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Wilma Weiß Tanja Kessler Silke B. Gahleitner (Hrsg.) Handbuch Traumapädagogik

Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

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ik Wilma WeiszligTanja Kessler

Silke B Gahleitner (Hrsg)

HandbuchTraumapaumldagogik

Weiszlig bull Kessler bull Gahleitner (Hrsg)Handbuch Traumapaumldagogik

Wilma Weiszlig bull Tanja Kessler bull Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg)

Handbuch Traumapaumldagogik

Wilma Weiszlig Dipl-Paumldagogin und Dipl-Sozialpaumldagogin begleitete von 1973 bis 2015 in verschie-densten Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe traumatisierte Maumldchen und Jungen Waumlhrend der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er-Anfang der 90er-Jahre intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit den Moumlglichkeiten paumldagogischer Traumaarbeit Dies fuumlhrte schlieszliglich zu den ersten traumapaumldagogischen Fortbildungen der IGfH 2002 und 2003 zur Publikation von raquoPhilipp sucht sein Ichlaquo Im Kontakt mit Martin Kuumlhn initiierte sie die Gruumlndung der BAG TP Als Leiterin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik in Hanau beteiligte sie sich an der Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik Kontakt wilmaweissgmxde

Tanja Kessler ist Leiterin und Referentin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik der Welle gGmbH Sie ist ausgebildete Erzieherin und Dipl-Sozialarbeiterin Nach dem Studium hat sie sich im Be-reich Sozialmanagement (Paritaumltische Akademie) zur Traumapaumldagogin-fachberaterin (DeGPTBAG TP) und in Somatic Experiencing (SE) i A weitergebildet Von 1991 bis 2010 war sie in der paumldagogischen Praxis taumltig Kontakt tanjakesslerwebde

Silke Birgitta Gahleitner Prof Dr phil Studium der Sozialen Arbeit Promotion in Klinischer Psy-chologie langjaumlhrig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrich-tungen fuumlr traumatisierte Frauen und Kinder taumltig Seit 2006 lehrt sie als Professorin fuumlr Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin von 2012 bis 2015 war sie auf einem Forschungsaufenthalt an der Donau-Universitaumlt Krems Kontakt sbgahleitnernet

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhaumlltlich (ISBN 978-3-407-83182-8)

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschuumltzt Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Faumlllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages Hinweis zu sect 52a UrhG Weder das Werk noch seine Teile duumlrfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden Dies gilt auch fuumlr Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen

copy 2016 Beltz Verlag middot Weinheim und BaselWerderstraszlige 10 middot 69469 Weinheimwwwbeltzde

Lektorat Susanne AlbrechtSatz und Herstellung Michael MatlReihengestaltung glas ag Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29471-5

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Inhalt

Zur Einfuumlhrung 10

I Bezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Wilma WeiszligTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte 20

Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma WeiszligReformerische und emanzipatorische Paumldagogik Inspirationen fuumlr die traumapaumldagogische Praxis und Theoriebildung 33

Margret DoumlrrPsychoanalytische Paumldagogik 44

Silke Birgitta GahleitnerMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzepte 56

Martin Kuumlhn und Julia BialekBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom raquoAndersseinlaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumldagogik 67

II Zentrale Inhalte der Traumapaumldagogik

Marc SchmidNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltag 80

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrung 93

Michael MacsenaerePartizipation 106

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

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Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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Weiszlig bull Kessler bull Gahleitner (Hrsg)Handbuch Traumapaumldagogik

Wilma Weiszlig bull Tanja Kessler bull Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg)

Handbuch Traumapaumldagogik

Wilma Weiszlig Dipl-Paumldagogin und Dipl-Sozialpaumldagogin begleitete von 1973 bis 2015 in verschie-densten Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe traumatisierte Maumldchen und Jungen Waumlhrend der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er-Anfang der 90er-Jahre intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit den Moumlglichkeiten paumldagogischer Traumaarbeit Dies fuumlhrte schlieszliglich zu den ersten traumapaumldagogischen Fortbildungen der IGfH 2002 und 2003 zur Publikation von raquoPhilipp sucht sein Ichlaquo Im Kontakt mit Martin Kuumlhn initiierte sie die Gruumlndung der BAG TP Als Leiterin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik in Hanau beteiligte sie sich an der Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik Kontakt wilmaweissgmxde

Tanja Kessler ist Leiterin und Referentin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik der Welle gGmbH Sie ist ausgebildete Erzieherin und Dipl-Sozialarbeiterin Nach dem Studium hat sie sich im Be-reich Sozialmanagement (Paritaumltische Akademie) zur Traumapaumldagogin-fachberaterin (DeGPTBAG TP) und in Somatic Experiencing (SE) i A weitergebildet Von 1991 bis 2010 war sie in der paumldagogischen Praxis taumltig Kontakt tanjakesslerwebde

Silke Birgitta Gahleitner Prof Dr phil Studium der Sozialen Arbeit Promotion in Klinischer Psy-chologie langjaumlhrig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrich-tungen fuumlr traumatisierte Frauen und Kinder taumltig Seit 2006 lehrt sie als Professorin fuumlr Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin von 2012 bis 2015 war sie auf einem Forschungsaufenthalt an der Donau-Universitaumlt Krems Kontakt sbgahleitnernet

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhaumlltlich (ISBN 978-3-407-83182-8)

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschuumltzt Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Faumlllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages Hinweis zu sect 52a UrhG Weder das Werk noch seine Teile duumlrfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden Dies gilt auch fuumlr Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen

copy 2016 Beltz Verlag middot Weinheim und BaselWerderstraszlige 10 middot 69469 Weinheimwwwbeltzde

Lektorat Susanne AlbrechtSatz und Herstellung Michael MatlReihengestaltung glas ag Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29471-5

5

Inhalt

Zur Einfuumlhrung 10

I Bezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Wilma WeiszligTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte 20

Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma WeiszligReformerische und emanzipatorische Paumldagogik Inspirationen fuumlr die traumapaumldagogische Praxis und Theoriebildung 33

Margret DoumlrrPsychoanalytische Paumldagogik 44

Silke Birgitta GahleitnerMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzepte 56

Martin Kuumlhn und Julia BialekBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom raquoAndersseinlaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumldagogik 67

II Zentrale Inhalte der Traumapaumldagogik

Marc SchmidNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltag 80

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrung 93

Michael MacsenaerePartizipation 106

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

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BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

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Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

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Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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Wilma Weiszlig bull Tanja Kessler bull Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg)

Handbuch Traumapaumldagogik

Wilma Weiszlig Dipl-Paumldagogin und Dipl-Sozialpaumldagogin begleitete von 1973 bis 2015 in verschie-densten Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe traumatisierte Maumldchen und Jungen Waumlhrend der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er-Anfang der 90er-Jahre intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit den Moumlglichkeiten paumldagogischer Traumaarbeit Dies fuumlhrte schlieszliglich zu den ersten traumapaumldagogischen Fortbildungen der IGfH 2002 und 2003 zur Publikation von raquoPhilipp sucht sein Ichlaquo Im Kontakt mit Martin Kuumlhn initiierte sie die Gruumlndung der BAG TP Als Leiterin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik in Hanau beteiligte sie sich an der Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik Kontakt wilmaweissgmxde

Tanja Kessler ist Leiterin und Referentin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik der Welle gGmbH Sie ist ausgebildete Erzieherin und Dipl-Sozialarbeiterin Nach dem Studium hat sie sich im Be-reich Sozialmanagement (Paritaumltische Akademie) zur Traumapaumldagogin-fachberaterin (DeGPTBAG TP) und in Somatic Experiencing (SE) i A weitergebildet Von 1991 bis 2010 war sie in der paumldagogischen Praxis taumltig Kontakt tanjakesslerwebde

Silke Birgitta Gahleitner Prof Dr phil Studium der Sozialen Arbeit Promotion in Klinischer Psy-chologie langjaumlhrig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrich-tungen fuumlr traumatisierte Frauen und Kinder taumltig Seit 2006 lehrt sie als Professorin fuumlr Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin von 2012 bis 2015 war sie auf einem Forschungsaufenthalt an der Donau-Universitaumlt Krems Kontakt sbgahleitnernet

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhaumlltlich (ISBN 978-3-407-83182-8)

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschuumltzt Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Faumlllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages Hinweis zu sect 52a UrhG Weder das Werk noch seine Teile duumlrfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden Dies gilt auch fuumlr Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen

copy 2016 Beltz Verlag middot Weinheim und BaselWerderstraszlige 10 middot 69469 Weinheimwwwbeltzde

Lektorat Susanne AlbrechtSatz und Herstellung Michael MatlReihengestaltung glas ag Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29471-5

5

Inhalt

Zur Einfuumlhrung 10

I Bezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Wilma WeiszligTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte 20

Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma WeiszligReformerische und emanzipatorische Paumldagogik Inspirationen fuumlr die traumapaumldagogische Praxis und Theoriebildung 33

Margret DoumlrrPsychoanalytische Paumldagogik 44

Silke Birgitta GahleitnerMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzepte 56

Martin Kuumlhn und Julia BialekBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom raquoAndersseinlaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumldagogik 67

II Zentrale Inhalte der Traumapaumldagogik

Marc SchmidNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltag 80

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrung 93

Michael MacsenaerePartizipation 106

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 4: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

Wilma Weiszlig Dipl-Paumldagogin und Dipl-Sozialpaumldagogin begleitete von 1973 bis 2015 in verschie-densten Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe traumatisierte Maumldchen und Jungen Waumlhrend der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er-Anfang der 90er-Jahre intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit den Moumlglichkeiten paumldagogischer Traumaarbeit Dies fuumlhrte schlieszliglich zu den ersten traumapaumldagogischen Fortbildungen der IGfH 2002 und 2003 zur Publikation von raquoPhilipp sucht sein Ichlaquo Im Kontakt mit Martin Kuumlhn initiierte sie die Gruumlndung der BAG TP Als Leiterin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik in Hanau beteiligte sie sich an der Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik Kontakt wilmaweissgmxde

Tanja Kessler ist Leiterin und Referentin des Zentrums fuumlr Traumapaumldagogik der Welle gGmbH Sie ist ausgebildete Erzieherin und Dipl-Sozialarbeiterin Nach dem Studium hat sie sich im Be-reich Sozialmanagement (Paritaumltische Akademie) zur Traumapaumldagogin-fachberaterin (DeGPTBAG TP) und in Somatic Experiencing (SE) i A weitergebildet Von 1991 bis 2010 war sie in der paumldagogischen Praxis taumltig Kontakt tanjakesslerwebde

Silke Birgitta Gahleitner Prof Dr phil Studium der Sozialen Arbeit Promotion in Klinischer Psy-chologie langjaumlhrig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrich-tungen fuumlr traumatisierte Frauen und Kinder taumltig Seit 2006 lehrt sie als Professorin fuumlr Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin von 2012 bis 2015 war sie auf einem Forschungsaufenthalt an der Donau-Universitaumlt Krems Kontakt sbgahleitnernet

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhaumlltlich (ISBN 978-3-407-83182-8)

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschuumltzt Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Faumlllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages Hinweis zu sect 52a UrhG Weder das Werk noch seine Teile duumlrfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden Dies gilt auch fuumlr Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen

copy 2016 Beltz Verlag middot Weinheim und BaselWerderstraszlige 10 middot 69469 Weinheimwwwbeltzde

Lektorat Susanne AlbrechtSatz und Herstellung Michael MatlReihengestaltung glas ag Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29471-5

5

Inhalt

Zur Einfuumlhrung 10

I Bezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Wilma WeiszligTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte 20

Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma WeiszligReformerische und emanzipatorische Paumldagogik Inspirationen fuumlr die traumapaumldagogische Praxis und Theoriebildung 33

Margret DoumlrrPsychoanalytische Paumldagogik 44

Silke Birgitta GahleitnerMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzepte 56

Martin Kuumlhn und Julia BialekBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom raquoAndersseinlaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumldagogik 67

II Zentrale Inhalte der Traumapaumldagogik

Marc SchmidNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltag 80

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrung 93

Michael MacsenaerePartizipation 106

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 5: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

5

Inhalt

Zur Einfuumlhrung 10

I Bezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Wilma WeiszligTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte 20

Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma WeiszligReformerische und emanzipatorische Paumldagogik Inspirationen fuumlr die traumapaumldagogische Praxis und Theoriebildung 33

Margret DoumlrrPsychoanalytische Paumldagogik 44

Silke Birgitta GahleitnerMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzepte 56

Martin Kuumlhn und Julia BialekBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom raquoAndersseinlaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumldagogik 67

II Zentrale Inhalte der Traumapaumldagogik

Marc SchmidNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltag 80

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrung 93

Michael MacsenaerePartizipation 106

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 6: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

6 Inhalt

Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute ZiegenhainBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogik 115

Tanja KesslerAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungen Theoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeit 123

Christina Frank und Elke PeineReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik die Strukturkategorie Gender Eine kurze Bestandsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereich 131

Renate JegodtkaSekundaumlre Traumatisierung Existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldern 139

III Handlungsfelder

Monika JaumlckleSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendliche 154

Eva PicardDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtungen 165

Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta GahleitnerTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe 176

Alexander KorittkoDer gute Grund im Dort und Damals Trauma-sensible paumldagogische Arbeit mit Familien 184

Juumlrgen ReinshagenTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in traumatisierten Systemen 193

David ZimmermannraquoGepruumlgelte Hunde reagieren solaquo Zwangsmigration und Traumatisierung 200

Claudia Menesch und Mirja KellerUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 210

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 7: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

7Inhalt

Maud ZitelmannPflegekindschaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinder 220

Tanja KesslerBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfe 232

Stefan Feurle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-PenzHandlungsfeld Psychiatrie 243

Harald BritzeTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamt 253

IV Methoden der Traumapaumldagogik

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehen 262

Thomas LangBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungserfahrungen 272

Tanja KesslerDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Uumlbertragung und der Gegenreaktion 282

Wilma WeiszligDie Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methode 290

Jacob Bausumraquo hellip mit einer Ansammlung von Einzelkaumlmpfernlaquo Traumapaumldagogische Gruppenarbeit 303

Jacob BausumraquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlaquo Traumapaumldagogische Fortbildungen fuumlr Kinder und Jugendliche 314

Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther HomfeldtKooperation und psychosoziale Traumaarbeit 320

Hedi GiesTraumasensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohnt 327

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

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Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

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Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 8: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

8 Inhalt

Anne Schmitter-BoeckelmannVernetzung TraumatherapieTraumapaumldagogik 334

V Kontext Psychotraumatologie

Maximiliane Brandmaier und Klaus OttomeyerTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennung 342

Christine KoumlckeritzLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigung 351

Winja LutzDissoziation als Anpassungsleistung 371

Ilka Quindeau und Marianne RauwaldTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen 385

Thomas LangTrauma und Koumlrper 394

Silke Birgitta Gahleitner und Wilma WeiszligArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungen 406

Katja MaurerInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzepten Plaumldoyer fuumlr eine kontextbezogene emanzipatorisch ausgerichtete psychosoziale Arbeit 413

VI Aktuelle Entwicklungen

Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc SchmidForschung und Qualitaumltssicherung 424

Thomas WahleBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik e V Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnen 433

Claudia SchirmerDie Entwicklung der traumapaumldagogischen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfe 439

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 9: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

9Inhalt

Jochen-Wolf StrauszligGrenzen der Traumapaumldagogik ndash kritische (Nach-)Fragen 449

Glossar 458

Stichwortverzeichnis 470

Danke 474

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 475

10

Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 10: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

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Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

Zur Einfuumlhrung

Die Lebensverhaumlltnisse fuumlr aufwachsende Kinder und Jugendliche haben sich nicht verschlechtert aber veraumlndert Das rsaquomoderne Kindlsaquo benoumltigt ein groszliges Ausmaszlig an Flexibilitaumlt Orientierung und Selbststeuerung Nicht allen Kindern sind dafuumlr die gleichen Voraussetzungen vergoumlnnt Internationale Vereinbarungen wie die UN-Be-hindertenrechtskonvention (UN ARES61106 2007 in Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertreten daher den Anspruch in allen Lebensbereichen fuumlr alle Kinder Ju-gendlichen und Erwachsenen Inklusion und Partizipation umzusetzen (vgl auch 13 Kinder- und Jugendbericht BT-Drs 1612860 2009) Fuumlr viele Kinder und Jugendli-che die durch physische wie psychische Krankheit oder andere Benachteiligungen be-eintraumlchtigt sind wird dieses Versprechen jedoch in keiner Weise eingeloumlst Fuumlr fruumlh traumatisierte Kinder gilt dies in besonderer Weise In einer Studie zu fruumlhen Trau-mata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie uumlber raquoadverse childhood experienceslaquo Felitti 2002) zeigte sich longitudinal Menschen die ein fruumlhes Trauma erlitten haben leiden ungleich haumlufiger an Armut Arbeitslosigkeit Mittellosigkeit unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw Wohnungslosigkeit und sozialer Gefaumlhrdung

Uumlber viele Jahrzehnte hinweg schien die Beschaumlftigung mit Trauma und Traumabe-troffenen eine Domaumlne der Psychotherapie zu sein Dieser Eindruck entstand zumin-dest wenn man auf die Suche nach entsprechenden Fachbuumlchern zum Thema ging Bei genauerer Betrachtung jedoch erwies sich dieser Eindruck als truumlgerisch (Gahleitner 2010) Psychosoziale Fachkraumlfte arbeiteten in allen geschichtlichen Epochen mit trau-matisierten Menschen Allein ein Blick in Pestalozzis Stanser Brief von 1779 (Pestalozzi 17792010) gibt ein anschauliches Bild wie sehr die von ihm betreuten Kinder und Jugendlichen im damaligen Waisen- und Armenhaus unter traumatischen Belastungen litten Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in paumlda-gogischen Kreisen deutlich mehr Einfluss als in der Psychiatrie (vgl Doumlrr 2011 Weiszlig in diesem Band SchulzeLochGahleitner 2012) Eine Reihe heilpaumldagogischer Heime fungierte als Vorlaumlufer kinderpsychiatrischer Stationen Psychosoziale Fachkraumlfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit und (Heil-)Paumldagogik gestalten daher seit jeher und nach wie vor den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung

Ziel des vorliegenden Buchs ist daher die Entwicklung und Darstellung der Trau-mapaumldagogik aus genuin sozialpaumldagogischersozialarbeiterischer Sicht ndash ohne inter-disziplinaumlre Sichtweisen zu vernachlaumlssigen In den letzten Jahren ist auch tatsaumlchlich eine Reihe von Publikationen zum Thema rsaquoTraumapaumldagogiklsaquo erschienen

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

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Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

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Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 11: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

11Zur Einfuumlhrung

Aber was ist Traumapaumldagogik uumlberhaupt Traumapaumldagogik laumlsst sich definie-ren als eine junge Fachrichtung die es sich zur Aufgabe gemacht hat Fachkraumlfte die mit traumatisch belasteten Kindern und Jugendlichen im Arbeitsalltag konfrontiert sind durch spezifische Fort- und Weiterbildungen einerseits und durch die Schaf-fung tragfaumlhiger Strukturen in den Institutionen andererseits bei ihrer anspruchs-vollen Aufgabe zu unterstuumltzen Nun koumlnnte man sich erneut fragen Warum mitten in diese rege Publikationstaumltigkeit der letzten Jahre einen weiteren Traumapaumldago-gikband produzieren Diese Frage stellten wir uns selbst als der Beltz Verlag bei den Herausgeberinnen nach einer Publikation zur Traumapaumldagogik anfragte Es sollte ein Handbuch sein mit eindeutigem Uumlbersichts- und Zusammenfassungscharakter Am jetzigen Punkt der Publikationsentwicklung zur Traumpaumldagogik nachdem He-rausgeberbaumlnde mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden sind erschien es uns auch tatsaumlchlich sinnvoll mit einem Handbuch ndash unter Einbezug eines moumlglichst breiten Spektrums von Autorinnen ndash einen systematischen Uumlberblick herzustellen

Entlang dieser Zielsetzung ist der Band in sechs Abschnitte gegliedert in einbet-tende Bezuumlge der Traumapaumldagogik in grundsaumltzliche Inhalte der Traumapaumldagogik in Handlungsfelder der Traumpaumldagogik in methodische Vorgehensweisen der Trau-mapaumldagogik in uumlbergreifende Themen der Psychotraumatologie und in aktuelle Entwicklungen und Zukunfts- bzw Ausblicksthemen Eroumlffnet wird der Band vom ersten Abschnitt raquoBezuumlge der Traumapaumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozia-len Arbeitlaquo In diesem Abschnitt werden die historischen und theoretischen Wurzeln aus verschiedenen Richtungen nachverfolgt und aufgezeigt Wilma Weiszlig fuumlhrt unter dem Titel raquoTraumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzeptelaquo in die Ge-schichte der jungen Fachrichtung ein und zeigt auf wie sehr die Inhalte schon immer in der Logik und Praxis der Paumldagogik und Sozialen Arbeit verwurzelt waren Die-sen Gedanken nimmt der darauf folgende Beitrag von Christina Rothdeutsch-Granzer und Wilma Weiszlig auf und verfolgt gezielt verschiedene Straumlnge der Paumldagogik unter der Uumlberschrift raquoReformerische und emanzipatorische Paumldagogiklaquo Den uumlbergrei-fenden Pfad raquoPsychoanalytische Paumldagogiklaquo verfolgt Margret Doumlrr Silke Birgitta Gahleitner wendet sich auf dieser Basis unter dem Titel raquoMilieutherapeutische und -paumldagogische Konzeptelaquo einer haumlufig missverstandenen aber zentralen Quelle traumapaumldagogischer Arbeit zu der Bedeutung des einbettenden Milieus Martin Kuumlhn und Julia Bialek thematisieren unter dem Titel raquoBehindertenpaumldagogik Die Lehre vom rsaquoAndersseinlsaquo eine zentrale wissenschaftliche Wurzel der Traumapaumlda-gogiklaquo die Einfluumlsse dieser Fachrichtungen auf traumapaumldagogisches Gedankengut In allen diesen Beitraumlgen wird die lange Tradition der Psychoanalytischen Paumldagogik in der Auseinandersetzung mit traumatisierten Kindern deutlich ndash und auf dieser Ba-sis zeigt sich auch wie sehr Erfahrungen aus der Entwicklung der Psychoanalytischen Paumldagogik fuumlr die Weiterentwicklung der Traumapaumldagogik und die Vertiefung eines paumldagogischen Selbstverstaumlndnisses im Traumabereich von Interesse sind Auch ohne damals schon den Begriff des Traumas zu kennen wurden bereits wichtige Grund-lagen fuumlr die heutige Traumapaumldagogik gelegt Aumlhnliches gilt fuumlr die humanistische Orientierung in Bezug auf die nun gleich anzusprechende Grundhaltung

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 12: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

12 Zur Einfuumlhrung

Der zweite Abschnitt raquoZentrale Inhalte der Traumapaumldagogiklaquo wird eingeleitet von Marc Schmids Gedanken zum raquoNutzen der traumapaumldagogischen Haltungen Konzepte fuumlr ethische Fragestellungen im paumldagogischen Alltaglaquo Der Autor ent-faltet darin grundsaumltzliche Gedanken rund um ethische Dilemmata und Aspekte im Arbeitsalltag mit den Kindern und Jugendlichen Auf Basis dieser von ihm verlangten trauma- und beziehungsorientierten Grundhaltung so fordert Wilma Weiszlig soll ver-ankert werden den Kindern und Jugendlichen rsaquoSelbstbemaumlchtigunglsaquo zu ermoumlglichen die in den traumatischen Erfahrungen zutiefst erschuumlttert wurde In raquoDie Paumldago-gik der Selbstbemaumlchtigung Eine Einfuumlhrunglaquo definiert sie Selbstbemaumlchtigung zwischen Selbstsorge und Selbstoptimierung und greift die Konzepte der Anerken-nung und der Wuumlrde als Lebensform als zentrale Kategorien traumapaumldagogischen Handelns auf Mit dem Gedanken der Selbstbemaumlchtigung gehen Uumlberlegungen zur raquoPartizipationlaquo einher die sich als wichtiger Wirkfaktor in der Kinder- und Jugend-hilfe herausgestellt haben Michael Macsenaere klaumlrt uumlber die entsprechenden For-schungsergebnisse und theoretischen Modelle auf Selbstbemaumlchtigung zu erlangen ist wiederum fuumlr Kinder und Jugendliche nicht moumlglich ohne die bereits genannte trauma- und beziehungsorientierte Grundhaltung Sie basiert auf einem fundierten Wissen uumlber Bindungs- und Beziehungstheorie sowie Phaumlnomenen der Uumlbertragung und Gegenuumlbertragung Unter dem Titel raquoBindungstheorie in ihrer Bedeutung fuumlr die Traumapaumldagogiklaquo bringen Silke Birgitta Gahleitner Carina Kamptner und Ute Ziegenhain den Leserinnen bindungstheoretische Grundlagen nahe und Tanja Kess-ler fuumlhrt die Fachkraumlfte der Praxis in ihrem Artikel raquoAumluszligere Eindruumlcke und innere Erwartungenlaquo in raquoTheoretische Aspekte zu den Dynamiken von Uumlbertragung und Gegenreaktion in der traumapaumldagogischen Arbeitlaquo ein Eine uumlbergreifende Kate-gorie die den gesamten Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen praumlgt ist die Kategorie Gender Gender durchdringt ndash ebenso wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien ndash unsere gesamten individuellen wie sozialen biografischen Erfahrungen Unter dem Titel raquoReflektiert die gegenwaumlrtige Traumapaumldagogik im Kinder- und Jugendhilfebereich die Strukturkategorie Gender Eine kurze Be-standsaufnahme fuumlr den Kinder- und Jugendhilfebereichlaquo wenden sich Christina Frank und Elke Peine dieser haumlufig vernachlaumlssigten Perspektive zu Mit dem Artikel uumlber raquoSekundaumlre Traumatisierung ndash existenzielle Beruumlhrung und Selbstfuumlrsorge in paumldagogischen Arbeitsfeldernlaquo von Renate Jegodtka schlieszligt sich der Kreis dieses Abschnitts wieder hin zu ethischen Themen der Arbeit mit Kindern und Jugendli-chen

Der dritte Abschnitt unter der Uumlberschrift raquoHandlungsfelderlaquo wird eingeleitet mit einem Handlungsfeld von eminenter Bedeutung Unter dem Titel raquoSchulische BildungsPraxis fuumlr vulnerable Kinder und Jugendlichelaquo widmet sich Monika Jaumlckle den vielen Bedarfen und Luumlcken im Schulwesen fuumlr traumatisierte Kinder und He-ranwachsende In den nun folgenden Beitraumlgen werden weitere wichtige Handlungs-felder der Traumapaumldagogik vorgestellt Dazu gehoumlrt das Handlungsfeld rsaquoKitalsaquo des-sen Moumlglichkeiten und Schwierigkeiten Eva Picard den Leserinnen unter dem Titel raquoDa hilft nur Geduld und Spucke Traumapaumldagogik in Kindertageseinrichtun-

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

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Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

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Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 13: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

13Zur Einfuumlhrung

genlaquo nahebringt das Handlungsfeld rsaquoStationaumlre Einrichtungenlsaquo wird beschrieben von Sabine Tiefenthaler und Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Beitrag raquoTraumapaumldagogik in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfelaquo dem Handlungsfeld der rsaquoErziehungs- und Familienberatunglsaquo wendet sich Alexander Korittko unter dem Titel raquoDer gute Grund im Dort und Damals Traumasensible paumldagogische Arbeit mit Familienlaquo zu und die Ambulante Familienhilfe wird von Juumlrgen Reinshagen in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Familienhilfe Alltagsentlastendes Arbeiten in trauma-tisierten Systemenlaquo vorgestellt Immer bedeutsamer wird auch das Handlungsfeld der Arbeit mit Migrantinnen Unter dem Titel raquoGepruumlgelte Hunde reagieren so Zwangsmigration und Traumatisierunglaquo gibt David Zimmermann einen Uumlber-blick uumlber den Stand der Dinge Migration bedingt nicht zwangsweise Flucht und Flucht ist nicht ausreichend erklaumlrt von Erwaumlgungen zur Migration Daher war es uns ein Anliegen in das vorliegende Handbuch zusaumltzlich das Thema raquoUnbegleitete minderjaumlhrige Fluumlchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfelaquo aufzu-nehmen dem sich Claudia Menesch und Mirja Keller fachkundig widmen Wenn es moumlglich ist einen familienaumlhnlichen Rahmen insbesondere fuumlr kleinere Kinder her-zustellen tritt das Pflegewesen in Aktion Maud Zitelmann beleuchtet raquoPflegekind-schaft als Chance fuumlr traumatisierte Kinderlaquo Anknuumlpfend an die obigen Gedanken zu Heil- und Sonderpaumldagogik als wichtige Quelle traumapaumldagogischer Wissensbe-staumlnde ergaumlnzt Tanja Kessler mit ihrem Beitrag raquoBehindert uns nicht Ansaumltze Ideen und Entwicklungsaufgaben fuumlr eine Traumapaumldagogik in der Behindertenhilfelaquo diese breite Entfaltung der verschiedenen Arbeitsfelder Zwei weitere Handlungsfel-der duumlrfen auch keinesfalls fehlen Psychiatrie und Jugendamt Stefan Feuerle Sandra Moumlstl und Katharina Purtscher-Penz beleuchten das raquoHandlungsfeld Psychiatrielaquo und Harald Britze wendet sich den strukturellen wie handlungspraktischen Implika-tionen des Handlungsfeldes rsaquoJugendamtlsaquo rund um die Thematik Traumapaumldagogik in seinem Beitrag raquoTraumapaumldagogische Angebote Ihre Bedeutung in den Hilfen zur Erziehung fuumlr die Fallsteuerung durch das Jugendamtlaquo zu

Der vierte Abschnitt des Handbuches raquoMethoden der Traumapaumldagogiklaquo ist nur verstaumlndlich auf dem Boden der bereits mehrfach eingebrachten ethisch fundierten Grundhaltung Voraussetzung jedes adaumlquaten methodisch gelungenen Interventi-onsprozesses ist jedoch vor allem ein umfassendes diagnostisches Verstehen Unter dem Titel raquoTraumapaumldagogisches diagnostisches (Fall-)Verstehenlaquo geben Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig Anregungen wie ein solcher Verstehensprozess gelingen und zu einer adaumlquaten Hilfeplanung fuumlhren kann Von der Bedeutung bin-dungsorientierten Wissens war bereits die Rede Thomas Lang versteht es auf ver-staumlndliche und animierende Weise bindungstheoretische Wissensbestaumlnde fuumlr die Praxis aufzubereiten Unter dem Titel raquoBindung und Trauma Co-Regulation und Selbstregulation ndash Die aumluszligere und die innere Welt korrigierender Beziehungser-fahrungenlaquo fuumlhrt er die Leserinnen direkt in das entsprechende praktische Gesche-hen ein Dafuumlr sind wiederum ndash mehr noch in praktischer Hinsicht als aus theoreti-scher Perspektive ndash das Wissen um die und ein gekonnter Umgang mit traumatischen Uumlbertragungsdynamiken Voraussetzung Tanja Kessler gibt dazu unter dem Titel

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 14: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

14 Zur Einfuumlhrung

raquoDiese Wut die mich immer wieder einholt Methodisches zur Arbeit mit trau-matischer Uumlbertragung und der Gegenreaktionlaquo wichtige Anregungen Auf diesem Boden kann nun auch das Thema der Selbstbemaumlchtigung ndash erneut von Wilma Weiszlig ndash auf die praktische Ebene transformiert und fuumlr die konkreten Erfordernisse im Alltag didaktisch aufbereitet werden unter dem Titel raquoPaumldagogik der Selbstbemaumlchtigung Eine traumapaumldagogische Methodelaquo Nicht selten wird jedoch vergessen dass man es in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe nicht mit einzelnen Individuen son-dern mit Gruppen zu tun hat Unter dem Titel raquorsaquo hellip mit einer Ansammlung von Ein-zelkaumlmpfernlsaquo ndash Traumapaumldagogische Gruppenarbeitlaquo widmet sich Jacob Bausum diesem Aspekt Der gleiche Autor macht mit einem weiteren Artikel unter der Uumlber-schrift raquorsaquoDas kannst du meinem Frosch erzaumlhlenlsaquo Traumapaumldagogische Fortbil-dungen fuumlr Kinder und Jugendlichelaquo darauf aufmerksam wie wichtig es ist sich in Fortbildungen und Schulungen nicht nur an Mitarbeiterinnen sondern auch an die Kinder und Jugendlichen selbst zu richten Ebenso haumlufig wird vernachlaumlssigt dass Traumapaumldagogik nicht in einem abgeschlossenen Raum geschieht und geschehen kann sondern stets auf kontextuelle Faktoren angewiesen ist Unter dem Titel raquoKo-operation und psychosoziale Traumaarbeitlaquo thematisieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Guumlnther Homfeldt den Aspekt der Kooperationsnotwendigkeit der sozialen Dienste auf struktureller Ebene und Hedi Gies widmet sich in ihrem Beitrag raquoTrau-masensible Netzwerkarbeit Ein Aufwand der sich lohntlaquo diesem Thema auf der Ebene eines kollegialen Austausches Eine zentrale Schnittstelle der Vernetzung und Kooperation ist jene zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychothe-rapie Anne Schmitter-Boeckelmann hat sich dieses Themas unter dem Titel raquoVernet-zung TraumatherapieTraumapaumldagogiklaquo angenommen

Bereits im letzten Abschnitt wurde deutlich dass Traumapaumldagogik sich nur in-nerhalb eines umgebenden Kontexts entfalten kann Die Auswirkungen von Gewalt z B als individuelle Psychopathologie zu kategorisieren fuumlr deren Verarbeitung die Opfer selbst verantwortlich sind wirkt sequenziell traumatisierend (vgl Keilson 1979) Traumatisierte sind daher haumlufig von der Gesellschaft rsaquodisconnectedlsaquo und rsaquodisempoweredlsaquo (Herman 1992 S 51 ff) Briere (1996 S 84) bezeichnet diese Ver-haumlltnisse als rsaquoviktimisierende Kulturlsaquo Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Bewaumlltigung zu unterstuumltzen erfordert daher auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine rsaquoreflektierte Parteilichkeitlsaquo fuumlr die Opfer (ReddemannSachsse 2000) Um diese Zusammenhaumlnge eingehender zu verstehen benoumltigt es fuumlr eine rsaquoinformierte Praxislsaquo daher auch Wis-sensbestaumlnde aus verschiedenen Gebieten der allgemeinen Psychotraumatologie die im fuumlnften Abschnitt des Handbuches raquoKontext Psychotraumatologielaquo entfaltet werden Der Abschnitt wird eingeleitet von dem Artikel raquoTrauma und Gesellschaft Zum Verhaumlltnis von Bewaumlltigung und Anerkennunglaquo von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer Auf dieser Basis beschaumlftigt sich Christine Koumlckeritz damit was raquoLangzeitige Folgen fruumlher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlaumlssigunglaquo sind Dieser Aspekt wiederum kann nicht angemessen ausgeleuchtet werden ohne die Beschaumlftigung mit dem Dissoziationsgeschehen Winja Lutz erlaumlutert dieses trau-

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 15: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

15Zur Einfuumlhrung

matypische Geschehen unter dem Titel raquoDissoziation als Anpassungsleistunglaquo Die Ambivalenzen zwischen Annaumlherung und Vermeidung als raquodyadischer Angelpunkt posttraumatischer Bewaumlltigungsversuchelaquo wie Birck (2001 S 48) dies benannt hat fuumlhren auch zu dem komplexen Phaumlnomen raquoTransgenerationale Weitergabe von Traumatisierungenlaquo das Ilka Quindeau und Marianne Rauwald in ihrem Beitrag beleuchten Gerade in der paumldagogischen Tradition wird bei der Beschaumlftigung mit Trauma viel zu oft das koumlrperliche Geschehen vernachlaumlssigt Trauma jedoch ist ein ganzkoumlrperliches Phaumlnomen und muss auch auf dieser Ebene in der professionellen Praxis reflektiert werden Unter dem Titel raquoTrauma und Koumlrperlaquo gibt Thomas Lang dazu Anregungen Das Uumlberblickskapitel uumlber verschiedene Aspekte der Psychotrau-matologie wird abgerundet durch eine systematische Rahmung der verschiedenen Arbeitsfelder Unter dem Titel raquoArbeitsfelder zur Unterstuumltzung bei traumatischen Belastungenlaquo nehmen Silke Birgitta Gahleitner und Wilma Weiszlig hier eine Sichtung und Klaumlrung vor Abschlieszligend schlaumlgt Katja Maurer den Bogen wieder zuruumlck zum gesellschaftlichen Umfeld indem sie unter dem Titel raquoInternationale Traumaarbeit zwischen Hit-and-Run und alternativen Konzeptenlaquo zu einer klaren Positionierung aufruft

Der sechste Abschnitt des Buches versucht raquoAktuelle Entwicklungenlaquo aufzuzei-gen Dieses Kapitel enthaumllt vor allem Thematiken die bisher im Rahmen des Hand-buches nicht angesprochen werden konnten Eines dieser Themen ist die Forschung Empirisch basierte Qualitaumltssicherung wird in der Kinder- und Jugendhilfe zuneh-mend mehr Bedeutung beigemessen sie stellt jedoch ein komplexes Unterfangen dar Jugendhilfeprozesse sind mit ihren Adressatinnen deren Biografien Lebenslagen Lebensstilen Wuumlnschen Werten Absichten Gefuumlhlen und Wirklichkeiten ndash kurz rsaquoSinnstrukturenlsaquo ndash schwer einzufangen Im Fachdiskurs wird immer wieder deutlich dass bisher zu wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse uumlber Ergebnisse der Arbeit in diesem Bereich vorliegen (vgl MacsenaereHerrmann 2004) Entlang die-ser Uumlberlegungen geben Silke Birgitta Gahleitner Wolfgang Brandstetter und Marc Schmid unter dem Titel raquoForschung und Qualitaumltssicherunglaquo einen Einblick in das Forschungsfeld der Traumapaumldagogik und veranschaulichen es an einer konkret durchgefuumlhrten Evaluation einer Traumapaumldagogikschulung in einer Muumlnchner Ein-richtung Zentral fuumlr das Vorantreiben der Entwicklungen und Erkenntnisse in der Traumapaumldagogik sind zudem die Diskussionen in den Erziehungsverbaumlnden wie der Internationalen Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) als Herausgeber von raquo rsaquoPhilipp sucht sein Ichlsaquo Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata in den Erzie-hungshilfenlaquo (Weiszlig 2003 1 Auflage) und dem Evangelischen Erziehungsverband e V sowie die Arbeit in zugehoumlrigen Fachverbaumlnden Neben einigen deutschsprachigen und deutschen Fachverbaumlnden zu psychosozialer und psychotherapeutischer Trau-maarbeit aus einer breiteren Perspektive wie der Deutschsprachigen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie (DeGPT) und der Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie Trau-matherapie und Gewaltforschung (GPTG) hat sich die raquoBundesarbeitsgemeinschaft Traumapaumldagogik eV Der Fachverband fuumlr Traumapaumldagoginnenlaquo (BAG-TP) ausschlieszliglich auf die Weiterentwicklung und Verbreitung traumapaumldagogischer In-

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 16: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

16 Zur Einfuumlhrung

halte fokussiert und wird daher in diesem Handbuch von Thomas Wahle vorgestellt Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Standards und Kompetenzprofilen fuumlr Ausbildung wie Praxis war die Erarbeitung traumapaumldagogischer Standards in der Kinder- und Jugendhilfe Unter dem Titel raquoDie Entwicklung der traumapaumldagogi-schen Standards Ein Meilenstein in der stationaumlren Erziehungshilfelaquo werden die darin enthaltenen entwicklungsfoumlrdernden Aspekte von Claudia Schirmer dargestellt Ein Handbuch Traumapaumldagogik waumlre nicht ernst zu nehmen ohne auch kritische Aspekte der Entwicklungen rund um die Traumaarbeit und Traumapaumldagogik anzu-sprechen Jochen-Wolf Strauszlig widmet sich diesem Aspekt ndash nach vielen Jahren Praxis wie Publikationstaumltigkeit ndash abschlieszligend unter dem Titel raquoGrenzen der Traumapauml-dagogik ndash kritische (Nach-)Fragenlaquo in kreativer und provokanter Weise

Der letzte Abschnitt des Handbuchs spricht die Frage bereits an raquoWie geht es weiterlaquo ndash Fest steht Im Feld der Traumapaumldagogik hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan Einige Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten nach traumapaumldagogischen Konzepten Die Erziehungsfachverbaumlnde diskutieren diese ndash wenn auch kontrovers Die Bundesregierung fordert Traumasensibilitaumlt in der Paumlda-gogik Insbesondere in Oumlsterreich beschaumlftigen sich Kinder- und Jugendpsychiatrien mit den Moumlglichkeiten traumapaumldagogischen Handelns Das zeigt sich auch in der Fort- und Weiterbildungslandschaft Alle soeben genannten Fachgesellschaften ge-meinsam arbeiten z B derzeit an dem bereits laufenden Curriculum Traumapaumlda-gogikTraumazentrierte Fachberatung (vgl dazu httpwwwbag-traumapaedagogikdeindexphpausbildungs-curriculahtml) Die Ergebnisse der Uumlberarbeitung sollen Ende 2017 vorliegen und in die curriculare Gestaltung der Ausbildungstraumlger ein-flieszligen In verschiedenen Gremien Untergruppen Forschungs- und Publikations-gemeinschaften werden Ideen entwickelt auf den Pruumlfstand gestellt diskutiert und implementiert Neue Entwicklungen der Traumapaumldagogik auf weiteren Feldern der psychosozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen beispielsweise Senioren Obdach-losen oder drogenabhaumlngigen Menschen stehen vor der Tuumlr Wir hoffen dass es mit diesem Handbuch an dem fast alle derzeitigen Protagonistinnen der Traumapauml-dagogik mitgewirkt haben gelungen ist den Leserinnen mit dieser groszligen Vielfalt neue Gedanken fuumlr konstruktive Weiterentwicklungen der anspruchsvollen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu bieten

Hanau und Krems Oktober 2015Wilma Weiszlig Tanja Kessler und Silke Birgitta Gahleitner

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

Doumlrr M (2011) Psychoanalytische Paumldagogik In Otto H-UThiersch U (Hrsg) Handbuch So-ziale Arbeit Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpaumldagogik 4 voumlllig neu bearbeitete Auf-lage Muumlnchen Reinhardt S 1163ndash1175

Felitti V J (2002) Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter die Ver-wandlung von Gold in Blei In Zeitschrift fuumlr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48 H 4 S 359ndash369

Gahleitner S B (2010) Psychosoziale Traumaarbeit Traumaberatung und Traumapaumldagogik Eine kritische Bestandsaufnahme In Fegert J MZiegenhain UGoldbeck L (Hrsg) Traumati-sierte Kinder und Jugendliche in Deutschland Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung Weinheim Juventa S 228ndash245

Herman J L (1992) Trauma and recovery From domestic abuse to political terror London Harper Collins

Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

Reddemann LSachsse U (2000) Traumazentrierte imaginative Therapie In Egle U THoff-mann S OJoraschky P (Hrsg) Sexueller Miszligbrauch Miszlighandlung Vernachlaumlssigung Er-kennung und Therapie psychischer und psychosomatischer Folgen fruumlher Traumatisierungen Stuttgart Schattauer S 375ndash389

Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 17: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

17Zur Einfuumlhrung

Literatur

Birck A (2001) Die Verarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kindheit bei Frauen in der Psycho-therapie Berlin Behandlungszentrum fuumlr Folteropfer

Briere J N (1996) Therapy for adults molested as children Beyond survival 2 uumlberarbeitete und erweiterte Auflage New York Springer

BT-Drs 1612860 (Deutscher Bundestag Drucksache vom 30042009) (2009) Bericht uumlber die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch-land 13 Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung Berlin Deut-scher Bundestag httpdip21bundestagdedip21btd161281612860pdf (Abruf 1492015)

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Keilson H (1979) Sequentielle Traumatisierung bei Kindern Deskriptiv-klinische und quantifi-zierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der juumldischen Kriegswaisen in den Niederlanden Stuttgart Enke

Macsenaere MHerrmann T (2004) Klientel Ausgangslage und Wirkungen in den Hilfen zur Erziehung In unsere jugend 56 H 1 S 32ndash42

Pestalozzi J H (17992010) Stanser Brief httpwwwheinrich-pestalozzideesdokumentationzeit_leben_werkelevel2level_3stanser_brief_volltextindexhtm (Abruf 1492014)

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Schulze HLoch UGahleitner S B (Hrsg) (2012) Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen Plaumldoyer fuumlr eine Psychosoziale Traumatologie Baltmannsweiler Schneider

UN ARES61106 (United Nations Doc 24012007) (2007) Convention on the Rights of Persons with Disabilities Washington United Nations httpwwwunorgdisabilitiesconventioncon-ventionfullshtml (Abruf 1492015)

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 18: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

Teil I

Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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20

Wilma Weiszlig

Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Die Entstehung der jungen Fachrichtung Traumapaumldagogik begann in stationaumlren und teilstationaumlren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ab Mitte der 90er-Jahre Mittlerweile werden die Moumlglichkeiten der Traumapaumldagogik in verschie-denen Arbeitsfeldern ausprobiert und beschrieben (Kapitel raquoHandlungsfelderlaquo in diesem Band) Traumasensible Paumldagogik ist notwendig weil traumatisierte Maumld-chen und Jungen Uumlberlebensstrategien entwickelt haben die ihnen das Leben den Zugang zu Gleichaltrigen und Erwachsenen und vor allem den Zugang zu sozialer Teilhabe erschweren Sie ist moumlglich weil schon alleine die Kenntnis dieser Strate-gien den psychosozialen Fachkraumlften und Paumldagoginnen in allen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen die unterstuumltzende Begleitung der Maumldchen und Jungen bei ihrer Traumabearbeitung erleichtern kann Traumabearbeitung ist die Bewaumlltigung durch die Betroffenen Traumaarbeit die Begleitung durch psychosoziale Fach-kraumlfte wie Traumapaumldagogik Traumatherapie Traumafachberatung die Bewaumllti-gung traumatischer Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit NGOs psychosoziale Traumaarbeit u v a m

Die Entstehung der Traumapaumldagogik kann man Ende der 90er-Jahre in der sta-tionaumlren Jugendhilfe verorten In den letzten zehn Jahren entstanden in der paumlda-gogischen Praxis verschiedene Konzepte mit Gemeinsamkeiten Schnittmengen und Unterschieden Die Diskussion dieser Unterschiede kann als Motor der weiteren Ent-wicklung der jungen Fachrichtung verstanden und genutzt werden

Traumapaumldagogik ist Teil der Traumaarbeit

Traumapaumldagogik ist keine Therapie und Traumaexposition im klassischen therapeu-tischen Sinne Sie wurde notwendig als Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag Traumabearbeitung ist vor allen Dingen ein Prozess der Selbstbemaumlchtigung den die Maumldchen und Jungen in den fuumlr sie oder ihn sozial bedeutsamen Bezuumlgen vollziehen Das beinhaltet die Veraumlnderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Uumlberzeugungen die Moumlglichkeit das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen die Chance im Leben im raquoJetztlaquo einen Sinn zu finden die Entwicklung von Koumlrpergewahrsein und Koumlrperfuumlrsorge

21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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21Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

die Selbstregulation von traumatischen Erinnerungsebenen und von traumati-schem Stress

Vertrauen in Beziehungen die Entwicklung einer respektierenden Haltung den eigenen WundenSchwierig-

keitenBeeintraumlchtigungen gegenuumlber Chancen fuumlr soziale Teilhabe (Weiszlig 2013 S 92)

Traumabewaumlltigung beschraumlnkt sich nicht auf Traumatherapie Letztere stelle ndash so Kruumlger und Reddemann (2007 S 34) ndash raquo hellip nur einen bescheidenen Baustein im Sinne der Verarbeitung und Heilung von traumatischen Lebenserfahrungen darlaquo Von Menschen gemachte Traumata sind zerstoumlrerische Erfahrungen Traumabearbei-tung Traumaheilung die Uumlberwindung dieser Erfahrungen braucht raquodas Wiederher-stellen von Vertrauen das Wiedererlangen von Zuversicht die Ruumlckkehr zu einem Gefuumlhl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebelaquo (PerrySzalavitz 2006 S 291) Traumapaumldagoginnen koumlnnen viel dazu beitragen

Die Traumapaumldagogik ist Bestandteil der Paumldagogik und Sozialen Arbeit sie ist aber auch elementarer Teil der Psychotraumatologie Wie Silke Gahleitner betont leisten Fachkraumlfte der Sozialen Arbeit und der (Heil-)Paumldagogik mit Abstand den groumlszligten Anteil der Traumaversorgung (GahleitnerSchulze 2009) Paumldagoginnen bereichern die fachliche Diskussion mit ihren beruflichen Traditionen so kommen Traumapaumldagoginnen gegenuumlber dem klassifikatorischen Denken von Medizin und Psychiatrie eher aus dem subjektorientierten prozesshaften und kontextorientierten systemischen Denken Eine fachliche Debatte auf Augenhoumlhe ndash wie sie in den letzten Jahren im Rahmen der Zusammenarbeit der BAG Traumapaumldagogik und der Deut-schen Gesellschaft fuumlr Psychotraumatologie gefuumlhrt wird ndash kann sich auf den Schatz der unterschiedlichen Erfahrungen Wissensstaumlnde und Methoden vieler Professio-nen stuumltzen

Die Genese

Die Traumapaumldagogik ist in der paumldagogischen Praxis entstanden Angeregt durch die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt gegen Frauen beschaumlftigten sich ab Ende der 80er-Jahre Paumldagoginnen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegeeltern mit den Moumlglichkeiten einer besseren Unterstuumltzung traumatisierter Maumldchen und Jungen Wie rede ich mit Maumldchen und Jungen uumlber sexuelle Gewalt wie staumlrke ich sie welche Schutzkonzepte braucht es in Einrichtungen etc (Enders 1995 BangeDeegener 1996 Weiszlig 1996) Mit der Erweiterung des Blickwinkels auf alle Formen von Gewalt gegen Kinder Mitte der 90er-Jahre stieg das Interesse an den Auswirkungen anderer traumatischer Erfahrungen auf die Entwicklung der Maumldchen und Jungen und die Frage nach den Moumlglichkeiten einer paumldagogischen Begleitung (Stiftung raquoZum Wohl des Pflegekindes 1998) Damit naumlherten sich die Paumldagoginnen der bislang unangefochtenen Domaumlne der Psychotraumatologinnen und Therapeut

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 21: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

22 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

innen der Traumaarbeit Die Renaissance der Bindungstheorie ruumlckte die Bindungs-beduumlrfnisse der Kinder in den Mittelpunkt der Diskussion und damit auch die trau-matisierenden Inhalte von Bindungsgestaltung 2002 schlug sich diese Entwicklung in Buumlchern Konzepten und Institutionalisierung nieder Martin Kuumlhn und Volker Vogt eroumlffneten das Diskussionsforum

wwwtraumapaedagogikde Die Internationale Gesellschaft fuumlr erzieherische Hilfen (IGfH) bietet seit 2002

traumapaumldagogische Fort- und Weiterbildungen an 2003 erschien raquoPhilipp sucht sein Ich Zum paumldagogischen Umgang mit Traumata

in den Erziehungshilfenlaquo 2004 forderte Katharina Purtscher in Graz traumadaumlquate Behandlung und Paumlda-

gogik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2008 initiierten Martin Kuumlhn und Wilma Weiszlig die Gruumlndung der Bundesarbeits-

gemeinschaft fuumlr Traumapaumldagogik

Traumapaumldagogik ist eine dynamische Fachrichtung die sich staumlndig neuen Fragen stellt so aktuell dem traumapaumldagogischen diagnostischen Fallverstehen und der Be-ruumlcksichtigung stoumlrungswertiger Dissoziation im paumldagogischen Alltag

Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne die Erkenntnisse der Psychotraumato-logie Menschen wie Judith L Herman Bessel van der Kolk und vielen anderen ge-buumlhrt das Verdienst auf die Wunden traumatischer Erfahrungen in Leib und Seele der Menschen aufmerksam gemacht und hilfreiche Prozesse angestoszligen zu haben Traumapaumldagogik ist nicht denkbar ohne Beruumlcksichtigung der Erkenntnisse der So-zialen Arbeit Bindungstheorie Resilienzforschung Gesundheitslehre und der the-rapeutischen Wissenschaften Besondere Bedeutung fuumlr die Konzeptionierung der Traumapaumldagogik hat neben den Erkenntnissen der Psychotraumatologie die Psycho-analyse (vgl Doumlrr in diesem Band)

Traumapaumldagoginnen muumlssen das Rad nicht neu erfinden es gibt hervorragende paumldagogische Traditionen die in traumapaumldagogischen Konzepten zu erkennen sind So bezieht sich Traumapaumldagogik auf Inhalte der Reformpaumldagogik und der eman-zipatorischen Paumldagogik weil im Zentrum ihrer Praxis und Theorie das Ziel steht benachteiligte auch traumatisierte Menschen auf ihrem Weg von einem Objektsta-tus ndash Objekt der Erwachsenen Objekt der Herrschenden Objekt der strukturellen Gewalt ndash zum Subjekt-Sein zur Selbstbemaumlchtigung zu begleiten Die zum Teil ver-gessenen Klassiker der paumldagogischen Literatur wie August Aichhorn (19251987) und Bruno Bettelheim (19551985) beschreiben kindliche Verhaltensweisen die raquoheute teilweise als Symptome traumabezogener Stressreaktionen beschrieben wer-den koumlnnten [hellip] So manche Beschreibung uumlberrascht in ihrer Aktualitaumlt aus heuti-ger Sichtlaquo (Kuumlhn 2013 S 26)

23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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23Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Inhalte der Traumapaumldagogik

In den letzten zehn Jahren sind eine Anzahl traumapaumldagogischer Konzepte ent-standen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte gelten als kreative Bestandteile eines Diskussions- und Praxistestprozesses Unterschiede finden sich in Inhalten und Gewichtungen im traumpaumldagogischen Handeln Als erster Fixpunkt dieser theoretischen Praxis oder praktischen Theorie gelten die im November 2011 von der BAG Traumapaumldagogik vorgestellten Traumapaumldagogischen Standards in der stationaumlren Kinder- und Jugendhilfe (BAG Traumapaumldagogik 2011)

Als handlungsleitende Inhalte der traumapaumldagogischen Praxis haben sich fol-gende Konzepte herauskristallisiert Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007) Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig 2005 Weiszlig 2009) Traumapaumldagogische Gruppenarbeit (Bausum 2009) Stabilisierung und (Selbst-)Fuumlrsorge fuumlr Paumldagoginnen als institutioneller Auf-

trag (Lang 2009) Traumapaumldagogik in der Schule (Ding 2009) Milieutherapeutische Konzepte (Gahleitner 2011)

Ihnen gemeinsam ist eine traumasensible Grundhaltung in deren Zentrum die An-nahme des guten Grundes steht Das Verhalten des Kindes ist entwicklungsgeschicht-lich verstehbar als eine normale Reaktion auf eine auszligerordentliche Belastung In allen Konzepten finden wir ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Haltung Die Annahme des guten Grundes ndash raquoAlles was ein Mensch zeigt macht Sinn in

seiner Geschichtelaquo Wertschaumltzung ndash raquoEs ist gut so wie du bistlaquo Partizipation ndash raquoIch traue dir was zu und uumlberfordere dich nichtlaquo Transparenz ndash raquoJeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheitlaquo Spaszlig und Freude ndash raquoViel Freude traumlgt viel Belastunglaquo

(BAG Traumapaumldagogik 2011)

Das Menschenbild gruumlndet in der humanistischen Paumldagogik und der humanisti-schen Psychologie Es besteht im Wesentlichen in der Erkenntnis dass der Mensch die Faumlhigkeit zur Veraumlnderung und zur Selbstregulation besitzt

raquoDas Individuum verfuumlgt potentiell uumlber unerhoumlrte Moumlglichkeiten um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte seine Grundeinstellung und sein selbstgesteuertes Verhalten zu veraumlndern dieses Potential kann erschlossen werden wenn es gelingt ein klar definiertes Klima foumlrderlicher psychologischer Einstellungen herzustellenlaquo (Rogers 1981 S 66)

24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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24 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Traumapaumldagogische Konzepte sind interdisziplinaumlr und interinstitutionell Trotz des Grabens zwischen den Disziplinen gab und gibt es immer wieder Beispiele der Integration und Konvergenz paumldagogischen psychologischen und medizinischen Denkens raquoSo standen heilpaumldagogische Heime Pate bei der Gruumlndung kinderpsy-chiatrischer Stationenlaquo (Gahleitner 2011 S 25) Psychoanalytiker beeinflussten die Paumldagogik und begruumlndeten die Milieutherapie Immer waren es Menschen die uumlber ihre Disziplin hinaus mit Vertreterinnen anderer Fachrichtungen Disziplinen und Institutionen neue Konzepte entwickelt und erprobt haben

Traumapaumldagogische Inhalte in der Entwicklung

Die Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte geschieht in der Praxis Dort ist es gelungen Teile traumapaumldagogischer Konzepte in einem Prozess des Aufein-anderbezogenseins der Akteurinnen und der Verbindung von Theorie und Praxis in traumapaumldagogischen Projekten zusammenzufuumlhren und weiterzuentwickeln Gruppe Greccio Emotionsregulation (Schmid et al 2009) Tabaluga Kinderstiftung Selbstbemaumlchtigung durch KinderQuakirunden (Gah-

leitner et al 2015) Arbeitskreis therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (2009) ndash Therapeuti-

sches Milieu Projekt des CJD e V mit dem Universitaumltsklinikum Ulm Implementierung trau-

mapaumldagogischer Konzept in Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf die Ver-sorger (Schmid et al 2014)

Die gemeinsame Weiterentwicklung traumapaumldagogischer Inhalte scheint in den Uumlberlegungen zum sicheren Ort und zur traumasensiblen Bindungspaumldagogik am weitesten fortgeschritten

Die Paumldagogik des sicheren Ortes

Vor ca 25 Jahren stellte Luise Reddemann (2007) die Imagination raquoder sichere Ortlaquo als eine Methode der Kontrolle uumlber negative Gedanken und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem also einen inneren sicheren Ort vor 2003 entstand das Konzept der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre ein aumluszligerer sicherer Ort (Weiszlig 2013 S 172)

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 24: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

25Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Eine korrigierende Gruppenatmosphaumlre

Reagiert auf hellip mit hellip

Geheimhaltungssystem ndash offener direkter Kommunikationndash Enttabuisierung von elterlicher Gewalt und von

sexueller Gewalt

Schuld ndash Entlastung

Angst ndash Sicherheit

Willkuumlr ndash Transparenz klaren Strukturen

Ohnmacht Objekt ndash Mit- und Selbstbestimmung

Verstecken von Gefuumlhlen ndash Akzeptanz der Gefuumlhle Moumlglichkeiten der Abreaktion

Aufbau von Spannung ndash spannungsmindernden Aktivitaumlten

Beziehungslosigkeit ndash Beziehungsangebot

Isolation ndash Gruppenerfahrung

traumatische Erfahrungen ndash Schutz vor Wiederbelegung durch Stopps bei posttraumatischen Spielen

ndash Einuumlben von Entspannungsverfahren

Erstarrung ndash kuumlnstlerischen Ausdrucksmoumlglichkeiten ndash selbstbestimmten Koumlrpererfahrungen

Abb1 Die korrigierende Gruppenatmosphaumlre (Weiszlig 2013 S 172)

Aus der paumldagogischen Tradition kommend sieht Kuumlhn in der Bedeutung der Parti-zipation als Teil des sicheren Ortes einen konkreten Handlungsauftrag in paumldagogi-schen Institutionen und im gesellschaftlichen Umfeld Partizipation umfasse mehr als nur die Delegation von Entscheidungen an Kinder und Jugendliche so Kuumlhn (2013) und schlaumlgt Stufen der Partizipation vor (vgl Mascenaere in diesem Band)

Uttendoumlrfer ergaumlnzt in seinem Konzept der traumazentrierten Paumldagogik (2008) das Konzept des inneren sicheren Ortes um einen aumluszligeren sicheren Ort Dies ge-schieht durch die Beruumlcksichtigung der psychosozialen Fachkraumlfte als Bestandteil des sicheren Ortes (Kuumlhn 2007 Lang 2009 Lang 2013)

26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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26 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Kind

PaumldagogIn

PaumldagogIn

Einrichtung

Kind

Einrichtung

Der raquoemotional-orientiertelaquo Dialog

Der raquosichere Ortlaquo Der raquogeschuumltzte Handlungsraumlaquo

Abb2 Paumldagogik des sicheren Ortes (Kuumlhn 2013 S 32)

Die Paumldgoginnen selbst sind mit ihrer fachlichen und persoumlnlichen Sicherheit ein wesentlicher Teil des aumluszligeren sicheren Ortes Lang (2013) begreift die Paumldagoginnen deshalb nicht als Umsetzer sondern als raquoBestandteil traumapaumldagogischer Konzeptelaquo (Lang 2013 S 222) Dieser Auffassung hat sich die BAG TP angeschlossen und for-muliert ihre Standards fuumlr Paumldagoginnen und Kinder und zwar in dieser Reihen-folge (BAG Traumpaumldagogik 2011)

Durch die praktische Umsetzung der Inhalte und Methoden des sicheren Ortes ergeben sich neue Fragen Was tun wenn Kinder und Jugendliche keinen inneren sicheren Ort finden Ist der Begriff sicherer Ort der impliziert es gebe einen sicheren Ort richtig Ist er die Beschreibung eines Prozesses oder ist es nicht angemessen vom soweit als moumlglich sicheren Ort zu sprechen

raquoEntscheidend ist dass das Milieu von einer Haltung gepraumlgt ist welches dieses Ziel verfolgt und gegebenenfalls auf entstandene Unsicherheiten derart sensibilisiert ist dass diese kontinuierlich aufgegriffen und aufgeklaumlrt werden und die Sicherheit so-mit umgehend wieder hergestellt werden kannlaquo (Schmid 2014 S 23)

Ein Ergebnis der gemeinsamen Weiterentwicklung scheint die Verbindung der In-halte der korrigierenden Gruppenatmosphaumlre und des Konzeptes des sicheren Ortes in dem neuen Begriff traumapaumldagogisches Milieu rsaquoTherapeutisches Milieulsaquo ndash oder unmissverstaumlndlicher ausgedruumlckt rsaquopaumldagogisch-therapeutisches Milieulsaquo ndash bedeutet nach den aktuellen Entwicklungen offenbar raquoausdruumlcklich nicht eine Therapeutisie-

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 26: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

27Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

rung des Alltags sondern eine explizite Betonung auf paumldagogisch verwurzelte Be-treuungskonzeptionenlaquo (Gahleitner 2011 S 9 Hervorhebung im Original) Das Kon-zept wird in einem weiteren Artikel in diesem Band ausfuumlhrlich erlaumlutert (Gahleitner in diesem Band)

Die Entwicklung traumapaumldagogischer Bindungskonzepte

Positive Beziehungserfahrungen sind der vielleicht wesentlichste Beitrag fuumlr eine ge-lingende Traumabearbeitung Und so betonen alle Konzepte die Bedeutung von Bin-dung In der theoretischen Konzeption setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte die manchmal im Handeln erkennbar sind meist flieszligen diese ineinander und ergaumlnzen sich Bindungsbalance stellt einen mittleren Abstand und die Balance zwischen dis-tanzierter professioneller Reflexion und persoumlnlichem Engagement her raquoAls Modell fuumlr eine gute Beziehungsgestaltung fungiert fuumlr uns die Grundhaltung der Dialektisch Behavioralen Therapie von Marsha Linehan der mittlere professionelle Beziehungs-abstand und die Achtsamkeit auf die Grenzen der professionellen Helferlaquo (Schmid 2008 S 8)

Fuumlr belastete Kinder ist die Erfahrung sie haben fuumlr jemanden Bedeutung oft ganz neu Sie beschreiben viele Jahre spaumlter die eine Stunde den einen Moment als die Kollegin bzw der Kollege fuumlr sie Zeit hatte und etwas Besonderes unternommen hat vielleicht besonders zugehoumlrt hat als exklusiv Diese exklusive Beziehung schlieszligt nicht andere Kinder oder Paumldagoginnen aus sie schlieszligt exklusive Momente ein Die Heimerziehungsforschung ist eindeutig Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw Spannungen der institutionellen Bedingungen wie Schichtdienst Paumldagogin-nenwechsel Beziehung als Broterwerb teilweise ausgleichen raquoSie suchen weiterhin nach dem Verlorenen oder erfolglos Gesuchten nach Erwachsenen die persoumlnliche Verantwortung gerade fuumlr sie uumlbernehmen wuumlrden zu denen sie gehoumlren koumlnntenlaquo (Wieland et al 1992 S 95)

Traumatisierten Maumldchen und Jungen nutzt Beziehungsvielfalt Im idealen Fall leben sie in einem Raum stabiler sozialer Beziehungen in einer heilenden Gemein-schaft raquoAusdruumlcklich geht es bei diesen Uumlberlegungen jedoch um Beziehungsviel-falt nicht um Beziehungsdyaden alleinelaquo (Gahleitner 2011 S 29) Die Beruumlcksich-tigung der zum Teil desastroumlsen Bindungserfahrungen der Maumldchen und Jungen im paumldagogischen Alltag erfordert einen reflexiven Umgang mit den Bindungsfallen Ab-wertung und Verstrickung (Schleiffer 2007 Lang 2013 Kessler i d B) Lang eroumlff-net mit der Beschreibung der Koumlrperlichkeit von Bindungserfahrung neue Wege der Bindungspaumldagogik Auf jeden Fall beinhaltet Bindungspaumldagogik die Maumldchen und Jungen in der Reflexion ihres Bindungsverhaltens auch kognitiv und alltaumlglich zu begleiten (Bowlby 1995 S 129 ff Weiszlig 2013 S 112 ff) Auch Gleichaltrigenbe-ziehungen koumlnnen zur Bindungssicherheit fuumlhren so gilt die Belebung der Grup-penarbeit als Beitrag zur Aufhebung von Scham Isolation und Individualisierung von Leid (Bausum 2009)

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

Page 27: Startseite - Handbuch · 2016-06-11 · Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschie- densten Arbeitsfeldern der Kinder- und

28 Bezuumlge der Trauma paumldagogik aus der Paumldagogik und der Sozialen Arbeit

Unterschiedliche Theorien und Erfahrungen als Motor der Entwicklung

Die Beschreibung der Unterschiede soll in dieser Tradition die Diskussion traumapauml-dagogischer Konzepte moumlglicherweise ihre Konvergenz anregen Unterschiede er-klaumlren sich aus den jeweiligen Kontexten in denen die Konzepte entstehen und den beruflichen Hintergruumlnden der Protagonisten Waumlhrend einige raquoUnter Traumapaumlda-gogik [hellip] die konsequente Anwendung der Psychotraumatologielaquo verstehen (Schmid 2013 S 56) betonen andere die paumldagogischen Traditionen der Traumapaumldagogik (Kuumlhn 2013 Weiszlig 2013) Die Teilnehmerinnen traumapaumldagogischer Projekte se-hen oft Traumapaumldagogik als Bestaumltigung fuumlr die Paumldagogik raquoso wie wir arbeitenlaquo Die unterschiedlichen Akzentuierungen beeinflussen moumlglicherweise die Integration traumapaumldagogischer Ansaumltze in die paumldagogischen Disziplinen Die Verortung in der eigenen Geschichte die Ruumlckbesinnung auf die guten emanzipatorischen und den Objektstatus der Menschen korrigierenden paumldagogischen Ansaumltze ist eine Res-source die es zu bergen gilt

Aus den therapeutischen Wissenschaften stammen auch kognitiv verhaltensthe-rapeutische Ansaumltze incl der Weiterentwicklung durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Diese konzentrieren sich z B mithilfe von Fertigkeitentraining und Notfallkoffer auf die Begleitung der Emotionsregulation als traumapaumldagogische In-halte

Die Paumldagogik der Selbstbemaumlchtigung (Weiszlig i d B) betont die Expertenschaft der Kinder und Jugendlichen als Expertinnen fuumlr schwierige Lebenslagen Das be-deutet dass wir ihnen unser Wissen uumlber Traumatisierung zur Verfuumlgung zu stellen und sie fragen was sie davon kennen wie sie es kennen und ob sie vielleicht Ein-waumlnde haben

In einigen Konzepten ist die Bedeutung traumatischer Uumlbertragungen beruumlcksich-tigt andere betonen die Gefahren eines inflationaumlren und nicht sachgemaumlszligen Um-gangs mit Uumlbertragungen und Gegenreaktionen Wie Judith Lewis Herman schreibt sind raquoTraumatische Uumlbertragungs- und Gegenuumlbertragungsreaktionen [sind] unver-meidlich und stoumlren zwangslaumlufig immer wieder den Aufbau einer guten therapeu-tischen Beziehunglaquo (Herman 1993 S 203) Paumldagoginnen die davon wissen ver-stehen manches Verhalten der Maumldchen und Jungen besser Zudem unterstuumltzen die Kenntnis und Reflexion der Gegenuumlbertragung die alltaumlgliche Selbstsorge (Kessler in diesem Band Weiszlig 2013 Wagner 2009)

Die meisten traumapaumldagogischen Konzepte beziehen sich explizit auf traumati-sierte Maumldchen und Jungen Andere betonen den Nutzen der Traumapaumldagogik fuumlr alle Kindern und Jugendlichen Moumlglicherweise werden die traumatisierten Maumldchen und Jungen durch eine raquoSonder-laquoPaumldagogik isoliert und stigmatisiert Sie brauchen uumlberall Konzepte und Strukturen die traumapaumldagogische Inhalte und Methoden beruumlcksichtigen und ermoumlglichen Auch wenn die sehr belasteten Maumldchen und Jun-gen um ein vielfaches mehr auf diese Konzepte angewiesen sind nutzen die oben beschriebene traumapaumldagogische Haltung und Inhalte allen Kindern und Jugendli-chen und sie nutzen auch den sie betreuenden psychosozialen Fachkraumlften

29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften

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29Traumapaumldagogik Entstehung Inspirationen Konzepte

Ist das Konzept des sicheren Ortes wirklich sicher wo gibt es Einschraumlnkungen auf was muumlssen wir achten Profitieren Kinder von der Selbstregulation Wie muumls-sen Gruppenstrukturen aussehen die traumatisierte Kinder stabilisieren Wie wird in der Schule soziale Teilhabe fuumlr lebensgeschichtlich belastete Kinder moumlglich Was bedeutet die Geschlechterdifferenz fuumlr Inhalte und Methoden Wie wird sich die Traumapaumldagogik mit den unterschiedlichen Disziplinen der Paumldagogik verbinden Dies alles sind Fragen die in einem kreativen Miteinander der Praktikerinnen Wis-senschaftlerinnen und Maumldchen und Jungen gestellt werden sollen gerne auch mit Unterstuumltzung von Forschungsvorhaben

Perspektiven

Traumapaumldagogik ist als eine Graswurzelbewegung engagierter Kolleginnen in der stationaumlren Jugendhilfe entstanden Heute findet sie in der Fachoumlffentlichkeit zuneh-mende Beachtung Traumapaumldagogisches Handeln findet in immer mehr Arbeits-feldern und Bildungs- Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen statt Inhalte der Traumapaumldagogik fordern andere Fachrichtungen zum Uumlberpruumlfen handlungsleiten-der Vorannahmen auf Die Paumldagogische Arbeit geraumlt in vielen Bereichen vor dem Hintergrund von lebensgeschichtlichen Belastungen auf den Pruumlfstand sie muss emanzipatorisch sein

Erste Forschungsergebnisse zeigen Traumapaumldagogik unterstuumltzt die Traumabe-waumlltigung der Maumldchen und Jungen und die Handlungswirksamkeit der Paumldagoginnen (Gahleitner i d B)

Traumapaumldagogik ist eine raquoFachrichtung in Bewegunglaquo die in einem lebendigen Dialog Theorie Praxis und sozialpolitische Aktion verbindet Lebendig und kreativ ist dieser Dialog auch weil er auf Augenhoumlhe der Akteurinnen geschieht In einigen Forschungsprojekten sind die Maumldchen und Jungen Expertinnen die uns bedeu-tende Antworten geben auf die Frage Was hilft

Traumapaumldagogik ist vielseitig anwendbar weil Haltung und Methoden der Trau-mapaumldagogik alle Menschen unterstuumltzen So ist die traumapaumldagogische Haltung eine Haltung die fuumlr jegliche Paumldagogik gelten sollte Sie ist vielseitig anwendbar weil extremer Stress und traumatische Erfahrungen weiter verbreitet sind als Menschen wissen wollen Trauma gehoumlrt zum Leben und fuumlr nicht wenige Menschen ist Trau-matisierung Normalitaumlt Daher bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas von Empa-thie und Demokratisierung und die Bereitschaft finanzielle Ressourcen einzusetzen Die Bedeutung emanzipatorischer Paumldagogik als Korrektiv zu Erfahrungen von Ohn-macht wird immer deutlicher Paumldagogik ndash und das gilt im Besonderen fuumlr die Trau-mapaumldagogik ndash muss als Bewegung heute wieder zum Veraumlndern zum Einmischen anstiften