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Struwwelpeter 2.0 Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik Bund der Freien Waldorfschulen

Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

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Page 1: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Struwwelpeter 2.0Medienmündigkeit

und Waldorfpädagogik

Bund der FreienWaldorfschulen

B

Page 2: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Dieser Reader erscheint in Kooperation des Bundes derFreien Waldorfschulen und derAktion mündige Schule. DieAmS setzt sich für Freiheit imBildungswesen ein und initi-ierte 1995 die erste Volksini-tiative „Schule in Freiheit“(www.freie-schule.de), späterunterstützte sie die gleich-namigen Initiativen in Berlinund Brandenburg.

Freiheit hat eine äußere und eine innere Seite. Erstere schafft die Bedin-gungen, Letztere die Sub-stanz. Gemeinsam ist beiden, dass es sie nicht einfach gibt, sondern dass sie immer wieder neu erobert werden wollen.

Medienmündigkeit ist eine der Freiheitsfragen unserer Zeit.

Bund der FreienWaldorfschulen

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als meine Tochter fünf Jahre alt war,erklärte sie meiner Frau, wie unserFaxgerät funktioniert. Sie hatte zwarnoch nie ein Fax verschickt, ihremVater aber ab und zu beim Versendenzugeguckt. Diese aus heutiger Sichtreichlich nostalgische Erfahrung istaber dennoch überall präsent: Eltern,Erzieher und Lehrer stehen immerwieder vor der Tatsache, dass sich dieKinder und Jugendlichen, mit denensie arbeiten und die ihnen anvertrautsind, ganz selbstverständlich der neu-esten elektronischen Medien bedie-nen und sich in virtuellen Räumen bewegen, von denen die Erwachse-nen oft noch nicht einmal wissen, dasssie existieren. Was bleibt, ist oftmals Unsicherheit, Angst oder Ratlosigkeit.

Das gilt auch für Waldorfpädagogen,zu deren wichtigsten pädagogischenIdealen gehört, die Kinder ganz undgar lebenspraktisch auf die Heraus-forderungen ihrer Zeit vorzubereiten.Schon 1919 betonte Rudolf Steiner,dass kein Schüler die Waldorfschuleverlassen dürfe, ohne die Funktions-weise der elektrischen Straßenbahnwenigstens in denGrundzügen zukennen. Man könne kein wacher Zeitgenosse sein, ohne zu verstehen,wie die Technik funktioniere, dererman sich im alltäglichen Leben be-diene. Was damals die Straßenbahnoder der Telegraf war, sind heuteComputer, Smartphones, das Internetund die Roboter.

Aus pädagogischer Sicht kann es niemals darum gehen, eine Technikzu verdammen. Es geht nicht um mo-ralische Verhaltensregeln, sonderndarum, die Schüler zum sinnvollenGebrauch der Technik zu befähigen.Um das zu können, muss man zuerstselbst erkennen, welche individuel-len, sozialen oder konstitutionellenWirkungen eine Technik hat, undzwar sowohl für denjenigen, der sichihrer bedient, als auch für denjenigen,der mit ihren Produkten umgeht.

Aus der vorurteilsfreien und genauenBeobachtung der Technik lassen sichimmer exakte Entsprechungen zu kör-perlichen, psychischen, sozialen undgeistigen Aktivitäten der Menschenfinden. Umgekehrt nimmt die Technikden Menschen Tätigkeiten ab undführt zu völlig neuen sozialen Struk-turen unserer Gesellschaft.

Pädagogisch stellt sich daher sofortdie Frage, welche Fähigkeiten ein heranwachsender Mensch entwickelnmuss, um mit der Technik so frei um-gehen zu können, dass er sie sinnvolleinsetzen kann, nicht aber blind ihrerFaszination erliegt.

Das gilt in ganz besonderer Weise fürdie elektronischen Medien, die sehrviele seelische Aktivitäten imitierenund dadurch besonders verführerischwirken: Warum soll man sich anstren-gen, wenn sich auf einer gefühlten Erlebnisebene ganz ähnliche Wirkun-

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Liebe Leserinnen und Leser,

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gen durch minimale Fingerbewegun-gen downloaden lassen?

Die Waldorfpädagogik geht sehr bewusst mit den Möglichkeiten derverschiedenen Lebensalter und Ent-wicklungsphasen um, durch die einjunger Mensch im Laufe seines He-ranwachsens hindurchgeht. Entspre-chend ist auch der Lehrplan ein Ge-samtkunstwerk, das zwar in ständigerEntwicklung begriffen ist, immer aberdie Entdeckung neuer Fähigkeitenund Kräfte im Auge behält, die jederSchüler sich im Laufe der Schulzeitauf verschiedenen Wegen aneignenkann. Dass die Waldorfpädagogik ent-scheidende Gesichtspunkte zu einerentwicklungsorientierten Medien-pädagogik geben kann, will dieseSchrift zeigen.

Was bedeutet das für die tägliche Unterrichtspraxis? In welchem Verhältnis stehen die neuen Heraus-forderungen zu bewährten Waldorf-traditionen? Ab wann sollte man sichgezielt und bewusst mit elektroni-schen Medien auseinandersetzen?Wie kann man sie im Unterricht sinnvoll und kreativ nutzen? Auf welche Fähigkeiten kommt es bei der Mediennutzung an und wannwerden sie veranlagt?

Die vorliegende Broschüre wendetsich an Eltern, Erzieher*, Lehrer* undinteressierte Schüler*. Sie verzichtetweitgehend auf Fachterminologie und

ist daher allgemein verständlich. Esversteht sich von selbst, dass dieseSkizze ein „work-in-progress“ ist, dersich kontinuierlich weiterentwickelnmuss und wird. Vor allem möchte sieden Erziehern und Lehrern Mut ma-chen, sich aktiv mit einer der großenpädagogischen Herausforderung un-serer Zeit auseinanderzusetzen.

Das Autorenteam – Franz Glaw, Prof. Dr. Edwin Hübner, Celia Schön-stedt und der Unterzeichner – gehörtder Arbeitsgruppe „Medienmündig-keit und Waldorfpädagogik“ an, dieseit 2012 arbeitet. Außer den bereits Genannten gehören dem Arbeitskreisauch Christian Boettger, Klaus-PeterFreitag, Andreas Neider, Florian Osswald-Muller, Dr. Martin Schlüterund themenbezogen Prof. Dr. Paula Bleckmann an.

Henning Kullak-Ublick, Hamburg, im Sommer 2017

(4. Auflage)

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* Erzieher, Lehrer, Schüler etc. sind Bezeichnungen der Tätigkeiten und keine Geschlechtsbestimmungen. Gemeintsind natürlich immer auch Erzieherinnen, Lehrerinnen und Schülerinnen.Bitte beachten Sie auch Stuwwelpeter 2.1 für Eltern.

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Klärung der BegriffeProf. Dr. Edwin Hübner

„Studierende mit alarmierendenLese- und Schreibschwächen – abermit großer Medienkompetenz“, so titelte im Juli 2012 ein Bericht übereine bis dahin unveröffentlichte Studie.1 Die Hochschullehrer der philosophischen Fakultäten inDeutschland beklagten darin gravie-rende Qualitätsmängel bei den Stu-dierenden, die „förmlich ins Augespringen“: „Es gibt vor allem Schwie-rigkeiten bei der Rechtschreibung,der Orthographie, der Beherrschungvon Grammatik und Syntax. Es ist ins-gesamt eine mangelnde Fähigkeit be-obachtet worden, selbstständig zu for-mulieren, zusammenhängende Textezu schreiben und vor allem auch einemangelnde Fähigkeit bei der Lese-kompetenz, also etwa bei Vorträgenmitzuschreiben.“ Einige Sätze späterwird dann über die gleichen Studen-ten gesagt: „Also, sie haben sichergrößere Medienkompetenz, das istvöllig unbestritten.“

Als Leser kommt man ins Grübeln,was denn nun mit Medienkompetenzgemeint ist. Denn die Schrift ist ganzsicher ein Medium. Und es wird deut-lich beklagt, dass die Schriftkompe-tenz zu gering ist. Das kann also nichtmit Medienkompetenz gemeint sein.Wenn man darunter allerdings nur die Kompetenz im Umgang mit Infor-mationstechnologien versteht, dannkönnte man die zitierte Aussage ver-stehen. Allerdings sind im Internet

viele Informationen und wissen -schaftliche Aufsätze nur in Schrift -form gegeben. Wenn man aber mitdem Medium Schrift nicht zurecht-kommt, was bedeutet dann die Kom-petenz im Umgang mit dem Internet?Einen Aufsatz an verborgener Stelleim Internet finden und geschickt aufden eigenen PC kopieren können,aber dessen Inhalt nicht verstehen?

An diesem Beispiel wird deutlich,dass eine Begriffsunklarheit vorliegt.Was ist Medienkompetenz? Und nochelementarer: Was ist überhaupt einMedium?

Man kann diese Frage durch eine allgemeine Definition beantworten,allerdings hilft das nicht weiter, dennes gibt ja die allerverschiedensten Produkte oder Geräte, die man alsMedien bezeichnet: Zeitungen, Zeit-schriften, Bücher, Radio, Fernseher,Computer usw.

Versucht man phänomenologisch festzustellen, was dem Menschen inseiner Umgebung begegnet, danngibt es im Wesentlichen drei Schwer-punkte:

• Schrift• Übertragene oder konservierte Sprache und Musik

• Stehende oder bewegte Bilder

1) Pany, Thomas: Studierende mit alarmierenden Lese- undRechtschreibschwächen, in: Telepolis 24.7.2012www.heise.de/tp

Klärung der Begriffe 3

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Durch alle drei Medienformen kanndieselbe inhaltliche Informationübertragen werden, aber die Tätig-keit des Menschen in der Auseinan-dersetzung mit der jeweiligen Me-dienform ist qualitativ verschieden.Liest der Mensch eine Schrift, dannsind vor allem seine Augen tätig under muss anhand der gesehenen abs-trakten Symbolfolgen eigene Vorstel-lungsbilder entwickeln. Begegnet derMensch dem durch Technik vermit-telten Wort, dann ist vor allem seinGehör tätig. Auch hier muss er durchFantasietätigkeit individuelle Bilderschaffen. Bei übertragenen Bildern,vor allem bei bewegten Tonbildern, ist Fantasietätigkeit kaum notwendig,denn die Bilder sind ja bereits gegeben.

Damit ist der Blick auf das gelenkt,was der Mensch konkret macht, wenner einen Text liest, wenn er Musikhört, wenn er auf einem Bildschirmeinen Film anschaut – und zwar un -abhängig vom vermittelten Inhalt. Bei der Betrachtung des Verhältnis -ses des Menschen zu Medien mussman daher zwei polare Aspekte unter-scheiden: Einmal den der vermitteltenInhalte (Vorstellungen und Gedan-ken), auf die das Individuum die Auf-merksamkeit lenkt, und zum anderenden Handlungsaspekt, das, was derMensch leiblich macht, während ermit dem technischen Artefakt bzw.

dem Gerät zugange ist. Der Menschsteht zur gleichen fotografischen Auf-nahme in verschiedenen Handlungs-verhältnissen, je nachdem ob er sieauf Fotopapier betrachtet, auf einemComputerbildschirm anschaut odersie als Projektion eines Beamers aufder Wand ansieht.

Der Umgang des Menschen mit Me-dien vollzieht sich also im Spannungs-feld von Vorstellungsverhältnis undHandlungsverhältnis zum jeweiligenMedium.

Es muss zwischen der Medienform alsVerfahren, als technischem Ablaufund der „Materie“, innerhalb der sichdieses Verfahren vollzieht, unterschie-den werden. Die Schrift kann aufStein, auf einer Papyrusrolle oder aufPapier geschrieben werden, sie kannaber auch als Druckschrift in Büchern,in e-Books, der Zeitung, der Zeit-schrift oder auf dem Bildschirm einesComputers erscheinen. Die Schrift als Medienform bleibt überall gleich.Aber der Träger, durch den sie demMenschen zugänglich wird, ist jeweilsein anderer, und zu dem jeweiligenTräger steht der Mensch mit seinemGesamtsinnesorganismus in einemanderen Verhältnis, und das beein-flusst subtil die Art und Weise, wie ermit der Medienform Schrift umgeht.

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Schrift Konservierte Sprache und Musik Stehende und bewegte Bilder

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Es müssen also bei der Betrachtungder Medien drei Schichten unterschie-den werden:

1. Medieninhalt – das, was der Mensch inhaltlich aufnimmt (z.B. Inhalt eines Romans).

2. Medienform – das Verfahren, wieetwas vermittelt oder präsentiertwird (Schrift oder Ton).

3. Medienträger – die materielleGrundlage, auf oder innerhalb dersich das Vermittlungs- oder Präsen-tationsverfahren vollzieht (Buch, e-Book, Smartphone, MP3-Playerusw.).

Der eingangs geschilderte Wider-spruch ist nun gut zu verstehen. DieStudenten der Philosophie zeigen bezüglich der Medienform „Schrift“deutliche Defizite, haben aber bezüg-lich der Handhabung des Medienträ-gers „Computer“ ausgeprägte Fertig-keiten. Eine umfassende Medien-kompetenz beinhaltet allerdings nichtnur den kompetenten Umgang mitMedienträgern, sondern auch mit den Medienformen Schrift, Ton undBild. Medienpädagogik umfasst also mehrere Felder: Medieninhalte, das Gebiet der Medienformen und dasGebiet der Medienträger.

Pädagogik darf sich aber nicht nur anden Fähigkeiten orientieren, die Men-schen für die Auswahl von Inhalten,die Handhabung von Geräten undden Umgang mit Medienformen brau-chen, sondern sie muss auch mit derleiblichen und seelischen Entwick-lung der Kinder und Jugendlichenrechnen. Deshalb ist es unumgäng-lich, dass medienpädagogischenÜberlegungen entwicklungspsycho-logische und menschenkundliche Erwägungen vorausgehen. Es mussvom heranwachsenden Menschen aus überlegt werden, wann es sinnvollist, auf den verschiedenen Feldern derMedienkompetenz bestimmte Fähig-keiten mit den Kindern zu erüben.

Klärung der Begriffe 5

Medieninhalt Medienform Medienträger

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Jedes Kind entwickelt sich individu-ell. Diese offensichtliche Tatsachekann dazu verleiten, charakteristischeEntwicklungsschritte, die von jedemKind in bestimmten Lebensalterndurchlaufen werden, in ihrer päda-gogischen Begleitung zu vernachläs-sigen. Waldorfpädagogik legt dem-gegenüber einen besonderen Wertdarauf, dass Kinder und Jugendlicheihre Fähigkeiten innerhalb von Erfah-rungsräumen aus bilden können, dieihren körperlichen, seelischen, sozia-len und geistigen Reifegrad berück-sichtigen. Dieser Balanceakt zwischenVerfrühung und Verspätung verlangtden Pädagogen ab, die Entwicklungjedes einzelnen Kindes wie auch dieeiner Klassengemeinschaft kontinuier-lich im Auge zu behalten.

Das Urbild altersgemäßer Entwick-lung, wie des Lernens überhaupt, ist die Eroberung der drei urmensch-lichen Fähigkeiten des aufrechten Gehens, des Sprechens und des Den-kens. Diese für jeden Menschen not-wendigen Entwicklungsschritte sindsowohl an das Lebensalter der erstendrei Lebensjahre wie an das Umfeldder Kinder gebunden, müssen aberdoch von jedem Kind einzeln erwor-ben werden und führen deshalb zueiner Erweiterung seiner individuel-len Autonomie. Diese Erfahrungensind so grundlegend, dass sie die konstitutionelle Basis für alles weitereLernen bilden.

Die Berücksichtigung wichtiger Momente in der kindlichen Entwick-lung schränkt die individuelle Reifungnicht etwa ein, sondern verhilft ihrerst zur vollen Entfaltung. Um im Bei-spiel von oben zu bleiben: Natürlichkann man ein Krabbelkind mittelseiner Gehhilfe („Gehfrei“) vorzeitigzum Laufen zwingen, aber man ent-hält ihm dadurch die für sein weiteresLeben wesentliche Erfahrung vor, sichaus eigener Kraft aufzurichten unddamit ein vollkommen verändertesVerhältnis zu seiner Umgebung zu erringen. Umgekehrt wäre es ein gewaltsamer Eingriff, ein Kind amGehen zu hindern, wenn es die Reifedazu erreicht hat. Worauf es ankommt,ist also, dem Kind einen Entfaltungs-raum für seine Entwicklung zu schaf-fen, diese aber nicht zu erzwingen.

Rudolf Steiner beschrieb einige besonders markante Entwicklungs-schritte, durch die die Kinder und Jugendlichen ein zunehmend autono-meres Verhältnis zur Welt gewinnen,indem zuvor unbewusst wirkendeKräfte zu frei verfügbaren Seelenkräf-ten werden. Diesen Gewinn an per-sönlicher Autonomie verglich er mitder Geburt und machte darauf auf-merksam, dass hier annäherungs-weise ein Siebenjahresrhythmus zubeobachten ist.

Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik6

Menschenkundliche Gesichtspunktezur MedienpädagogikHenning Kullak-Ublick

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In der frühen Kind-heit beheimatensich die Kinder inihrem Körper undbilden ihn sukzes-sive zu einem Ins-trument der Welt-erfahrung heran,durch das sie eineunmittelbare, sinn-liche Beziehung

zur Umwelt herstellen können. Dabeispielen die Räume, die Bewegung,der Rhythmus, kurz: die Atmosphäre,von der sie umgeben sind, eine ent-scheidende Rolle. Je differenzierterdie Sinneserfahrungen, je selbstver-ständlicher ein rhythmisierter Tages-lauf, je sinnvoller die Handlungen derErwachsenen im Umfeld der Kindersind, umso reicher kann sich ein Kindseine leiblich-konstitutionelle Grund-lage für das Leben aufbauen. DasKind bewegt sich, so Rudolf Steiner, in diesem Lebensalter in einer Hülle,die aus den Gewohnheiten, Gedan-ken und Empfindungen der Erwach-senen gewoben wird. Die seelischenKräfte des Denkens, Fühlens undWollens bilden eine weitgehende Ein-heit, die nicht durch eine vorzeitigeund einseitige intellektuelle Anspra-che auseinandergerissen werdensollte.

Um das sechste oder siebte Lebens-jahr werden diese Kräfte sukzessiveals eigenständige Erfahrungsfelderentdeckt und bedürfen einer differen-zierten Förderung und Ansprache. Die vorher in der unmittelbaren Leib-bildung gebundenen Kräfte – Steinernennt sie ätherische oder Bildekräfte– werden frei und können nunmehrzur Bildung von bewussten und ge-zielt herbeigeführten Vorstellungengenutzt werden. Der Fantasie kommthierbei eine entscheidende Rolle zu,erlaubt sie den Kindern doch, ein bewegliches und plastisches Vorstel-lungsleben zu entwickeln, aus demsie in einem zweiten und dritten Ent-wicklungsschritt die entsprechendenBegriffe ableiten. Die Beziehung derKinder zur Welt wird in diesem Alterwesentlich durch die Beziehung dersie umgebenden Erwachsenen zurWelt geprägt. Die Kinder leihen sichderen Weltsicht gewissermaßen pro-beweise aus, um daran ihre eigene zubilden – und sei es im Widerspruch.

Menschenkundliche Gesichtspunkte zur Medienpädagogik 7

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Mit der Pubertät haben sich Denken,Fühlen und Wollen so weit als selbst-ständige seelische Betätigungsfelderetabliert, dass es zunehmend in dieAutonomie der Jugendlichen gestelltist, sie wieder zu einer Einheit zusam-menzuführen. Für das weitere, nun-mehr voll bewusste Lernen ist es au-ßerordentlich wichtig, dass sie an denErwachsenen erleben, dass diese ihrDenken, Fühlen und Wollen in diesemSinne beherrschen, also ein individu-elles Verhältnis zur Welt errungenhaben und sowohl ihre Urteile wieauch ihre Handlungen aus diesem Bewusstsein gestalten.

Allen Lernerfahrungen liegt das ein-gangs geschilderte Urbild zugrunde:Wie im Aufrichten und Gehenlernenvor allem der aktive, handelnde Willetätig wird, hat die Sprache ein unmit-telbares Verhältnis zum fühlenden Erleben der Welt (wie die Suche nachdem richtigen Wort deutlich zeigt),um dann zur Lehrerin des Denkens zu werden.

Rudolf Steiner beschrieb im 5. Vor-trag seiner „Allgemeinen Menschen-kunde“ die außerordentliche Bedeu-tung dieses Dreischritts, der vomSchließen über das Urteilen zum Begriff führt: Zunächst kommt es darauf an, dass sich die Kinder wahr-nehmend, handelnd und experimen-tierend mit einem Thema auseinan-dersetzen, um es danach genau zu beschreiben und damit eine elemen-tare Urteilsfähigkeit zu entwickeln(Was beschreibe ich, was lasse ichweg? etc.). Wenn diese wahrneh-mende und urteilende Tätigkeit min-destens einmal im Schlaf verarbeitetwerden konnte, bilden die Kinder gemeinsam die Begriffe, die sich imRückblick auf das Erlebte und Erin-nerte ergeben. Dieser Weg von der Erfahrung ins Bewusstsein ermöglichteine individuelle Urteils- und Begriffs-bildung, denn sie rollt nicht ein ferti-ges Ergebnis aus, sondern moderierteinen ergebnisoffenen Prozess, derdas Wollen, Fühlen und Denken herausfordert.

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Page 11: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Diese Signatur des entdeckenden Lernens muss auch medienpädago-gischen Curricula zugrunde liegen.Durchgängiges, in den ersten Schul-jahren konstituierendes Motiv derWeltbegegnung ist dabei, dass dieKinder Zusammenhänge erfahren.Nicht vereinzelte Wissensbrocken,sondern Begriffs-Landschaften oderZeitprozesse gilt es zu erleben und zu verstehen. Wenn die Kinder imzweiten Schuljahr Spiegelungen am Kreis zeichnen und im zwölftenSchuljahr die Inversion am Kreis mathematisch durchdringen, begeg-nen sie den gleichen Phänomeneneinmal handelnd, dann erkennend.Wenn Kinder im dritten Schuljahr einJahr lang erfahren, was vom Pflügenbis zum Backen alles in einem Bröt-chen steckt, werden sie eine wirklich-

keitsgesättigtere Beziehung zu globa-len wirtschaftlichen Fragen, zur Öko-logie bis hin zu der chemischen Wir-kung des Feuers gewinnen, als wennsie auf diese Erfahrungsgrundlageverzichten müssten.

In der nachfolgenden Skizze einesCurriculums wird versucht, diesen unterschiedlichen Weltzugängen derKinder und Heranwachsenden ebensogerecht zu werden wie den gesell-schaftlichen Bedingungen, unterdenen sie aufwachsen.

Menschenkundliche Gesichtspunkte zur Medienpädagogik 9

Lebensalter Geburt bis ca. bis ca. bis ca.6–7 Jahre 13–14 Jahre 20–21 Jahre

Beziehungen zu: Eltern und + Schule, + „Welt“Umgebung Freunde

Soziale Beziehung Bindung Beziehung Begegnung

Lernstufen handlungsge- emotionsge- bewusstes bundenes Lernen bundenes Lernen Lernen

Erkenntnisstufen Selbsterleben Selbstwertgefühl Selbstbewusstsein

Die vorangegangenen Überlegungen kann man tabellarisch zusammenfassen

Page 12: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Technik erspart demMenscheneigene Tätigkeit, allerdings steht erdadurch in der Gefahr, dass ihm dieentsprechenden Fähigkeiten verlorengehen, genauso wie ein Muskel sichzurückbildet, der nicht betätigt wird.Der Mensch wird so durch Techniktendenziell intentionalem Denken undseinem eigenen Leib entfremdet: Erwird als handelnder Mensch auf einbloß vorstellendes Denken reduziert.Für den erwachsenenMenschen, derentsprechende Gegengewichte zumAusgleich herbeiführen kann, mussdas nicht zum Problem werden. Fürihn eröffnen sich so die positiven Mög-lichkeiten der technischen Welt.

Für Kinder besteht das prinzipielleProblem, dass sie überhaupt erst ihrenLeib auszubilden haben. Sie müssenerst im Laufe einer jahrelangen Ent-wicklung ihre leiblichen, seelischenund geistigen Anlagen ausbilden alsunerlässliche Basis der zu erwerben-den Medienmündigkeit.

Der direkten Medienpädagogik, dieheranwachsende Menschen dazu befähigt, Medien sinnvoll zu nutzen,geht daher die indirekte Medienpäda-gogik voraus, die genau die Fähig-keiten im Menschen schult, die erbraucht, um den Anforderungen desLebens gewachsen zu sein und damitzugleich den Anforderungen, welchedie technisch-mediale Welt an ihnstellt.

Deshalb ist alle Pädagogik in der Gegenwart Medienpädagogik: Päd a-gogik muss heute und in der Zukunftdavon ausgehen, dass der jungeMensch in einer technisch-medialenWelt heranwächst. Das heißt abernicht, dass deshalb in jedem Unter-richt irgendwie Medien vorhandensein müssten. Ganz im Gegenteil: Da die primäre Entwicklungsaufgabedes Kindes die Ausbildung und Be-herrschung der eigenen leiblichenund seelischen Kräfte ist, muss Päda-gogik zuerst deren gesunde Entwick-lung unterstützen. Sie hat daher einerseits dafür zu sorgen, dass dasKind in seiner Umgebung viele Tätig-keitsangebote findet, die es dazu an-regen, seine leiblichen und seelischenFähigkeiten gesund und allseitig zuentwickeln. Andererseits muss dafürSorge getragen werden, dass alles,was die Entwicklung dieser leiblichenund seelischen Fähigkeiten behindert,ausgeschlossen wird. Eine indirekte Medienerziehung achtet daher da-rauf, dass in den ersten Lebensjah-ren bis zur Schulreife im kindlichen Lebensraum technische Medien keine Rolle spielen.

Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik10

Indirekte und direkte MedienpädagogikProf. Dr. Edwin Hübner

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Der frühkindliche Lebensraum sollte idealerweise medienfrei sein. Er soll den Kindern ermöglichen, dasssie ihre leibliche Handlungs- und seelische Erlebnisfähigkeit und damitihren Willen vielfältig üben und schu-len können. Es soll alles ausgeschlos-sen werden, was dieses Üben behin-dert. Das Motto dieses Ansatzes könnte man pointiert so formulieren: Die spätere Medienkompetenz wurzelt in einer frühen Medien-abstinenz.

Dieser pädagogische Ansatz wird oftverächtlich als „Bewahrpädagogik“diffamiert. Es geht hier allerdingsnicht um das „Bewahren“, sondern

um ein „Ermöglichen“. Es geht umeine „Ermöglichungspädagogik“, dieden Kindern hilft, die Kräfte zu erwer-ben, die sie für das Leben in einer vonInformationstechnologie durchdrun-genen Welt brauchen, die ihnen aberdiese Welt nicht geben kann.

Im Laufe des Heranwachsens behältdie indirekte Medienpädagogik zwarihre Bedeutung als ausgleichendesGegengewicht, tritt aber doch etwasin den Hintergrund und eine direkteMedienpädagogik kommt mehr undmehr in den Vordergrund. Die folgen-de Grafik veranschaulicht dieses Zusammenspiel von indirekter und direkter Medienpädagogik:

Indirekte und direkte Medienpadagogik 11

Kunstschaffen, Musik, Bild, Plastik

1. Jahrsiebt 2. Jahrsiebt 3. JahrsiebtLeibbildung

Indirekte Medienpädagogik

Direkte Medienpädagogik

UrteilsbildungGewohnheits- und Fähigkeitsbildung

JugendzeitErste Kindheit Vorschulzeit Schulbeginn „Rubikon“ Pubertät

Informationstechnologie nutzen

Aufklärung über Internetgefahren

PC handhaben lernen

Film- und Musikproduktion verstehen

Hard- und Software verstehen

Vorlesen

Geschichten erzählen

Lesekultur pflegen

Schreiben und lesen lernen Sport, Chor, Orchester, Vereinsleben usw.

Medienabstinenz

Lebensräume erfahrend erobern

Bewegung, Eurythmie, Sport

Page 14: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Eine prinzipielle Eigenschaft allerMedien kann mit den Worten „Zer-splitterung“ oder „Atomisierung“ bezeichnet werden. Bereits bei derSchrift ist diese Signatur zu beobach-ten. Der lebendige Fluss der Sprachewird analysiert und in einzelne Lautezergliedert, die dann in symbolischeRepräsentationen übersetzt werden.Die in der Gegenwart lebende Spra-che wird in räumlich angeordnetenSymbolen verdauert.

Der Film zerlegt die Bewegungen ineine Vielzahl rasch hintereinanderaufgenommener Bilder. Die Fernseh-technik zerlegt diese Bilder wiederumin Abertausende von Einzelpunkten.Auch die Übertragung von Spracheper Mobilfunk arbeitet nach demsel-ben Prinzip. Die akustischen Signalewerden im Millisekundentakt abge-tastet und die gemessenen Werte in digitale Informationen übersetzt, welche dann übertragen werden.

Diese der Medientechnik innewoh-nende Signatur der Atomisierungwirkt sich auch auf die Inhalte aus. Es ist ein Grundmerkmal aller Me-dienformen, dass sie aus der leben-digen Wirklichkeit der Welt Einzel-heiten herauslösen und festhalten, die dadurch aber ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren.

Die uns umgebende Medienwelt lie-fert uns eine zersplitterte Welt einzel-ner Informationen, die durch sich

Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik12

Die prinzipielle Eigenschaftmoderner Medien ist die Auf-lösung, die „Atomisierung“und „Zersplitterung“. Hier dieAuflösung des Druckbildes inRasterpunkte bei 5-facher Vergrößerung.

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selbst keinen Zusammenhang mehrhaben. Man schaue sich unter diesemGesichtspunkt einmal eine Nachrich-tensendung an. Eine erstaunlicheFülle von Einzelheiten wird präsen-tiert, denen jedoch vollständig der innere Zusammenhang fehlt. Da stehtein Kriegsereignis im Nahen Ostenneben der Naturkatastrophe in denUSA; ein schwerer Unfall in Chinawird geschildert und anschließend die Eröffnung eines Museums, darauffolgt das Ergebnis eines Fußballspielsin Europa und zuletzt kommt die Wet-tervorhersage. Die einzelnen Beiträgehaben nichts miteinander zu tun. IhreZusammenhanglosigkeit vermitteltkeinen Sinn.

Dem steht der einzelne Mensch ge-genüber, der sich in dieser ihm so präsentierten Welt zurechtfindenmuss. Er braucht die Fähigkeit, sich in diesem Kosmos der zersplittertenInformationsfetzen zu orientieren undsie wieder in einen Zusammenhangeinbetten zu können. Das kann er nur,wenn er sich einen Wissenshinter-grund erarbeitet hat. Darin muss diePädagogik die Heranwachsenden unterstützen. Sie hat die jungen Men-schen zu befähigen, sich selbst inmit-ten einer Welt von zusammenhang -losen Informationsteilen wieder einenZusammenhang erarbeiten zu können.Dazu brauchen sie einerseits eine breitgefächerte Allgemeinbildung, diemöglichst viele Lebens- und Wissens-

gebiete umfasst, und andererseits eininneres Zentrum, auf das sie alles, wassie wissen, beziehen können.

In dieser Hinsicht findet man bei Rudolf Steiner einen wichtigen päda-gogischen Hinweis. Er sagte zu dendamals aktiven Lehrern:

„Aber von ganz besonderer Wichtig-keit ist die Beziehung, die wir überallherstellen sollen, wo es nur die Mög-lichkeit ist: die Beziehung zum Men-schen als solchem. Überall sollten wirdie Gelegenheit nehmen, die Bezie-hung zum Menschen als solchem her-zustellen. Ich will sagen, wir bespre-chen ein Tier, wir besprechen einePflanze, wir besprechen eine Wär-meerscheinung, überall ist die Mög-lichkeit, ohne dass wir den Unterrichtzerstreuen, ohne dass wir gewisser-maßen das Kind ablenken, die Sacheüberzuführen auf irgendetwas, wasden Menschen betrifft.“

Wird der Mensch in den Mittelpunktgestellt und werden darüber hinausseine Bezüge zur Umwelt aufgesucht,so können die Kinder eine innereKonsolidierung, eine innere Sicherheitim Verhältnis zur Welt ausbilden. Siebesitzen ein Zentrum, auf das sie dieInformationsteile, die tagtäglich aufsie einstürmen, sinnvoll beziehenkönnen.

Indirekte und direkte Medienpadagogik 13

Page 16: Struwwelpeter 2 - Waldorfschule

Ein Mensch ist nicht wirklich me-dienkompetent, wenn er nur den PChandhaben kann. Medienkompetenzbedeutet, dass man die Vor- undNachteile aller Medienformen undMedienträger kennt und je nachSachlage das auswählt, was geradeam besten geeignet ist.

Auch aus diesem Grund ist es wichtig,dass Kinder zuerst lernen, mit denklassischen Medienträgern umzuge-hen: Papier und Buch. Darüber hinauszeigt sich in der bisherigen Praxis,dass es pädagogisch keinen echtenSinn macht, vor dem 12. LebensjahrComputer im Unterricht einzusetzen.

Waldorfpädagogik sieht den Umgangmit dem Computer als genauso wich-tig an wie andere pädagogische Rich-tungen auch, aber sie ist der Auffas-sung, dass es von zentraler Wichtig-keit ist, in welchem Entwicklungsalteretwas mit den Kindern behandeltwird. Der selbstständige Umgang mitdem Computer setzt die Entfaltungeines eigenständigen Urteils voraus.Die eigene Urteilsfähigkeit entwickeltsich vor allem erst ab dem 12. Lebens-jahr – und ab diesem Alter ist ein Um-gang mit Computern, überhaupt mitIT-Technologie, als Medienträgern pädagogisch sinnvoll und notwendig.Davon ist allerdings die Pädagogikder Medienformen deutlich zu unter-scheiden. Diese beginnt bereits mitdem Eintritt in die Schule.

Die direkte Medienpädagogik vollzieht sich auf den Ebenen der Medienformen und der Ebene derMedienträger. Jeder Ebene muss inder Schule Aufmerksamkeit gewid -met werden und auf jedem Gebietgibt es ein Curriculum.

Curriculum für die Medienform „Schrift“In der ersten Kindheit sollten Kindererleben, dass Geschichten ihren Ur-sprung in der menschlichen Fantasiehaben. Deshalb ist es wünschenswert,wenn Kindern am Beginn ihres Le-bens zuerst Geschichten erzählt wer-den – ohne ein Buch in der Hand.Später ist es wichtig, dass den Kinderndann auch immer wieder vorgelesenwird. Kinder sollen erleben, dass inBüchern, überhaupt in Texten, die ge-heimnisvollen und spannenden Ge-schichten, die sich die Menschen er-zählen, aufgeschrieben worden sind.Eltern sollten ihre Vorbildfunktionwahrnehmen und selbst ein aktivesVerhältnis zur Buchkultur vor leben.

In der 1. Schulklasse lernen die Kinder, von einer aktiven bildhaft-künstlerischen Betätigung ausgehend,wie man schreibt und wie man Ge-schriebenes lesen kann.

Ab der 2. und 3. Klasse kommt es da-rauf an, dass die erworbene Schreib-und Lesefähigkeit auch fortdauerndgeübt wird. Dazu ist es empfehlens-wert, wenn im Klassenraum eine ei-gene Klassenbibliothek aufgebaut

Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik14

MediencurriculumProf. Dr. Edwin Hübner

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wird, in der die Kinder sich gegenseitigihre als spannend empfundenen Bü-cher ausleihen können. Sehr gut ist esauch, wenn in der Schule eine Schul-bibliothek eingerichtet ist und dortebenfalls viele Anregungen zum Lesenzu finden sind. Speziell für Leseanfän-ger ein gerichtete Lesekreise tragenzur Pflege der Lese kultur bei.

Ab der 5. oder 6. Klasse sollten Kindereinen ersten Begriff davon bekommen,was es heißt „zu recherchieren“. Sehrvieles ist im Internet nicht zu finden.In den Bibliotheken ruhen riesige Wissensschätze. Deshalb ist es wich-tig, dass angehende Jugendliche Bibliotheken kennenlernen und aucheinen Begriff davon erhalten, wie manin den dort gehüteten Buch beständenetwas finden kann.

In der 7. oder 8. Klasse sollten dieSchüler, zumindest solange Computernoch mit Tastaturen bedient werden,die Fähigkeit entwickeln, mit zehnFingern blind auf einer Tastatur zuschreiben.

Curriculum für die Medienform „Ton“Wie bei der Schrift gründet auch dieUrteilsfähigkeit bezüglich der Me-dienform „Ton“ auf eigenen aktivenErfahrungen. In der Vorschulzeit soll-ten die Kinder Erwachsene finden, mitdenen sie zusammen singen können,durch die sie sich ein mehr oder weni-ger großes Repertoire an Liedernerwerben.

In den ersten Schuljahren wird das gemeinsame Singen und Musizierensehr gepflegt und das den Kindern zur Verfügung stehende Liedgut sys-tematisch erweitert. Ab der 1. Klassesollten die Kinder auch einfache Mu-sikinstrumente, wie z.B. eine Flöte,beherrschen lernen. Ein anspruchs-volles Instrument, wie eine Geige oderein Klavier, kann sich daran anschlie-ßen. Ziel ist, dass die Kinder ein brei-tes Spektrum an musikalischen Erfah-rungen sammeln und entsprechende Fähigkeiten entwickeln.

Ab der 4. oder 5. Klasse beginnt mit der einfachen Musikkunde die gedankliche Durchdringung der musikalischen Erfahrungen. Ab der 8. oder 9. Klasse sollten die Jugend-lichen die historische Genese der Kultur des musikalischen Schaffensbis hin zu zeitgenössischer Musikkennenlernen. Dabei ist es wichtig,dass sie gerade die gegenwärtige Unterhaltungsmusik analy sieren können und dadurch verstehen, wie Filmmusik komponiert ist undwelche Funktion sie im Rahmen einer Filmhandlung innehat.

Curriculum für die Medienform „Bild“Auf die bestmögliche Beherrschungder Medienform Schrift wird allent-halben viel Wert gelegt. Aber nichtin gleicher Weise ist ein Bewusstseindafür vorhanden, dass auch die Me-dienform Bild „gelesen“ werden muss.

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Genauso wie Kinder lernen müssen,Texte zu verstehen, müssen sie auchwissen, wie Aussagen in Bildern zu-stande kommen und wie sie verstan-den werden können.

Wesentliches Grundmotiv eines an derEntwicklung der Kinder orientiertenCurriculums ist, dass die Kinder zuerstvollständig durch eigene, aktive Tätig-keit Bilder schaffen lernen. Das kannin der Vorschulzeit damit beginnen,dass sie mit Wachsstiften oder Wasser-farben einfacheMotive malen. In derbeginnenden Schulzeit, wo die Kindernun langsam fähig sind, ein ästheti-sches Empfinden zu entwickeln, wirddaran angeknüpft. Die Kinder lernenjetzt verschiedene Farbtöne zu unter-scheiden und ästhetisch zu beurteilen.Mit zunehmendem Alter werden dieBilder und Zeichnungen differenzier-ter und vielgestaltiger. Mit etwa zwölfJahren (6. Klasse) ist die Einführungin die Gesetze der Projektion und derSchattenlehre sehr sinnvoll. Anhandkonkreter zeichnerischer Problemstel-lungen lernen die Kinder die Gesetzeder Perspektive praktisch zu handha-ben. In der 11. Klasse kann diesespraktische Verständnis im Rahmen derprojektiven Geometrie aufgegriffenund mathematisch vertieft werden.

Ab der 9. Klasse ist es sinnvoll, mitden Jugendlichen, wiederum anhandkonkreter Projekte, die Sprache derfotografischen und der filmischen Bil-der kennenzulernen. Anzustreben ist,dass sie durch die Herstellung eigenerFilme die Vorgehensweisen professio-nell hergestellter Filme analysierenund verstehen können. Dabei solltenJugendliche auch den Aufbau und dieFunktion von Werbung verstehen.

Medienträger verstehenEs gehört zum Grundimpuls der Waldorfpädagogik, den man bereitsbei Steiner formuliert findet, dassKinder und Jugendliche ihre techni-sche Umgebung verstehen lernen.Zentrale Epochen der 3. Klasse the-matisieren die Grundprinzipien desHaus- und Bootsbaus, verschiedenerHandwerke und der Nahrungserzeu-gung. Genauso sollten die Kinderauch die Entstehung von Papier ein-mal praktisch erlebt haben. Im Sinnedes skizzierten Curriculums ist dasBinden eines eigenen Buches in der 7. oder 8. Klasse ein pädagogischsinnvolles Projekt.

Seit Langem besteht an Waldorfschu-len der Konsens, dass ab der 9. Klasseeine Einführung in die Computertech-nologie stattfinden sollte, und zwarausgehend vom praktischen Umgangmit elektronischen Bauteilen und Ge-räten.1 Das heißt, dass in der 10. oder11. Klasse im Rahmen einer prakti-schen Unterrichtsepoche mithilfe von Relais oder Transistoren grund-legende Schaltungen der Computer-technik (NOR, OR, NAND, AND,Halbaddierer, Volladdierer, Flipflopusw.) selbst gebaut und untersuchtwerden, bevor man die Arbeitsweisevon Mikroprozessoren herausarbeitet.In der 11. Klasse ist an vielen Schulenein Programmierpraktikum in denStundenplan aufgenommen worden.In der 12. Klasse sollte zuletzt auchdas Internet in seinem prinzipiellenAufbau behandelt werden.

Es kommt insgesamt darauf an, aufzu-zeigen, wie die Maschine „Computer“formalisierbare menschliche Logik ineine Abfolge von physikalischen Zu-

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standsänderungen umsetzt. Im An-schauen dieser Umsetzung wird er-lebbar, dass nur das menschlicheDenken diese Zustandsverflechtun-gen und deren Endzustände sinnvollinterpretieren kann.

Die Medienlandschaft zum Lernen und Präsentieren nutzenDamit Schüler Computertechnolo-gien auch für ihr Lernen sinnvoll undökonomisch nutzen können, müssensie lernen, wie man neben Büchern,Zeitschriften usw. auch Online-ressourcen sinnvoll erschließt.

Dem geht allerdings voraus, dass sieauch Strategien beherrschen, wie man in Buchbeständen sinnvoll sucht.Diese sollten sie kennenlernen, wennsie ihre ersten kleinen Referate vorder Klasse halten. Eine gezielte Anre-gung, wie man mithilfe von Suchma-schinen im Internet sinnvoll recher-chieren kann, ist etwa ab der 7. oder8. Klasse – zunächst angeleitet in derSchule – pädagogisch sinnvoll. Dabeiwerden die verschiedenen Arten vonSuchmaschinen besprochen, grund-legende Vorgehensweisen und Ge-sichtspunkte beim Suchen behandeltund Fachportale sowie sinnvolle Rechercheportale kennengelernt.

Sehr wichtig ist es, dass Schüler Kri-terien an die Hand bekommen, mitderen Hilfe sie die Glaubwürdigkeitvon Internetseiten beurteilenkönnen.2 Letztendlich ist es dasThema „Quellenkritik“. An sinnvollenStellen sollte das in den folgendenJahren – vor allem im Geschichtsun-terricht – immer wieder aufgegriffenwerden. Ein Achtklässler sollte auchein grundlegendes Wissen über die

richtigen Formen des Schriftverkehrsim Internet erwerben: Aufbau einergeschäftlichen E-Mail, Formulierungsinnvoller Betreffs, „Netiquette“, Ge-staltung eines Bewerbungsschreibens,Anhänge usw.

Präsentationstechniken mit PC, Over-head usw. können mit den Schülernab der 10. Klasse erlernt, praktisch erprobt und kritisch besprochen wer-den. Sie erfahren dadurch die Stärkenund Schwächen von computergestütz-ten Präsentationen, lernen Präsentati-onssoftware sinnvoll einzusetzen undPräsentationsfehler zu vermeiden.

Als zusammenfassendes Grundmotivdes Mediencurriculums kann man ein Wort Rudolf Steiners ansehen:„Lebenskunde muss aller Unterrichtgeben.“ Aller Unterricht muss letzt-endlich dahin führen, dass die Schülerdas Leben ihrer Zeit möglichst umfas-send verstehen, deren grundlegendeKulturtechniken gut beherrschen undsinnvoll weiterentwickeln können.

1) Auf www.waldorf-it.de sind die pädagogischen Gesichts-punkte, Erfahrungen und konkrete Vorschläge für den Unter-richt gesammelt.2) So sollten beispielsweise Schüler auch auf die Bedeutungder Versionsgeschichte und der Diskussionsseite eines Wiki-pedia-Artikels hingewiesen werden.

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Wenn Menschen sich durch ihre Sprache, ihre Mimik, ihre Bewegun-gen und Gesten, durch Gesang oderdurch andere Ausdrucksformen mit-teilen oder von anderen beeindru-cken lassen, ist das die unmittelbars-te Form der Kommunikation vonMensch zu Mensch.Medien erweiternzwar unsere Möglichkeiten, mit ande-ren in Austausch zu treten, schiebenaber zwischen die direkte Begegnungvon Mensch zu Mensch einen Vermitt-ler, der festhält, was vorher unmittel-bare Präsenz war.

Sprache und SchriftWennKinder dasMediumder Schriftkennenlernen,wird das gesprocheneWort vomSprechendenundHörendenabgelöst undkonserviert.Das ist einziemlich radikalerAbstraktionsvor-gang,weil Sprache bis dahin ein unver-mitteltes Erlebniswar. Deshalb gehtdemErlernen der Buchstaben anWal-dorfschulen eine intensiveÜbphasevoraus, bei der zuerst elementare For-mengezeichnet und erst danach dieBuchstaben aus Bildern abgeleitetwer-den –Bilder,mit denen sich dieKinderseelisch verbindenkönnen.

Das Zeichnen erfordert die volle Auf-merksamkeit der Kinder, einerseitsdurch einen hohen Anspruch an dieKlarheit und Schönheit des Gezeich-neten, anderseits durch Materialien,die den Händen der Kinder genug Widerstand bieten, um ihre Wachsam-

keit bis in die Fingerspitzen zu len-ken. Dadurch wird Zeichnen undSchreiben ein gleichermaßen gestal-tender und wahrnehmender Vorgang.Große, nicht zu glatte Papierbögenund Wachsstifte eignen sich gut, umdiese Balance von Inhalt, Ästhetikund Willensanstrengung herauszu-fordern.

Beim Schreiben wissen die Kinder,was sie zu Papier bringen – sie sind„dabei“. Beim Lesen wird der Ab-stand zu ihren bisherigen Sprach -erfahrungen noch größer, denn jetztmüssen sie aus den Buchstaben wieder das gesprochene Wort zumLeben erwecken: Sie müssen inner-lich hören, was sie als fertige Zeichenvor sich liegen sehen, und müssen das„Gehörte“ dann auch noch verstehen.

Sprache wird beim Schreiben in Sym-bolen nach außen gesetzt und mussbeim Lesen erst wieder zu einem inne-ren Erlebnis geführt werden.

Es leuchtet unmittelbar ein, dass dieFähigkeit, sich schriftlich gut auszu-drücken und in umgekehrter Richtungaktiv Lesen zu lernen, als wichtigsteVoraussetzung hat, dass der Spre-chende oder Hörende ein differenzier-tes Verhältnis zum gesprochenenWort hat: Neben dem aktiven undpassiven Wortschatz muss er auch dieSchönheit, Bildhaftigkeit und Elastizi-tät der Sprache erleben – auch an dereigenen Stimme.

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KlassenlehrerzeitHenning Kullak-Ublick

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Weil sich Sprache nur von Menschenlernen lässt, werden an der Waldorf-schule auch die Fremdsprachen erstschriftlich geübt, nachdem sie in denersten Schuljahren in lebendigen Er-zählungen, Dialogen, Gedichten undLiedern erfahren wurden.

Sprechen ist weit mehr als ein Akt desInformationsaustausches. Spracheaktiviert alle Schichten des seelischenErlebens, von der aufblitzenden Ideeüber die tastende, fühlende Suchenach dem richtigenWort bis zurModulation, dem Satzbau und demSprechtempo, die sich mit demGegen-über, zu demwir sprechen, ändern.

Was für die Sprache gilt, gilt mit Variationen auch für jede andere Artder Kommunikation: Sie umfasst dasganze Spektrum menschlichen Erle-bens im Denken, Fühlen und Wollen.

Unter dem Gesichtspunkt der Me-dienmündigkeit stellt sich die Frage,welche Basisfähigkeiten ein Menschbraucht, um sich unterschiedliche Me-dien zu erschließen. Auch das Wannspielt dabei eine große Rolle. Elektro-nische Medien sind eine sehr spezia-lisierte Form der Kommunikation.Durch ihre Omnipräsenz – die in sehrnaher Zukunft noch einmal exponen-tiell gesteigert wird, wenn sich aller-orten Roboter dazugesellen – bestehtallerdings die Gefahr, dass andereAusdrucksformen durch sie vernach-lässigt werden und verkümmern.

Souveränität im Umgang mit unter-schiedlichen Medien ist die Folgeeines vernünftigen Gebrauchs derSinne, der Wahrnehmungsfähigkeit,des Urteilsvermögens und des Denk-willens, den sich ein Mensch erwor-

Klassenlehrerzeit 19

Beim Schreibenwissen die Kinder, was siezu Papier brin-gen – sie sind„dabei“ ...

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ben hat. Das sind allerdings Fähigkei-ten, die sich nicht schlagartig, son-dern erst mit der Zeit einstellen, weilsie unmittelbar mit dem Lebensalterder Kinder zusammen hängen.

Dieser Abschnitt blickt auf die Zeitvon der Einschulung bis etwa zumzwölften Lebensjahr, also auf die ersten sechs Schuljahre.

In den ersten Schuljahren werdenentscheidende Voraussetzungen fürden späteren Umgang mit elektroni-schen Medien geschaffen. Allerdingserwerben die Kinder ihre diesbezügli-che Sicherheit gerade nicht, indem sie die Geräte bedienen lernen (das gehtblitzschnell), sondern auf ganz ande-ren Feldern.

Am Beispiel der Sprache haben wirschon gesehen, dass das Hören, Emp-finden, Verstehen und Nachspürengesprochener Worte genauso zumSpracherwerb gehören wie das tätige„Ins-Wort-Bringen“ der eigenen Ge-fühle und Gedanken. Der Menschkann dabei nicht durch Geräte ersetztwerden. Deswegen sind die Pflegeeiner schönen und deutlichen Artiku-lation beim Erzählen oder Rezitieren,die Lust an Wortspielen und Rätseln,das Spielen von Theaterszenen unddie Eroberung der Schrift als künst-lerisches Ausdrucksmittel ganz wunderbare Instrumente, um ein lebendiges Verhältnis zur Sprache zu entwickeln. Diese Erfahrungen bilden die Plattform, von der aus sukzessiv neue Medien erobert werden können, ohne dass die Inhalte darüber verloren gehen.

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Charakteristische Wirkungen derelektronischen Medien sind, dass sie:

• Informationen extrem schnell, alsojederzeit und sofort verfügbar machen.

• Das Zeitgefühl bei der Nutzung verschwinden lassen.

• Mit minimalem körperlichem Auf-wand den Schein von Bewegung (in Bildern, Spielen, Filmen etc.)entstehen lassen.

• Die aktive Aufmerksamkeit häufigdurch die von außen erzeugte Bil-der- und Informationsflut ersetzen.

• Statt dem gedanklichen und wahr-nehmungsgestützten Verfolgen vonZusammenhängen auf „Weblinks“,also programmierte Assoziationen,setzen.

• Langeweile überspielen.

• Fertige Urteile in Form einer nichtendenden Informationsüberflutungan die Stelle von selbst gebildetenUrteilen oder Begriffen setzen.

• Das langsame und gründliche Ent-wickeln von Gedanken im wechsel-seitigen Austausch durch häpp-chenweise Kurznachrichten erset-zen, die mehr auf den assoziiertenEffekt als auf den Erkenntnisge-winn und die Wahrnehmung desGegenübers gerichtet sind.

• Sprache zu Kürzeln oder Symbolen(Icons) verkürzen.

Dem stehen viele sinnvolle Anwen-dungen gegenüber, aber hier geht esdarum, wie diese genutzt werden kön-nen, ohne dass Abhängigkeiten oderandere ungewollte Begleiterscheinun-gen in den Vordergrund rücken.

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Auf welche Fähigkeiten kommt esalso an und wie können sie gebildetwerden?

• Durch eine aktive Sinnesschulungkann die Wahrnehmungsfähigkeitdifferenziert angeregt werden.

• Die Aufmerksamkeit kann durchBeobachtungsschulung über kurzeMomente hinaus aufrechterhaltenwerden.

• Die sich bildende Vorstellungs -welt der Kinder kann durch dieSchulung der Fantasie zum schöp-ferischen Instrument eines Bewusst-seins werden, das nicht nur Gedan-ken reproduziert, sondern dasErkannte weiterspinnt (und denkt).Fantasie ist der beste Schutz vorwesenlosen Fantasy-Welten.

• Viel kommt darauf an, die eigeneKörperlichkeit im Raum und in derZeit zu erfahren und sich im eige-nen Körper zu beheimaten.

• Die Hände müssen als das entdecktwerden, was sie sind: die menschli-chen Freiheitsinstrumente schlecht-hin, mit denen man „alles“ tunkann, was man will.

• Klassenbibliotheken sind Anregun-gen zur sinnlichen Erfahrung desLesens und sie regen zu echten Recherchen an, bei denen nichtWeblinks, sondern echte Fragenzum Ziel führen.

• Über gemeinsame Tätigkeiten kön-nen die Kinder entdecken, wie dasZusammenwirken mehr hervorbrin-gen kann als die Summe der einzel-nen Aktivitäten.

• Erfahrungen mit den unterschied-lichsten „analogen“ Ausdrucksmit-teln und Medienträgern schaffendas Unterscheidungsvermögen für die Qualitäten verschiedener Medien und ihrer Träger (Papieroder Knetwachs, Wachsstifte oderWasserfarben, Musikinstrumente,Ton, Holz etc.).

• Der „Dreischritt“, der vom aktivenHören oder Handeln über das be-schreibende Gestalten bis zum erin-nernden Erkennen geht, schafft dieGrundlage für ein selbstständiges,aktives Lernen.

• Die Kinder müssen die Erfahrungvon Zeit und Rhythmus machen,indem sie einen atmenden Unter-richt erleben, warten lernen, Natur-prozesse begleiten (Tierpflege undKräutergarten 1. Klasse, Landbau-epoche 3. Klasse, Schmetterlinge 5. Klasse, Gartenbau, Bienen etc.)und erleben, dass Arbeiten immerzu einem Abschluss (Höhepunkt)geführt werden, sodass sich die Anstrengung lohnt.

Kurz: Die Kinder sollten in den ersten Schuljahren mit Materialienumgehen, welche die ganze Vielfaltihrer Sinne ansprechen, vom Geruchüber die Farben bis zum Tastsinn.

Dies alles ist in den Methoden undTraditionen der Waldorfschulen tiefverankert. Im Unterschied zu früherfinden viele dieser Tätigkeiten fürviele Kinder aber zunehmend nurnoch in der Schule statt und gewin-nen daher zusätzlich eine sozial-therapeutische Funktion.

Klassenlehrerzeit 21

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Mit Bezug auf das vorher Geschilderte kann man sagen:

• Die Erfahrung von Zeitprozessensteht dem Verschwinden der Zeitim Bereich der elektronischenMedien gegenüber.

• Die Schulung der Aufmerksam-keit, die Erfahrung sinnvoller Zusammenhänge durch Beob-achtung und die eigene Begriffs-bildung im „dreistufigen“ Lernensind die Voraussetzung, um dieassoziativen Zufallsfunde im Internet im Kontext beurteilen zu können.

• Die Bewegungserfahrungen undtaktile Geschicklichkeit sind dasGegenstück zu der körperlichenErstarrung beim Benutzen vonComputern.

• Die Gemeinschaftserfahrungenin der Wahrnehmung der Ar-beitsergebnisse der Klassen-kameraden sowie in gemein-schaftlichen Aktionen (Musik,Theater, Eurythmie, Handwerketc.) vermitteln die Erfahrungechter Begegnung und setzenden elektronisch gesteuertenKommunikationsformen reale Beziehungen entgegen.

• Der lebendige Umgang mit derSprache in vielerlei Formen hebtsie über das rein informativeAustauschen von Nachrichtenoder Urteilen hinaus und vermit-telt die Erfahrung der echten Wesensbegegnung.

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Um das zwölfte Lebensjahr herumentdecken die Kinder zunehmend,wie sie sich der Welt reflektierendund mit Blick auf Kausalitäten gegen-überstellen können – und wollen. Das ist der Zeitpunkt, zu dem auchdie bewusste Auseinandersetzung mit den elektronischen Medien beginnen kann und sollte.

Die Schule ist heute vermutlich dereinzige Ort, an dem die Kinder täglichüber mehrere Stunden Erfahrungenmachen können, die durchweg aufeiner unmittelbaren, sinnlichen undseelischen Begegnung mit der Weltund den sie umgebenden Menschenbasieren. Sie kann ein Erfahrungsfeldsein, an dem sich die Kinder unge-hindert mit der analogen, also nichtvirtuellen Welt auseinandersetzenkönnen und zugleich ihre Begeg-nungsmöglichkeiten mit anderen Kindern und Erwachsenen erweitern.

Insofern bedeutet der Verzicht aufelektronische Medien in diesem Alterkeine Verarmung, sondern einen Gewinn an Weltnähe und Welt(zu)ge-wandtheit. Es geht nicht um weniger,sondern um mehr Aktivität, nicht umeine Einschränkung der Erfahrungs-möglichkeiten, sondern um eine er-weiterte und gesättigte Verbindungmit der Welt.

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Klassenlehrerzeit 23

Die Schule ist heuteder einzige Ort, andem Kinder täglichErfahrungen miteiner unmittelbaren,sinnlichen und seeli-schen Begegnung mitder Welt und den sieumgebenden Men-schen machen.

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Zwischen dem 10. und 12. Geburtstagverändern Kinder ihr Verhältnis zurMedienlandschaft. Für Grundschul-kinder ist das wichtigste Unterhal-tungsgerät noch der Fernseher, derComputer spielt für sie kaum eineRolle. Das ändert sich mit der begin-nenden Pubertät: die emotionale Bindung an den Fernseher geht aufComputer und Internet über. So sindab einem gewissen Alter fast alle Ju-gendlichen im Netz unterwegs, gehenauf Entdeckungsreise und halten sichauf den sogenannten Social-Media-Plattformen auf, um Kontakt mitFreunden zu halten oder neue zu finden. Das kann über ein Profil beiGoogle+ oder Facebook erfolgen,einen Account bei Twitter oder You-Tube oder durch einen eigenen Blog.Per Smartphone oder am heimischenPC verbringen die Heranwachsendenviel Zeit damit, ihre Daten – manch-mal auch sehr persönliche – durchsNetz fließen zu lassen.

Facebook & Co. sind getarnte Fallen, was man leicht übersieht. DasWeb vergisst nichts, dessen sollen sichdie jungen Nutzer bewusst werden!Damit sie sich gefahrlos auf den Social-Media-Plattformen bewegenkönnen, ist es wichtig, die folgendengrundlegenden „Spielregeln“ zu ken-nen, die als Empfehlungen zu verste-hen sind und vor allem einen Appellan den gesunden Menschenverstanddarstellen.

Spielregeln für Jugendliche:1. Der richtige Umgang mit vertraulichen InformationenPersönliche Daten und die von Freun-den wie Nachname, Telefonnummeroder Wohnadresse haben im Netznichts zu suchen. Die Weitergabe per-sönlicher Daten ist nur dann zulässig,wenn der Betreffende (bzw. bei Min-derjährigen die Eltern) zugestimmthat. Insbesondere bei Smartphone-Apps ist besondere Aufmerksamkeitnotwendig, da bei der Neuinstallationviele Daten unbemerkt übertragenwerden können. Das gilt ebenso füralle anderen Sicherheitseinstellungenim Netz wie Firewall, Browser, Coo-kies etc. (siehe Bundesamt für Sicher-heit in der Informationstechnik (BSI),www.bsi-fuer-buerger.de).

Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik24

Jugendliche im NetzCelia Schönstedt

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2. Veröffentlichung von Inhalten Bevor man etwas schreibt, müssen diemöglichen Folgen bedacht werden,d.h., es sollte nichts veröffentlichtwerden, was man nicht auch auf einPlakat am Hauptbahnhof schreibenoder seinem Gegenüber direkt ins Gesicht sagen würde. Und es ist wich-tig zu wissen, dass man für seine Bei-träge in Foren, Blogs und anderen sozialen Netzwerken zur Verantwor-tung gezogen werden kann.

Man kann seinen „Postings“ einenpersönlichen Stil geben, sollte abermit allem Privaten sehr vorsichtigsein. Auf beleidigende, diskriminie-rende, rassistische oder vulgäre Bei-träge sowie eine Beteiligung an Hetz-kampagnen sollte grundsätzlichverzichtet werden – empfehlenswertist stattdessen stets eine sachliche Argumentation. In Postings legt manam besten seine Quellen offen, fügtentsprechende Links mit ein undnennt den Ursprungsabsender, sofernman ihn kennt. Denn Social Medialebt von Verlinkung und Vernetzungund von der Transparenz. Das machtdie Beiträge glaubwürdig und gibtihnen mehr Gewicht.

3. Umgangsformen im InternetDa man in einem schriftlichen Me-dium nicht die Mimik und Gestik deranderen sehen kann, sollten ironischeund humorvolle Bemerkungen immerdementsprechend gekennzeichnetwerden – nur so lassen sich Missver-ständnisse vermeiden (Beispiel: „Ich mag Dich nicht ;-)“).

Außerdem ist zu bedenken, dass manin den sozialen Netzwerken mit sei-nem Account eine eigene Persönlich-keit darstellt, die von anderen Nut-zern wie eine „echte“ Person imwahren Leben wahrgenommen wer-den könnte. Das kann – positiv wienegativ – auf einen zurückfallen, dennjeder Mausklick hinterlässt Spuren.Die Zeiten, in denen man anonym imWeb unterwegs war, sind inzwischenvorbei: Alle Website-Besuche lassensich immer zurückverfolgen.

Wichtig ist es auch zu wissen, wieman bei Cyber-Mobbing-Attackenreagieren kann, z.B. dass man denNutzer blockiert und als BeweiseScreenshots macht, und sich darüberhinaus unbedingt Hilfe holt (sieheauch www.klicksafe.de).

Jugendliche im Netz 25

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4. GesetzlichesEs ist wichtig, sich an die geltendenGesetze zu halten – insbesonderesollte kein urheberrechtlich geschütz-tes Material verwendet und keine rassistischen oder pornografischen Inhalte verbreitet werden. Marken-schutzrechte und Persönlichkeits-rechte sind zu wahren.

5. Recht am eigenen BildSobald jemand deutlich auf einemBild zu erkennen ist, muss er vor Ver-öffentlichung zustimmen. KonkretesBeispiel: Ein Gesetzesverstoß liegtdann vor, wenn Fotos eines Mitschü-lers, Lehrers oder Elternteils ins Netzgestellt werden, ohne dass die betref-fenden Personen zugestimmt haben.Gleiches gilt auch für gepostete Videos, die mit urheberrechtlich geschützter Musik untermalt sind.

Besondere Vorsicht ist zudem beimUmgang mit eigenen Bildern intimerArt geboten, wie z.B. deren Versandper MMS, WhatsApp oder Ähnlichem(sog. „Sexting“), da die Gefahr desMissbrauchs sehr hoch ist.

6. Aus Fehlern kann man lernenFalls einem im Umgang mit Facebook& Co. einmal ein Fehler unterläuft, istes am besten, dazu zu stehen und dasMissverständnis so schnell wie mög-lich zu beseitigen.

Wenn man bei der Formulierung von Beiträgen oder Kommentaren unsicher ist, fragt man lieber vor Ver-öffentlichung noch einmal Eltern oderLehrer – ebenso wie bei unsachlichen,bewusst negativen oder unpassendenBeiträgen anderer Nutzer auf eigenerWebsite, Pinnwand oder dem Blog.

“Be professional, kind, discreet, au-thentic. Represent us well. Rememberthat you can’t control it once you hit‘update‘.” (Twitter-taugliche Social-Media-Policy in 140 Zeichen. Quelle:www.gruntledemployees.com)

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Medien als Bildungsträger 27

Wenn die Wirkungen der Mediennut-zung thematisiert werden, geht es inder Regel um die Wirkungen auf denKonsumenten. Deutlich weniger inden Blick genommen wurden bislangdie Wirkungen auf den Produzenten,insbesondere den jugendlichen Her-steller von Medieninhalten.

Die Wirkungsfrage erscheint in bei-derlei Hinsicht in einem deutlich an-deren Licht, wenn man im wahrstenSinne des Wortes die Seite wechselt.

Ganz gleich, ob Schüler für einen Artikel in der Schülerzeitung recher-chieren, für eine Sendung im Lokal-radio oder ob sie einen Filmbeitragdrehen, sie befinden sich von Beginnan in einem komplexen Beziehungs-geflecht von Außenwelt, eigenem Interesse und Publikum.

Eine Radiosendung, die sich niemandanhört, und der Film, den sich keineranschaut, verlieren ihren Sinn. DieVernetzung mit den sozialen Medienergibt eine vielfältige Wahrnehmungder Reaktionen des Publikums. Nichtnur Kommentare von YouTube-Nut-zern, sondern sogar auch sekundenge-naue Analyse der „views“: an welcherStelle haben die Betrachter das Inte-resse verloren, welche Passage wurdeoft wiederholt angeschaut, in welchenLändern, von welcher Altersgruppewurde mein Film gesehen?

In den ersten Kapiteln wurde deutlichgemacht, dass in der Kindheit die in-

direkte Medienerziehung, insbeson-dere in der Form der Abstinenz, eineganz wesentliche Rolle spielt. Wiekann nun die direkte Medienpäda-gogik in der Oberstufe konkret aus-sehen?

Drei Aspekte können dabei maßgebend sein:1. Aktiv gestaltenSo wie der Neuntklässler im Holzwer-ken Material und Bearbeitungstechni-ken nicht nur in der Theorie kennen-lernt, sondern durch das Werkstückselbst die Korrektur seiner Planungund seiner zielgerichteten Handlun-gen erfährt, so sollen die eigenen Erfahrungen in der Herstellung vonMedieninhalten Basis für Erkennt-nisse sein.

2. Urteilsfähigkeit herstellenAuf diese Weise, selbstverständlichergänzt durch die entsprechendentheoretischen Kenntnisse, können dieJugendlichen urteilsfähig werden undsind nicht darauf angewiesen, Urteileder Erwachsenen zu übernehmen.

3. Zugang zur Welt gestaltenElektronische Medien können einenZugang zur Welt und zu den Men-schen vermitteln, der in Kenntnis derWirkungsweise mit reflektiertem Inte-resse und Intentionen gestaltet ist undsich vom analogen Zugang deutlichunterscheidet. So kann beispielsweisedie Erfahrung, einen (Spiel-)Film zuproduzieren, sehr aufschlussreiche

Medien als BildungsträgerFranz Glaw

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Erkenntnisse vermitteln, wenn mansie mit den Erfahrungen bei der Erarbeitung und Aufführung einesTheaterstücks vergleicht.

So wie wir in der Waldorfschule ausguten Gründen zunächst das Schrei-ben vor dem Lesen vermitteln (sieheSeite 18), so mag entsprechend auchhier gelten: Die reflektierte Produktionvon Inhalten in verschiedenenMe-dienformen gehört zum Bildungsauf-trag der Schule. Dabei kann der As-pekt der geringerwerdendenEigen-tätigkeit eine Richtschnur für die Rei-henfolge sein, sodass die Aufgaben-stellungen lauten könnten:

• Produktion einer Zeitung (Text)• Produktion einer Radiosendung (Ton)

• Produktion eines Film-/ TV-Beitrags (Bewegtbild)

Projekterfahrungen in der Oberstufe

Medienform Schrift: „Die eigene Sprache finden“Die Beschäftigung mit dem MediumSchrift muss sich in der Oberstufenicht allein auf die Rezeption undAnalyse von literarischen Textenoder Sachtexten beschränken. Siekann auch dem Ziel dienen, denSchüler auf der Suche nach der ihmeigenen Ausdrucksform zu unterstüt-zen. Die Poetik-Epoche in Klasse 10liefert dazu die Grundlagen, um Mög-

lichkeitenund Grenzensowie die Gesetzmäßig-

keiten der verschiedenen Textgattun-gen kennenzulernen. Auf dieser Basiskönnen die Schüler sich und die Wir-kung der eigenen Texte erproben,wobei es sehr hilfreich ist, wenn eseinen konkreten Auftrag und einenAdressaten gibt, wenn also nicht nurder Lehrer den Text zum Zweck derBewertung liest.

Eine sehr gute Möglichkeit dazu gibtes, wenn an der Schule eine Schüler-zeitung existiert oder wenn eineKlasse oder eine Schülergruppe zueinem bestimmten Anlass eine Zei-tung produziert.

An der Düsseldorfer Schule gründetdie 8. Klasse 1994 im Anschluss aneine „Zeitungswoche“ die Schülerzei-tung „Monolith“, die bis heute trotzmehrerer Generationswechsel weiterregelmäßig erscheint.

Als 2008 vom KultusministeriumNRW die gesetzlichen Regelungenzur Vergabe der mittleren Schulab-schlüsse geändert werden sollten, sahder Gesetzentwurf zunächst vor, dasses weder die Möglichkeit zur Anrech-nung von Vorleistungen noch dieChance auf eine Nachprüfung gebensollte. Neben anderen Formen desProtestes der Waldorfvertreter ergriffdas Redaktionsteam der „Monolith“

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Die Facebook-Seite der Schülerzeitung Monolith.

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Medien als Bildungsträger 29

die Initiative, recherchierte sorgfältigdie Fragen der Waldorflehrerausbil-dung vor Ort in Witten-Annen, stu-dierte die Gesetzeslage, befragteExperten, nahm an Plenarsitzungendes Landtags und an Sitzungen desSchulausschusses teil und bat schließ-lich alle bildungspolitischen Sprecherder im Landtag vertretenen Parteienzum ausführlichen Interview, welchesin einer Sonderausgabe der Schüler-zeitung erscheinen sollte. Gut gerüstetfanden dann im Landtag sehr umfas-sende Interviews statt, die einigenPolitikern die Grenzen ihrer Fach-kenntnisse aufzeigten, was diese auchanstandslos eingestanden. Die Vertre-ter der Oppositionsparteien fandensogar den Weg in die DüsseldorferSchule und nahmen an den Präsenta-tionen und Kolloquien zu den Jahres-arbeiten teil. Nach einer weiterenDebatte im Plenum des Landtagswurde schließlich der Gesetzentwurfdahingehend verändert, dass derFachlehrer eine Erwartungsnote gibtund dass die Möglichkeit zur Nach-prüfung eingeräumt wird. Zu Rechtwaren die Redakteure anschließendstolz auf ihren Anteil am Erfolg aufder politischen Bühne.

Medienform Ton: „Mein Bild von der Welt“Im Rahmen einer Projektwoche bildete sich eine Gruppe von Schüle-rinnen der 9. Klasse, die unter dem

Eindruck ihres Landwirtschaftprakti-kums eine Radiosendung produzie-ren wollten. Dabei sollten die Themen„Massentierhaltung“, „Biofleisch“und „Vegetarismus“ behandelt wer-den. Die erste Station der Recherchewar der Bioladen auf dem Schulge-lände. Hier stellten die Nachwuchsre-porterinnen die vorbereiteten Fragensowohl den Kunden alsauch der Inhaberin. Soerfuhren sie, dass dasFleisch, das hier ver-kauft wird, von derBiometzgerei Jansen in Köln geliefert wird.Unverzüglich folgte einTelefonat mit charmanterÜberzeugungskraft, und am nächstenTag erhielten wir eine exklusive Füh-rung durch den Betrieb vom Chef persönlich, der mit viel Humor sowiekölschem Temperament und Zungen-schlag von seiner 30-jährigen Tätig-keit als Bio-Metzger berichtete. Inter-views mit Kunden, die Geräuschku-lisse im Verkaufsraum samt Glöck-chen an der Tür und vor allem dasmarkante Lachen Marke Jansen lie-ferte uns knapp 2 Stunden lebendigesTonmaterial. Zudem bekamen wir von Herrn Jansen auch die Adressefür den nächsten Ort der Recherche:der Bio-Bauernhof, auf dem die Tiereleben, bevor sie geschlachtet und inHälften zerlegt die Metzgerei errei-chen. Wieder bewirkt die Argumen-tationskette Landwirtschaftsprakti-

Herr Jansen von der Biometzgerei

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kum–Projektwoche–Radiosendung ein kleines Wunder und verschafft uns am folgenden Tag einen umfassendenEinblick in die artgemäße und ge-sunde Tierhaltung, wobei der Land-wirt und Betriebsinhaber auf alle Fragen geduldig und geradezu philo-sophisch eingeht. Am vierten Tagwird das Material abgehört und ver-wendbare Soundclips werden heraus-geschnitten und gespeichert. Außer-dem führt eine Gruppe noch Inter-views auf einer belebten Einkaufs-straße mit Kunden einer konven-tionellen Metzgerei und eines Bioladens.

Wie bei allen anderen Interviewpart-nern zeigt sich auch hier, dass dieÄngste und Sorgen der 14-Jährigengänzlich unbegründet sind: Alle An-gesprochenen reagieren freundlichund geben bereitwillig Auskunft. Und ob es an dem Equipment liegt(Aufnahmegerät, Kopfhörer, Mikro-fon) oder an der Fachkompetenz derFragensteller: Die Interviewpartnerbehandeln die Nachwuchsreporterin-nen geradezu mit großem Respekt,was deren Selbstbewusstsein stärktund sie fast äußerlich sichtbar wach-sen lässt.

Schon an dieser Stelle zeigte sich,dass das Medium Radio den Schüle-rinnen Zugänge zu Orten, Themenund vor allem auch zu Menschen ver-schaffte, die ihnen ohne dieses Me-dium kaum offen gestanden hätten.

Wirklichkeit gestaltenEine weitere ganz neue und wesent-liche Erfahrung stand an, als es nundaranging, aus dem knapp 5-stündi-gen Tonmaterial eine Radiosendungzu gestalten. Zunächst war unmittel-bar klar, dass man dem Hörer nichtdiese 5 Stunden komplett und unkom-mentiert zumuten konnte. Es musstealso vor allem eine radikale Auswahlgetroffen werden. Dann galt es, Kom-mentartexte zu verfassen und fehler-frei und verständlich im Tonstudioeinzusprechen. Dabei benötigten dieSchülerinnen sprachliches Geschickund Einfallsreichtum, um dem Hörerdas vor Augen zu führen, was er na-turgemäß nicht selbst sehen kann. Als Anfangssequenz sollte eine Szeneim Verkaufsraum der Metzgerei Jan-sen zusammengeschnitten werden.Wir mischten dazu auf verschiedenen Tonspuren das heruntergepegelteGespräch zwischen Kunden undVerkäuferin an der Ladentheke,Gespräche von wartenden Kunden(sogenannte „Atmo“), das Lachenvon Herrn Jansen, das mehrfach plat-zierte Klingeln des Türglöckchens undschließlich den darübergesprochenen

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Eine gut ausgesteuerte Tonspur.

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Kommentartext, in dem erläutert wird,wo wir uns befinden und mit wem wirjetzt worüber sprechen werden.

Diese Montagetechnik löste bei eini-gen Schülerinnen großes Erstaunenund die Spontanäußerung „Aber dasist ja Manipulation!“ aus. Schnell waraber klar, dass ein Radiofeature imPrinzip so produziert werden muss.Eine ungefilterte und vollständigeWiedergabe der Realität ist schlech-terdings nicht möglich. Dazu müsstesich der Radiohörer nach vorbereiten-der Recherche selbst an die Produk-tionsorte begeben.

VerantwortungDer Produzent der Radiosendungmussalso auswählen, arrangieren undkom-mentieren – es geht gar nicht anders.Er präsentiert seine Sicht auf einenAus-schnitt derWirklichkeit und verwendetdazu in dieser Lebensvielfalt gesam-melte Eindrücke.Dabei hat er selbstver-ständlich eine Intention, braucht einKonzept, ohne das er gar keineKrite-rien für dieAuswahl hätte. Entschei-dend ist allerdings die Frage,wie ge-wissenhaft dieser Produzent arbeitetundwie unabhängig und aufrichtiger imHinblick auf die Intentionen ist.

Einen ganz entscheidendenUnter-schiedmacht es, obmandenSchülerndiese Tatsache abstrakt vermittelt, oderob sie sie durch eigenes Tun erleben.DurchdaseigeneProduzieren in einemrealenKontextwird ihnen einerseits

dieVerantwortungderMedienschaf-fendenbewusst und sie können ande-rerseits die eigeneMediennutzungeher in denZusammenhang einordnen,demdieMedieninhalte entnommensind, und sind so letztlich eher zu einerkritischenReflexion fähig.

Anerkennung der eigenen LeistungEinige Wochen später gab es danneinen Besuch im Tonstudio, in demeine einstündige Sendung zu unse-rem Thema produziert werden sollte.Zu Beginn des Projekts dachten dieSchülerinnen an einen Scherz, als ich von einer Sendung im Lokalfunksprach. Nun wurde es ernst und ent-sprechend groß war die Aufregung.Wir brachten ausgewählte O-Töneaus unserer Produktion mit und ant-worteten in wechselnden Besetzun-gen in der kleinen Tonkabine auf dieFragen der Moderatorin. Da es sichglücklicherweise nicht um eine Live-sendung handelte, konnte so mancherSchnitzer noch ausgebessert werden.

Ausgerechnet am Tag der Ausstrah-lung feierte der Großvater von zweiender beteiligten Schülerinnen seinenGeburtstag. Die ganze Geburtstags-gesellschaft lauschte der Radiosen-dung. Am nächsten Tag gab es auchvon Schulkameraden aus der 13.Klasse ein großes Kompliment. Siehatten zufällig die Anmoderation derSendung gehört und blieben bis zumEnde am Empfänger.

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Medienform Bewegtbild: „Die eigeneAusdrucksform finden“Unsere Formen der Kommunikationund auch der Informationsbeschaf-fung haben sich durch die Entwick-lung der elektronischen Medien radikal verändert und werden esauch weiterhin tun.

Zu den veränderten Formen der Kom-munikation gehört auch die Tatsache,dass wir über das Smartphone jeder-zeit auf bewegte Bilder zugreifen kön-nen. Die Informationssuche über You-Tube hat zwischenzeitlich die Sucheper Suchmaschine überholt. Zu allenFragen des praktischen Lebens findensich Tutorials bei YouTube, wobei dieZahl der hochgeladenen Inhalte ra-sant wächst. Zum achten Geburtstagvon YouTube im Februar 2013 warenes bereits 100 Stunden neues Film-material, das pro Minute neu auf derPlattform verfügbar wird.

Die Sprache der bewegten Bilder istalso als eine wirkungsmächtige Formder Kommunikation vorhanden, dererwir uns intensiv bedienen. Und dieseSprache hat ihre ganz eigene Struk-tur, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten.Und diese Sprache muss ich erlernen,wenn ich mich bewusst und selbst-

ständig ihrer bedienen will. Nicht zu-letzt auch, um gegenüber Täuschungund Manipulation ein wenig mehr ge-feit zu sein. „Man muss sich den digi-talen Medien als Herr gegenüberstel-len, sonst gerät man unter ihre Knecht-schaft.“ (A. Neider, Medienbalance)

Und so wie es im Mittelalter nur weni-gen Privilegierten vorbehalten war,die Schriftsprache zu erlernen undsich ihrer zu bedienen, so war es bisvor einigen Jahren so, dass nur we-nige Menschen die Möglichkeit be-kamen, sich im Medium des Films anein breites Publikum zu wenden, ihreGedanken und Visionen in künstleri-scher Form zu produzieren und zupräsentieren. Heute hat es die Ent-wicklung der Technik mit hochwerti-gen Kameras schon in Smartphones inVerbindung mit kostenloser Softwareund Videoportalen wie YouTube mög-lich gemacht, dass jedermann Dreh-buchautor, Kameramann, Darsteller,Cutter und Filmproduzent werden undin besonderen Fällen damit sogar sei-nen Lebensunterhalt verdienen kann.

Für die Art und Weise, wie ich Inhalteaufnehme und vor allem auch wie ich sie beurteile, spielt nicht nur dieFrage, was ich sehe, eine Rolle, son-dern auch, wie es präsentiert wird.Dazu gehören schon bei der Aufnah-me Einstellungsgröße, Einstellungs-dauer, Kamerastandpunkt, Kamera-bewegungen, Zoom sowie Beleuch-

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tung bzw. Farbtemperatur. Entschei-denden Einfluss hat dann die Schnitt-technik bei der Postproduktion, woBilder, die zu verschiedenen Zeitenund an verschiedenen Orten aufge-zeichnet wurden, gemeinsam mit Tonmaterial aus unterschiedlichstenQuellen zu einem neuen Ganzen mon-tiert werden. Bei gleichem Ausgangs-material lassen sich so völlig unter-schiedliche Wirkungen erzeugen.

Und wir stellen fest, dass vor allemdie junge Generation begeistert von diesen Möglichkeiten Gebrauchmacht. Aber auch mehr und mehrWaldorfschulen betreiben ihren eige-nen YouTube-Kanal, gewissermaßenihren eigenen Fernsehsender. Seit 2012 ist auch der Bund der FreienWaldorfschulen unter „waldorfschu-len“ hier vertreten und veröffentlichteigene Filme.

Wenn man sich allerdings die Ergeb-nisse anschaut, so bemerkt man nocheinen großen Dilettantismus, ein filmi-sches Stammeln und unbeholfenesStottern. Rudolf Steiner forderte sei-nerzeit bei Gründung der Waldorf-schule exemplarisch, dass den Schü-lern das Prinzip des Elektromotorsverständlich gemacht werden muss,weil sie ja auch die Straßenbahn be-nutzen. Entsprechend gilt heute, dassdie Vermittlung eines grundlegendenVerständnisses der Filmsprache zuden allgemeinbildenden Aufgaben

der Schule gehört. Und zwar am bes-ten nicht nur in Form von Analysen,sondern auch durch reflektiertes undwiederholtes eigenes Tun. Da kann esbeispielsweise ungemein erhellendsein, wenn verschiedene Schülergrup-pen aus dem gleichen Rohmaterial,dem Footage, in der Postproduktionganz unterschiedliche Filme schnei-den. Danach muss ihnen niemandmehr erklären, dass die filmische Realität sich zwar der Bilder aus derwahrgenommenen Wirklichkeit be-dient, daraus aber eine ganz neue, bewusst und auch künstlerisch gestal-tete Wirklichkeit schafft, bei der Far-ben, Bildkomposition, Perspektive,Schnitttechnik und viele Dinge mehrfür die Wirkung auf den Betrachterentscheidend sind.

So kann eine Schulung auf diesemGebiet den Schülern nicht nur dieMöglichkeit eröffnen, sich dieses Mediums bewusster und erfolgrei-cher zu bedienen, sodass sie sich auch verständlich artikulieren kön-nen. Gleichzeitig erhöht sich auch derGenuss, den man bei gut gemachtenWerken der Filmkunst erleben kann.

Es gibt natürlich Voraussetzungendafür, dass man die entsprechendenKenntnisse und Fähigkeiten erfolg-reich vermitteln kann. In erster Liniekommt es dabei entscheidend auf dieReihenfolge an. Pädagogisch kann einzu früher Einsatz geradezu kontrapro-

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duktiv sein. Wenn ich nie malend oderzeichnend ein Bild mit eigener Handzu Papier gebracht habe, wenn mir dieBildwerke bedeutender Künstlergänzlich unbekannt sind und ich auchin der Fotografie, also beim unbeweg-ten Bild, keine Erfahrungen sammelnkonnte, wird mein Ausdrucksvermö-gen als Kameramann oder Regisseursehr eingeschränkt und vor allemweitgehend unbewusst bleiben. DieEntwicklung von Fantasie und Kreati-vität, die Beherrschung der Feinmoto-rik und auch eine verfeinerte Sinnes-wahrnehmung sind Fähigkeiten, diesich stufenweise entwickeln und dieder eigenen körpergebundenen Erfah-rung bedürfen. In der Pädagogik derWaldorfschule orientieren sich Unter-richtsinhalte, Methodik und Didaktikam Lebensalter der Schüler. Hierbeigilt der Grundsatz: erst sollten dieSchüler die entsprechenden Erfah -rungen direkt und nicht durch ein Medium vermittelt machen, bevor sie medial verwandelt und gefiltertpräsentiert und produziert werden.

Die Schüler sollen also befähigt werden, auf der Grundlage eigenerKenntnisse und praktischer Erfahrun-gen kreativ und verantwortungsvolldiese kulturellen und gesellschaft-lichen Bereiche mitzugestalten, stattsich weitgehend unmündig an Ent-wicklungen in Technik und Wissen-schaft (Gesellschaft) anzupassen.

An manchen Schulen haben sichVideo-AGs etabliert, von denenSchulereignisse dokumentiert wer-den und die eigene Filmprojekte realisieren. Im Kunstunterricht bietetes sich an, die ästhetischen Aspekte betrachtend und produzierend in den Blick zu nehmen. Im Deutsch-unterricht werden vielleicht Literatur-verfilmungen analysiert. Aber genauso, wie sich etwa im Werkunterrichterst dann Eigenschaften des Materialsund Zusammenhänge der verschiede-nen Bearbeitungs- und Verbindungs-techniken erschließen, so durchschautman erst durch die eigene Produktiondie Funktion und Wirkungsweisen der deutlich komplexeren bild- undtongebenden Medien.

Die neuen Informations-Technolo-gien und Medien können wir als eine weitere Entwicklungsstufe desMenschen verstehen und wir sindaufgefordert, sie in unseren Dienst zu stellen, um uns nicht von ihnen beherrschen und uns unserer Mensch-lichkeit berauben zu lassen.

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YouTube-Kanalvom Bund derFreien Waldorf-schulen

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Allein in Deutschland wurden 2012rund 58 Milliarden SMS versendet,1

weltweit waren es rund 7 Billionen;für 2016 erwartet man 9,4 BillionenKurznachrichten.2 Die über Mobil-funk erfolgten Telefonate umfasstenim Jahr 2012 in Deutschland 107 Mil-liarden Minuten,3 umgerechnet etwa204.000 Jahre. Die Datenmengen, dievom Internet auf Mobilfunkgeräte heruntergeladen wurden, erhöhtensich 2011 auf 93 Millionen GB,4 mitsteigender Tendenz.

Das sind Zahlen, die zeigen, wie großder zeitliche Umfang ist, den Men-schen den kleinen Geräten widmen,die in ihren Jackentaschen zu Hausesind. Das verändert das menschlicheVerhalten. 2012 veröffentlichte derJournalist Christoph Koch ein Buch,das binnen Kurzem zum Bestselleravancierte und nichts anderes zum Inhalt hatte als eine Beschreibungdessen, was man erlebt, wenn manvier Wochen auf Internet und Handyverzichtet.5 Aber nicht nur Koch be-schrieb deutliche Veränderungen seines Verhaltens durch die intensiveNutzung von Internet und Handy;viele andere Autoren bestätigten ihn.6

Einhellig beklagten sie ebenfalls, dasssie ihre Fähigkeit einbüßten, sich län-gere Zeit auf etwas konzentrieren zukönnen. Sie beschrieben einstimmig,dass ihre Aufmerksamkeit zerstreutwar. Ein Wissenschaftler stellte fest,dass ihm die Fähigkeit verloren ging,

„große tiefe Gedanken zu denken“.7

Aber wir verlieren nicht nur die Fähigkeit, konzentriert zu denken,sondern auch mit anderen Menschensinnvoll zu kommunizieren. Die Beob-achtung eines amerikanischen Hoch-schullehrers verdeutlicht das:

„Am Ende meiner College-Vorlesun-gen klappen die Studenten sofort ihreHandys auf und schauen nach Anru-fen und Textnachrichten. In der Cafe-teria beobachte ich die Studenten, diein Schlangen stehen und Botschaftenschreiben, während sie ihre Mitstu-denten, die einen halben Meter ent-fernt stehen, nicht beachten. Einesspäten Nachmittags bemerkte ichsechs Studenten, die beim Telefonie-ren einen Korridor hinauf- und herun-terwandeln und irgendwie Zusam-menstöße vermeiden wie Schiffe aufnächtlicher Kreuzfahrt, verloren imNebel des Gesprächs … Eine Studen-tin berichtete per E-Mail über ein‚Computerdate‘ am Samstagabend,ohne dass sie dabei ihr Zimmer ver-lassen hätte. Paradoxerweise warendiese Studenten sowohl sozial enga-giert als auch sozial isoliert.“8

Diese Beobachtungen stehen stell-vertretend für viele andere: In einerSchule sind die Eltern zum Eltern-nachmittag eingeladen. Während dieKinder den Eltern freudig ihr neuesKönnen zeigen, sind sechs oder sie-ben Väter mit ihrem Smartphone be-schäftigt. Die Väter sind zwar leiblich

Selbsterziehung der ErwachsenenProf. Dr. Edwin Hübner

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anwesend, aber seelisch abwesend.Mobilfunktechnologie erzieht uns zu„abwesender Anwesenheit“. In den1990er-Jahren versprach uns die Wer-bung der Mobilfunkindustrie eine„grenzenlose Kommunikation“. Heutekann sich tatsächlich jeder Menschmit jedem anderen zu jeder Tages-und Nachtzeit und an jedem Ort derWelt per Telefon unterhalten. Diesemgrandiosen technischen Erreichnissteht die Tatsache gegenüber, dassdie reale Kommunikation im Hier undJetzt zurückgeht. Aufmerksame Beob-achter stellen fest, dass das unmittel-bare menschliche Gespräch sich zu-gunsten der Kommunikation übertechnische Netze verringert. Seit Mobilfunk und Internet alltäglich geworden sind, ist diese Erosion desdirekten menschlichen Gesprächs zugunsten der virtuellen Kontakte zu beobachten.9

Es kann sich nicht darum handeln, Internet und Handy wieder abschaf-fen zu wollen – das wäre, wie RudolfSteiner bezüglich der Technik seinerZeit schon richtig feststellte, reaktio-när –, sondern nur darum, auf kriti-sche Aspekte aufmerksam zu machen,damit individuelle Gegengewichtegeschaffen werden können. Wir müs-sen lernen, der Überwältigung unse-res Alltags durch Mobilfunk, Internet,Radio, TV usw. Zeiten der innerenRuhe entgegenzusetzen. Man mussnicht auf die Vorteile der Kommunika-

tionstechnologien verzichten, aberzum kompetenten Umgang mit ihnenkönnen doch einige Empfehlungengegeben werden, die man durchausergänzen kann:

• Zeiten einrichten, in denen Internetund Handy ruhen. Wenigsten einTag in der Woche sollte „bildschirm-frei“ und „netzfrei“ sein. In Familienmit Kindern könnte beispielsweisedas Motto herrschen: „Sonntags ge-hören Mama und Papa mir!“

• In der Wohnung oder im Haus tech-nikfreie Räume einrichten, wenigs-tens das Schlafzimmer sollte ohneTV, Computer, Telefon, Handy usw.sein.

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• Bei den gemeinsamen Mahlzeitensollten alle Geräte ausgeschaltetsein.

• Darauf achten, dass Gesprächenicht durch das Klingeln des eige-nen Handys oder gar zwischenge-schobene Telefonate unterbrochenwerden. Man kann auch anderehöflich darauf hinweisen, dass manes nicht gut findet, wenn das Ge-spräch durch Anrufe unterbrochenwird.

• E-Mails sind praktisch, sie könnenaber auch eine enorme Quelle derAblenkung sein. Deshalb: den Ar-beitstag nie mit dem Abrufen der E-Mails, sondern zuerst mit den eige-

nen Arbeitsvorhaben beginnen. Erstwenn man die wichtigen eigenenArbeiten erledigt hat, sollte man dieE-Mails abrufen und bearbeiten.

• Das E-Mail-Konto nicht dauerndüberprüfen, sondern nur zu selbstfestgelegten Zeiten.

• Wenn man sich gerne zeitlich imNetz verzettelt – einen Wecker stellen.

Der amerikanische Kommunikations-experte Howard Rheingold weist da-rauf hin, dass digitale Medien undNetzwerke nur dann sinnvoll einge-setzt werden können, wenn man be-stimmte Fähigkeiten ausbildet undweiter pflegt. Dazu gehört in erster

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Linie die Basisfähigkeit der Aufmerk-samkeit. Die Schulung der Aufmerk-samkeit setzt geistige Disziplin vo-raus, die es erlaubt, die digitalen„Denkwerkzeuge“ zu gebrauchen,ohne die Konzentration zu verlieren.10

Diese geistige Disziplin kann aber nurin medienfreien Zeiten und Räumeneingeübt werden. Eine tägliche kon-zentrierte und kontinuierlich ge-pflegte Meditationsarbeit ist eineMöglichkeit, die innere Disziplin zuschulen. Wesentlich ist, Zeiten undOrte einzurichten, wo man sich mitDingen beschäftigt, die einen Aus-gleich zu der drängenden Hektik derKommunikationstechnologien bilden.Erst das stärkt die innere Souveränitätim alltäglichen Umgang mit Internetund Mobilfunk. Diese Souveränitätden Kindern vorleben zu können,trägt mehr zur Entwicklung der Me-dienmündigkeit der Kinder bei alsviele mündliche Unterweisungen.11

Denn, wie schon Karl Valentin sagte:„Wir können unsere Kinder erziehen,wie wir wollen, … am Ende machensie uns doch alles nach.“

1) http://de.statista.com/statistik/daten/studie/3624/umfrage/entwicklung-der-anzahl-gesendeter-sms-mms-nachrichten-seit-1999/ 2) http://blogs.informatandm.com/6454/media-alert-happy-20th-birthday-to-the-sms/ 3) Bundesnetzagentur Jahresbericht 2011, S. 87,http://www.bundesnetzagentur.de/4) Bundesnetzagentur Jahresbericht 2011, S. 87,http://www.bundesnetzagentur.de/ 5) Christoph Koch, Ich bin dann mal offline: Ein Selbstver-such. Leben ohne Internet und Handy, München 20126) Nicolas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin ... und wasmacht mein Gehirn solange? – Wie das Internet unser Denken verändert, München 2010; Alex Rühle, Ohne Netz:Mein halbes Jahr offline, München 2010; William Powers,Einfach abschalten: Gut leben in der digitalen Welt, Mün-chen 2011, John Brockman, Wie hat das Internet Ihr Denkenverändert?: Die führenden Köpfe unserer Zeit über das digitale Dasein, Frankfurt/M. 20117) Paul Kedrosky in Brockman 2012, Seite 918) Robert Provine in Brockman 2011, Seite 242 9) Sherry Turkle, Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern, München 2012; Franziska Kühne, Keine E-Mail für Dich. Warum wir trotz Facebook & Co. vereinsamen. Aus dem Alltag einer Therapeutin, Köln 201210) Howard Rheingold in Brockman 2011, S. 202 ff.11) Siehe dazu auch das empfehlenswerte Buch von Valentin Wember: Willenserziehung, 60 pädagogische Angaben Rudolf Steiners, Tübingen 2014

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„Wahrscheinlich entstehtam Bildschirm eine an-dere Art von Denken alsin einer Bibliothek. Siekann aber genauso kom-plex sein, und sie kannKreativität schulen unddie Fähigkeit zu Team-arbeit.“

Cornelia Funke*auf dieFrage, ob sie nicht meine,dass Kinder durch Büchereine andere Kulturtechniklernen als durch den Umgang mit Computern.

* Cornelia Funke ist eine deutsche Kinder-und Jugendbuchautorin, deren fantastischeRomane international erfolgreich sind undmit einer Gesamtauflage von 20 MillionenBüchern in 37 Sprachen übersetzt wurden.

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LiteraturBleckmann, Paula (2012): Medienmündig.Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit demBildschirm umgehen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Hübner, Edwin (2015): Medien und Päda-gogik. Gesichtspunkte zum Verständnisder Medien. Grundlagen einer anthroposo-phisch-anthropologischen Medienpädago-gik, Stuttgart: edition waldorf.

Kullak-Ublick, Henning; Arbeitskreis Me-dienmündigkeit und Waldorfpädagogik imBund der Freien Waldorfschulen e.V., inKooperation mit der Aktion mündigeSchule e.V. (Hrsg.) (2015): Struwwelpeter2.0. Medienmündigkeit und Waldorfpäda-gogik, http://www.waldorf-resources.org/fileadmin/files/teaching-practice/Media/Medienbroschuere_Struwwelpeter_2.0.pdf

Lembke, Gerald; Leipner, Ingo (2015): DieLüge der digitalen Bildung. Warum unsereKinder das Lernen verlernen. München:Redline.

Markowetz, Alexander (2015): DigitalerBurnout. Warum unsere permanenteSmartphone-Nutzung gefährlich ist. Mün-chen: Droemer.

Möller, Christoph (Hrsg.) (2012): Internet-und Computersucht. Ein Praxisbuch fürTherapeuten, Pädagogen und Eltern. Stutt-gart: Kohlhammer.

Mößle, Thomas (2012): „dick, dumm, ab-hängig und gewalttätig?“ ProblematischeMediennutzungsmuster und ihre Folgenim Kindesalter (Interdisziplinare Beitragezur kriminologischen Forschung). Baden-Baden: Nomos.

Mößle, Thomas; Kleimann, Matthias; Reh-bein, Florian (2007): Bildschirmmedien imAlltag von Kindern und Jugendlichen. Pro-blematische Mediennutzungsmuster undihr Zusammenhang mit Schulleistungenund Aggressivität. Baden-Baden: Nomos.

Rehbein, Florian; Kleimann, Matthias;Mößle, Thomas (2009): Computerspiel-

abhängigkeit im Kindes- und Jugendalter.Empirische Befunde zu Ursachen, Diag-nostik und Komorbiditäten unter besonde-rer Berücksichtigung spielimmanenter Abhängigkeitsmerkmale. KfN Forschungs-bericht Nr. 108.

Rosen, Larry (2013): Die digitale Falle.Treibt uns die Technologie in den Wahn-sinn? Heidelberg: Springer Spektrum.

Spitzer, Manfred (2013): Wischen – Segenoder Fluch. Nervenheilkunde 10/2013.

Spitzer, Manfred (2012): Digitale Demenz.Wie wir uns und unsere Kinder um denVerstand bringen. München: Droemer.

Spitzer, Manfred (2015): Cyberkrank! Wiedas digitalisierte Leben unsere Gesundheitruiniert. München: Droemer.

Turkle, Sherry (2012): Verloren unter 100Freunden. Wie wir in der digitalen Weltseelisch verkümmern. München: Riemann.

Hilfreiche Internetadressen

www.klicksafe.de

www.mediennutzungsvertrag.de

www.digitale-helden.de

www.rollenspielsucht.de

www.jugendschutz.net

www.irights.info

www.diagnose-funk.de

www.aerzte-und-mobilfunk.eu

www.kinderserver-info.de

www.fragfinn.de

www.blinde-kuh.de

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Blickpunkt-Herausgeber:Bund der Freien WaldorfschulenPresse- und ÖffentlichkeitsarbeitVerantwortlich: Henning Kullak-UblickKaiser-Wilhelm-Str. 8920355 HamburgTel. 040 . 34107699-0, Fax [email protected]/waldorfschule

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Bund der FreienWaldorfschulen

Media competency and Waldorf education

Shockheaded Peter

Stuwwelpeter 2.0Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik

Stuwwelpeter 2.0 englischMedia competency andWaldorf education

Stuwwelpeter 2.1Ein Leitfaden für Elterndurch den Medien-Dschungel

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Fürs Leben lernenInformationen über die Waldorfschule

Struwwelpeter 2.0Medienmündigkeit

und Waldorfpädagogik

Bund der FreienWaldorfschulen

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Blickpunktist eine Publikation, die in unregelmäßigen Abständenkurz und knapp über Waldorf-schulen und Waldorfpäda-gogik Auskunft gibt.

Bisher erschienen:

Blickpunkt 1: Was bedeutetWaldorfschule? Eine Orientie-rung

Blickpunkt 2: Die Wissenschaft-lichkeit der Lehrerbildung anWaldorfschulen

Blickpunkt 3: Lehrerbildung an Hochschulen und Semi-naren im Bund der FreienWaldorfschulen

Blickpunkt 4: Waldorflehrer werden – Bildung fürs Leben

Blickpunkt 5: Prüfungen undAbschlüsse an Waldorfschulen

Blickpunkt 6: Erlebnispädago-gik und Waldorfschulen

Blickpunkt 7: 21 Fragen – oderwas Sie schon immer über dieWaldorfschule wissen wollten ...

Blickpunkt 8: Waldorfpäda-gogik und Inklusion

Blickpunkt 9: Sieben Kern-forderungen an die Bildungs-politik

Blickpunkt 10: Salutogenese –gesundheitsfördernde Erzie-hung an Waldorfschulen

Bund der FreienWaldorfschulen

Die Wissenschaftlichkeitder Lehrerbildung an Waldorfschulen

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Lehrerbildung anHochschulen und Seminaren im Bund derFreien Waldorfschulen

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Was bedeutetWaldorfschule? Eine Orientierung

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Waldorflehrer werden – Bildung fürs Leben

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Bund der FreienWaldorfschulen

Prüfungen und Abschlüsse an Waldorfschulen

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Erlebnispädagogik und Waldorfschulen –mit allen Sinnen Menschwerden

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21 Fragen – oder wasSie schon immer überdie Waldorfschule wissen wollten ...

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Bund der FreienWaldorfschulen

Waldorfpädagogikund Inklusion

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Unternehmensformena

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Bund der FreienWaldorfschulen

Sieben Kernforderungen an die Bildungspolitik

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Was bedeutetWaldorfschule? Eine Orientierung

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Salutogenese –gesundheitsförderndeErziehung anWaldorfschulen

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Herausgeber:Henning Kullak-Ublick, Arbeitskreis Medienmündigkeit und Waldorf-pädagogik im Bund der Freien Waldorfschulen e.V. inKooperation mit der Aktion mündige Schule e.V.(www.freie-schule.de)Gestaltung und Produktion: Studio LierlFotos: Charlotte Fischer, Fotolia, Karl Lierl4. Ausgabe, Sommer 2017_2.500

Liebe Leserinnen und Leser_1

Klärung der Begriffe_3

Menschenkundliche Gesichtspunkte zur Medienpädagogik_6

Indirekte und direkte Medienpädagogik_10

Mediencurriculum_14

Klassenlehrerzeit_18

Jugendliche im Netz_24

Medien als Bildungsträger_27

Selbsterziehung der Erwachsenen_35

Literatur und Weblinks_40

Inhalt_Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik