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BerWissGesch 3,115-126 (1980) Franz Stuhlhofer Berichte zur WISSENSCHAFfS- GESCHICHTE J ·, Akademische Verlagsgesellschart 1980 Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung und das zeitlich exponentielle Wachstum der neuzeitlichen Naturwissenschaft* Summary: Structures of scientific activity and the exponential growth (as a function of time) of modern science. Scientific research may have an additive, multiplicative or exponential character. 'Additive' signifies that single facts are gathered; 'multiplicative' signifies that out of several facts, a regularity or formula is recognized: single facts are thereby multiplied into many. 'Exponential' signifies that every finding serves as a Spring- board for further findings, which in turn serve as Springboards for others as weil. This exponential character, however, does not necessarily have as a consequence an expo- nential growth of knowledge as a function of time. The slogan of the doubling of knowledge every 15 years is not universally valid: since the 16th century knowledge of plant species has doubled every 60 years; for animal species during the two centmies before ca. 1930, the doubling period is 21-22 years. For comets, the doubling periods are considerably Ionger and for chemical elements, the increase is only linear (one new element every 2 1/2 years). Science as a whole is composed of many such smaller fields. The specification of the speed ( or better the acceleration) of its growth depends on which 'degree of importance' of knowledge is measured. If one takes only very important (e.g. University Textbook) knowledge as a standard, the doubling period is just short of a century. Of course, this does not alter the correctness of the observation that modern science has grown exponentially. If, however, one wishes to speak of a 'law', it is necessary to formulate one. Schlüsselwörter: Chemische Elemente, Exponentielles Wachstum (der Wissenschaft), Kometen, Lebenserwartung (der Naturforscher), Pflanzenarten, Strukturen wissenschaft- licher Betätigung, Tierarten, Wechselwirkungen (inner- und außerwissenschaftlich). Das naturwissenschaftliche Forschen kann additiven, multiplikativen oder exponentiellen Charakter haben. ,Additiv' heißt: Einzelerkenntnisse werden gesammelt; ,multiplikativ' heißt: aus mehreren Einzelerkenntnissen wird eine Gesetzmäßigkeit, eine Formel er- kannt - einige Erkenntnisse werden dadurch multipliziert zu vielen. ,Exponentiell' heißt: jede Erkenntnis dient als Ausgangspunkt für weitere Erkenntnisse, die ihrerseits wieder ebenfalls als Ausgangspunkte dienen. Nur die Forschritte in den Einzelerkenntnissen (Fakten, Beobachtungsergebnisse) sollen dabei gemessen werden, nicht die Fortschritte in der Theorie. So beziehen sich

Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung und das zeitlich exponentielle Wachstum der neuzeitlichen Naturwissenschaft

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Page 1: Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung und das zeitlich exponentielle Wachstum der neuzeitlichen Naturwissenschaft

BerWissGesch 3,115-126 (1980)

Franz Stuhlhofer

Berichte zur WISSENSCHAFfS­GESCHICHTE J ·, Akademische Verlagsgesellschart 1980

Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung und das zeitlich exponentielle Wachstum der neuzeitlichen Naturwissenschaft*

Summary: Structures of scientific activity and the exponential growth (as a function of time) of modern science. Scientific research may have an additive, multiplicative or exponential character. 'Additive' signifies that single facts are gathered; 'multiplicative' signifies that out of several facts, a regularity or formula is recognized: single facts are thereby multiplied into many. 'Exponential' signifies that every finding serves as a Spring­board for further findings, which in turn serve as Springboards for others as weil. This exponential character, however, does not necessarily have as a consequence an expo­nential growth of knowledge as a function of time.

The slogan of the doubling of knowledge every 15 years is not universally valid: since the 16th century knowledge of plant species has doubled every 60 years; for animal species during the two centmies before ca. 1930, the doubling period is 21-22 years. For comets, the doubling periods are considerably Ionger and for chemical elements, the increase is only linear (one new element every 2 1/2 years). Science as a whole is composed of many such smaller fields. The specification of the speed ( or better the acceleration) of its growth depends on which 'degree of importance' of knowledge is measured. If one takes only very important (e.g. University Textbook) knowledge as a standard, the doubling period is just short of a century. Of course, this does not alter the correctness of the observation that modern science has grown exponentially. If, however, one wishes to speak of a 'law', it is necessary to formulate one.

Schlüsselwörter: Chemische Elemente, Exponentielles Wachstum (der Wissenschaft), Kometen, Lebenserwartung (der Naturforscher), Pflanzenarten, Strukturen wissenschaft­licher Betätigung, Tierarten, Wechselwirkungen (inner- und außerwissenschaftlich).

Das naturwissenschaftliche Forschen kann additiven, multiplikativen oder exponentiellen Charakter haben. ,Additiv' heißt: Einzelerkenntnisse werden gesammelt; ,multiplikativ' heißt: aus mehreren Einzelerkenntnissen wird eine Gesetzmäßigkeit, eine Formel er­kannt - einige Erkenntnisse werden dadurch multipliziert zu vielen. ,Exponentiell' heißt: jede Erkenntnis dient als Ausgangspunkt für weitere Erkenntnisse, die ihrerseits wieder ebenfalls als Ausgangspunkte dienen.

Nur die Forschritte in den Einzelerkenntnissen (Fakten, Beobachtungsergebnisse) sollen dabei gemessen werden, nicht die Fortschritte in der Theorie. So beziehen sich

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Addieren, Multiplizieren und Potenzieren auf das Faktenmaterial, wobei Theorien eine Hilfsfunktion ausüben - einerseits dadurch, daß sie Wegweiser flir experimentelles For­schen sind (vgl. Periodensystem der Elemente), andererseits dadurch, daß eine Formel eine Fülle von Fakten (die erst stichprobenweise getestet worden sind) zum Ausdruck bringt. Insoferne macht sich eine gute Theorie (indirekt) doch auch beim Messen der Einzelerkenntnisse bemerkbar.

Das Entdecken einer neuen Tatsache und das Zustandekommen einer neuen Theorie können recht verschieden sein im einzelnen/ es ist wie bei der Thermodynamik: die einzelnen Moleküle sind nicht vorhersagbar in Ort und Geschwindigkeit; aber als Ganzes zeigt der Verlauf der Wissenschaftsentwicklung doch gewisse Gesetzmäßigkeiten.

Wird aber die Berechnung nicht dadurch erschwert, daß Theorien sich später als nur teilweise gültig herausstellen (z.B. die Newtonsehe Mechanik gegenüber Einsteins spe­ziellem Relativitätsprinzip2 )? - Innerhalb des Bereiches, in dem die Theorie zumindest stichprobenweise überprüft wurde, stellt sie sich auch später nicht als falsch heraus; und nur dieser Bereich wird gemessen.

Aber ist nicht jedes Beobachtungsergebnis theoriebeladen? - Sicherlich, doch das scheint mir nicht so schwerwiegend und daher vorläufig vernachlässigbar zu sein. Auch in der naturwissenschaftlichen Forschung muß ich oft die unwesentlicheren Faktoren vernachlässigen, um überhaupt zu Ergebnissen zu kommen.3

Es wird oft staunend festgestellt, daß in China eine ganze Reihe von Entdeckungen und Erfindungen bereits viel früher als im Abendland bekannt waren: Papierherstellung, Druckkunst, magnetischer Kompaß, Schießpulver ... 4 All das müssen wir zur Addition rechnen. Diese Charakterisierung des wissenschaftlichen Niveaus des alten China hilft aber auch, das scheinbare Paradoxon zu verstehen, daß einerseits so bedeutsame Erkennt­nisse bereits vorhanden waren, andererseits aber nichts weiter daraus gemacht wurde: Es waren addierte Erkenntnisse; die Erkenntnisse waren zwar wertvoll, aber es war eben nur eine Addition und noch keine Mu~tiplikation. - Zur Addition müssen auch die techni­schen Leistungen Ägyptens und des mittelalterlichen Abendlandes gerechnet werden; ebenso die Versuche der Alchemisten.

Die zur Addition inverse Rechenart, die Subtraktion, gibt es auch und in der Ge­schichte der Naturwissenschaften gar nicht selten. Dort, wo eine Erkenntnis nicht aufge­schrieben wird, geht sie normalerweise wieder verloren. Manches wurde aufgeschrieben, aber entweder wieder weggeworfen oder es fand sich einfach niemand, der darauf hätte aufbauen können. So war es beispielsweise bei den Vererbungsgesetzen von Gregor Men­del, die nicht beachtet wurden und selbständig wiederentdeckt werden mußten.

Hier wird klar, daß die Schrift die Voraussetzung einer dauerhaften Addition ist. Verbesserungen der Aufzeichnung (Alphabet), vor allem der Aufzeichnung von Zahlen (positionelle Notation, arabische Ziffern), sind wesentliche Förderungen. Ebenso die Erfindung des Buchdrucks und der Schreibmaschine. Auch die Übersetzungsarbeit muß hier genannt werden. Diese Dinge üben Hilfsfunktionen aus, indem sie entweder über­haupt erst die Erhaltung von Addition oder Multiplikation gestatten oder den Prozeß schneller ablaufen lassen. 5 Wenn man diese Unterscheidung von additivem, multiplika­tivem und exponentiellem Niveau bei der Betrachtung einer Wissenschaftskultur anwen­den will, muß man bei den einzelnen Erscheinungen (Schrift, Formelbildung, Akade­mien ... ) beachten, inwieweit sie bereits auf ein höheres Niveau hinweisen oder lediglich die Durchflihrung der Forschung auf dem schon früher erreichten Niveau begünstigen.

Noch ein Wort zu den Tatsachen. Es muß auch beachtet werden, mit welcher Ge­nauigkeit jemand eine Tatsache herausgefunden hat. Größere Genauigkeit ist oft die

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Voraussetzung für die Entdeckung neuer Tatsachen. Zu unterscheiden ist auch, ob Ad­dieren, Multiplizieren oder Potenzieren nur fallweise vorkommt oder systematisch be­trieben wird. In der geschichtlichen Entwicklung geschah der Übergang von der Addi­tion zur systematischen Multiplikation bei den Babyioniern (Astronomie, Algebra), bei den Griechen (Geometrie), bei Aristoteles (Biologie), bei Arehirnedes (Mathematische Physik), bei al-Haitham (Optik) ...

Wenn wir hler aber den Eindruck haben, daß der Übergang von der Addition zur Multiplikation manchmal gleitend ist, dann soll uns das nicht stören; denn auch im mathematischen Gebrauch ist der übergang von der Addition zur Multiplikation glei­tend, nachdem ja die Multiplikation als Spezialfall der Addition darstellbar ist. Im all­gemeinen sprechen wir von 'Wissenschaft', sobald wir (systematische) Multiplikation vorfinden. Sie ist charakterisiert durch das ständige Entwerfen und Korrigieren von Mo­dellen.

Exponentiell ist eine wissenschaftliche Disziplin dann, wenn neue Entdeckungen und Theorien zum Ausgangspunkt weiterer Entdeckungen und Theorien (zuerst einmal in derselben Disziplin) gemacht werden. Diese Erweiterung kann in zwei Richtungen ge­schehen: entweder wird eine Entdeckung als Ausgangspunkt für weitere, ebenso wichtige Entdeckungen genommen, oder als Ausgangspunkt für tiefere Einzelerkenntnisse (z.B. wenn eine Formel eine Materialkonstante beinhaltet und nun diese Konstante für die verschiedensten Stoffe bestimmt wird). Das kann durch den Entdecker selbst geschehen, oder durch einen anderen Forscher. Darin liegt nämlich der Vorteil, wenn die Wissen­schaftler nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Forschergemeinschaft arbei­ten (wodurch auch immer die Forschergemeinschaft zusammengehalten werden mag: Briefverkehr, wissenschaftliche Gesellschaften, Universitäten ... ): Entdeckungen gehen nicht so leicht wieder verloren.

Eine solche exponentielle Förderung ergibt sich natürlich auch durch den gegenseiti­gen Austausch zwischen den verschiedenen Wissenschaften oder Wissenschaftsteilbe­reichen. Die Chemie wurde im 19. Jahrhundert durch die Ergebnisse der Geologie, Physik und Pharmazie gefördert. Diese Wissenschaften profitierten dann wieder durch die Er­gebnisse der Chemie, und so geht dieser Kreislauf weiter. Etwas vereinfachend können wir von folgender Überlegung ausgehen: Eine Anzahl von Wissenschaften (W) ist mit­einander so verflochten, daß eine Entdeckung in einer dieser Wissenschaften jeweils eine Entdeckung in jeder der anderen Wissenschaften und in der eigenen zur Folge hat. Die wissenschaftliche Gesamtausbeute ergibt sich dann als Reihe 2; wn, wobei n von 0 bis unendlich geht und für die 'Generationen' von Entdeckungen steht. Die Einheit, mit der wir rechnen, kann eine naturwissenschaftliche Entdeckung oder eine Theorie (=Zusam­menfassung von Entdeckungen) sein. Wenn wir als Beispiel drei auf diese Weise mitein­ander verflochtene Wissenschaften betrachten, so ergibt sich für die Zahl der Entdeckun­gen folgende Reihe: 2; 3n = 3° + 31 + 32 + 33 + ...

Hier muß aber auf etwas bingewiesen werden, was in der Wissenschaftsforschung gewöhnlich übersehen wird: 'Exponentiell nach Generationen von Entdeckungen' ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit 'exponentiell nach der Zeit'! Nehmen wir an, ein einziger Wissenschaftler ist tätig und braucht für die Ausarbeitung einer Entdeckung einen Tag. Auch wenn jede seiner Entdeckungen als Ausgangspunkt für einige weitere genommen werden kann - der Anstieg der wissenschaftlichen Erkenntnis wird dennoch (zeitlich) nur streng linear sein. Dasselbe gilt natürlich auch bei jeder größeren Anzahl von Wissenschaftlern: Irgendwann wird eine konstante Maximalgeschwindigkeit erreicht. Das heißt also, daß der 'exponentielle' Charakter eines Wissenschaftsbetriebes alleine

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118 Franz Stuhlhafer

nicht unbedingt ausreichen muß, um eine exponentielle Zunahme des Wissens nach der Zeit zu erreichen.

Bei der Vermehrung des wissenschaftlichen Personals ist zu beachten, daß sie auch zu schnell erfolgen kann; dann nämlich, wenn Ausgangspunkte ftir weitere wichtige Entdeckungen nicht genauso schnell auftauchen; die zusätzlichen Forscher betreiben also nur weniger wichtige (oder vielleicht überhaupt unbedeutende) Detailforschung. Optimal ist die Forschungsförderung dann, wenn sie die sofortige Ausnutzung aller sich bietenden Ausgangspunkte zu wichtigen Entdeckungen ermöglicht. Daraus ergibt sich, daß ein einziger Faktor nicht unbedingt zu einem zeitlich exponentiellen Verlauf der Wissenschaftsentwicklung fUhren muß.6 Wenn man nur das wichtigere Wissen gelten läßt, so entspricht die durch eine über die optimale Geschwindigkeit hinausgehende Ver­mehrung des wissenschaftlichen Personals erreichte Wissenszunahme nur einer logarith­mischen Kurve. 7

Der exponentielle Fortschritt der Naturwissenschaften basiert vor allem auf dem (Multiplikations-)Fortschritt von Chemie und Physik und der Anwendung ihrer Ergeb­nisse und Methoden in den anderen Wissenschaften. Astronomie und Medizin hingegen sind im Austausch der Wissenschaften eher Empfänger; sie aber waren die wichtigsten Naturwissenschaften im Mittelalter. Das mag die eher geringen Fortschritte dieser Epoche verständlicher machen und dient gleichzeitig als Warnung vor einer zu einseitigen Orientierung der Forschung auf die unmittelbare praktische Anwendung.8

Auch im Austausch mit der Technik ergibt sich eine solche Potenzierung: Physika­lische Forschungsarbeit ermöglicht den Bau von Computern und wird selbst durch diese Rationalisierung gefördert, kann schneller arbeiten und mehr erforschen; diese Ergeb­nisse werden dann (zum Teil) auch wieder technisch verwertet usw. Ähnlich ist es bei der Wechselwirkung Wissenschaft - Gesellschaft: Die Naturwissenschaft vergrößert durch ihre technischen und wirtschaftlichen Anwendungen den Wohlstand - dadurch kann der Staat mehr Geld in die Forschung stecken. Durch diese Förderung (mehr Wis­senschaftler können bezahlt werden, oder bessere Forschungsgeräte können angeschafft werden) erzielt die Wissenschaft in der Folge mehr Ergebnisse, die wiederum technisch und wirtschaftlich verwertet werden; ein Teil des dadurch erzielten Gewinnes wird wieder in die Forschung gepumpt usw.

Vielleicht noch ein (bisher unbeachtetes) Beispiel von Wechselwirkung: Die Medizin profitiert von manchen physikalischen und chemischen Ergebnissen und verlängert da­durch, mit der allgemeinen Lebenserwartung, auch das Leben der Forschergenies, die in der Verlängerung ihres Lebens (beziehungsweise ihrer aktiven Schaffensperiode) noch weitere Entdeckungen machen, die (zum Teil) wieder der Medizin zugute kommen usw. Das darf sicherlich nicht überschätzt werden, aber eine Untersuchung der Lebenslänge berühmter Naturforscher der Neuzeit zeigt, daß sie im Durchschnitt pro Jahrhundert um 3 Jahre oder etwas mehr zugenommen hat. 9 Während die Lebenserwartung um 1500 etwa 62 Jahre betrug, können gegenwärtige Naturforscher mit einer (durchschnittlichen) Lebenszeit von etwa 77 Jahren rechnen. 10 Und in zusätzlichen 15 Jahren läßt sich schon noch einiges erforschen.

Wir wollen uns nun der Frage zuwenden, wie schnell die neuzeitliche Wissenschaft ge­wachsen ist, und zu dem Zweck einige direkte Maßzahlen11 betrachten.

Recht aufschlußreich ist ein Vergleich des Verlaufs der Zunahme der Kenntnis von Tier- und Pflanzenarten. Zuerst einige Zahlen zu den (lebenden) Tierarten:

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Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung

4. Jh. V. Chr. 1758 1766 1849 1858 1872 1886 1898 1928 1974

Aristoteles12

Linne 13

Linne 14

Kner15

Reichenbach 16

Altum-Landois 17

Leunis-Ludwig18

Möbius 19

Hesse 20

Hadorn-Wehner21

119

500 4.300 5.900

100.000 145.400 210.000 272.100 418.600

1.025.000 1.500.000

Aus diesen Zahlen ergibt sich eine logistische Kurve,Z2 also am Beginn ein langsamer Anstieg, eine Zeitlang eine sehr starke Zunahme, und schließlich wieder ein verlang­samtes Wachstum. Die Geschwindigkeit der Zeit der stärksten Zunahme kann durch eine Verdopplungszeit von 21 oder 22 Jahren ausged1ückt werden und erstreckt sich von Linne bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, umfaßt also etwa 2 Jahrhunderte.23

Seit der Zählung von Hesse (1928) nimmt der Anstieg auf jeden Fall ab, ganz egal, ob man die gegenwärtig bekannte Artenzahl mit einer Million oder mit zwei Millionen be­ziffert (Abb. 1).24

Nun einige Zahlen zu den Pflanzenarten: 4. Jh. v. Chr. Theophrast25

1. Jh. n. Chr. Dioskurides26

13. Jh. n. Chr. 1590 1623 18. Jh. Anf. 19. Jh. 1852 1886 1951 1971 1978

Plinius27

Ibn el Beithar28

Tabernaemontanus, Dalechamps29

Caspar Bauhin30

Ray, Tournefort, Linne, Bonnet31

Cuvier32

Unger33

Wretschko 34

Strasburger35

Strasburger36

Strasburger37

500 600

1.000 1.400 3.000 6.000

10.000 bis 20.000 50.000 92.000

Über 100.000 265.000 330.000 370.000

Bei den Pflanzenarten haben wir nach langsamen Anfängen dann etwa ab 1600 ei­nen etwas stärkeren Anstieg, der bis zur Gegenwart ziemlich monoton ist und durch eine Verdopplungszeit von 60 Jahren ausgedrückt werden kann. Verglichen mit den Tier­arten ist hier also der Zeitraum des exponentiellen Anstieges wesentlich länger (beinahe 4 Jahrhunderte), aber der Anstieg selbst ist wesentlich schwächer. Bis zu Linne waren mehr Pflanzen als Tiere bekannt; erst das 19. Jahrhundert brachte hier einen Umschwung, und heute wissen wir, daß die Tierarten der Erde ein Vielfaches (Vierfaches?) der Pflan­zenarten betragen (Abb. 1).

Bevor wir versuchen, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen ftir das Wachstum der Ge­samtwissenschaft, wenden wir uns noch kurz der Astronomie (und dann der Chemie) zu. Betrachten wir die Zahl der bekannten Kometen (in der Zeit von 2500 v. Chr. bis 1963 n. Chr.), so erhalten wir Verdopplungszeiten, die zwischen 200 und 850 Jahren schwan­ken. In der Neuzeit haben wir durchschnittlich eine Verdopplungszeit von 400 Jahren.38

Das ist ein gutes Beispiel ftir Forschungszweige mit wesentlich langsameren Fortschritten,

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120

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1880

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1980

Pranz Stuhlhafer

Abb. 1. Zahl der bekannten Tier- (gestrichelt) und Pflanzenarten als Funktion der Zeit. Anstelle der Artenzahlen könnte man auch deren Logarithmen nehmen; aber die direkte Darstellung vermittelt doch einen recht anschaulichen Eindruck vom exponentiellen Wachstum der Wissenschaft, gerade weil die Tierarten-Kurve so extrem steil ist.

als es die vielstrapazierte Redewendung von der Verdopplung unseres Wissens alle 15 Jahre ahnen lassen würde. 39

Muß die Zunahme überhaupt exponentiell erfolgen? Nicht unbedingt. Wenn wir bedenken, mit welcher Geschwindigkeit die chemischen Elemente entdeckt wurden (Abb. 2), so kommen wir, von kleineren Schwankungen abgesehen, auf einen ziemlich konstanten linearen Anstieg: alle zweieinhalb Jahre wird ein weiteres Element entdeckt.40

Derek J. de Solla Price wollte diese Kurve zwar umfunktionieren in eine eskalierte (stu­fenweise) exponentielle, aber ich kann ihm dabei nicht folgen. Denn diese 'Exponential­kurve' erstreckt sich nicht einmal über eine einzige Verdopplungszeit; es sei denn, man läßt die ersten zehn Elemente total weg, wie das Solla Price tut.41 Bei einer solchen Weglassung ist es dann allerdings schon möglich, wenigstens für die erste Zeit einen raschen exponentiellen Anstieg zu bekommen. Daß ein solches Weglassen aber täuschen kann, wird sofort klar, wenn man beispielsweise die Entdeckung der Kometen betrach­tet und zu mehreren Zeitpunkten die bisher bekannten Kometen wegläßt: Sofort zeigt sich über die darauffolgende Zeit hinweg ein recht rascher Anstieg, der aber bald wieder nachläßt.

Uns interessiert natürlich vor allem das Wachstum der Wissenschaft als Ganzer, nicht nur das Wachstum einzelner Forschungszweige. Auch hier kann uns der schöne Ver­gleich mit der Thermodynamik42 helfen: Die einzelnen Forschungszweige bewegen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ~ einige haben gerade eine langsame Anlauf­zeit, andere haben gerade eine Zeit schnellen exponentiellen Wachstums, andere sind bereits nahezu ausgeschöpft und nehmen nur noch langsam zu, wieder andere steigen

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Strukturen der wissenschaftlichen Betätigung

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1790

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1830 1870

Zeit-

121

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1910 1950

Abb. 2. Zahl der bekannten chemischen Elemente als Funktion der Zeit (Jahreszahlen nach Gutmann/ Hengge). Die Gerade deutet den (im Mittel) linearen Anstieg an.

linear an ... Eine wissenschaftliche Disziplin (und das gilt mehr noch für die Wissenschaft als Ganze) setzt sich nun aus vielen solchen Forschungszweigen zusammen; dement­sprechend ergibt sich auch die Wachstumsgeschwindigkeit dieser wissenschaftlichen Dis­ziplin als der Durchschnitt all dieser einzelnen momentanen Geschwindigkeiten. Dieser Durchschnitt ergibt dann eine Exponentialkurve, die allerdings durch eine wesentlich langsamere Verdopplung gekennzeichnet ist als die Spitzen-Beschleunigungen der ein­zelnen Forschungszweige zu ihren jeweils besten Zeiten. Wenn also die Kenntnis der Tierarten über annähernd zwei Jahrhunderte mit einer Verdopplungszeit von 21 oder 22 Jahren zunimmt, so wird das Wachstum der zoologischen Wissenschaft als Ganzer sicherlich wesentlich langsamer erfolgen. Die Zunahme der Kenntnis der Pflanzenarten mit der Verdopplungszeit von 60 Jahren durch die ganze Neuzeit hindurch wird da schon eher an die Wachstumsgeschwindigkeit der Botanik (und überhaupt der gesamten Wis­senschaft) herankommen.

Zurück zur Frage: Wie rasch wächst Wissenschaft? Gennadij Dobrov meint, daß sich der Inhalt der Wissenschaft alle 40 bis 50 Jahre verdoppelt, während dieser Inhalt in Publikationen eingelagert ist, deren Menge sich alle 10 bis 15 Jahre verdoppelt.43

-

Die Schwierigkeit bei der Beantwortung unserer Frage ist aber folgende: Eine absolute Verdopplungszeit für die Zunahme wissenschaftlichen Wissens läßt sich kaum angeben; die Zahl hängt ab von dem wissenschaftlichen Niveau, das gemessen wird; oder, anders ausgedrückt: von dem Gesamtumfang des gemessenen Wissens. Je mehr man sich be­schränkt auf sehr wichtiges Wissen (oder: je kleiner der Umfang, zum Beispiel des Lehr­buches, ist), desto langsamer geht die Verdoppelung vor sich; und zwar deshalb, weil nach der Entdeckung eines wichtigen Zusammenhanges noch viel Detailforschung be­trieben wird, was zwar nichts ändert am wichtigen Wissen, aber den Gesamtumfang des

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Wissens (gemessen etwa an den wissenschaftlichen Publikationen) doch erhöht. Wenn man ein Universitäts-Lehrbuch als Maßstab nimmt, wird die Verdopplungszeit ein knap­pes Jahrhundert betragen.44 Wenn ein Hörer einer naturwissenschaftlichen Anfänger­vorlesung also Schreckensmeldungen hört wie die, daß sich unser Wissen alle 10 (oder 5, wenn ein besonders großer Dramatisierungseffekt beabsichtigt ist) Jahre verdoppelt, so braucht er deswegen nicht zu befÜrchten, daß er nach Beendigung des Studiums gleich wieder von vorne anfangen muß; und seine Lehrbücher werden ihm sein ganzes Leben lang gute Dienste leisten.

Gelegentlich wurde im Zusammenhang mit der exponentiellen Entwicklung der neu­zeitlichen Wissenschaft von einem 'Gesetz' gesprochen.45 Bevor wir hier von einem 'Gesetz' reden, sollten wir uns aber überlegen, wieso das ausgerechnet bei der neuzeit­lichen Wissenschaft und nur bei der neuzeitlichen Wissenschaft zutrifft.46 In Verbindung mit diesem 'Gesetz' ist immer wieder davon die Rede, daß auch bei der Verzinsung47

oder bei der Autokatalyse48 die Wachstumsgeschwindigkeit von der bereits erreichten Größe (oder Menge) abhängt. Das ist aber, wie ich oben (S. 000) gezeigt habe, für sich alleine noch keine Erklärung für zeitlich exponentielles Wachstum! Und, wie man zuge­ben wird, haben auch außereuropäische Wissenschaftskulturen bereits eine gewisse Wis­sensmenge gehabt, ohne daß diese deswegen gewachsen wäre analog zur Verzinsung oder zur Autokatalyse.

Eine Reihe von Zusammenhängen und Wechselwirkungen müssen erkannt und verwirk­licht werden, wenn sich exponentielles Wachstum ergeben soll. Zuerst einmal der Zusam­menhang der Erscheinungen der Natur, der vorausgesetzt werden muß, damit man von einzelnen Fakten auf Formeln schließen kann ('Multiplikation') -vorausgesetzt werden muß, um die Erwartung zu legitimieren, von einzelnen Formeln ausgehend nach weiteren suchen zu können ('Exponentialfunktion' innerhalb eines Wissensgebietes) und voraus­gesetzt werden muß, um eine gegenseitige Befruchtung verschiedener Wissensgebiete sinnvoll erscheinen zu lassen ('Exponentialfunktion' bei mehreren Wissensgebieten). Neben diesem Vertrauen auf solche Zusammenhänge müssen Wechselwirkungen reali­siert werden: Die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Technik, zwischen Wissen­schaft und Gesellschaft (staatliche Förderung), zwischen Wissenschaft und lebensverlän­gernder Wirkung der Medizin ...

Demnach können wir von einem 'Zusammenhangs- und Wechselwirkungsgesetz' sprechen, um die Voraussetzungen für exponentielles Wachstum der Wissenschaft kurz zu bezeichnen. Dieses Gesetz ist weder sehr präzise formuliert (es fällt mir schwer, anzu­geben, ab welchem Ausmaß von erkanntem Zusammenhang und realisierten Wechsel­wirkungen nun ein exponentielles Wachstum beginnt), noch ist damit schon erklärt, warum es ausgerechnet in der abendländischen Neuzeit zum Erkennen dieses Zusammen­hangs und zum Realisieren dieser Wechselwirkungen gekommen ist. Aber es gibt doch die Bedingungen an, die in der abendländischen Neuzeit und nur hier erfüllt wurden.49

Außerdem befähigt es uns, abschließend zu zwei Aussagen Stellung zu nehmen. Die erste ist die von Solla Price vorgeschlagene zweite Regel für die Analyse der Natur­

wissenschaften:50 "alle die anscheinend exponentiellen Wachstumsgesetze müssen letzt­lich logistisch werden". - Wenn ein Forschungszweig einmal ausgeschöpft ist, dann ist kein Zusammenhang mehr da zwischen bereits erkannten und noch zu erkennenden Aspekten; und mit diesem Zusammenhang fällt eine wesentliche Bedingung für exponen­tielles Wachstum weg - das Wachstum wird also schwächer werden und schließlich ganz aufhören. Für die Wissenschaft als Ganze, ja auch für die verschiedenen wissenschaft­lichen Disziplinen läßt sich ein solcher Wegfall (zumindest vorläufig) nicht erkennen. Es könnte zwar durchaus sein, daß die staatliche Förderung der Wissenschaft einmal schwächer werden wird, wie es Solla Price befürchtetY Aber finanzielle Förderung

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ist nicht die einzige Bedingung für exponentielles Wachstum. Und deswegen könnte man daraus nicht automatisch schließen, daß dann auch das exponentielle Wachstum auf­hören muß. Und damit sind wir schon bei der zweiten Aussage: In der Frage, ob das exponentielle Wachstum der Wissenschaft immer anhalten wird, setzt sich Wolfgang Krah mit der pessimistischen Ansicht von Solla Price auseinander und begründet seine optimistische Haltung mit der Behauptung, daß die Wirklichkeit der Breite und der Tiefe nach unerschöpflich istY Das mag stimmen, garantiert aber alleine auch noch kein dau­erndes exponentielles Wachstum. - Wenn wir unsere Erfahrungsbasis nicht zu weit ver­lassen wollen, so können wir kaum mit Sicherheit sagen, ob die Bedingungen für expo­nentielles Wachstum auch in Zukunft in ausreichendem Maße gegeben sein werden.

* Freier Beitrag zum XVII. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte "Wege und Formen der Wissenschaftsvermittlung".

1 Vgl. T.S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main 3 1978, S. 99 und 102f; N.I. Rodnyj: Probleme des wissenschaftlichen Schöpferturns und der Organisation der Wissenschaft in den Arbeiten von Naturwissenschaftlern, in: G. Kröber/H. Steiner (Hrsgg.): Wissen­schaft. Studien zu ihrer Geschichte, Theorie und Organisf!tion. Berlin 1972, S. 96~151.

2 T.S. Kuhn (wie Anm. 1), S. 11lff. 3 All diese grundsätzlichen Fragen werden außer von Kuhn (wie Anm. 1) auch aufgeworfen von

E. Oeser: Wissenschaft und Information. Systematische Grundlagen einer Theorie der Wissen­schaftsentwicklung. 3 Bde. Wien/München 1976, bes. Bd 1, S. 73 und 102f und Bd 3, S. 10, 35 und 127f.

4 Vgl. J. Needham: Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chine­sischen Wissenschaft. Frankfurt am Main 1979, S. 114.

5 Wenn diese Hilfen selbst das Ergebnis wissenschaftlichen Forschens sind, so sind sie Bestandteil einer Exponentialfunktion, wie wir weiter unten sehen werden (Wechselwirkung Wissenschaft~ Technik).

6 Das ist zu betonen, weil W. Krah: Zum exponentiellen Wachstum der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 12 (1964), S. 65 und 69, behauptet, daß einer der vier Karpowschen Faktoren (die Menge des schon vorliegenden Wissens, der fördernde Ein­fluß der Produktion, die zunehmende Differenzierung innerhalb der Wissenschaften, die wachsende Zahl der in der Wissenschaft tätigen Personen) zu einem exponentiellen Erkenntniszuwachs in der Zeit führt. Er bezieht sich auf die Arbeit von M.M. Karpow: Das Gesetz der beschleunigten Entwicklung der Naturwissenschaften (russ.). Voprosy filosofii (1963), Heft 4, 106~111 (eng!. Zsf. S. 185f.).

7 Eine logarithmische Kurve ist die Umkehrfunktion einer exponentiellen; sie zeigt also am Beginn einen starken Anstieg und flacht dann immer mehr ab.

8 Nicht nur die Medizin, sondern auch die Astronomie diente einem praktischen Zweck: Sie war eine Hilfswissenschaft der Astrologie, die ihrerseits wiederum unter anderem auch als Hilfswissen­schaft der Medizin benutzt wurde.

9 Auswahl und Lebensdaten nach F. Krafft/A. Meyer-Abich: Große Naturwissenschaftler. Biogra­phisches Lexikon. Frankfurt am Main 1970, S. 340~342, wo für die Zeit vom 15. bis zum 20. Jahrhundert etwa 300 Forscher angeführt werden, und nach S.F. Mason: Geschichte der Natur­wissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen. Stuttgart 2 1974, S. 719~728, wo für diesen Zeitraum etwa 700 Namen gebracht werden.

1 0 Dieses Ergebnis, das nur die Naturwissenschaftler berücksichtigt, unterscheidet sich von der allge­meinen Lebenserwartung natürlich vor allem durch die Nichtberücksichtigung der Säuglingssterb­lichkeit.

11 D.J. de Sol!a Priee: Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung. Frank­furt am Main 1974 (amerik. Orig. 1963), stützt sich vor allem auf zwei indirekte Maßzahlen: die Zahl der Wissenschaftler und die Zahl der Publikationen. Solche indirekten Meßgrößen müssen aber durchaus nicht repräsentativ sein für die Zunahme des Wissens.

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12 G. Koller: Daten zur Geschichte der Zoologie. Bonn 1949, S. 52-54; F. Dannemann: Die Natur­wissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange. Bd 1, Leipzig 2 1920, S. 133.

13 C. von Linne: Systema naturae, 10. Auflage. Siehe H. Goerke: Carl von Linne. Stuttgart 1966, S. 120; K. Möbius: Über den Umfang und die Einrichtung des zoologischen Museums zu Berlin. Sitzungsberichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1898), S. 363f.; R. Hesse: Bericht über das "Tierreich". Sitzungsberichte der preussischen Akademie der Wissenschaften (1929), S. XLII.

14 C. von Linne: Systema naturae, 11. Auflage. Siehe H. Goerke (wie Anm. 13). 15 Nach den Angaben von R. Kner: Lehrbuch der Zoologie. Wien 1849, S. 162, 192f., 232, 292,

340, 358, 381 und 474, geschätzt (Kner gibt leider nicht für alle Gruppen Artenzahlen an). 16 A.B. Reichenbach: Naturgeschichte des Thierreiches. Leipzig 1858, S. 2. Reichenbach übernimmt

Artenzahlen von L. Bonaparte; bei deren Addition kommt er rätselhafter Weise auf "mehr als 200.000" Arten, statt wie ich auf 145.400.- L. Agassiz/A.A. Gould/M. Perty: Die Zoologie. Stuttgart 1855, Teil 1, S. 9f., Anm., geben für die einzelnen Gruppen Artenzahlen an, die in der Summe rund 150.000 ergeben. Dazu paßt auch gut eine Notiz von H.G. Bronn in C. Darwin: Über die Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, S. 513 (Schlußwort des Übersetzers): "250.000 bekannte Organismen-Arten der jetzigen Schöpfung".

1 7 Nach den Angaben von B. Altum/H. Landois: Zoologie. Freiburg 2 1872, S. 3, 5, 7, 10, 14, 17f., 21-23, 26, 29, 3lf., 35, 47, 63, 69, 77, 82 und 166, geschätzt (leider geben sie bei den Würmern keine Artenzahl an). Im selben Jahr erschien ein anderes Buch, in dem die Artenzahl mit "ca. 130.000" angegeben wird: J.N. Woldrich: Leitfaden der Zoologie. Wien 2 1872, S. 88. Woldrich meint außerdem, daß die faktische Artenzahl (also die Zahl aller, auch der noch unbekannten Tier­arten) wenigstens um die Hälfte größer sein mag. Da waren Altum und Landois mit ihrer Vorher­sage wesentlich erfolgreicher: Sie meinten, daß die wirkliche Anzahl der Insekten vielleicht das Sechsfache von 150.000 betragen wird (S. 82).

1 8 J. Leunis: Synopsis der Thierkunde, hrsg. von H. Ludwig, Bd 2, Hannover 3 1886, S. 1173. 1 9 K. Möbius (wie Anm. 13), S. 364. Seine Zahlen werden auch von R. Hesse (wie Anm. 13) wieder­

gegeben. 20 R. Hesse (wie Anm. 13) gibt für 1928 1.013.773 Arten vielzelliger Tiere an. Die Zahl der um diese

Zeit bereits bekannten Einzeller wird von G. Koller (wie Anm. 12) auf 10.000 geschätzt. Hesses Zahlen werden auch wiedergegeben von W. Arndt: Über die Anzahl der bisher in Deutschland (Altreich) nachgewiesenen rezenten Tierarten. Zoologischer Anzeiger 128 (1939), 122f. M. Nowi­koff: Grundzüge der Geschichte der biologischen Theorien. München 1949, S. 20, bezieht sich (ohne Namensnennung) auch auf diese Zählung, die nach ihm "vor einigen Jahren" durchgeführt wurde - diese "einige Jahre" umfassen hier aber immerhin bereits 20 Jahre, und dieser Zeitraum spielt bei der Erforschung der Tierarten bereits eine Rolle.

21 E. Hadorn/R. Wehner: Allgemeine Zoologie. Stuttgart 20 1978 (= 19 1974), S. 507: "über 1,5 Millio­nen Tierarten". Leider gibt es keine absoluten Kriterien zur Bestimmung dessen, was als ,Art' zu gelten hat. Demnach schwanken auch die gegenwärtigen Artenzahlen zwischen einer und zwei Millionen; 1,5 Millionen ist also ein guter Kompromiß (der auch von G. Osche: Evolution. Frei­burg 1972, S. 9. gewählt wurde). Eine Million wird beispielsweise bei Hadorn/Wehner in der ,Übersicht über die Stämme des Tierreiches mit Angabe der Zahl bekannter rezenter Arten' ange­geben (S. 357): zusammengerechnet ergeben sich 1.067.804 Arten (die Zahlen dürften von A. Kaestner: Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Bd 1, Stuttgart 3 1969 [= 2 1965], S. 10. übernommen worden sein) - oder auch in einer früheren Auflage desselben Werkes, deren Herausgabe noch unter A. Kühn erfolgte e7 1969, S. 61). Dort heißt es, daß etwa 870.000 lebende Insektenar­ten beschrieben sind, was laut Kühn ungefähr 80 % aller bekannten Tierarten ausmacht. Zwei Millionen werden angegeben in E. Strasburger: Lehrbuch der Botanik. Stuttgart/New York 31 1978 S. 3 und 477.

22 Zur ,logistischen Kurve' in der Wissenschaftsmessung siehe D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), s. 3lff.

2 3 Der Beginn dieser starken Zunahme ist wohl nicht erst mit 1758, der 10. Auflage des Systema naturae, sondern überhaupt mit dem Beginn der Arbeit Linm!s anzusetzen, also vielleicht etwa mit 1730. Von 1730 bis 1930 sind es dann 2 Jahrhunderte.

24 Wie wenig bekannt eine solche Untersuchungsweise (wie sie besonders intensiv von Solla Price be­trieben wurde) bis vor kurzem noch war in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, zeigt das Buch von G. Koller (wie Anm. 12), worin die Zahlen der zu den Zeiten von Aristoteles, Linne, Leunis­Ludwig, Möbius und Arndt bekannten Tierarten einander gegenübergestellt werden. Es werden dort nämlich auch die Relationen zu Linnes Artenzahl (mit 1-Linne, 65-Leunis-Ludwig, 100-Möbius, 240-Arndt) angeführt und dann, anstatt noch die dazwischenliegenden Zeiten zu berücksichti­gen, wird nur der Schluß gezogen: "Daß unsere Artenkenntnis in den letzten zweihundert Jahren

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in kaum vorstellbarem Maße zugenommen hat, geht aus dem Mitgeteilten mit aller Deutlichkeit hervor." - Aus dem "kaum vorstellbaren Maß" ist nun eine konkrete Maßzahl der Wissenschafts­messung geworden. - Im vergangenen Jahrhundert berichtet F. Unger: Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt. Wien 1852, S. 218, Anm., über die Zunahme der Kenntnis fossiler Pflanzen­arten von 1820 bis 1850: 1820 waren 127 Arten bekannt, 1825 250, 1828 500, 1845 1600 bzw. 1792 und 1850 2421. Ein einfaches Diagramm hätte ihm den exponentiellen Anstieg bewußt gemacht (Verdoppelungszeit durchschnittlich 7 Jahre), stattdessen schließt er: "also in 30 Jah­ren um 2294 Arten mehr, was daher ftir je 5 Jahre eine Zunahme von nahe 400 (382) Species gibt". 2 5 Siehe M. Möbius: Geschichte der Botanik. Jena 1937, S. 3,Anm. 3; F. Dannemann (wie Anm. 12),

S. 97; S.F. Mason (wie Anm. 9), S. 394. 26 M. Möbius (wie Anm. 25); F. Dannemann (wie Anm. 12), S. 237; S.F. Mason (wie Anm. 9), S.

394; J. Leunis: Synopsis der Pflanzenkunde, hrsg. von A.B. Frank. Bd 1, Hannover 3 1883, S. 5. 2 7 M. Möbius (wie Anm. 25), S. 12; F. Dannemann (wie Anm. 12), S. 231. 2 8 M. Möbius (wie Anm. 25), S. 15; K. Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Stuttgart 1973, S. 12. 2 9 K. Mägdefrau (wie Anm. 28), S. 30f.: J.T. Tabernaemontanus: New Kreuterbuch. Frankfurt am

Main 1588-1591 (Nachdruck München 1962); J. Dalechamps: Historia generalis plantarum. Lyon 1587.

3 ° C. Bauhin: Pinax theatri botanici. 1623. Angeführt nach M. Möbius (wie Anm. 25), S. 38; F. Dannemann (wie Anm. 12), Bd 2, 1921, S. 233; S.F. Mason (wie Anm. 9), S. 395; E. Winckler: Geschichte der Botanik. Frankfurt am Main 1854, S. 82; K. Mägdefrau (wie Anm. 28), S. 39.

3 1 Es ist kaum sinnvoll, für diesen Zeitraum genauere Angaben zu versuchen. E. Winckler (wie Anm. 30), S. 131, gibt für J. Ray (gest. 1705) 18.000 Pflanzenarten an, sagt aber gleichzeitig, daß wir heute eine große Anzahl davon nur als Varietäten betrachten. Bei J.P. de Tournefort (gest. 1708) gibt er 10.000 Pflanzenarten an (S. 144) und begründet diese (gegenüber jener von Ray) kleinere Zahl damit, daß Tournefort die Gattungen und Arten schärfer begrenzt (denn er führt genauso viele Pflanzen wie Ray an). - Für C. Linne: Species plantarum. 1753, werden 7.300 Arten ange­geben von F. Dannemann (wie Anm. 12), Bd. 3, 1922, S. 74, und T. Schmucker: Geschichte der Biologie. Göttingen 1936, S. 83. E. Strasburger (wie Anm. 21), Stuttgart 28 1962, S. 348, nennt für Linne (1793) 10.000 Blütenpflanzen; S.F. Mason (wie Anm. 9), S. 395, gibt für Linne (ohne Jahr) 18.000 Arten an. G. Osche (wie Anm. 21) nennt "14.000 Gefäßpflanzen".- C. Bon­net: Idee d'une echelle des etres naturels. 1745, in: Oeuvres, Bd 2/12, S. 54, spricht von 18 oder 20.000 Arten von Pflanzen, die in den Kräuterbüchern verzeichnet sind. Nach W. Zimmermann: Evolution. Die Geschichte ihrer Probleme und Erkenntnisse. München 2 1954, S. 213.

3 2 S.F. Mason (wie Anm. 9), S. 395. 3 3 F. Unger (wie Anm. 24), S. 218. 3 4 M. Wretschko: Botanik. Wien 1886, S. XIV. 3 5 E. Strasburger (wie Anm. 21), Stuttgart 25 1951, S. 295. Nachdem von "nahezu 300.000 lebenden

Pflanzenarten" die Rede ist, werden Zahlen für die einzelnen Gruppen getrennt angegeben; deren Addition ergibt etwa 265.000. Dieselben Angaben werden noch 1958 in de1· 27. Auflage wieder­holt (S. 5 und 335).

3 6 E. Strasburger (wie Anm. 21), Stuttgart 30 1971, S. 8. Daß auch in der Botanik der Artbegriff kaum eindeutig festzulegen ist, sieht man unter anderem daran, daß eine frühere Auflage (Stutt­gart 28 1962) bereits von einer höheren Zahl gesprochen hatte: 360.000 (S. 7 und 34 7).

3 7 E. Strasburger (wie Anm. 21), S. 3, 7, 4 77 und 541. 3 8 Die Zahlen für die einzelnen Zeitabschnitte finden sich bei K. Schaifers/G. Traving: Meyers Hand­

buch über das Weltall. Mannheim 5 1973, S. 260f. Dort wird F. Baldet benutzt. 3 9 Die Kometen dürften aber ein extremes Beispiel und auch für die Astronomie nicht typisch sein.

Bei den Asteroiden, bei den Sternen oder bei den veränderlichen Sternen würde man auf wesent­lich größere Entdeckungsgeschwindigkeiten kommen.

40 V. Gutmann/E. Hengge: Allgemeine und anorganische Chemie. 1971, S. 343-347 (' 1975, S. 379-383), bringen eine Tabelle der Elemente in alphabetischer Reihenfolge, wobei für die Ele­mente auch die Entdeckungsjahre angeführt werden.

41 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 18 und 38-40. 42 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 10 und 72. Solla Price vergleicht dort die Wissenschaft mit

einem Gas und die einzelnen Wissenschaftler mit den Molekülen eines Gases, während wir hier die Moleküle mit den einzelnen Forschungszweigen gleichsetzen.

4 3 G. Dobrov (a): Wissenschaftswissenschaft. Berlin 1969, S. 3lf.; derselbe (b): Wissenschaft: ihre Analyse und Prognose. Stuttgart 1974, S. 35; H. Lenk: Wissenschaftsforschung. In: Wissenschafts­theoretisches Lexikon, hrsg. von E. Braun/H. Radermacher. Granz/Wien/Köln 1978, Sp. 667.

44 Anhand des Standardlehrbuches von W.H. Westphal: Physik. Berlin/Heidelberg/New York

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25 126 1970, habe ich versucht abzuschätzen, wieviel (Seiten) davon zu früheren Zeitpunkten bereits bekannt waren (dazu kann man entweder ältere Lehrbücher oder physikhistorische Bücher ver­wenden). Es ergab sich eine Verdopplungszeit von ungefähr 80 oder 90 Jahren.

4 5 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 16f.; G. Dobrov (wie Anm. 43/a), S. 56f. und (wie Anm. 43/b), S. 68f.; M.M. Karpov (wie Anm. 6); W. Krah (wie Anm. 6), S. 65f.

4 6 Dai~ sich die neuzeitliche Wissenschaft seit mehreren Jahrhunderten exponentiell entwickelt, ist eine Aussage über einen Einzelfall, kein Gesetz!

4 7 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 16: "Wissenschaft wächst wie ein Kapital mit Zinseszins, sie multipliziert sich in gleichen Zeitintervallen mit dem gleichen Faktor. Mathematisch folgt exponentielles Wachstum aus der einfachen Bedingung, d~ zu jeder Zeit die Wachstumsrate proportional der schon erreichten Größe ist -je größer ein Ding, um so schneller sein Wachstum."

48 W. Krah (wie Anm. 6), S. 66: "Der Satz, der Umfang der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse geschwindigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse proportional der Menge der schon vor­handenen derartigen Kenntnisse ist, und auch dem Satz, d~ sich die naturwissenschaftliche Er­kenntnis nach dem Prinzip der verzweigten Kettenreaktion bzw. der Autokatalyse vermehre. Unter Autokatalyse versteht man den Sachverhalt, d~ ein bei einer Reaktion gebildeter Stoff als Katalysator für besagte Reaktion wirkt. Da die Reaktionsgeschwindigkeit proportional der Men­ge (Konzentration) des Katalysators ist, wächst bei einem solchen Vorgang die Reaktionsgeschwin­digkeit auch exponentiell an."

4 9 Dieses ,Zusammenhangs- und Wechselwirkungsgesetz' läi~t sich durchaus in die Form eines Ge­setzes kleiden: ,Jmmer wenn dieser in der Natur vorhandene Zusammenhang erkannt wird und wenn verschiedene Wechselwirkungen (innerhalb und außerhalb der Wissenschaft) realisiert werden, dann ergibt sich exponentielle Wissenschaft."

50 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 40. 51 D.J. de Solla Price (wie Anm. 11), S. 30. Solla Price geht jedoch von der Überlegung aus, dai~ die

staatliche Förderung sich alle 15 Jahre verdoppeln müßte, damit das bisherige Tempo der Wissen­schaftsentwicklung beibehalten werden kann. Aber beispielsweise das Lehrbuchwissen verdoppelt sich langsamer als die Bevölkerung (für die Solla Price eine Verdoppelungszeit von einem halben Jahrhundert annimmt: S. 18). Solla Prices Vorhersagen sind also sicherlich einseitig.

52 W. Krah (wie Anm. 6), S. 74f.

Pranz Stuhlhafer Krottenbachstr~e 122/20/5 A-1190 Wien