: 5342 Psychiatrischer Konsildienst: Tel.: 17-0405 (intern) Psychosomatischer Konsildienst: Tel.: 5536 Funktionsbereiche: Leitung Klinische Psychologie PD Dr. V. Oertel-Knöchel Leitung Ärztliche Psychotherapie Dipl.-Psych. J. Volkert Systemische Psychiatrie Labor für Neuroimaging PD Dr. V. Oertel-Knöchel Labor für Neurophysiologie Dr. J. Kopf Translationale Psychiatrie Dr. L. Weißflog
DQS-gesamtzertifiziert Zert.-Reg. Nr. 259220 QM08 gültig bis 06.12.2015
126
Seite 2 Konsumenten jedoch erleidet signifikante gesundheitliche Einbußen, die unten weiter ausgeführt
werden. Inwieweit die Gesellschaft (und damit die Gesetzgebung) die Risiken des Cannabis-
Gebrauchs oder dem individuellen Genuss und der persönlichen Freiheit eine höhere Priorität
einräumt, ist eine normative Frage, die sich in ähnlicher Form bei vielen Dingen des (auch täglichen)
Lebens stellt – man denke an Freigabe von Schusswaffen, Geschwindigkeitslimits auf Autobahnen,
Alkoholverbot, um nur drei prominente Beispiele zu nennen, bei denen beispielsweise die BRD und
die USA in den letzten 100 Jahren zu gänzlich anderen gesellschaftlichen Bewertungen trotz relativ
klarer Datenlage kommen. Relevant ist hier m.E. jedoch, die Fakten zu kennen, um zu einer
informierten Entscheidung gelangen zu können. Mythen oder individuelle Vorlieben bzw. Vorurteile
sind in einer solchen Diskussion nicht zielführend; auch sind bei der medizinisch-psychiatrischen
Bewertung wirtschaftliche oder procedurale Argumente zunächst einmal nicht relevant.
Wie groß der Anteil derjeniger Konsumenten ist, die an relevanten gesundheitlichen Einbußen
aufgrund Cannabis-Konsums leiden, ist angesichts der Studienlage nicht ganz präzise anzugeben.
Entscheidend dafür ist zum einen die Menge und Frequenz des Konsums, zum anderen aber vor
allem der Beginn des Cannabis-Konsums, da die negativen Folgen von Cannabis vor allem das sich
entwickelnde Gehirn – also bis in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts (Johnson et al., J Adolesc
Health 2009) – betreffen. Auf diesen besonders relevanten Punkt wird unten noch genauer
eingegangen.
Die drei großen, mit Cannabis in Zusammenhang stehenden medizinischen Probleme sind Erhöhung
des Psychoserisikos, überdauernde kognitive Defizite (z.B. Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen,
reduzierte Konzentration, etc.) und Abhängigkeit. Auf diese besonders relevanten Risiken möchte ich
im Folgenden näher eingehen. Daneben besteht noch eine Vielzahl anderer gesundheitlicher Folgen,
wie die Folgen akuter Intoxikationen (Unfälle etc.), die Verschlechterung anderer psychiatrischer
Erkrankungen (insbesondere Stimmungs- und Angsterkrankungen), Atemwegs- und
Lungenerkrankungen bei inhalativem Cannabisgebrauch, um nur einige zu nennen; hier darf ich auf
entsprechende Übersichtsarbeiten verweisen (z.B. Hoch et al., Dt Ärzteblatt 2015).
Erhöhung des Psychose-Risikos durch Cannabis
Die akute Cannabis-Intoxikation (vulgo: Rausch) ist gekennzeichnet durch gelassene, gehobene bis
euphorische Stimmung (teilweise aber auch Angst bis hin zur Paranoia), eine Veränderung der
Sinneseindrücke und der subjektiven Wahrnehmung bis hin zu Halluzinationen (psychotomimetische
Effekte) sowie kognitive und neuropsychologische Einbußen. Insbesondere positive Effekte auf die
Stimmung als auch die psychotomimetischen Effekte sind vom Konsumenten erwünscht. Cannabis
umfasst ca. 70 verschiedene Cannabinoide, darunter das möglicherweise antipsychotische
Cannabidiol (CBD) und Δ9-Tetrahydrocannabidiol (Δ9-THC). Die psychotomimetische Wirkung wird
vermutlich vor allem durch Δ9-THC ausgelöst; so konnte in einer Studie an gesunden Freiwilligen
gezeigt werden, dass die intravenöse Verabreichung von synthetischem Δ9-THC Angst als auch
psychotische Symptome auslöst. Auch neuropsychologische Tests wurden dadurch signifikant negativ
beeinflusst (Morrison et al., Psychol Med 2009).
127
Seite 3 Der Zusammenhang von Cannabis und Psychosen umfasst drei mögliche Mechanismen: die oben
genannte Intoxikation mit psychotomimetischen Effekten, die unmittelbar nach Ende des Rausches
wieder abklingt; aber dann auch die Auslösung einer akuten, Cannabis-induzierten Psychose. Diese
tritt direkt nach dem Konsum auf, dauert deutlich länger als der Rausch und erfordert
möglicherweise auch klinische Interventionen. Sie klingt jedoch nach relativ kurzer Zeit wieder ab,
Abstinenz vorausgesetzt. Diese bei prädisponierten Personen auftretende Reaktion ist unspezifisch,
und kann durch verschiedene Substanzen, aber auch Medikamente oder Schlafentzug ausgelöst
werden. Sie stellt in der Regel kein therapeutisches Problem dar, abgesehen von eventuellen
negativen Verhaltensweisen in der akuten Psychose. Die Häufigkeit ist unterschiedlich, aber nicht
selten; ob diese Erkrankungsphasen Vorposten einer vorbestehenden Erkrankungen sind oder
tatsächlich und genuin Substanz-induziert, ist jedoch aktuell noch unklar. Ein große (fast 18.500 Fälle)
Untersuchung aus Finnland konnte z.B. zeigen, dass 46% aller Patienten mit einer Cannabis-
induzierten Psychose in den folgenden acht Jahren eine Diagnose aus dem Bereich der
schizophrenen Psychosen erhielt (im Vergleich zu 30% der Patienten mit einer Amphetamin-
induzierten Psychose und nur 5% der Patienten mit einer Alkohol-induzierten Psychose). Im
Durchschnitt liegt der Schizophrenie-Krankheitsbeginn bei Cannabis-Konsumenten 32 Monate vor
dem bei Nicht-Konsumenten (Myles et al., Curr Pharm Des 2012).
Weitaus besorgniserregender als diese akuten Krankheitsbilder sind die Folgen zu starken
Cannabisgebrauches vor allem in der Adoleszenz auf das Risiko, später eine schizophrene Psychose
zu entwickeln (Übersicht in Radhakrishnan et al., Front Psychiat 2014). Während dies lange Zeit nur
im Querschnitt vermutet wurde, konnte in den letzten Jahren eine Serie von Längsschnitt-Studien an
großen Kollektiven überzeugend und übereinstimmend zeigen, dass Cannabiskonsum in der Jugend
bis in das frühe Erwachsenenalter hinein dosisabhängig das Risiko für das spätere Auftreten einer
Schizophrenie signifikant steigert. Die erste dieser Studie war eine hochrangig publizierte
Untersuchung an schwedischen Rekruten – beinahe die gesamte männliche Population zweier
Jahrgänge (Andreasson et al., Lancet 1987; Zammit et al., BMJ 2002). Wer zum
Einschreibungszeitpunkt mehr als fünfzigmal in seinem Leben Cannabis konsumiert hatte – also z.B.
in zwei Jahren alle zwei Wochen – hatte ein mehr als sechsfaches Risiko, später an einer
Schizophrenie zu erkranken. In die gleiche Richtung zielten die EDSP-Studie (Kuepper et al., BMJ
2011), die unten genauer dargestellte Dunedin-Studie (Arseneault et al., BMJ 2002), die ECA Studie
(Tien et al., J Nerv Ment Dis 1990), die CDHS Kohorte (Fergusson et al., Addiction 2005), die NESARC-
Studie an beinahe 35.000 Amerikanern (Davis et al., Schizophr Res 2013) und die niederländische
NEMESIS-Studie an mehr als 7000 Probanden (van Os et al., Am J Epidemiol 2002). Diese und andere
Studien wurden in systematischen Übersichtsarbeiten zusammengefasst, die beinahe alle zur der
Schlussfolgerung eines erhöhten Schizophrenie-Risikos bei Cannabis-Konsum in jungen Jahren
kommen. Die aktuellste und gründlichste Auswertung von 35 unterschiedlichen Längsschnitt-Studien
(Moore et al., Lancet 2007) zeigt, dass jedweder Cannabis-Konsum mit einem um 40% gesteigerten
Psychose-Risiko verbunden ist, und zwar in einer dosis-abhängigen Form.
128
Seite 4 Im klinischen Alltag ist mittlerweile – zumal im großstädtischen Kontext – der Cannabis-Konsum bei
jüngeren Schizophrenie-Patienten eher die Regel denn die Ausnahme. Er führt nicht nur zu einer
schwereren Krankheitslast, früherem Krankheitsbeginn und stärkeren Symptomen (Large et al.,
Austral New Zeal J Psychiat 2014) und somit einer schlechteren Prognose, sondern auch zu
erheblichen Problemen in der klinischen Behandlung dieser Patienten, ein Problem, mit dem alle in
die Versorgung psychisch Kranker eingebundener Ärzte täglich konfrontiert werden – und mit dem
sie aber alleine gelassen werden, da diese prominenten negativen Seiten des Cannabis-Konsums in
der öffentlichen Debatte kaum thematisiert werden.
Kognitive Einschränkungen durch Cannabis
Überdauernder „heavy use“ ist assoziiert mit geringerem IQ, niedrigerer Schulbildung, schlechteren
Leistungen im Studium als auch einer Einschränkung in kognitiven Leistungen wie beispielsweise der
Lernfähigkeit und Aufmerksamkeit. Dies zeigte sich in zahlreichen Querschnittsstudien, bei denen
regelmäßige Konsumenten mit Abstinenten verglichen werden (u.a. Solowij et al., JAMA 2002; Pope
und Yurgelun-Todd, JAMA 1996). Dieses Studiendesign lässt allerdings die Frage der Kausalität offen,
da es ja auch sein kann, dass Konsumenten, die langjährig und häufig konsumieren, schon von
Anfang an kognitiv beeinträchtig sind. Um dies auszuschließen, sind Langzeit-Studien wertvoll, die
Probanden über mehrere Jahre hinweg untersuchen. Eine bemerkenswert große (>2000 Probanden),
über acht Jahre laufende Studie aus Australien (Tait et al., Addiction 2011) zeigte eindrücklich, dass
bereits relativ früh (post-adoleszent) kognitive Defizite bestehen und dass sich diese bei
regelmäßigem Cannabis-Gebrauch nicht bessern; nach Jahren der Abstinenz jedoch holen die
ehemaligen Konsumenten wieder auf und erreichen das Niveau der Niemals-Nutzer. Die Cannabis-
bedingten kognitiven Einschränkungen sind also möglicherweise nicht irreversibel, Abstinenz
vorausgesetzt. Allerdings war das Kriterium für „heavy use“ in dieser Studie recht weit gefasst
(mindestens einmal wöchentlicher Cannabis-Gebrauch) und umfasst eine Frequenz, die in anderen
Studien noch als „recreational use“ bezeichnet wird, also das nicht-abhängige, gelegentliche
Konsumieren von Cannabis zum Entspannen, als „Genussmittel“. Bei tatsächlich intensivem (>5 Joints
am Tag), jahrelangem Cannabis-Gebrauch zeigen sich bereits strukturelle Auffälligkeiten im Gehirn,
die Größe wichtiger Schaltstellen (Hippocampus und Amygdala [Mandelkern]) im sog. Limbischen
System – das u.a. für Emotionen und Lernen wichtig ist – ist reduziert (Yücel et al., Arch Gen Psychiat
2008) und man darf sich fragen, ob auch diese Veränderungen reversibel sind.
Eine der bekanntesten epidemiologischen Langzeit-Studien bezüglich psychiatrischer Erkrankungen
überhaupt ist die neuseeländische Dunedin-Studie, bei der eine Geburtskohorte von über 1000
Personen vom dritten bis zum 38. Lebensjahr immer wieder untersucht wurden. In dieser Studie
zeigte sich (Meier et al., P.N.A.S. 2012), dass überdauernder „abhängiger“ Cannabisgebrauch mit
einem durchschnittlichen Abfall des IQs um 6 Punkte verbunden war (während Abstinente sogar
leicht stiegen). Auch andere neuropsychologische Maße verschlechterten sich gleichermaßen.
Zurückzuführen ist dies so gut wie ausschließlich auf diejenigen Probanden, die während der
Adoleszenz mit regelmäßigem Konsum begannen; wurde erst im Erwachsenenalter damit begonnen,
blieb der Abfall des IQ und der anderen Maße aus. Ein Konsumstopp konnte den IQ-Abfall bei den
129
Seite 5 Probanden, die in der Adoleszenz mit regelmäßigem Konsum begannen, nicht kompensieren. Die
Ergebnisse mündeten in die Schlussfolgerung der beteiligten Wissenschaftler (Übersetzung durch
den Autor): „diese Ergebnisse sind in Übereinstimmung mit der Vermutung, dass Cannabisgebrauch
in der Adoleszenz, in der das Gehirn entscheidende Entwicklungen durchmacht, neurotoxische
Effekte haben kann“. Gestützt wird diese Hypothese durch zahlreiche bildgebende Befunde, die
nahelegen, dass Cannabis-Gebrauch in der Adoleszenz strukturelle und funktionelle Veränderungen
des Gehirns verursacht (Übersicht in James et al., Psychiat Res: Neuroimaging 2013).
Zusammengefasst legen diese Studien die Schlussfolgerung nahe, dass akuter Cannabisgebrauch mit
einer Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit einhergeht; bei häufigem und langjährigem
Konsum überdauern diese Einschränkungen und führen auch zu strukturellen Veränderungen des
Gehirns. Der Effekt scheint dabei umso ausgeprägter zu sein, je länger und häufiger Cannabis
konsumiert wurde (die kumulierte Dosis ist also der entscheidende Faktor). Auch besteht ein
erhöhtes Risiko für kognitive Defizite bei Beginn regelmäßigen Konsums in der Adoleszenz.
Cannabisabhängigkeit
Während früher die Existenz einer Cannabis-Abhängigkeit kontrovers diskutiert wurde, wird deren
Realität mittlerweile nicht mehr ernsthaft bezweifelt (Degenhardt & Hall, Lancet 2012) und ist in den
aktuellen Diagnose-Manualen DSM-5 und ICD-10 verankert. Mittlerweile gibt es auch umfangreiche,
auf einer großen Datenbasis bestehenden Untersuchungen, die sich der Häufigkeit der Cannabis-
Abhängigkeit und den entsprechenden Folgen widmen. Eine Studie der Weltbank (GBD 2010 Studie,
Degenhardt et al., PLoS One 2013) legt nahe, dass es weltweit ca. 13 Millionen Cannabis-Abhängige
gibt (Punktprävalenz ca. 0,2%, in westlichen Ländern wie der USA bis zu 1,8 %) und mehr als zehnmal
so viele regelmäßige Konsumenten, mit einem Gipfel für ca. 20jährige Männer; insgesamt ist das
Risiko, eine Cannabis-Abhängigkeit zu entwickeln, bei Adoleszenten am größten. Die Konsequenzen
sind substantiell, Cannabis-Abhängigkeit zeichnet in der Folge für 1‰ aller durch Krankheit
verlorener Lebensjahre verantwortlich (mehr als Kokain oder Amphetamin). Ein weiteres, nur
unzureichend untersuchtes Phänomen ist das Cannabis-induzierte amotivationale Syndrom, das bei
längerem und häufigem Gebrauch auftreten kann und das sich durch Antriebslosigkeit, „Wurstigkeit“
und Mangel an Initiative auszeichnet und das ein erhebliches Problem im täglichen Leben darstellt
mit naturgemäß nur geringer Änderungsmotivation.
Eine Behandlung von Cannabis-Abhängigkeit ist durchaus möglich, umfasst vorwiegend
verhaltenstherapeutische Maßnahmen mit sog. Kontingenzmanagement und ist auch erfolgreich
(Danovitch & Gorelick, Psychiatr Clin North Am 2012). Wenig Ressourcen werden für diese relativ
personalintensive Behandlung im Gesundheitssystem jedoch dafür bereitgestellt, ganz im Gegensatz
zu der nicht geringen Zahl der Abhängigen mit erheblichen sozioökonomischen Konsequenzen.
130
Seite 6 Zusammenfassende Bewertung der medizinischen Risiken
Aufgrund der aktuellen, sehr umfangreichen Datenbasis kann man feststellen, dass Cannabis-
Gebrauch nicht risikolos ist.
Es existiert ein erhebliches Risiko der Abhängigkeit, insbesondere bei Beginn des Konsums im
jugendlichen Alter sowie das sehr hohe Risiko der Verschlechterung einer vorbestehenden
psychiatrischen Erkrankung (Stimmungs- und Angsterkrankungen, Psychosen u.a.) mit entsprechend
schlechterer Prognose.
Ein Beginn der Cannabis-Konsums im Adoleszenten-Alter ist dosis-abhängig auch mit einem erhöhten
Risiko für die spätere Entwicklung schizophrener Psychosen und kognitiver Defizite verbunden.
Regelmäßiger, häufiger Gebrauch von Cannabis bis in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts hinein
ist also mit nicht harmlosen gesundheitlichen Risiken und einer substantiellen Mortalität verbunden.
Auf der anderen Seite sind Jugendliche aufgrund ihres besonderen Verhaltensmusters und ihrer
kognitiven Fähigkeiten besonders gefährdet, Cannabis zu konsumieren – insbesondere aufgrund
dessen Rufs als „harmlose“ Substanz und den generell eher positiven Konnotationen dieser Droge.
Eine generelle Freigabe von Cannabis würde m.E. diese positive Besetzung von Cannabis noch
unterstützen. Dazu kommt die Tatsache, dass, je einfacher ein Suchtmittel zu beschaffen ist, die
Wahrscheinlichkeit des Konsums erhöht ist. Zusammengefasst bedeutet das, dass eine Freigabe von
Cannabis vermutlich zu einem noch häufigerem, intensiverem Konsummuster von Cannabis führen
würde, mit einem entsprechend höherem Risiko für das Auftreten schizophrener Psychosen und
kognitiver Defizite Jahre später in der Allgemeinbevölkerung. Ersteres ist, wie oben ausgeführt,
bereits ein real existierendes und gravierendes Problem im klinischen Alltag, letzteres dürfte sich
eher im Berufs- und Alltagsleben auswirken. Nach Abschluss der Gehirnreifung, also ab der Mitte des
dritten Lebensjahrzehnts, scheinen die negativen Folgen des Cannabiskonsums weitaus weniger
ausgeprägt zu sein; das Risiko besteht vor allem bei Adoleszenten. Unterstrichen wird dies z.B. durch
drei Kohorten-Studien aus Ozeanien mit insgesamt 2.500 bis 3.700 Teilnehmern (Silins et al., Lancet
Psychiat 2014), die eindeutig zeigen konnten, dass Cannabis-Konsum in der Adoleszenz in einer
dosisabhängigen Art und Weise eine Reihe von negativen Folgen hatte (wie eine geringere Rate an
High-School-Abschlüssen, höheres Risiko für spätere Cannabis-Abhängigkeit, Gebrauch von anderen
illegalen Drogen, und späterem Suizidversuch).
Die entsprechende Balance zu finden zwischen individueller Freiheit („Recht auf Rausch“) und der
öffentlichen Gesundheitsvorsorge ist keine einfache Aufgabe, sollte jedoch auf der Basis der
vorliegenden, umfangreichen und recht eindeutigen Daten erfolgen, um so zu einem informierten
Entscheidungsprozess zu gelangen. An dieser Stelle sei die Schlussfolgerung der o.g. Studie von Silins
und Kollegen zitiert: “Prevention or delay of cannabis use in adolescence is likely to have broad
health and social benefits. Efforts to reform cannabis legislation should be carefully assessed to
ensure they reduce adolescent cannabis use and prevent potentially adverse developmental effects.”
131
Seite 7 Medizinischer Cannabis-Gebrauch
Wie oben dargestellt, ist der Cannabis-Inhaltsstoff Δ9-THC hauptsächlich für die psychotomimetische
und berauschende Wirkung von Cannabis verantwortlich zu machen, während der Inhaltsstoff
Cannabidiol nicht psychotrop (allerdings sedierend) wirkt und vielen medizinisch erwünschten
Cannabis-Wirkungen zugrunde liegt. Sativex® ist ein mittlerweile verschreibungsfähiges Arzneimittel
zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen und enthält Δ9-THC und Cannabidiol im fest
eingestellten Verhältnis von 1:1 (im Vergleich: Cannabis für den „Rauschgebrauch“ enthält die
Substanzen im Verhältnis ca. 1:100; Swiff et al., PLoS One 2013). Es ist ein pharmakologischer
Grundsatz, standardisierte, fest eingestellte Wirkstoffkonzentrationen nicht-standardisierten
pflanzlichen Zubereitungen vorzuziehen. Da mit Sativex® eine solche Zubereitungsform existiert,
besteht m.E. kein drüber hinausgehender Bedarf an pflanzlichen Zubereitungen, zumal im
Zulassungsprozess bei entsprechender Notwendigkeit auch andere Wirkstoffverhältnisse eingestellt
werden können. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das im Juli vom VG Köln ergangene Urteil,
das den Eigenanbau von Cannabis zur medizinischen Selbstversorgung ermöglicht, aus medizinisch-
pharmakologischer Sicht höchst bedenklich und überflüssig (http://openjur.de/u/707972.html).
Wie jedes andere Arzneimittel auch müssen sich Cannabinoide Zulassungsstudien stellen, in denen
die Effektivität mittels randomisierter, kontrollierter und verblindeter Methodik überprüft wird. Bei
positivem Ergebnis und günstiger Nutzen-Risiko-Bewertung ist das Medikament zuzulassen, im
anderen Falle nicht. Weder in positiver noch in negativer Hinsicht unterscheiden sich hier
Cannabinoide von anderen Pharmaka: weder kann man die Zulassungsregularien übergehen, noch
sollte man hier übertriebene Vorsicht und Kritik an den Tag legen. „Medizinisches Cannabis“
erfordert keine weiteren Gesetzesänderungen, nachdem es 2011 in die Gruppe der
verschreibungsfähigen Betäubungsmittel umgestuft wurde. Entsprechende Argumente in der
Freigabe-Debatte sind also Spiegelfechtereien und bestenfalls tendentiös, inhaltlich
zusammenhängend sind Freigabe von Cannabis und dessen Verwendung als Arzneimittel jedenfalls
nicht. Allerdings sollten verbindliche Regelungen geschaffen werden, die die Kostenerstattung durch
die Krankenkassen bei medizinisch induzierter Verschreibung von pharmazeutisch hergestellten und
geprüften Cannabinoiden ermöglichen.
Lokale Situation in Frankfurt am Main
An dieser Stelle sei nur eine kurze Erhebung der Kliniken für Psychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie des Kindes- und Jugend- als auch der Erwachsenenalters wiedergegeben. In den
Jahren 2012 – 2013 wurden 53 Patienten mit der Hauptdiagnose Cannabis-Intoxikation, -Abusus oder
–Sucht in die Kliniken aufgenommen (Diagnosen, die normalerweise gar nicht stationär
behandlungsbedürftig sind), sowie 351 Patienten mit einer Nebendiagnose (72 davon unter 20 Jahre
alt), die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen. Nota bene gibt es noch drei weitere, ebenso
große Kliniken, die das Stadtgebiet versorgen. Cannabis-Konsum und dessen Folgen sind also ein
Problem der täglichen psychiatrischen Behandlung.
132
Seite 8 Die Schlussfolgerung aus dem oben gesagten ist, dass Cannabis-Konsum in der Adoleszenz – bis in die
Mitte des dritten Lebensjahrzehnts hinein – mit einem höheren Risiko für Cannabis-Abhängigkeit, die
Entwicklung von Schizophrenien und kognitiven Defiziten einher geht. Dies ist auch ein relevantes
Problem in der psychiatrischen Versorgung, auch bereits jetzt im Gebiet der Stadt Frankfurt. Eine
Freigabe von Cannabis, auch wenn sie erst ab dem 18. Lebensjahr erfolgt, hätte vermutlich die
Zunahme des Cannabis-Abusus in der Adoleszenz zur Folge, mit allen oben dargestellten Folgen. In
Abwägung aller Risiko-Nutzen-Aspekte ist daher davon aus medizinischer Sicht abzuraten. Weder ist
allerdings davon die Verwendung von medizinischem Cannabinoiden betroffen, noch heißt dies
automatisch, dass der Besitz von Cannabis oder dessen Konsum im Erwachsenenalter automatisch
unter Strafe gestellt werden muss. Meiner persönlichen, datenbasierten Meinung nach jedoch
sollten Adoleszente vor einem unkontrolliertem Cannabis-Ge- bzw. -missbrauch geschützt werden.
Für weitere Fragen stehe ich selbstverständlich jederzeit gerne zur Verfügung.
Hochachtungsvoll
Prof. Dr. med. Andreas Reif
- Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie -
- Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie –
Literatur beim Verfasser.
133
Stellungnahme
Seite 1 von 9
Stellungnahme der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. zum
Dringlichen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Alkohol- und
Suchtprävention stärken – Drucks. 19/1177- Hier:
Anhörung „Cannabis in Hessen“
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir bedanken uns sehr herzlich, dass Sie uns in den Kreis der
Anzuhörenden aufgenommen haben und freuen uns über die
Initiative des Landes, „Cannabis in Hessen“ sachlich und
lösungsorientiert zu diskutieren. Gern stellen wir Ihnen unsere
Erfahrungen und fachliche Expertise zur Verfügung und hoffen, dass
Hessen zu einer Modellregion einer rationalen Drogen- und
Cannabispolitikwird.
Die AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. nimmt vorwiegend zu Punkt 3 der
Themenkomplexe Stellung:
3. medizinische Nutzung
Bereits im Jahre 1998 war die AIDS-Hilfe Frankfurt e.V.
Mitveranstalter eines Internationalen Kongresses mit dem Titel
„Medical Marijuana“ wobei die damaligen weltweiten Erfahrungen
ebenso zusammengetragen wurden wie die pharmakologischen
Wirkungsweise, die Anwendung und klinische Erfolge bspw. bei
AIDS, MS, Krebs und in der Schmerztherapie. Seitdem beschäftigt
uns dieses Thema und wir können auf vielfältige Erfahrungsberichte
von PatientInnen und NutzerInnen unserer Einrichtungen und
Angebote zurückgreifen. Viele dieser Menschen nutzen Cannabis zur
Linderung ihrer Beschwerden oder zur psychischen Stabilisierung
oder Stimmungsaufhellung. Die AIDS-Hilfe Frankfurt bemüht sich
kontinuierlich um eine Verbesserung der Situation im Rahmen ihres
Konzeptansatzes der Strukturellen Prävention, Interessenvertretung
und fachlicher Lobbyarbeit.
Neuen Schwung in die politische Debatte in Deutschland brachte
zuletzt das Kölner Verwaltungsgerichtsurteil, das drei von fünf
Klägern zugesteht, Cannabispflanzen zur medizinischen Nutzung
selbst anzubauen (durch Berufung der Erlaubnisbehörde noch nicht
rechtskräftig) und die Beschlüsse amerikanischer Staaten. In der
öffentlichen Diskussion werden dabei oft die sogenannten
Legalisierungsoptionen und Vorschläge zur Regulierung des
Fachbereich Drogen
Friedberger Anlage 24
60316 Frankfurt
Ihr Ansprechpartner:
Jürgen Klee
Tel: (069) 40 58 68-56
Fax: (069) 40 58 68-40
juergen.klee
@frankfurt.aidshilfe.de
http://frankfurt-aidshilfe.de
134
Stellungnahme
Seite 2 von 9
Cannabismarktes und deren medizinischer Nutzung als
Arzneipflanze bzw. Selbstmedikation verzweifelter PatientInnen
nicht voneinander getrennt. Wir beschränken uns bei unserer
Stellungnahme auf die medizinische Nutzung der Cannabispflanze,
wenngleich wir auch eine gesetzliche Neubewertung der
Cannabisverbotspolitik aus sachlichen Gründen befürworten.
Cannabis als Medizin ist derzeit in drei Formen erhältlich:
Dronabinol, Nabiximols („Sativex“) oder Cannabisblüten. Dronabinol
(reines THC) und Sativex (Extrakt mit festem THC und CBD Anteil)
können von jedem Arzt auf Betäubungsmittel (BTM)-Privatrezept
verschrieben werden. Die Krankenkassen erstatten die Kosten in
der Regel nicht. Sativex kann von einem Facharzt gegen die
spastischen Symptome bei Multiple Sklerose verschrieben werden,
wenn andere antispastische Therapien versagt haben. In diesem
Fall zahlen die Krankenkassen das Medikament. Cannabisblüten
sind nur mit einer Ausnahmegenehmigung zur medizinischen
Verwendung von Cannabis bei der Bundesopiumstelle erhältlich.
Diese erhält nur derjenige bei dem alle anderen konventionellen
Therapien nicht ausreichend wirksam sind und/oder zu viele
Nebenwirkungen haben. Die Kosten für die Cannabisblüten werden
nicht erstattet. Für viele Betroffene sind Cannabisblüten optimal.
Diese werden aus den Niederlanden importiert, es gibt immer wieder
Lieferprobleme und die Sortenauswahl ist beschränkt.
Mehrere Patienten haben aufgrund der hohen Kosten für Cannabis
aus der Apotheke einen Antrag auf Eigenanbau gestellt. Bisher
wurde keiner dieser Anträge genehmigt. Es wurden und werden
Prozesse gegen Ablehnungen sowie vom Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geforderte Auflagen
geführt. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat im Dezember
2012 festgestellt, dass das BfArM den Eigenanbau von Cannabis
nicht grundsätzlich verweigern darf. Ein endgültiges Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts hierzu wird im Zeitraum 2015 bis 2017
erwartet.
Uns geht es um die medizinische Nutzung unterschiedlicher
Cannabispflanzenzüchtungen für je einen bestimmten
therapeutischen Zweck, deren Wirksamkeit von den PatientInnen
erlebt wird auch wenn diese noch nicht in klinischen Studien
„bewiesen“ ist: allein die bisherigen, individuell erlebten Wirkungen
beweisen derer Wirksamkeit, sonst würden die Menschen doch
nicht strafrechtliche Risiken beim Erwerb auf dem Schwarzmarkt,
dessen überhöhte Preise sowie nutzlose Therapien selbst bezahlen.
135
Stellungnahme
Seite 3 von 9
Für Menschen mit HIV/AIDS hat Seshata Seshata, freiberufliche
Autorin unter Hinzuziehung entsprechender Studien die fünf
hauptsächlichen Vorteile von natürlichem Cannabis
zusammengestellt, deren Expertise wir im folgenden zitieren:
Cannabis ist appetitanregend
Cannabis wirkt gegen Übelkeit
Cannabis wirkt stimmungsaufhellend/gegen Depressionen
Cannabis wirkt schmerzlinderd
Cannabis vermindert die periphere Neuropathie.
Für andere Krankheiten wie MS, Krebs, SchmerzpatientInnen,
Tourette, Krampfanfälle, Glaukom, ADHS u.a. liegen ebensolche
Erfahrungsberichte, Expertisen und Studien vor.
Cannabis hat sich bei der Behandlung mehrerer wichtiger Symptome
von HIV/Aids als äußerst effektiv erwiesen:
Appetitanregend: Cannabiskonsum erhöht nachweislich die
Kalorienaufnahme und den Fettkonsum, was den Patienten bei der
Gewichtszunahme helfen kann. Eine im Jahr 2005 durchgeführte
Umfrage unter 523 HIV-positiven Patienten ergab, dass 143 (27 %)
der Befragten Cannabis zur Eindämmung ihrer Symptome
verwendeten, und die überwältigende Mehrheit von 97 % dieser
Leute berichtete, dass sich ihr Appetit durch die Pflanze verbessert
habe. http://www.jpsmjournal.com/article/S0885-
3924(05)00063-1/abstract?cc=y (Journal of Pain and Symtom
Management, UK, April 2005)
2007 wurde eine Doppelblind-Studie über die Effekte des
Cannabisrauchens und der Einnahme von Dronabinol (einer
synthetischen Form von THC) durchgeführt. Auch diese Studie fand
heraus, dass sowohl Cannabis als auch Dronabinol die
Kalorienaufnahme im Vergleich zu einem Placebo erhöhten, wobei
die Wirkung von der Dosis abhing. Der Effekt war dadurch
gekennzeichnet, dass die Teilnehmer häufiger aßen. Außerdem
enthielten alle Mahlzeiten durchschnittlich 404 kcal, doch
Dronabinol und Cannabis führten zu einer signifikanten
Veränderung bei der Verteilung der
Nährstoffaufnahme: Wenn den Patienten ein Placebo verabreicht
wurde, stammten 51 % ihrer Nährstoffe aus Kohlenhydraten, 36 %
aus Fett und 13 % aus Eiweiß. Wenn sie Dronabinol erhielten,
erhöhte sich der Fettkonsum auf 40 %, während der Konsum von
Kohlenhydraten sank; wenn ihnen Cannabis verabreicht wurde,
sank der Eiweißkonsum auf 11 %, dagegen nahmen sie tendenziell
136
Stellungnahme
Seite 4 von 9
mehr Fett zu sich. Zudem führten hohe Dosierungen von Cannabis
und Dronabinol bei den Patienten zu einer signifikanten Zunahme
des Gewichts. Wenn sie ein Placebo einnahmen, wogen die
Patienten im Durchschnitt 77,5 kg; nach vier Tagen
Cannabiskonsum nahmen sie 1,1 kg zu, und nach vier Tagen
Dronabinolkonsum betrug die Zunahme 1,2 kg. http://journals.lww.com/jaids/Fulltext/2007/08150/Dronabinol_a
nd_Marijuana_in_HIV_Positive_Marijuana.9.aspx%5d , New York,
August 2007
Gegen Übelkeit: Cannabis kann zur Linderung der Übelkeit
beitragen, unter der die Mehrheit der
Patienten leidet. Übelkeit ist ein weitverbreitetes Symptom der HIV-
Infektion, und in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium
können die Ursachen der Übelkeit immer komplexer werden. So
kann Übelkeit bei Magen-Darm-Problemen, Störungen der Leber-
Nieren-Funktion, Störungen des zentralen Nervensystems oder als
Folge von Therapien auftreten, die zur Bekämpfung der Krankheit
angewendet werden.
Es ist allgemein bekannt, dass Cannabinoide sowie bestimmte
synthetisch analoge Wirkstoffe die Symptome der Übelkeit bei
HIV/Aids-Patienten lindern können; in der Tat hat die Food & Drug
Administration der USA (US-Behörde für Nahrungsmittel und Drogen)
die THC-Nachbildung Dronabinol als Behandlungsmethode für die
mit Krebs und HIV verbundenen Symptome Übelkeit und
Appetitverlust zugelassen. Eine bereits 1995 veröffentlichte Studie,
die Dronabinol als Behandlungsmethode für durch Aids ausgelösten
Appetitverlust untersuchte, wies nach, dass die Symptome der
Übelkeit bei den Patienten im Durchschnitt um 20 % zurückgingen. http://www.jpsmjournal.com/article/0885-3924(94)00117-
4/abstract (Journal of Pain and Symtom Management, UK, Februar
1995)
Bei der einer Patientenumfrage aus dem Jahr 2005 berichteten 93
% der HIV-positiven Cannabiskonsumenten, dass ihre Übelkeit durch
das Rauchen gelindert würde. Und im selben Jahr kam eine weitere
Studie zu dem Schluss, dass diejenigen HIV-positiven Patienten mit
Übelkeitssymptomen, die Cannabis konsumierten, ihre
antiretroviralen Therapien mit größerer Wahrscheinlichkeit
einhielten als die Nicht-Konsumenten. Patienten, die nicht unter
Übelkeit litten, erfuhren beim Konsum von Cannabis keine
signifikanten Verbesserungen in Bezug auf die Einhaltung ihrer
137
Stellungnahme
Seite 5 von 9
Therapien, was darauf hinweist, dass die Therapietreue durch die
Linderung der Übelkeit unterstützt wird. http://journals.lww.com/jaids/Abstract/2005/01010/Marijuana_
Use_and_Its_Association_With_Adherence.8.aspx , New York, Jan.
2005)
Stimmungsaufhellend/gegen Depressionen: Ängste, Depressionen
und Stimmungsschwankungen sind bei HIV/Aids häufig zu
beobachten; sie sind meist auf eine Kombination aus körperlichen,
seelischen und sozialen Belastungen zurückzuführen. Die
Patientenumfrage aus dem Jahr 2005 ergab, dass sich 93 % der
Befragten nach dem Cannabiskonsum weniger ängstlich fühlten,
während 86 % auch über eine Verminderung von Depressionen
berichteten.
Die oben erwähnte Doppelblind-Studie aus dem Jahr 2007 über
Cannabis und Dronabinol fand außerdem heraus, dass beide
Substanzen bei den Teilnehmern stimmungsaufhellend wirkten und
einen "positiven Drogeneffekt" hervorriefen, der Eigenschaften wie
Freundlichkeit, Munterkeit und Selbstbewusstsein verstärkte.
Interessanterweise schienen niedrigere THC-Dosierungen mehr
Ängste bei den Teilnehmern hervorzurufen als höhere THC-
Dosierungen oder alle Dronabinol-Dosierungen.
Schmerzlindernd: Bei HIV/Aids können heftige, stark
beeinträchtigende Schmerzen auftreten, die
verschiedene komplexe Ursachen haben, beispielsweise Gelenk-,
Nerven- und Muskelschmerzen. 2011 kam eine Querschnittsstudie
über 296 sozioökonomisch benachteiligte Patienten zu dem
Ergebnis, dass 53,7 % unter starken Schmerzen litten, während
38,1 % mäßige und 8,2 % leichte Schmerzen hatten; über die Hälfte
der Teilnehmer besaß ein Rezept für ein opiumhaltiges
Schmerzmittel. Man stellte auch fest, dass stärkere Schmerzen mit
dem Auftreten einer Depression einhergingen. http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S15265900110
05372
Journal of Pain, USA, Sept. 2011
Bei der Patientenumfrage von 2005 zeigte sich, dass 94 % der
Befragten nach dem Cannabiskonsum eine Linderung ihrer
Muskelschmerzen erfuhren; 90 % berichteten zudem über
Verbesserungen von Neuropathien (Nervenschmerzen) und 85 %
über gelinderte Parästhesien (Missempfindungen wie Brennen,
Kribbeln und Prickeln). Die Tatsache, dass Cannabis bei HIV/Aids-
Patienten eine signifikante, langfristige, subjektive Linderung von
138
Stellungnahme
Seite 6 von 9
chronischen Schmerzen bewirken kann, ist bemerkenswert.
Unbedenklichere und potenziell preiswertere Medikamente könnten
also bei benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Gebrauch von
Opioiden ersetzen, was etliche positive Konsequenzen nach sich
ziehen könnte, einschließlich einer Verringerung der Todesfälle
aufgrund von Opioiden und einer größeren Verfügbarkeit von
Medikamenten für Bedürftige.
Vermindert die periphere Neuropathie: Cannabis ist eine sicherere
und potenziell preiswertere Alternative zur Verschreibung von
Opioiden. Eine spezifische, besonders häufige Form von Schmerzen
im Zusammenhang mit HIV/Aids ist die periphere Neuropathie, bei
der einer oder mehrere Nerven des peripheren Nervensystems
(jeder Teil des Nervensystems außerhalb des Gehirns und
Rückenmarks) beschädigt werden, was zu Schmerzen, Zuckungen,
Parästhesie, Muskelschwund und beeinträchtigter Koordination
führt. Cannabis kann nachweislich zur Linderung dieser Symptome
der peripheren Neuropathie beitragen, die bei HIV/Aids und anderen
Krankheiten auftreten, wie zum Beispiel bei Diabetes.
Außer den oben geschilderten subjektiven Berichten in Bezug auf
gelinderte Nervenschmerzen und Parästhesie haben mehrere
andere Studien untersucht, ob Cannabis periphere Neuropathien
bei HIV/Aids-Patienten vermindern kann. Beispielsweise berichteten
67 von 450 Patienten mit peripherer Neuropathie bei einer
Patientenumfrage, die 2007 in den USA, Puerto Rico, Kolumbien
und Taiwan stattfand, Cannabis zur Linderung ihrer Symptome zu
konsumieren.
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/0954012060097
1083
AIDS Care, UK, 2007
Und eine im selben Jahr veröffentlichte randomisierte Studie mit
einer Placebo-Kontrollgruppe kam zu dem Schluss, dass Schmerzen
zu über 30 % bei 52 % der Cannabis konsumierenden Gruppe
gelindert wurden, jedoch nur bei 24 % der Kontrollgruppe; ernsthafte
Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet. Der erste von den
Cannabis konsumierenden Patienten gerauchte Joint linderte
chronische Schmerzen bei 72 % der Fälle (Mittelwert), verglichen mit
15 % bei der Placebo-Gruppe. http://www.neurology.org/content/68/7/515.short , USA, 2007
2008 untersuchte eine Doppelblind-Crossover-Studie mit Placebo-
Kontrollgruppe die Effektivität von Cannabis bei der Linderung
peripherer Neuropathien. An der Studie nahmen 28
139
Stellungnahme
Seite 7 von 9
Versuchspersonen teil. Man stellte fest, dass die Neuropathie zu
über 30 % bei 46 % der Cannabis konsumierenden Gruppe und bei
18 % der Kontrollgruppe gelindert wurde, und dass sich die
Stimmung und die generelle Verfassung im gesamten Verlauf der
Studie in einem ähnlichen Ausmaß verbessert hatten. http://www.nature.com/npp/journal/v34/n3/abs/npp2008120a.
html, USA, 2008
Für andere Krankheitsbilder liegen gleiche/ähnliche Expertisen vor,
welche die Wirksamkeit belegen: zumindest bei Krebs, MS, Tourette-
Syndrom und SchmerzpatientInnen. Wenngleich
bedauerlicherweise in Deutschland bislang keine klinische Studie
durchgeführt wurde, haben viele Fachärzte und medizinische
Fakultäten an Hochschulen enorme Erfahrungswerte. Die
Einreichung einer Klinischen Studie lohnt offenbar nicht: die Pflanze
ist nicht patentierbar und die Gewinnerwartung eines
Pharmaherstellers wohl noch zu gering, um eine Arzneimittelstudie
zur Medikamentenzulassung zu beantragen.
Aufgrund dieser Erfahrungen und derer fast einhundert
PatientInnen, die sich aufgrund eines einmaligen, etwa fünf-zeiligen
Aufrufes auf unserer Homepage spontan für eine Teilnahme oder
Unterstützung gemeldet haben möchten wir ein
Modellprojekt zur medizinischen Nutzung von Cannabisblüten für
schwer erkrankte Erwachsene initiieren, welches sich im
bestehenden gesetzlichen Rahmen bewegt: Antrag auf
Ausnahmegenehmigung aus öffentlichem Interesse nach Paragraf 3
Betäubungsmittelgesetz (BtMG) mit einer wissenschaftlichen
Begleitung des zeitlich begrenzten Versuches.
Cannabis kann für viele Menschen ein wirksames und
nebenwirkungsarmes Medikament sein. Leider sind die
Deutschland die Möglichkeiten, Cannabis in Form von Blüten oder
Arzneimitteln auf der Basis der Hanfpflanze bislang sehr
eingeschränkt: momentan besitzen in Deutschland lediglich 403
Personen eine Einzelausnahmegenehmigung nach Paragraf 3
BtMG. In Hessen sind es laut Auskunft des BfArM, welches auf
Antrag nach mehrmonatigem Genehmigungsverfahren erteilen
kann, 26 Personen. Aufgrund struktureller Lieferprobleme – kein
Produzent in Deutschland und Exportbeschränkungen für die
holländische Produktionsfirma ist auch für diese Menschen keine
Versorgungssicherheit für ihr verschriebenes Medikament gegeben.
Zudem zahlen die Krankenkassen grundsätzlich nicht für das
Medikament, sodass mehrere hundert Euro auf Privatrezept zu
140
Stellungnahme
Seite 8 von 9
zahlen sind. Auch viele dieser Menschen weichen deshalb auf den
kostengünstigeren Schwarzmarkt aus, ohne dass ihnen hier eine
gute und gleichwertige Qualität angeboten wird.
Das Projekt setzt sich zum Ziel, rechtssicher, dauerhaft und
qualitätsgeprüft mehr Menschen ärztlich verordnet Cannabis als
reale Therapieoption bzw. als Unterstützung einer begleiteten
Selbstmedikation zur Linderung von Beschwerden verfügbar zu
machen ohne dabei strafrechtliche Konsequenzen zu erleiden.
Das Projekt setzt sich aus 5 Teilbereichen zusammen:
1. Abgabe an ein PatientInnenkollektiv (ggf. über eine
Apotheke) im Rahmen eines zeitlich befristeten
Modellprojektes
2. Genehmigung zum Anbau durch die Aids-Hilfe Frankfurt
e.V. (AHF) ggf. in Kooperation mit einer Fachfirma
(fachliches Know-how und garantierter
Sicherheitsstandards), um eine nachgewiesene Qualität
und eine Sicherheit der Versorgung zu gewährleisten
3. Gruppenantrag der AHF für Menschen mit
unterschiedlichen Krankheiten, die bereits bislang
Einzelgenehmigungen zur medizinischen Nutzung
erhielten oder die Voraussetzungen hierfür erfüllen
4. Beratung und Begleitung einer Selbsthilfegruppe
(Aufklärung über Konsumformen, Wirkungen und
Risiken, Abhängigkeitsfragen, sowie auch Austausch von
Erfahrungen, AnwenderInnenfortbildung und
Dokumentation der Ergebnisse zur Qualitätssicherung,
Kooperation mit Ärzten
5. Wissenschaftliche Evaluation zu Nutzen und Grenzen der
modellhaften Anwendung und Verbesserung des
Gesundheitszustandes, ggf. Vergleichsstudie mit
synthetischen Cannabinoiden (Dronabinol bzw. Sativex)
Momentan befinden wir uns im Stadium der Vorbereitung der
verschiedenen Anträge und werben um politische, fachliche und
finanzielle Unterstützung des Vorhabens. Für Rückfragen bzw.
weitere Stellungnahme stehen wir Ihnen gern zur Verfügung.
141
Stellungnahme
Seite 9 von 9
Die Drogenpolitik des Landes ist beeindruckend und hat in vielen
Bereichen eine Vorreiterrolle eingenommen. Gerade auch in
Frankfurt am Main mit seinen beispielgebenden Projekten der
Prävention, Methadonvergabe, Drogenkonsumräumen und dem
Heroinprojekt.. Auch in der Cannabispolitik des Landes Hessen
hoffen wir auf eine klares Signal Ihrer Beratungen, denn wir sehen
in unserer täglichen Arbeit in vielen Bereichen sehr verzweifelte
Menschen und bitten Sie um Unterstützung unserer Vorhaben: viele
PatientInnen erwarten zu Recht eine Erleichterung ihrer Leiden und
Beschwerden.
142
Polizeipräsident Frankfurt am Main, 29.05.2015
Gerhard Bereswill Tel.: 069/755-80000
Kriminaldirektor 069/755-56000
Dieter Rein Polizeipräsidium Frankfurt
Adickesallee 70
60322 Frankfurt am Main
Hessischer Landtag
Vorsitzender des rechtspolitischen Ausschusses
Postfach 3240
65022 Wiesbaden
per Mail vorab
Schriftliche Anhörung durch den Rechtspolitischen Ausschuss, den Sozial-und Integrationspolitischen Ausschuss, den Kulturpolitischen Ausschuss und den Innenausschuss des Hessischen Landtags zu dem Dringlichen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN betreffend Alkohol- und Suchtprävention stärken – Drucks. 19 / 1177 –
Schreiben des Vorsitzenden des rechtspolitischen Ausschusses vom 21.04.2015, Az. I A 2.6, mit der Bitte um schriftliche Stellungnahme
Sehr geehrter Herr Heinz,
hiermit übersenden wir Ihnen die gemeinsame Stellungnahme von Herrn
Kriminaldirektor Rein sowie Herrn Polizeipräsident Bereswill, beide Polizeipräsidium
Frankfurt am Main, zu dem im Betreff genannten Thema, die sich an den von Ihnen
genannten Themenkomplexen orientiert.
Auf Grund der drogenpolitischen Historie der Stadt Frankfurt am Main (Stichwort
„Frankfurter Weg“) einschl. der Beteiligung der Frankfurter Polizei an diesen
Entwicklungen begrüßen wir die Einbeziehung der Frankfurter Polizei in die aktuelle
Diskussion und bedanken uns für die Aufnahme in den Kreis der Anzuhörenden.
143
2
1. Allgemeine Informationen zur Problematik von Cannabis in Frankfurt am Main
Die Stadt Frankfurt am Main und das umgebende Rhein-Main-Gebiet sind nach wie
vor ein bedeutsamer Absatzmarkt für Suchtmittel und eine international exponierte
Drehscheibe des Drogenhandels. Die damit einhergehende Kriminalität, die
Generierung von Geldern, deren Reinvestition in legale aber auch illegale
Geschäftsfelder und letztlich die durch Drogenhändler mögliche gesellschaftliche
Einflussnahme bedingen eine starke Gewichtung der Bekämpfung der
Drogenkriminalität mit einem entsprechenden Personaleinsatz.
Beim Polizeipräsidium Frankfurt (PP Frankfurt) sind zahlreiche Dienststellen,
beginnend von den Revieren, zivilen Einheiten der Polizeidirektionen Nord, Mitte und
Süd, der Verkehrsdirektion beim Erkennen von Drogenfahrten und nicht zuletzt der
Direktion Sonderdienste mit dem OSSIP-Programm (Offensive Sozialarbeit,
Sicherheit, Intervention und Prävention) im Kontext „Drogen“ involviert. Im Rahmen
der Bekämpfung liegt der Schwerpunkt auf harten Drogen und dort insbesondere
deren illegaler Einfuhr und dem Handel.
Im Bereich der Kriminaldirektion und hier innerhalb der Kriminalinspektion 60
(Organisierte Kriminalität, Rauschgiftdelikte und Wirtschaftskriminalität), beschäftigt
sich das Kommissariat 64 vorwiegend mit dem Straßenhandel und der mittleren
Rauschgifthändlerebene. Der Fokus liegt aktuell auf der Bekämpfung der offenen
und bandenmäßig organisierten Cannabishändlerszene, der Crackszene und hier auf
der durch nordafrikanische Händler dominierten Versorgung der Abhängigen im
Bahnhofsviertel.
Das Kommissariat 63 / GER (Gemeinsame Ermittlungsgruppe Rauschgift),
bestehend aus Kriminalbeamten/-innen des PP Frankfurt und dem Zollfahndungsamt
Frankfurt am Main, beschäftigt sich vorwiegend mit international tätigen
Rauschgifthändlerbanden im Kontext des illegalen Einfuhrschmuggels. Primär
handelt es sich hier um Ermittlungsverfahren, welche auf dem Schmuggel und
Handel von Heroin, Kokain, Haschisch und Marihuana basieren.
Die Anzahl der Cannabisdelikte (allgemeine Verstöße, illegaler Handel /
Schmuggel, illegale Einfuhr) beim Polizeipräsidium Frankfurt nimmt konstant zu und
ist derzeit fast doppelt so hoch wie Ende der 90er Jahre.
144
3
Quelle: PP Frankfurt am Main, K 60 / ASTOK
Da es sich bei Rauschgiftdelikten um sogenannte Kontrolldelikte handelt, ist der
deutliche Anstieg der Delikte auch mit einem erhöhten Kontrollaufkommen der
Frankfurter Polizei zu erklären.
Quelle: PP Frankfurt am Main, K 60 / ASTOK
145
4
Auffällig bei den Cannabisdelikten ist der sehr hohe Anteil der allgemeinen Verstöße
(Erwerb und Besitz) an der Gesamtfallzahl. Im Jahr 2014 betrug dieser Anteil 91 %.
Das entsprechende Dunkelfeld in Bezug auf Cannabisdelikte - ohne dabei konkrete
Zahlen nennen zu können – dürfte hiesigen Einschätzungen nach wesentlich höher
liegen.
Besonders auffällig ist im Vergleich zu anderen Drogenarten die Rolle von Cannabis
im Straßenverkehr. Von den im Jahr 2014 durch Mitarbeiter/-innen der Direktion
Verkehrssicherheit festgestellten 169 folgenlosen Fahrten unter Einfluss
berauschender Mittel fanden 112 Fahrten, und somit 66,3 Prozent, unter dem
Einfluss von Cannabis statt. Zu den berauschenden Mitteln zählen Drogen und
Medikamente; Alkohol ist hiervon nicht erfasst.
Auf Grund eines scheinbar in weiten Teilen der Gesellschaft verbreiteten und
akzeptierten Konsums von Cannabisprodukten ist auch der Handel mit diesen
offenbar nach wie vor ein lukrativer Markt. Als Folge haben sich im Stadtgebiet
Frankfurt am Main verschiedene Örtlichkeiten als überregional bekannte Märkte für
den Handel mit Cannabisprodukten etabliert. Zu nennen ist hier insbesondere der
Bereich um die Konstabler Wache. Die dortige Rauschgiftszene wird überwiegend
von nordafrikanisch und afghanisch stämmigen Personen dominiert. Trotz der über
die Stadtgrenzen hinaus verbreiteten Bekanntheit der entsprechenden
Umschlagsplätze in Frankfurt am Main ist polizeilich jedoch nur eine geringe
Sogwirkung auf externe Konsumenten zu verzeichnen. Die Gründe hierfür dürften in
der unproblematischen Verfügbarkeit von Cannabisprodukten im gesamten Rhein-
Main-Gebiet und darüber hinaus liegen.
Der größte Teil des in Frankfurt am Main erhältlichen Cannabis wird aus dem
Ausland, vornehmlich den Benelux-Ländern, importiert. Zunehmender Beliebtheit
erfreut sich daneben auch der Anbau von Cannabis-Pflanzen in „Indoor-Plantagen“.
Dafür erforderliches Equipment kann problemlos über sogenannte „Grow-Shops“ und
das Internet bezogen werden.
146
5
Für diesen Markt des Heimanbaus hat sich eine eigene Branche entwickelt. Nicht
unberücksichtigt bleiben darf, dass der THC-Gehalt bei Pflanzen aus derartigen
Indoor-Anlagen deutlich höher liegt als bei dem sonst gehandelten Pflanzengut und
daher einer besonderen Betrachtung bedarf; es stellt sich insofern die Frage, ob es
sich dann noch um eine „weiche Droge“ handelt.
Aber auch die Frage, ob Cannabis als Einstiegsdroge für „harte Drogen“ dient, wurde
und wird unterschiedlich bewertet. Vor allem aber die Frage nach der
Gesundheitsschädlichkeit von Cannabis, insbesondere für Jugendliche, ist
mittlerweile mittels vielen medizinischen Studien untersucht und darf nicht
unberücksichtigt bleiben. Abschließende Beurteilungen zu diesen beiden
Fragestellungen liegen derzeit nicht vor.
2. Prävention
Die Metropole Frankfurt am Main ist seit vielen Jahren überregional für Ihre
fortschrittliche Drogenpolitik, dem sogenannten „Frankfurter Weg“, bekannt. Dieser
steht für eine sich ständig weiterentwickelnde Drogenpolitik mit Schwerpunkten in
den Bereichen Prävention, Krisen- und Überlebenshilfe für schwerst
Drogenabhängige und Programmen zur gesellschaftlichen Reintegration von
Abhängigen, aber auch der Repression, vor allem in den Bereichen illegaler Handel
und illegale Einfuhr.
Die Verzahnung und permanente Weiterentwicklung der genannten Ansätze zur
Eindämmung der Drogenproblematik wird unter anderem in der bereits seit 1988
bestehenden und alle zwei Wochen tagenden „Montagsrunde“ geleistet. Unter der
Federführung des Gesundheitsamtes / Drogenreferats der Stadt Frankfurt am Main
kommen darin sämtliche mit der Drogenproblematik befassten Institutionen
zusammen, um aktuelle Entwicklungen im Zusammenhang mit Drogenkonsum zu
erörtern sowie Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dazu gehören neben der Polizei
die Staatsanwaltschaft, das Staatliche Schulamt, die Drogenhilfe sowie weitere
Institutionen.
147
6
Ein im Rahmen des „Frankfurter Wegs“ initiiertes Programm aus dem Bereich der
Jugendprävention, bei dem die zuvor erwähnte Verzahnung einzelner Institutionen
besonders deutlich wird, ist das bereits im Jahre 2004 gestartete Projekt „FreD“
(Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) des gemeinnützigen
Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe e.V..
Dieses Programm ist fester Bestandteil der Arbeit des Frankfurter
Rauschgiftkommissariats 64 und anderer sich mit Jugenddelinquenz befassender
Dienststellen. Erstauffälligen Konsumenten/-innen von Cannabis wird auf freiwilliger
Basis die Teilnahme an einem Informations- und Beratungsseminar angeboten. Bei
Teilnahme erhalten die Probanden eine Bescheinigung, die der Staatsanwaltschaft
zugesandt und von dieser zumindest strafmildernd berücksichtigt wird. In vielen
Fällen kann dies auch zu einer vollständigen Einstellung des Verfahrens führen.
Um Jugendliche vor den Folgen des Rauschgiftkonsums und der Straffälligkeit zu
schützen, engagiert sich das Polizeipräsidium Frankfurt am Main regelmäßig mit
Drogenpräventionsmaßnahmen an Frankfurter Schulen. Im Jahr 2010 wurde,
angestoßen durch die Präventionsstelle des Polizeipräsidiums, von hiesigem
Rauschgiftkommissariat 64 ein Konzept für Unterrichtseinheiten zur
Drogenprävention an Schulen initiiert. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 22 Vorträge
an schulischen Einrichtungen gehalten, Adressaten waren 675 Schüler und 175
Lehrer. Die Vorträge werden nur auf Antrag der Schule bzw. einzelner Lehrer
gehalten. Da Prävention nicht alleinige Aufgabe der Polizei ist, von hier aus aber
aktuell ein weitaus größerer Bedarf an solchen Präventionsveranstaltungen gesehen
wird, wären im Falle einer Änderung der Cannabisgesetzgebung dahingehende
umfangreichere oder für bestimmte Altersgruppen sogar verpflichtende Angebote
wünschenswert.
Besonders erwähnenswert ist hierbei, dass mit zunehmender Etablierung des
Cannabiskonsums und einhergehender gesellschaftlicher Liberalisierungsdebatte die
aktuellen wissenschaftlichen Informationen über gesundheitsschädigende Folgen
des Cannabiskonsums, insbesondere bei Jugendlichen, immer weniger beachtet
werden und damit auch die Wirkung von Präventionsangeboten zurückzugehen
scheint.
148
7
3. Medizinische Nutzung
Der Einsatz von Cannabis als Medikament (Medical Marihuana) ist keine
polizeiliche Fragestellung, erscheint aus unserer Sicht jedoch sachgerecht. Für die
Polizei ist lediglich der Nachweis einer Medikation wichtig, die im Falle einer Kontrolle
vorgezeigt werden kann.
4. Die Cannabisgesetzgebung und ihre Praktikabilität für die Polizei
Die weite Verbreitung der Droge Cannabis schlägt sich wie bereits dargestellt in den
entsprechenden Fallzahlen zu Cannabisdelikten nieder, was einen entsprechenden
Arbeitsaufwand für die Frankfurter Polizei nach sich zieht.
Dieser ist abhängig von
• der Tatbegehung (Handel oder Erwerb / Besitz),
• der Menge des sichergestellten Cannabis und
• dem Wirkungsgrad des Cannabis (THC-Gehalt in Prozent).
Der bloße Erwerb und Besitz (sog. Konsumdelikte) von Cannabisprodukten bis zu
einer Menge von 6 Gramm führt bei der justiziellen Bewertung in der Regel zur
Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Bei Überschreitung dieser Grenze erfolgt eine
Einzelfallbetrachtung durch die Staatsanwaltschaft. Unabhängig von der aktuell - in
Frankfurt am Main - praktizierten justiziellen Verfahrensweise, besteht für die Polizei
auf Grund des Strafverfolgungszwangs die Pflicht zur Anzeige dieser Delikte. Auf
Grund der absehbaren Einstellung der Verfahren wird hier allerdings ein
vereinfachtes ökonomisches Bearbeitungsverfahren angewandt.
Handelsdelikte führen hingegen unabhängig von der Menge des Betäubungsmittels
(BtM) in der Regel zu strafrechtlichen Sanktionen. Diese richten sich nach vielen
Faktoren, insbesondere jedoch nach der sichergestellten Menge. Hierbei wird
zwischen der „geringen“ und der „nicht geringen Menge“ unterschieden. Die nicht
geringe Menge beginnt ab einem Wirkstoffgehalt von 7,5 g THC. Bei einer
durchschnittlichen THC-Konzentration von rund 10 % ist die nicht geringe Menge bei
einer Sicherstellung ab 75 Gramm Marihuana anzunehmen. Diese Annahme ist
durch eine biologische Untersuchung beim kriminaltechnischen Institut des HLKA zu
bestätigen.
149
8
Eine solche Untersuchung erfolgt stets bei Handelsdelikten sowie Delikten im
Kontext Erwerb und Besitz von Cannabis, welche zur Anklage gebracht werden.
Die Straftaten oberhalb der Grenze zur nicht geringen Menge sind
Verbrechenstatbestände, d.h. sie sind vom Gesetzgeber mit einer Mindeststrafe von
einem Jahr Freiheitsentzug bewehrt.
Durch die beschriebenen Verfahrensabläufe (vereinfachte Bearbeitung) und der
Einstellungspraxis der Justiz kann bereits jetzt von einer praktizierten
Entkriminalisierung bei den Konsumenten (Erwerb und Besitz von Cannabis)
gesprochen werden. Von Seiten der Polizei werden daher die vorgenannten
ökonomischen Abläufe in der Bearbeitung von Delikten im Zusammenhang mit
Cannabis unbedingt angestrebt. Der kriminalstrategische Fokus liegt bei dem
Suchtstoff Cannabis auf Handelsdelikten.
Der von der Polizei im Rahmen der Ahndung der Konsumdelikte (Erwerb und Besitz)
betriebene Aufwand (vereinfachtes Verfahren) steht aktuell nicht in Relation zur
strafrechtlichen Sanktion. Daher wird jede weitere Form der Aufwandsminimierung
unter Kosten-Nutzen-Aspekten begrüßt.
5. Entkriminalisierungsdebatte
Bei der aktuellen öffentlichen Debatte um Liberalisierungsansätze wird insbesondere
im Umgang mit Cannabis häufig von „Entkriminalisierung“ gesprochen - jedoch nicht
differenziert genug.
Neben der bereits angesprochenen medizinischen Verwendung von Cannabis ist
dabei zu unterscheiden in zwei voneinander abzugrenzende Themenblöcke:
Entkriminalisierung und Modelle der kontrollierten Abgabe.
Der Begriff der Entkriminalisierung bedeutet im Rahmen der
Liberalisierungsdebatte die Nichtverfolgung von Erwerb und Besitz einer geringen
Menge Cannabis.
Die Definition einer solchen straffreien Menge ist aus polizeilicher Sicht nicht
unproblematisch.
150
9
Eine einfache Übertragung der bereits geschilderten aktuellen Einstellungspraxis der
Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main - die Einstellung von Konsumdelikten bis zu
einer Menge von sechs Gramm Cannabis (sog. „kleine Entkriminalisierung“) – in die
Rechtswirklichkeit wäre somit kritisch zu sehen, wenn gleich damit die
Gleichbehandlung von Cannabiskonsumenten und Konsumenten harter Drogen, die
die Druckräume aufsuchen, erreicht würde. Bei diesen wird de facto der Erwerb und
Besitz im unmittelbaren Umfeld der Druckräume nicht verfolgt.
Der Grund hierfür liegt in der Signalwirkung, die bereits heute von der genannten
justiziellen Verfahrensweise ausgeht und die durch die Freigabe einer geringen
Menge Cannabis weiter verstärkt werden dürfte. Eine gesteigerte gesellschaftliche
Akzeptanz eines ohnehin scheinbar etablierten Konsums – auch und insbesondere
bei Jugendlichen - sowie ein leichtfertigerer Umgang mit „weichen Drogen“ wären zu
erwarten. Einer stärkeren flächendeckenden Drogenprävention unter Einbindung
verschiedenster gesellschaftlicher Institutionen käme eine noch größere Bedeutung
zu, würde aber weniger akzeptiert und damit schwieriger werden.
Weitere Aspekte, die in die Diskussion um die Entkriminalisierung von Cannabis
einfließen müssen, sind die Teilnahme von Konsumenten am Straßenverkehr (wie
damit umgehen?) und mögliche Auswirkungen des Konsums auf bestimmte
Berufsgruppen (Führen von Arbeitsmaschinen, Waffen etc.). Entsprechende
Erörterungen dürften sich hier als komplex und schwierig erweisen.
Aus polizeilicher Sicht stellt sich aber auch die Frage nach Auswirkungen einer
Entkriminalisierung von Cannabis auf den illegalen Rauschgiftmarkt und in Folge auf
die polizeiliche Arbeit.
Nach hiesiger Einschätzung wäre ein Anstieg im Konsumverhalten durch einen
grundsätzlich noch leichtfertigeren Umgang mit „weichen Drogen“ einzukalkulieren.
Daher wäre damit eine Reduzierung des Rauschgiftmarkts eher unwahrscheinlich.
Es bestünde vielmehr die Gefahr eines Anstiegs der Fälle des illegalen Handels und
der illegalen Einfuhr.
Durch die Freigabe einer bestimmten Menge Cannabis würde der Polizei und den
Justizbehörden die Möglichkeit des Einschreitens bzw. der Strafverfolgung unterhalb
einer dann vorgegebenen Schwelle genommen, was wiederum eine Beschränkung
der aktuell gegebenen Handlungsmöglichkeiten bedeutet. Dies wäre bei einer
gesetzlichen Neuregelung in jedem Fall zu vermeiden.
151
10
Die Entkriminalisierung darf nicht zum Kompetenzverlust der
Strafverfolgungsbehörden führen. Dieser würde wahrscheinlich seitens einiger
Konsumenten, aber sicherlich von den Händlern ausgenutzt werden.
Ein Freiwerden polizeilicher Ressourcen wäre durch eine Entkriminalisierung kaum
zu erwarten. Zwar würden einerseits die Fertigung einfacher Betäubungsmittel-
Vorgänge unterhalb der freigegebenen Menge sowie personalintensive
Personenkontrollen und Razzien an Brennpunkten des Cannabishandels entfallen,
andererseits müsste jedoch die Kontrolle der Einhaltung neuer Bestimmungen und
Strafvorschriften gewährleistet sowie eine zu erwartende Fallzahlensteigerung bei
Einfuhr- und Handelsdelikten bearbeitet werden.
Neben der grundsätzlichen Freigabe einer geringen Menge Cannabis werden auch
unterschiedliche Modelle der kontrollierten Abgabe kontrovers in der Gesellschaft
diskutiert. Als Vorbilder werden hier häufig Modelle aus anderen Ländern
herangezogen, die in den Augen der Befürworter erfolgreich zu sein scheinen.
Solche Vergleiche hinken in der Regel, da höchst fraglich ist, inwiefern sich
ausländische Verhältnisse auf hiesige übertragen lassen.
Sowohl die Frage nach den Rahmenbedingungen als auch die nach dem Umfang
der staatlichen Kontrolle (Woher werden die Cannabisprodukte bezogen? Welchen
Wirkstoffgehalt dürfen sie haben? Welche Menge darf abgegeben werden? Welcher
Personenkreis darf beziehen?) dürften nach heutigem Kenntnisstand insbesondere
in Bezug auf Risiken des Konsums kaum abschließend zu beantworten sein.
Auch bei der Betrachtung von Modellen der kontrollierten Abgabe werden Fragen in
Bezug auf die hypothetische Entwicklung des Rauschgiftmarktes aufgeworfen.
Die kontrollierte Abgabe von Cannabis hätte hiesiger Meinung nach wenig oder
kaum positive Auswirkungen auf den illegalen Cannabismarkt. Der Schwarzmarkt
dürfte dann zwar kleiner als der heutige illegale Markt sein, grundsätzlich wäre
jedoch mit einer Koexistenz des legalen und des illegalen Marktes zu rechnen, die in
Preis und Qualität konkurrieren würden. Der illegale Markt würde dabei versuchen,
sich durch billigere Preise zu etablieren. Insbesondere Minderjährige dürften, sofern
sie keine Möglichkeiten haben über Dritte Cannabis aus dem legalen Markt zu
beziehen, dem illegalen Markt als Kunden erhalten bleiben. Mit einer aggressiven
Akquise Minderjähriger als Kunden wäre zu rechnen.
152
11
An dieser Stelle sei angemerkt, dass ein Vergleich mit der kontrollierten Abgabe von
Heroin nicht zielführend ist. Bei dieser handelt es sich um eine Maßnahme der
Überlebenshilfe, eine der Säulen des „Frankfurter Wegs“, währenddessen die
Vergabe von Cannabis in der Regel unter dem Oberbegriff „Konsum“ zu
subsumieren ist.
Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass bei einer Neugestaltung der
Cannabisgesetzgebung klarstellende Regelungen zu folgenden Bereichen erörtert
werden müssten:
• Abgrenzung Eigenanbau zum Eigenkonsum und Handel
• Problem der Zuordnung von Cannabispflanzen in einer Wohnung zu dort
aufenthältlichen, wohnenden oder vermeintlich gemeldeten Personen
• Mitführen von Kaufnachweisen des erworbenen Cannabis für den Fall einer
polizeilichen Kontrolle
• (Fragliche) Strafbarkeit synthetischer Cannabinoide wegen THC-Vergleichbarkeit
• Polizeilicher Kontrollaufwand zur Gewährleistung des Jugendschutzes
• Verfahrensweise bei mit THC versetzten Lebensmittelprodukten
• Gesamtgesellschaftliche Neukonzeptionierung der Drogenprävention
Letztendlich dürfte im Falle einer wie auch immer gearteten Liberalisierung auch eine
neue Bewertung der Verwerflichkeit des illegalen Handels mit sowie der illegalen
Einfuhr von Cannabis vorgenommen werden.
Wie oben aufgezeigt enthalten alle Themenblöcke viele offene Ansätze und
Problemstellungen. Jeder Themenblock für sich sollte einer sachlichen, möglichst
unvoreingenommenen und interdisziplinären Betrachtung unterzogen werden, um
Möglichkeiten aber auch Risiken und auch Probleme für etwaige
Veränderungsansätze aufzuzeigen.
153
12
Aus unserer Sicht sind derzeit und mit heutigem Erkenntnisstand sowohl die
Freigabe einer geringen Menge Cannabis als auch die kontrollierte Abgabe einer
solchen grundsätzlich zu verneinen.
Dies gilt in besonderem Maße für eine Insellösung in Bezug auf die Stadt Frankfurt
am Main, welche eine Sogwirkung auf Konsumenten aus dem Umland nach sich
ziehen würde.
gez. gez.
Bereswill Rein
Polizeipräsident Kriminaldirektor
154
1
Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN
betreffend Alkohol- und Suchtprävention: Drucksache 19/1177
Schriftliche Stellungnahme zu o.g. Vorlage
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Mitglieder des Rechtspolitischen Ausschusses des
Hessischen Landtags,
sehr herzlich bedanke ich mich bei Ihnen für die Einladung zu o.g. Vorlage Stellung nehmen zu
können. Vorab möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass ich als klinisch tätige Ärztin und
Wissenschaftlerin zwar zur medizinischen Verwendung von Cannabis und den Gefahren von Cannabis
als Suchtmittel Stellung nehmen kann, nicht aber zu juristischen Aspekten.
Cannabis ist eine Pflanze, die – wie viele andere natürlich vorkommende Pflanzen auch – eine
Vielzahl von Wirkungen hat. Es ist unstrittig, dass Cannabis ein physisches und psychisches
Abhängigkeitspotential aufweist, das aber etwa im Vergleich zu Alkohol, Nikotin und anderen
(illegalen) Drogen verhältnismäßig gering ist. Dies findet nicht zuletzt in der Tatsache Ausdruck, dass
die Zahl der Menschen, die wegen einer reinen Cannabisabhängigkeit Suchtberatungsstellen aufsucht
oder sich in eine stationäre Entgiftungsbehandlung begibt, gering ist – etwa im Vergleich zu Menschen
MHH OE 7110 Carl-Neuberg-Str. 1 D-30625 Hannover
Zentrum für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und
Psychotherapie
Direktion
Prof. Dr. med. Stefan Bleich
Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl
Telefon: 0511 532-3551/5258
Fax: 0511 532-3187
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
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An den Vorsitzenden des RTA Herrn Christian Heinz Hessischer Landtag Postfach 3240 65022 Wiesbaden
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05.06.2015
155
2
mit Alkoholabhängigkeit. Das Abhängigkeitspotenzial von Cannabis-basierten Medikamenten - im
Kontext einer medizinisch indizierten und ärztlich überwachten Behandlung - kann vernachlässigt
werden. Mir ist kein einziger Patient bekannt, der gegen seinen Willen - wegen einer eingetretenen
Abhängigkeit von Cannabis-basierten Medikamenten – entweder eine kontinuierliche Dosissteigerung
durchführte oder die Behandlung nicht beenden konnte. Solche Berichte finden sich auch nicht in der
wissenschaftlichen Literatur.
An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es keinesfalls ein Widerspruch
ist, dass Cannabis einerseits als wirksames Medikament eingesetzt werden kann und andererseits als
Suchtmittel missbraucht wird. Dies ist eine Tatsache, die wir von zahlreichen anderen hochwirksamen
Medikamenten kennen, etwa den Benzodiazepinen (wie Valium) oder Morphium. Niemand wird aber
wegen des möglichen Missbrauchs dieser Substanzen deren hohen therapeutischen Nutzen ernstlich in
Frage stellen wollen. Demgegenüber gelingt es vielen Personen bis heute nicht, diese Trennung
zwischen Missbrauch einerseits und wirksamem Medikament andererseits vorzunehmen, wenn es um
die Diskussion zu Cannabis geht. Gründe hierfür sind einzig im gesellschaftspolitischen und
historischen Kontext zu sehen, basieren aber nicht auf sachlichen und wissenschaftlichen Argumenten.
Grundsätzlich sollte bei allen Überlegungen zum Gebrauch von Cannabis (egal ob zu medizinischen
Zwecken oder in Zusammenhang mit einem Freizeitkonsum) unterschieden werden zwischen
Wirkungen und Gefahren bei Kindern und Jugendlichen einerseits und Erwachsenen andererseits – so
wie dies nicht nur für legale Drogen wie Nikotin und Alkohol gängige Praxis ist, sondern auch in der
Bewertung einer medikamentösen Behandlung regelmäßig erfolgt. Alle nachfolgenden Ausführungen
beziehen sich auf den Einsatz von Cannabis-basierten Medikamenten bei Erwachsenen. Bei Kindern
sind – wie stets – besonders strenge Regeln beim Gebrauch nicht zugelassener Medikamente
anzulegen. Dennoch werden auch heute schon bei Kindern Cannabis-basierte Medikamente erfolgreich
eingesetzt – etwa in der Krebstherapie zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen infolge einer
Chemotherapie.
Cannabis-basierte Medikamente haben zweifelsohne einen medizinischen Nutzen. Dies hat in den
vergangenen Jahren bereits zur Zulassung verschiedener Medikamente (wie Marinol® und Sativex®)
durch nationale Behörden geführt, etwa bei den Indikationen „therapieresistente Spastik bei Multipler
Sklerose“, „Appetitsteigerung bei AIDS“, „neuropathische Schmerzen“ und „Behandlung von
Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie“. Wegen des im menschlichen Körper
nachgewiesenen körpereigenen Cannabinoid-Rezeptorsystems (mit verschiedenen Bindungsstellen und
Botenstoffen) ist davon auszugehen, dass die Wirkungen Cannabis-basierter Medikamente
156
3
überwiegend nicht durch unspezifische (etwa Sedierung), sondern durch spezifische, über Rezeptoren
vermittelte Effekte hervorgerufen werden.
Es gibt gut begründete Hinweise darauf, dass Cannabis-basierte Medikamente bei zahlreichen weiteren
(neben den oben genannten, in Deutschland oder anderen Ländern zugelassenen) Erkrankungen und
Symptomen sinnvoll eingesetzt werden können. Dies ist immer dann von besonderem medizinischen
Interesse, wenn für diese Erkrankungen bzw. Symptome keine weiteren Behandlungsalternativen zur
Verfügung stehen oder die verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten bei vielen Patienten unzureichend
wirken oder oft zu klinisch relevanten Nebenwirkungen führen. Aus entsprechenden Umfragen ist
bekannt, dass Patienten mit sehr unterschiedlichen Erkrankungen bzw. Symptomen Cannabis zur
Behandlung oder Linderung einsetzen. Schnell könnte daraus der voreilige Schluss gezogen werden,
dass eine Substanz, die bei derart vielen verschiedenen Indikationen einen vermeintlichen
therapeutischen Nutzen hat, die Wirkung womöglich viel eher auf einen starken Placeboeffekt
zurückzuführen sei. Aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht ist ausdrücklich vor derartigen
vorschnellen (und mehrheitlich vermutlich falschen) Einschätzungen zu warnen: Das Cannabinoid-
Rezeptorsystem ist – mit seinen verschiedenen Bedingungsstellen – in der Tat sehr weit im
menschlichen Körper verbreitet und dies könnte durchaus plausibel erklären, warum Cannabis bzw.
Cannabis-basierte Medikamente tatsächlich sehr vielfältige Wirkungen aufweisen und deswegen auch
in der Medizin vielfältig eingesetzt werden könnten. Nach heutigem Kenntnisstand scheint dem
Cannabinoid-Rezeptorsystem eine modulierende Wirkung zuzukommen, das heißt, dass eine
Stimulation oder Hemmung dieses Systems Auswirkungen auf zahlreiche andere Botenstoffsysteme
im menschlichen Körper hat.
Viele neurologische und psychiatrische Erkrankungen können auf Fehlfunktionen in
Hirnbotenstoffsystemen (etwa dem dopaminergen oder serotonergen System) zurückgeführt werden.
Beispielhaft sei die Parkinson‘sche Erkrankung genannt, die durch einen Dopaminmangel im Gehirn
verursacht wird. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass heute bereits bekannte
Erkrankungen ursächlich auf eine Störung (im Sinne einer Über- oder Unterfunktion) des
Cannabinoid-Rezeptorsystems zurückzuführen sind. Bis heute konnte ein solcher Nachweis allerdings
für keine bekannte Erkrankung erbracht werden, u.a. auch deswegen, weil das Cannabinoid-
Rezeptorsystem mit seinen Bindungsstellen (CB1- und CB2-Rezeptoren) und Botenstoffen (wie
Anandamid und 2-AG) erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde und Nachweismethoden, die
umschriebene Veränderungen in diesem komplexen System aufdecken könnten, überwiegend noch in
der Entwicklung sind. Unter der Annahme, dass bestimmte Erkrankungen in der Tat auf eine
umschriebene Fehlfunktion im Cannabinoid-Rezeptorsystem zurückzuführen sind, ist es nur allzu
verständlich, dass bei diesen Patienten folglich Behandlungen mit Cannabis-basierten Medikamenten
157
4
zu einer Symptomverbesserung führen. Von dieser Hypothese ausgehend wäre somit nicht etwa von
einer unspezifischen Wirkung (etwa durch Müdigkeit oder eine veränderte Wahrnehmung), sondern
vielmehr von einer hoch spezifischen und selektiven Wirkung auszugehen: durch eine Behandlung mit
Cannabis-basierten Medikamenten würde ein bestehendes Defizit teilweise oder vollständig
kompensiert und so klinisch eine Symptomlinderung erzielt werden. Eine solche Wirkung wäre
vergleichbar mit der Behandlung eines Patienten mit Parkinson‘scher Erkrankung mit dem dopaminerg
wirkenden Medikament L-Dopa.
Aus meiner eigenen jahrzehntelangen klinischen Tätigkeit als Neurologin und Psychiaterin in der
Behandlung von Patienten mit Tic-Störungen und Tourette-Syndrom weiß ich, dass zahlreiche
Menschen mit diesen Erkrankungen zur Linderung ihrer Tics und der psychiatrischen
Begleitsymptome (etwa Zwänge und eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS))
Cannabis gebrauchen, da andere (medikamentöse und verhaltenstherapeutische) Therapien unwirksam,
nebenwirkungsreich oder nicht verfügbar sind. Da die Krankenkassen ist Kostenübernahme für die
teuren (und in dieser Indikation nicht zugelassenen) Cannabis-basierten Medikamente (etwa
Dronabinol®, Sativex®) oft ablehnen, die Patienten die Kosten aber zumeist nicht selbst tragen
können (meist mehrere hundert Euro pro Monat), greifen viele auf den illegalen Cannabiskonsum
zurück. Theoretisch besteht für diese Patienten alternativ zwar die Möglichkeit, bei der
Bundesopiumstelle eine Erlaubnis zum Erwerb eines Cannabisextraktes (aus der Apotheke) zu
erlangen. Auch dies ist aber mit Hindernissen behaftet, da die Kosten ebenfalls von den Patienten
selbst getragen werden müssen und nicht selten der Erwerb des Extraktes wegen Lieferschwierigkeiten
der holländischen Firma Bedrocan schlicht nicht möglich ist.
Nicht nur von Seiten der Krankenkassen wird gefordert, dass – vor einer Kostenübernahme - zunächst
Studien vorzulegen seien, in denen die Wirkung Cannabis-basierter Medikamente eindeutig
nachgewiesen wurde. Grundsätzlich kann ich diese Forderung voll und ganz unterstützen: die Wirkung
eines Medikamentes kann dann als eindeutig nachgewiesen gelten, wenn dies in entsprechenden
großen kontrollierten Studien gezeigt werden konnte. Am Beispiel des Tourette-Syndroms kann ich als
Wissenschaftlerin, Ärztin und Leiterin der größten Tourette-Sprechstunde Deutschlands allerdings
auch verdeutlichen, wie schwierig dies im konkreten Einzelfall sein kann. Aktuell sind es nur kleine
Firmen, die Medikamente auf Cannabisbasis herstellen und vermarkten. Trotz mehrfacher konkreter
Anfrage wurde eine Kostenübernahme für eine solche Studie zum Tourette-Syndrom stets abgelehnt.
Daraufhin wurde unter meiner Leitung 2014 ein einsprechenden Förderantrag an die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) gestellt. Wegen der sehr begrenzten finanziellen Mittel für diese Art
der klinischen Forschung wurde der Antrag jedoch abgelehnt. Aktuell haben wir - in der Hoffnung auf
Bewilligung - erneut einen Förderantrag an die DFG gestellt. Für Patienten mit Tourette-Syndrom
158
5
entsteht eine absurde Situation ohne Ausweg: die Kostenübernahme für eine Behandlung mit
Cannabis-basierten Medikamenten durch die Krankenkasse kann – wegen fehlender Studien zum
Wirknachweis und damit fehlender Zulassung – von den Patienten nicht eingeklagt werden. Die
erheblichen Kosten für die verfügbaren, verschreibungsfähigen Medikamente (Dronabinol®,
Sativex®) können die meisten Patienten selbst nicht aufbringen. Erhalten die Patienten eine Erlaubnis
von der Bundesopiumstelle für den Kauf eines Cannabisextraktes in der Apotheke, müssen die Kosten
ebenfalls in aller Regel selbst getragen werden. In dieser Situation weichen nicht wenige Patienten auf
einen illegalen Konsum von Cannabis zur Linderung ihrer Krankheitssymptome aus, obwohl sie eine
kontrollierte und ärztlich überwachte Behandlung eindeutig bevorzugen würden. Am Beispiel des
Tourette-Syndroms offenbart sich die Widersprüchlichkeit der derzeitigen Praxis in besonderem Maße,
da für diese Indikation in Deutschland nur ein einzigen Medikament (Haloperidol) offiziell zugelassen
ist, das aber wegen starker Nebenwirkungen nicht mehr empfohlen und gebraucht wird. Stattdessen
werden verschiedene andere Psychopharmaka eingesetzt – und von den Krankenkassen auch erstattet –
obwohl diese (ebenso wie Cannabis-basierte Medikamente) nicht zugelassen und zum Teil sehr teuer
sind. Aus bisher unklaren Gründen wirken diese Medikamente aber nicht bei allen Patienten mit
Tourette-Syndrom oder führen zum Teil zu schwerwiegenden Nebenwirkungen. Daher stellt für diese
Patienten eine Behandlung mit Cannabis-basierten Medikamenten eine sinnvolle und wichtige
Erweiterung unseres Behandlungsspektrums dar. Bei nicht wenigen der von mir behandelten Patienten
war eine Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten wirksam und gut verträglich und somit
deutlich effektiver als zuvor eingesetzte etablierte (ebenfalls nicht zugelassene) Medikamente.
Aus medizinsicher und wissenschaftlicher Sicht wäre es sinnvoll und notwendig, Forschungsmittel zur
Verfügung zu stellen (im Idealfall unabhängig von der pharmazeutischen Industrie!), um die Wirkung
von Cannabis-basierten Medikamenten in den nächsten Jahren intensiv erforschen zu können. Nur auf
diesem Wege kann zweifelsfrei festgestellt werden, bei welchen Indikationen Cannabis-basierte
Medikamente wirksam sind bzw. welche Substanzen (z.B. einzelne Cannabinoide wie
Tetrahydrocannabinol (THC) (=Dronabinol), Kombinationen verschiedener Cannabinoide (THC plus
Cannabidiol (=CBD) (wie etwa in Nabiximols (=Sativex®) oder ein Gesamtpflanzenextrakt) bei
welchen Indikationen am effektivsten und nebenwirkungsärmsten sind. Nur durch gezielte Forschung
und derartige klinische Studien lassen sich diese Fragen beantworten und damit klären, bei welchen
Patienten die Kosten für Behandlungen mit Cannabis-basierten Medikamenten von der Gemeinschaft
(und damit den gesetzlichen Krankenkassen) übernommen werden sollten wie andere wirksame
Behandlungen auch.
Bis zum Vorliegen entsprechender Forschungsergebnisse werden allerdings noch Jahre vergehen.
Daher bedarf ist heute Übergangsregelungen. Patienten, bei denen durch den behandelnden Facharzt
159
6
festgestellt wurde, dass eine Behandlung mit Cannabis-basierten Medikamenten sinnvoll und
alternativlos ist, sollte schon heute – trotz eines fehlenden, zweifelsfreien wissenschaftlichen
Wirknachweises - eine legale und kostenfreie Behandlung zugänglich sein. Es sollte die Aufgabe der
Gesellschaft und Politik sein zu verhindern, dass diese Patienten lediglich auf illegalem Wege Zugang
zu ihren Medikamenten haben.
Wir sollten aufhören, in der Behandlung schwer und chronisch kranker Patienten mit zweierlei Maß zu
messen: während die Behandlungskosten für andere nicht zugelassene, ansonsten aber etablierte
Medikamente häufig von den gesetzlichen Krankenkassen übernommenen werden (etwa für
Psychopharmaka wie Aripiprazol bei Patienten mit Tourette-Syndrom), wird eine Kostenübernahme
von Cannabis-basierten Medikamenten abgelehnt – auch wenn die Kosten dafür nicht einmal höher
sind, die Datenlage vergleichbar schlecht ist und in einem ärztlichen Gutachten bescheinigt wird, dass
keine Behandlungsalternativen bestehen. Oft kann man sich als behandelnde Ärztin dann nicht des
Eindrucks erwehren, dass die Ablehnung der Kostenübernahme einzig in der Tatsache begründet ist,
dass es sich um ein Cannabis-basiertes Medikament handelt.
(Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl)
160
1
Stellungnahme zum Entschließungsantrag Drucks. 19/117 (Az. I A 2.6):
(Dr. Leo Teuter)
Vorweg möchte ich betonen, dass es mir wohl kaum möglich sein wird, Sie in der
folgenden Stellungnahme mit wirklich neuen, bisher unbekannten Gesichtspunkten
zum Thema „Cannabis“ zu überraschen. Eigentlich ist alles gesagt, eigentlich ist alles
bekannt. Deshalb soll an dieser Stelle zunächst nur auf folgende Veröffentlichungen
hingewiesen werden:
Bericht der Globalen Kommission zur Drogenpolitik der UN1;
Von der Politik der illegalen Drogen zur Politik der psychoaktiven Substan-
zen2;
Entkriminalisierung von Drogenkonsumenten – Legalisierung von Drogen3;
Die Drogenlüge4;
Die Resolution deutscher Strafrechtsprofessorinnen und –professoren an die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages5;
2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 20156;
Eine Vielzahl von Medienberichten7
Wer diese veröffentlichten Materialien kennt und sich damit auf dem aktuellen Stand
der Fachdiskussion befindet, kann letztlich nicht zu dem Ergebnis kommen, es wäre
sachgerecht, an der Cannabisprohibition festzuhalten. Deshalb werden von Vertre-
tern der Prohibition statt sachlicher Argumente auch eher abwegige Thesen aufge-
stellt8 und irrationale Ängste verbreitet.
Nein! Es geht bei der Entkriminalisierung nicht um die Ausweitung des Drogenge-
brauchs, sondern um den sachgerechten Umgang mit einem gesellschaftlichen 1 www.globalcommissionondrugs.org 2 Eidgenössische Kommission für Drogenfragen, Verlag Hans Huber 2006 3 Gerlach/Stöver (Hrsg.) Fachhochschulverlag Frankfurt, 2012 4 Bröckers, Frankfurt 2010 5 http://www.schildower-Kreis.de/themen/ 6 www.alternativer-drogenbericht.de. In diesem 2. alternativen Drogen- und Suchtbericht ist ein Beitrag von Jesse/Köthner enthalten, der auf sieben Seiten (fast) alle relevanten Themen zur Drogenprävention anspricht und schlüssig beantwortet. Anstatt aus diesem Beitrag wiederholt und umfangreich zitieren, habe ich mir erlaubt, ihn vollständig als Anhang beizufügen. Er ist Teil meiner Stellungnahme. 7 Zuletzt z.B. http://future.arte.tv/de/drogen-und-medizin 8 So z.B. der Titel des Plädoyers von StA Volkmer wider die Entkriminalisierung des Umgangs mit Drogen „Crystal Meth für alle?“, Blutalkohol, 2014, S. 201ff.
161
2
Phänome, das nicht einfach geleugnet werden darf. Wer von einer drogenfreien Ge-
sellschaft träumen will, mag träumen. Als Grundlage für eine überzeugende (Landes-
) Politik sind solche Wunschphantasien allerdings ungeeignet.
Die Tatsachen liegen vielmehr auf den Tisch, es fehlt bisher alleine am politischen
Willen, entsprechend zu handeln.
Nach diesen Vorbemerkungen soll nun aber nachfolgend in der gebotenen Kürze auf
die in dem Schreiben vom 21.04.2015 genannten Themen eingegangen werden.
1. Allgemeine Information zum Problem von Cannabis und zur Situation in
Hessen
Das größte Problem von Cannabis ist die Cannabisprohibition, nicht der Stoff an sich.
Oder genauer formuliert: das Problem ist die extreme Diskrepanz zwischen der so-
zialen Realität und der ihr nicht entsprechenden Rechtslage.
Einerseits ist der Konsum von Cannabis weit verbreitet und richtet erkennbar keine
wesentlichen Schäden an. Diese Verbreitung existiert sowohl in der realen wie auch
in der medialen Welt. In der Realität ist Cannabis jederzeit und völlig unproblema-
tisch verfügbar. André Schulz (Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter)
nannte in der ZDF Sendung „Zoff ums Kiffen“ vom 12.05.2015 eine vorsichtige
Schätzung von 1-4 Tonnen als täglicher Cannabiskonsum-Menge in Deutschland.
Soviel zur Alltäglichkeit des Umgangs mit Cannabis in der Realität der BRD.
Diese spiegelt sich auch in den Medien wider. In einer Vielzahl von Fernsehsendun-
gen (Sitcoms, Talkshows, ect. ) wird mit größter Selbstverständlichkeit über den ei-
genen Cannabiskonsum gesprochen. In der bereits eingangs erwähnten Expertise
aus der Schweiz aus dem Jahre 2006 (FN 2) steht auf S. 76 der Satz: „Das abendli-
che Bier des Vaters und der Joint der Tochter an einer Party können durchaus mitei-
nander verglichen werden und dieselbe Funktion erfüllen.“
Es gibt also einen sehr selbstverständlichen Umgang mit Cannabis in Deutschland.
162
3
Zudem liegen zunehmende Erfahrungen mit der faktischen und/oder rechtlichen Ent-
kriminalisierung im Umgang mit Cannabis (Niederlande, Spanien, Portugal, große
Teile der USA, Uruguay) vor, ohne dass es in diesem Ländern zu irgendwelchen
gravierenden Problemen gekommen wäre. Das Ausbleiben von Nachteilen als Folge
der Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis ist also nicht nur logisch. Es ist
auch empirisch belegt9.
Trotzdem werden in Deutschland immer noch Personen, die sich frei und selbstbe-
stimmt für den Genuss von Cannabis entscheiden, die sich damit selbst etwas Ent-
spannung und Freude verschaffen wollen, die damit niemanden gefährden oder
schaden, in nicht wenigen Fällen als Schwerverbrecher behandelt. Ein fiktives, aber
realitätsnahes Beispiel vermag dies zu verdeutlichen: Drei im Leben stehende, er-
folgreiche und selbstbewusste Personen beschließen, sich in Amsterdam regelmäßig
mit einer Jahresration Cannabis einzudecken. Sie fahren wiederholt nach Amsterdam
und geraten schließlich hinter der deutschen Grenze auf der Rückreise in eine Kon-
trolle. Das Cannabis wird entdeckt. Die drei Personen werden wegen der banden-
mäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 30a BtMG) ange-
klagt. Die Strafandrohung lautet wie bei einem vorsätzlichen Totschlag (§ 212 StGB):
Mindeststrafe fünf Jahre. Das stammt nicht aus einem Horrorfilm. Das ist geltende
Rechtslage.
Das Problem von Cannabis ist also nicht der Stoff oder - jedenfalls in der Regel - der
Umgang damit, sondern seine rechtliche Einordnung.
2. Prävention, insbesondere bei Jugendlichen
Es soll mit den vorstehenden Ausführungen keineswegs bestritten werden, dass
auch der Umgang mit Cannabis, wie bei jeder anderen Substanz auch, problemati-
sche Formen annehmen kann. Zudem liegen Erkenntnisse vor, wonach massiver
Cannabiskonsum im Kindes- und Jugendalter zu gravierenden Schäden führen kann.
Deshalb ist der Jugendschutz in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeu-
tung.
9 Auf der offiziellen Seite des holländischen Fremdenverkehrsverbandes liest man: „Die niederländische Dro-genpolitik war im Vergleich zur Drogenpolitik in anderen Ländern relativ erfolgreich, vor allem was die Präven-tion und Betreuung betrifft. Die Zahl der Konsumenten unterschiedlicher Drogen ist nicht höher als in anderen Ländern und die Anzahl an drogenbedingten Todesfällen ist mit 2,4 pro Million Einwohner europaweit am ge-ringsten.“ http://www.holland.com/de/tourist/artikel/niederlandische-drogenpolitik.htm
163
4
Aber gerade hinsichtlich des allseits betonten Jugendschutzes ist die weitgehende
Dysfunktionalität der Cannabisprohibition zu konstatieren. Auch insoweit ist der
prohibitionistische Ansatz ersichtlich gescheitert. Diese Tatsache zu ignorieren ist
das Gegenteil eines effektiven Jugendschutzes.
Dieses Scheitern der Prohibition ist jedoch auch nicht weiter überraschend und hat
mehrere Gründe.
Zunächst führt gerade die Prohibition zur unproblematischen Verfügbarkeit von Can-
nabis für jedermann, also auch für Minderjährige. Jugendliche, die Schnaps kaufen
wollen, sollen und werden - jedenfalls teilweise - kontrolliert und am Erwerb gehin-
dert. Dass es Möglichkeiten gibt, diesen Jugendschutz zu umgehen, kann und soll
nicht geleugnet werden. Aber es gibt ihn immerhin. Der Schwarzmarkt hingegen
kennt solche Mechanismen überhaupt nicht.
Außerdem sind Regeln, die sich einer rational-kritischen Prüfung entziehen, gerade
bei Jugendlichen ungeeignet, normkonformes Verhalten auszulösen oder zu verstär-
ken. Da es aber auf die Frage, warum der Umgang mit Cannabis kriminalisiert ist,
keine überzeugende Antwort gibt, sind gerade Jugendliche geneigt, sich über dieses
Verbot hinwegzusetzen.
Und schließlich verhindert die Cannabisprohibition einen offenen und ehrlichen Dis-
kurs über dieses Thema. Eine Lehrerin etwa, die dieses Thema ansprechen will und
nach eigenen Erfahrungen gefragt wird, darf diese eigentlich nicht zugeben und wird
deshalb kaum noch als kompetente Gesprächspartnerin akzeptiert.
Deshalb ist vor allem im Hinblick auf den Jugendschutz eine offene, ideologiefreie
und erfahrungsbasierte Auseinandersetzung zwingend notwendig. Wer Jugendliche
erreichen will, muss sie überzeugen. Verbote, die nicht zu begründen sind, wirken
nicht. Und dies ist im Sinne einer Erziehung zum kritischen Menschen sogar ausge-
sprochen erfreulich.
164
5
Damit zeigt sich vor allem im Hinblick auf den Jugendschutz die Notwendigkeit, das
dem Betäubungsmittelgesetz zu Grunde liegende Abstinenzparadigma mindestens
kritisch zu hinterfragen. Dies wird in der Praxis bereits getan. Deshalb lautet zum
Beispiel auch der Titel eines Beratungsangebotes des Vereins Jugendberatung und
Jugendhilfe e.V. zum Thema „Cannabis“: „Weniger ist mehr“. Mit einem solchen An-
satz kann es gelingen, Jugendliche davon zu überzeugen, dass sie ihren Cannabis-
konsum kritisch reflektieren und möglicherweise sowohl in quantitativer als auch in
zeitlicher Hinsicht beschränken. Gleichzeitig wird mit diesem Titel signalisiert, dass
das sowieso illusionäre Ziel der Abstinenz überhaupt nicht mehr formuliert wird.
3. Medizinische Nutzung
Noch eindeutiger als hinsichtlich des allgemeinen Umgangs mit Cannabis erübrigt
sich eigentlich hinsichtlich seiner medizinischen Nutzung jede weitere Ausführung.
Dies gilt für mich als Nichtmediziner erst recht.
Trotzdem will ich über einen realen Fall aus meiner anwaltlichen Praxis berichten,
der zeigt, zu welchen geradezu grotesken und inhumanen Folgen die aktuelle
Rechtslage führt:
Das Schicksal hat es mit Herrn P. wirklich nicht gut gemeint. Und das ist noch eine ziemliche
Untertreibung. Seit der Pubertät leidet er an einer schweren Akne Inversa, einer nicht heilba-
ren Krankheit, bei der der Körper großflächig mit sehr schmerzhaften Pusteln übersät ist. Die
klassische Medizin kennt vor allem eine Dauertherapie mit hochdosierten Antibiotika oder
das operative Abtragen der am schwersten befallenen Hautpartien. Bei Herrn P. sind inzwi-
schen weitere Erkrankungen hinzugekommen. Zudem ist Herr P. erwerbsunfähig und lebt
zurückgezogen in einer kleinen Kellerwohnung.
Dort baute er Marihuanapflanzen an, um sich etwas Linderung seiner schweren Leiden zu
verschaffen. Tatsächlich ging es ihm körperlich und psychisch etwas besser. Sogar die
Leukozytenkonzentration bewegte sich dank des Cannabis wieder im Normbereich.
Allerdings wohnte im selben Haus wie Herr P. eine Polizeibeamtin. Diese nahm aus der Kel-
lerwohnung eindeutige Gerüche war, verständigte ihre Kollegen und es kam zur Hausdurch-
suchung.
165
6
Gefunden wurden in Aufzucht befindliche Pflanzen und nicht unerhebliche Mengen an Mari-
huana. Für Herr P. war die Aufzucht seiner Pflanzen zum Hobby geworden. Zudem hatte er
drei legale Luftpistolen in seiner Wohnung aufbewahrt. Diese Waffen, die nach der Beurtei-
lung des Fachmanns der Polizei für Sport und Spiel geeignet sind, wurden bei der Hausdurch-
suchung selbstverständlich auch gefunden. Die Staatsanwaltschaft kam nun zu dem Schluss,
wer eine gewisse Anzahl von Pflanzen anbaut und eine – in der Tat nicht unerhebliche - Men-
ge an Marihuana besitzt, treibt damit Handel. Irgendwelche Hinweise hierauf gab es zwar
nicht, aber weil sich die Luftpistolen in der Wohnung befanden, wurde Herr P. wegen be-
waffneten Betäubungsmittelhandels in nicht geringer Menge gemäß § 30a BtMG angeklagt.
Diese Vorschrift sieht bekanntlich im Regelstrafrahmen eine Mindeststrafe von fünf Jahren
vor, so wie § 212 StGB für die vorsätzliche Tötung eines Menschen. Der medizinische Hin-
tergrund des Verhaltens des Herrn P. wurde weder in dem polizeilichen Abschlussbericht
noch in der Anklageschrift mit einem einzigen Wort erwähnt.
Die Anklage wurde zunächst vom Landgericht ohne Änderung zugelassen. Inzwischen ist der
Vorwurf des Handeltreibens „vom Tisch“ und es wird darüber nachgedacht, ob die Handlun-
gen des Herrn P gerechtfertigt gewesen sein können. Denn schließlich hat er nur sich selbst
etwas geholfen und niemanden geschädigt oder auch nur gefährdet.
Dass ein solcher Mensch eigentlich nicht vor die Schranken einer großen Strafkam-
mer des Landgericht gehört, können wohl auch die hartnäckigsten Vertreter der
Cannabisprohibition nicht bestreiten.
Und hier besteht – selbst bei unveränderter Rechtslage - eine konkrete Handlungs-
möglichkeit der Landesregierung. In solchen und ähnlichen Fällen sollten die Staats-
anwaltschaften in Hessen ausdrücklich angewiesen werden, weitestgehend von der
Anwendung des § 153 StPO Gebrauch zu machen. Soweit dies nicht möglich ist, da
sich der Tatverdacht unwiderlegbar auf ein Verbrechen bezieht (es wäre allerdings
durchaus daran zu denken, die Untersuchung des Wirkstoffgehaltes in geeigneten
Fällen restriktiv zu handhaben und den Grundsatz „in dubio pro reo“ anzuwenden),
sollte regelmäßig bereits im Ermittlungsverfahren die Anwendung der §§ 34,35 StGB
in Betracht gezogen werden. Schließlich hat die Staatsanwaltschaft gemäß § 160
Abs. 2 StPO auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln. Dazu gehört
166
7
dann auch die Notlage, in der sich die Betroffenen – wie auch Herr P. – regelmäßig
befinden. Sie schützen eigene Rechte, ohne die Rechtsgüter anderer zu gefährden
oder gar zu verletzen.
Dieser erhebliche Handlungsspielraum auf Landesebene sollte unbedingt und ohne
weiteres Abwarten genutzt werden.
4. Aktuelle Situation der Cannabisgesetzgebung für die Akteure und Insti-
tutionen der Justiz- und der Innenpolitik, insbesondere die Praktikabilität
der Strafverfolgung wegen Besitz und Handel von Cannabisprodukten
Das soeben für die medizinische Nutzung Gesagte gilt eigentlich für den Umgang mit
Cannabis allgemein und letztendlich für alle psychoaktiven Substanzen: Die aktuelle
Situation ist desaströs. Es werden immense Steuermittel ausgegeben10 und damit
mehr Schaden als Nutzen erzielt. Polizeibeamte sind frustriert, Richter und Staats-
anwälte müssen Strafen fordern und Urteile verhängen, um deren Sinn und Nutzlo-
sigkeit sie wissen (sollten).
Das ganze System ist kontraproduktiv. Kleinen Korrekturen, zum Beispiel Cannabis
als Medizin freizugeben, sind deshalb zwar dringend notwendig, aber gleichzeitig
auch unzureichend.
Stattdessen muss das Abstinenzparadigma aufgegeben werden, damit eine wirklich
wirksame Schadensminimierung und vor allem eine effektive Prävention überhaupt in
Angriff genommen werden kann. Die Prohibition ist erneut gescheitert, ein ideologie-
freier, rationaler und evidenzbasierter Umgang ist erforderlich.
Was bedeuten diese Feststellungen für die aktuelle Landespolitik?
Zunächst darf es nicht heißen, „wir legen die Hände in den Schoß und warten auf
den Bundesgesetzgeber“. Stattdessen ist auf allen Handlungsebenen zu prüfen, wel-
che grundsätzlichen oder schadensreduzierenden Maßnahmen ergriffen werden
können.
10 Nach Jesse/Köthner sind dies weltweit 40 Billionen (40.000.000.000.000) € pro Jahr. (s. dort S. 87)
167
8
Eine solche Prüfung und deren Ergebnis lässt sich selbstverständlich im Rahmen
dieser Stellungnahme nicht einmal ansatzweise erbringen. Deshalb sollen drei
exemplarische Beispiele ausreichen.
Erstens: Nachdem Meldungen erschienen waren, wonach tätliche Angriffe gegen
Polizeibeamte zugenommen hätten, war den Nachrichten sehr schnell weiter zu ent-
nehmen, die Landesregierung würde insoweit eine gesetzgeberische Initiative über
den Bundesrat beabsichtigen.
Nun mag es zunächst dahingestellt bleiben, ob ein spezieller Qualifizierungstatbe-
stand der Körperverletzungsdelikte hinsichtlich der Taten gegen Polizeibeamte eine
abschreckende Wirkung erzielte. Aber sicherlich wäre es sinnvoll, die vorliegenden
Daten gründlich zu analysieren und zu überlegen, wie auf ein mögliches Problemfeld
reagiert werden sollte. Es besteht wohl eher noch Klärungsbedarf, bevor die Ände-
rung geltender Gesetze als geeignetes Mittel angesehen werden kann.
Dass die Drogenprohibition gescheitert ist, dazu liegen ausreichende Befunde vor -
und dies schon seit langer Zeit. Trotzdem gab es bisher keine gesetzgeberische Initi-
ative der Hessischen Landesregierung über den Bundesrat.
Andererseits hat der (grüne) Justizsenator Hamburgs eine Bundesratsinitiative ange-
kündigt, mit der Cannabiskonsumenten strafrechtlich weniger verfolgt werden sollten.
Eine solche Initiative sollte durch das Land Hessen unterstützt und die Unterstützung
angekündigt werden.
Zweitens: Das Land Hessen verfügt erfreulicherweise über die sehr sinnvolle Institu-
tion, so genannter „Übergangseinrichtungen“. Alle Übergangseinrichtungen sind vom
Hessischen Sozialministerium nach § 35 BtMG anerkannt. Die Staatsanwaltschaften
weigern sich trotzdem, die Rückstellung der Strafe zwecks Aufenthaltes in einer sol-
chen Übergangseinrichtungen auszusprechen. Das Argument dafür lautet: Dies sei-
en keine Therapieeinrichtungen, sondern nur Übergangseinrichtungen. Tatsächlich
wird aber in den Übergangseinrichtungen eine möglichst passende Therapieperspek-
tive entwickelt und administrativ vorbereitet. Dies ist in den Übergangseinrichtungen
vom ersten Tag des Aufenthaltes an möglich. In den Justizvollzugsanstalten hinge-
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gen warten die abhängigen Inhaftierten teilweise sechs Monate auf ein halbstündiges
Erstgespräch mit der dramatisch überlasteten externen Drogenberatung. Damit wird
bestraft, anstatt zu helfen. Warum dies das bessere Therapiekonzept als eine Über-
gangseinrichtung sein soll, ist wirklich nicht nachzuvollziehen.
Drittens: In vielen europäischen Ländern gibt es ein so genanntes „Drug-Checking“-
Angebot. Damit sollen die Konsumenten von Designerdrogen über die Substanzen,
die sie selbst nicht einschätzen können, die sie aber im Begriff sind, ihrem Körper
zuzumuten, informiert werden. In der BRD gibt es diesen (Jugend-) Schutz so gut wie
nicht. Offensichtlich lässt man die jungen Leute lieber unter den unbekannten Sub-
stanzen leiden, anstatt sie zu informieren und damit zu schützen. Auch hier besteht
dringender Handlungsbedarf auf Landesebene.
Dies sind Beispiele aus dem hessischen Alltag. Man könnte auch sagen: Dies ist der
alltägliche Skandal im staatlichen Umgang mit psychoaktiven Substanzen im Allge-
meinen und mit Cannabis im Besonderen.
Als Resümee lässt sich festhalten:
Die Fachdiskussion zum Thema ‚Drogenprohibition’ ist abgeschlossen.
Das Ergebnis lautet: Die Prohibition ist gescheitert.
Das Ergebnis ist eindeutig und offensichtlich.
Die Prohibition ist teuer, schadet und hilft nicht.
Es geht nun darum, diese Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und in politi-
sches Handeln umzusetzen.
Dazu müssen effektive Konzepte der Prävention, Beratung, des Jugendschut-
zes und der Therapie entwickelt, ausprobiert und eingeführt werden.
Der Zeitpunkt dafür lautet: JETZT
Die vielen erwachsenen Menschen aber, die sich nur etwas Entspannung verschaf-
fen wollen und die kein problematisches Konsummuster an den Tag legen, sollten
einfach nur in Ruhe gelassen werden.
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