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16 MMW-Fortschr. Med. Nr. 9 / 2013 (155. Jg.) _ Im Jahr 2011 ist die Inzidenz der Tuberkulose in Deutschland erstmals nicht weiter zurückgegangen. Manches spricht dafür, dass sie in den nächsten Jahren sogar wieder ansteigen wird. „Ur- sachen für diese Entwicklung sind zu- nehmende Armut, die HIV-Infektion, resistente Tuberkelbakterien bei Pati- enten aus den GUS-Staaten und die ver- zögerte Diagnosestellung“, sagte Dr. Sabine Rüsch-Gerdes vom Forschungs- zentrum Borstel. Angesichts der Tatsa- che, dass es sich um eine seltene Erkran- kung handelt, denken insbesondere jün- gere Ärzte auch bei Risikopatienten zu selten an diese Erkrankung. Chemoprävention oder Chemoprophylaxe? Ein zunehmendes Problem sind Per- sonen, bei denen nach einer latenten Tu- berkulose gefahndet werden sollte bzw. bei denen eventuell eine Chemopräven- tion oder eine Chemoprophylaxe durch- geführt werden muss. Unter einer Che- moprophylaxe versteht man eine pro- phylaktische Behandlung exponierter Personen, die sich bisher nicht infiziert haben bzw. deren Infektion noch nicht nachweisbar ist. Liegt bereits eine latente Infektion mit dem Tuberkelbakterium vor, ist also die betroffene Person bereits infiziert, so muss eine Chemoprävention erfolgen, um die Rate späterer Erkran- kungen durch Reaktivierungen zu ver- mindern. Welche Personen sollen gescreent werden? Empfohlen wird ein Tuberkulose-Scree- ning für folgende Personengruppen: Enge Kontaktpersonen zu einem kultu- rell oder molekularbiologisch gesichert an Lungentuberkulose erkrankten Pati- enten, unabhängig davon, ob mikrosko- pisch ein Nachweis säurefester Stäbchen im Sputum-Direktpräparat gelang, Personen mit radiologischem Nach- weis narbiger Veränderungen im Lun- Wer muss zum Tuberkulose-Screening? Steckbrief der Risikopatienten Zwar ist die Tuberkulose in Deutschland zu einer sehr seltenen Erkrankung geworden, vollständig ausgerottet ist sie jedoch nicht. Im Gegenteil: Es gibt Anzeichen, dass die Inzidenz wieder ansteigen könnte. Das sollte auch der Hausarzt besonders bei Risikopatienten bedenken. Darüber hinaus gilt es zu entscheiden, bei welchen Patienten Screeninguntersuchungen zum Ausschluss oder Nachweis einer latenten Tuberkulose angebracht sind. © istockphoto TBC im Röntgen- bild.

Steckbrief der Risikopatienten

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Page 1: Steckbrief der Risikopatienten

16 MMW-Fortschr. Med. Nr. 9 / 2013 (155. Jg.)

_ Im Jahr 2011 ist die Inzidenz der Tuberkulose in Deutschland erstmals nicht weiter zurückgegangen. Manches spricht dafür, dass sie in den nächsten Jahren sogar wieder ansteigen wird. „Ur-sachen für diese Entwicklung sind zu-nehmende Armut, die HIV-Infektion, resistente Tuberkelbakterien bei Pati-enten aus den GUS-Staaten und die ver-zögerte Diagnosestellung“, sagte Dr. Sabine Rüsch-Gerdes vom Forschungs-zentrum Borstel. Angesichts der Tatsa-che, dass es sich um eine seltene Erkran-

kung handelt, denken insbesondere jün-gere Ärzte auch bei Risikopatienten zu selten an diese Erkrankung.

Chemoprävention oder Chemoprophylaxe?Ein zunehmendes Problem sind Per-sonen, bei denen nach einer latenten Tu-berkulose gefahndet werden sollte bzw. bei denen eventuell eine Chemopräven-tion oder eine Chemoprophylaxe durch-geführt werden muss. Unter einer Che-moprophylaxe versteht man eine pro-

phylaktische Behandlung exponierter Personen, die sich bisher nicht infiziert haben bzw. deren Infektion noch nicht nachweisbar ist. Liegt bereits eine latente Infektion mit dem Tuberkelbakterium vor, ist also die betroffene Person bereits infiziert, so muss eine Chemoprävention erfolgen, um die Rate späterer Erkran-kungen durch Reaktivierungen zu ver-mindern.

Welche Personen sollen gescreent werden?Empfohlen wird ein Tuberkulose-Scree-ning für folgende Personengruppen:■ Enge Kontaktpersonen zu einem kultu-rell oder molekularbiologisch gesichert an Lungentuberkulose erkrankten Pati-enten, unabhängig davon, ob mikrosko-pisch ein Nachweis säurefester Stäbchen im Sputum-Direktpräparat gelang,■ Personen mit radiologischem Nach-weis narbiger Veränderungen im Lun-

Wer muss zum Tuberkulose-Screening?

Steckbrief der RisikopatientenZwar ist die Tuberkulose in Deutschland zu einer sehr seltenen Erkrankung geworden, vollständig ausgerottet ist sie jedoch nicht. Im Gegenteil: Es gibt Anzeichen, dass die Inzidenz wieder ansteigen könnte. Das sollte auch der Hausarzt besonders bei Risikopatienten bedenken. Darüber hinaus gilt es zu entscheiden, bei welchen Patienten Screeninguntersuchungen zum Ausschluss oder Nachweis einer latenten Tuberkulose angebracht sind.

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o TBC im Röntgen-bild.

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genparenchym, die wahrscheinlich Resi-duen einer postprimären inaktiven Tu-berkulose sind und die niemals anti-tuberkulös behandelt wurden,■ Patienten nach Organtransplantation unter iatrogener Immunsuppression,■ HIV-positive Patienten und■ Personen vor geplanter Therapie mit TNF-alpha-Inhibitoren,■ Patienten mit einer schwerwiegenden Grunderkrankung wie Silikose, Diabetes mellitus, malignen Lymphomen, Leukä-mien oder Kopf-Hals-Karzinomen,■ Patienten mit einem Zustand nach Gastrektomie oder jejuno-ilealem By-pass,■ Personen mit i.v.-Drogenabhängigkeit wegen des Risikos für eine immunsup-primierende Erkrankung.Darüber hinaus empfiehlt sich ein Screening auch für besondere Personen-gruppen, bei denen die Indikation zur Chemoprävention erwogen werden sollte, weil bei ihnen eine erhöhte Reak-tivierungstendenz bestehen könnte, nämlich Migranten aus Hochinzidenz-Ländern, Personen in Justizvollzugsan-stalten und Obdachlose.

Fahndung nach latenter Tuberkulose„Eine latente Tuberkulose bedeutet das Vorhandensein vitaler Erreger im Orga-nismus ohne feststellbare tuberkulöse Erkrankung“, sagte Priv.-Doz. Dr. Pia

Hartmann von der Infektiologischen Universitätsklinik in Köln. Zum Nach-weis einer latenten Tuberkulose ist ein entsprechendes Screening von Risiko-gruppen (s. o.) mittels Tuberkulin-Haut-test oder Interferon-Gamma-Release-Assay (IGRA) erforderlich. Bei Kindern unter fünf Jahren sollte nur der Tuber-kulin-Hauttest durchgeführt werden. „Sind der Tuberkulin-Hauttest und/oder IGRA positiv, so besteht die Indi-kation für eine Röntgen-Thorax-Auf-nahme“, so Hartmann. Trotz unauffäl-ligen Röntgenbefund und fehlenden kli-nischen und anamnestischen Hinweisen auf das Vorliegen einer tuberkulösen Er-krankung besteht in diesem Fall die In-dikation zu einer präventiven Therapie. „Wer screent, muss bei einem positiven Befund auch therapieren“, betonte Hart-mann.

Tuberkulin-Hauttest oder IGRA?Für das Screening nach einer latenten Tuberkulose stehen zwei Verfahren zur Verfügung: der Tuberkulin-Hauttest nach Mendel-Mantoux und der IGRA. Bei beiden Verfahren handelt es sich nicht um einen direkten, sondern um ei-nen indirekten Nachweis der Tuberkulo-se durch den Nachweis einer zellulären Immunreaktion auf Mykobakterien-Proteine. Beim IGRA wird die intrazel-luläre Produktion von Interferonen auf solche Myokobakterien-Proteine erfasst.

Ein direkter Vergleich beider Verfah-ren ergibt eine Sensitivität des Tuberku-lin-Hauttestes von 77% im Vergleich zu

70% bei IGRA. Doch hinsichtlich Spezi-fität ist der Hauttest unzuverlässiger. Ein falsch positives Ergebnis des Hauttestes gibt es bei Patienten mit Zustand nach Tuberkulose oder BCG-Impfung inner-halb der letzten zehn Jahre. Außerdem besteht eine Kreuzreaktivität mit nicht tuberkulösen Mykobakterien. Falsch ne-gativ kann der Hauttest sein, wenn in den letzten acht Wochen die Primärin-fektion stattgefunden hat, wenn inner-halb der letzten sechs Wochen Lebend-impfungen durchgeführt wurden sowie bei HIV-Infizierten oder anderen im-munsuppressiv behandelten Patienten.

Vorteile von IGRA sind fehlende Stör einflüsse durch eine BCG-Impfung. Außerdem ist die Durchführung für un-geübte Untersucher einfacher, und es gibt weniger Kreuzreaktionen mit an-deren Mykobakterienspezies. Hinzu kommt, dass das Untersuchungsergeb-nis schneller vorliegt. „Man sollte aber bedenken, dass IGRA-Resultate mit ab-nehmender CD4+-Zahl in ihrer Aus-sagekraft reduziert sind“, so Hartmann. Darüber hinaus dürfe man nicht verges-sen, dass sowohl der Hauttest als auch IGRA nicht zwischen einer latenten und einer aktiven Tuberkulose differenzieren können. Die Spezifität eines positiven Hauttestes wird jedoch durch das posi-tive Ergebnis von IGRA erhöht. Der po-sitive prädiktive Wert des IGRA für die Entwicklung einer aktiven Tuberkulose ist für immunkompetente Individuen wahrscheinlich besser als der positive prädiktive Wert des Tuberkulin-Haut-

Latente Tuberkulose: unauffälliger Röntgenthorax bei positivem Tuberkulintest.

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Tuberkulin-Hauttest: Entscheidend ist das Ausmaß der Induration.

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testes. Und der negative prädiktive Wert des IGRA ist für immunkompetente In-dividuen in Kombination mit dem Hauttest sehr hoch, d. h. wenn beide Tests negativ sind, ist eine tuberkulöse Infektion mit fast 100%iger Sicherheit ausgeschlossen.

Der Tuberkulin-Hauttest wird an der Beugeseite des Unterarms durchgeführt. Entscheidend für die Diagnose ist die Induration und nicht das Erythem. Die Ablesung erfolgt innerhalb von 48–72 Stunden, spätestens nach sieben Tagen. „Bei Hochrisikopatienten muss schon eine Induration > 5 mm als positiver Be-fund gewertet werden“, so Hartmann. Bei Personen ohne Risikofaktoren für eine Tuberkulose ist erst eine Induration > 15 mm aussagekräftig.

Welche Chemoprävention?Als Standard-Regime für die Chemo-prävention empfiehlt Hartmann 5 mg Isoniazid (INH)/kg KG bis zu einer Do-sis von 300 mg täglich über neun Mo-nate. Alternativen sind die Kombination Isoniazid plus 600 mg Rifampicin täg-lich über drei bis vier Monate oder eine Monotherapie mit 600 mg Rifampicin täglich über vier Monate. „Die Mono-therapie findet eine bessere Akzeptanz bei Immunkompetenten“, so Hartmann. Die gefürchtetste Nebenwirkung einer INH-Therapie ist eine medikamentös-toxische Hepatitis, wobei das Risiko ab den 50. Lebensjahr deutlich ansteigt.

Im Gegensatz zur manifesten Tuber-kulose sind bei der latenten Infektion die vorhandenen Keimpopulationen sehr klein, sodass die Wahrscheinlich-keit, dass unter einer Monotherapie eine spontane Resistenzmutation auftritt, sehr gering ist.

Bei HIV-negativen Personen kann man von einer lang dauernden Protekti-on durch die Chemoprävention von bis zu 20 Jahren ausgehen. Bei HIV-infi-zierten Patienten mit fortbestehendem Immundefekt besteht hingegen nur ein unzureichender Langzeitschutz. Bei HIV-infizierten Patienten unter antire-troviraler Therapie mit vollständiger Er-holung des Immunsystems kann aber ebenfalls von einem Langzeitschutz aus-gegangen werden.

Wie sollten Personen mit positivem Screeningergebnis nach Kontakt zu einem Patienten mit multiresistenter Tu-berkulose behandelt werden? „Bei sol-chen Risikopersonen empfiehlt sich eine Chemoprävention mit einem Fluorchi-nolon plus Ethambutol oder Protiona-mid“, lautete Hartmanns Empfehlung

Auch Schwangerschaft und Stillzeit stellen keine Kontraindikation gegen die Einnahme von INH dar. Es ist aber ver-tretbar, mit der Chemoprävention erst im zweiten Trimenon zu beginnen. Rifampicin sollte dann der Vorzug gege-ben werden.

Nach Beendigung der Chemopräven-tion empfiehlt sich eine Röntgen-Tho-rax-Untersuchung, um eine eventuell zwischenzeitlich bei INH-Resistenz ak-tiv gewordene Tuberkulose nicht zu

übersehen. Bei Zweifel an der Compli-ance des Patienten sollte eine weitere Röntgenuntersuchung des Thorax nach einem Jahr erfolgen.

Wann Chemoprophylaxe?Eine medikamentöse Behandlung nach Kontakt zu ansteckenden Tuberkulose-patienten empfiehlt sich bei besonders gefährdeten Personengruppen auch dann, wenn mittels Hauttest oder IGRA keine latente Tuberkulose nachgewiesen werden konnte. Besonders gefährdet sind beispielsweise Kindern unter fünf Jahren, HIV-Patienten oder Patienten, bei denen eine TNF-alpha-Inhibitor-Therapie eingeleitet werden soll. Auch in dieser Situation ist Isoniazid das Me-dikament der ersten Wahl. „Bei solchen Personen sollte jedoch acht bis zwölf Wochen nach dem letzten Kontakt zu der Indexperson erneut nach einer la-tenten tuberkulösen Infektion gefahndet werden“, so Hartmann. Wenn auch das zweite Test ergebnis negativ ist, kann die Chemoprophylaxe beendet werden. Bei einem positiven Testergebnis sollte nach Ausschluss einer aktiven Tuberkulose die INH-Therapie jetzt als Chemoprä-vention über insgesamt neun Monate fortgesetzt werden.

Wichtige unerwünschte Arzneimit-telwirkungen der Erstrangmedikamente sind in Tabelle1 zusammengefasst.

STI ■■ Quelle: Internistenkongress, 6.4.2013 in Wies-

baden

Mycobacterium tuberculosis unter dem Elektronenmikroskop.

© R

KI/G

. Hol

land

/dpa

–Unerwünschte Wirkungen der ErstrangmedikamenteSubstanz häufig selten Isoniazid Tansaminasenerhöhung, Akne Hepatitis, kutane unerwünschte Arznei- mittelwirkungen (UAW), PolyneuropathieRifampicin Transaminasenerhöhung, Hepatitis, kutane UAW, Cholestase, Übelkeit, Rotfärbung von Körperflüssigkeiten Thrombopenie, (Kontaktlinsen) Fieber, „Flu-like“-SyndromPyrazinamid Transaminasenerhöhung, Übelkeit, Hepatitis, Erbrechen, Flush-Syndrom, Myopathie, kutane UAW Arthralgie, Hyperurikämie Ethambutol retrobulbäre Neuritis, Arthralgie, HyperurikämieStreptomycin Gleichgewichtsstörungen, Tinnitus, Hörverlust, kutane UAW

Mod. nach: T. Schaberg et al.: Empfehlungen zur Therapie, Chemoprävention und Chemoprophylaxe der Tuberkulose, Pneumologie 2012; 66: 133-171

Tabelle 1