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1 Suggestion oder Transposition? Zur Problematik einer „theologischen Transkription“ der „experimentellen Dogmatik“ Adrienne von Speyrs Thomas Krenski 1 Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen 1.1 Das geht weit, nicht wahr „In einem Konzert im Musiksaal, in welchem Clara Haskil das F-Dur Konzert spielte, habe ich ihn [Mozart] sogar visionär plötzlich dort vorne am Flügel gesehen, so konkret, dass mir fast die Tränen kamen. Das geht weit, nicht wahr – so weit, dass sogar Balthasar mit seinen mystischen Erfahrungen ehrfurchtsvoll lauschte, als ich es ihm erzählte“ 1 So kommt Karl Barth auf die mystischen Erfahrungen zu sprechen, mit denen sich sein Nachbar und Gesprächspartner Hans Urs von Balthasar im Basel der 40er, 50er und 60er durch die Ärztin Adrienne Kaegi-von Speyr konfrontiert sah. Er geht gewissermaßen in Vorlage, indem er zunächst eine mystische Erfahrung mitteilt, die er glaubte gemacht zu haben, um seine Vorbehalte oder eher seine Ratlosigkeit angesichts der mystischen „Elukubrationen“ 2 Adrienne Kaegi-von Speyrs wie nebenbei zum Ausdruck bringen zu können. Nun erfasste diese Irritation nicht nur die Basler Zeitgenossen, sondern auch Jahrzehnte später die, die seit den späten 1960er und vermehrt seit den 1970er Jahren versuchten, Balthasars Theologie universitär ins Spiel zu bringen. Sie empfanden Balthasars Selbstaussagen bezüglich seiner Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr als weitere Hürde, die sie zu den bereits bestehenden Hindernissen nicht noch zusätzlich zu überwinden sich in der Lage sahen. So schien es in dieser frühen Phase der Balthasar- Rezeption nur folgerichtig und taktisch einfühlsam zu sein, dass man Balthasars Hinweis auf Adrienne von Speyr überging. 3 Balthasar enttäuscht: „Niemand wollte sich kompromittieren“ 4 . Nicht so er selbst, der unmittelbar nach Adrienne von Speyrs Tod seinen so genannten „Ersten Blick auf Adrienne von Speyr“ veröffentlichte und darin erklärte, dass er „theologisch mehr von ihr erhalten [habe] als sie von mir“, so dass „ihr Werk weit wichtiger [scheint] als das meine“ 5 . Man erfuhr, dass die Basler Ärztin 1902 im schweizerischen Jura geboren wurde, dass sie sich seit ihrer Kindheit auf eigentümliche Weise auf der Suche nach Gott gewusst habe, von dem sie zeitlebens den Eindruck hatte, er 1 Karl Barth an Markus Barth 21.4.1956 (zitiert nach: Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texte. München 1986, 424). 2 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 37 (Nr51) 3 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit – Universaler Horizont: Weg und Werk Hans Urs von Balthasars. In: HerKorr 42 (1988) 427-429, 479. 4 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968, 10. 5 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968, 11.

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Suggestion oder Transposition? Zur Problematik einer „theologischen Transkription“

der „experimentellen Dogmatik“ Adrienne von Speyrs

Thomas Krenski 1 Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen 1.1 Das geht weit, nicht wahr

„In einem Konzert im Musiksaal, in welchem Clara Haskil das F-Dur Konzert spielte, habe ich ihn [Mozart] sogar visionär plötzlich dort vorne am Flügel gesehen, so konkret, dass mir fast die Tränen kamen. Das geht weit, nicht wahr – so weit, dass sogar Balthasar mit seinen mystischen Erfahrungen ehrfurchtsvoll lauschte, als ich es ihm erzählte“1

So kommt Karl Barth auf die mystischen Erfahrungen zu sprechen, mit denen sich sein

Nachbar und Gesprächspartner Hans Urs von Balthasar im Basel der 40er, 50er und 60er

durch die Ärztin Adrienne Kaegi-von Speyr konfrontiert sah. Er geht gewissermaßen in

Vorlage, indem er zunächst eine mystische Erfahrung mitteilt, die er glaubte gemacht zu

haben, um seine Vorbehalte oder eher seine Ratlosigkeit angesichts der mystischen

„Elukubrationen“2 Adrienne Kaegi-von Speyrs wie nebenbei zum Ausdruck bringen zu

können. Nun erfasste diese Irritation nicht nur die Basler Zeitgenossen, sondern auch

Jahrzehnte später die, die seit den späten 1960er und vermehrt seit den 1970er Jahren

versuchten, Balthasars Theologie universitär ins Spiel zu bringen. Sie empfanden

Balthasars Selbstaussagen bezüglich seiner Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr als

weitere Hürde, die sie zu den bereits bestehenden Hindernissen nicht noch zusätzlich zu

überwinden sich in der Lage sahen. So schien es in dieser frühen Phase der Balthasar-

Rezeption nur folgerichtig und taktisch einfühlsam zu sein, dass man Balthasars Hinweis

auf Adrienne von Speyr überging.3 Balthasar enttäuscht: „Niemand wollte sich

kompromittieren“4. Nicht so er selbst, der unmittelbar nach Adrienne von Speyrs Tod

seinen so genannten „Ersten Blick auf Adrienne von Speyr“ veröffentlichte und darin

erklärte, dass er „theologisch mehr von ihr erhalten [habe] als sie von mir“, so dass „ihr

Werk weit wichtiger [scheint] als das meine“5. Man erfuhr, dass die Basler Ärztin 1902 im

schweizerischen Jura geboren wurde, dass sie sich seit ihrer Kindheit auf eigentümliche

Weise auf der Suche nach Gott gewusst habe, von dem sie zeitlebens den Eindruck hatte, er

1 Karl Barth an Markus Barth 21.4.1956 (zitiert nach: Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texte. München 1986, 424). 2 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 37 (Nr51) 3 Werner Löser, Unangefochtene Kirchlichkeit – Universaler Horizont: Weg und Werk Hans Urs von Balthasars. In: HerKorr 42 (1988) 427-429, 479. 4 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968, 10. 5 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968, 11.

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müsse ganz anders sein; dass sie nach dem frühen Tod des Vaters und krankheitsbedingten

Aufenthalten in diversen Sanatorien mit Mutter und Geschwistern in Basel lebte, sich

gegen den Willen der Mutter und ihres erziehungsberechtigten Onkels ihr Medizinstudium

erkämpfte; dass sie in erster Ehe mit dem Basler Ordinarius für Geschichte und

Schweizergeschichte Emil Dürr und nach dessen Tod mit seinem Schüler Werner Kaegi

verheiratet gewesen sei, sich als engagierte Ärztin innerhalb und außerhalb des Spitals

einen Namen gemacht und schließlich unter Balthasars Leitung 1940 konvertiert sei.6

Anschließend habe sich über sie ein unerhörter Strom der Gnade ergossen, der sie mit

Auditionen und Visionen förmlich überfallen habe. Die mutmaßliche

„Leichtgläubigkeit“7des großen Theologen gegenüber den visionären Erfahrungen der

weithin unbekannten Basler Ärztin hinterließ bei aufgeklärten Lesern Ratlosigkeit. Hans

Küng gibt in seinen Erinnerung zu wissen, dass sein Tübinger Kollege Joseph Ratzinger

nach der Lektüre des Buches ihm gegenüber erklärt habe, „jetzt sei es aber ‚aus mit

Balthasar’“8. Ein weiterer Aufschrei erfolgte, als Balthasar 1984 seine Bekenntnisschrift

„Unser Auftrag“ veröffentlichte. Und zwar mit dem Ziel, „zu verhindern, dass nach

meinem Tod der Versuch unternommen wird, mein Werk von dem Adriennes von Speyr zu

trennen“9. Kopfschütteln machte die Runde. Der für seine wohltuende Nüchternheit

bekannte Karl Lehmann10 äußerte sich dahin gehend, dass er sich frage, ob Balthasar sich

nicht doch besser auf die noch ausstehende Vollendung seiner Trilogie konzentrieren solle.

Um so mehr ist ihm der Mut zugute zu halten, uns Freiburger Studierenden in Person seines

Assistenten Wilhelm Maas bereits im Sommersemester 1983 für „Adrienne von Speyrs

experimentelle Dogmatik“11 interessiert zu haben. Demgegenüber verschärft Herbert

Vorgrimler seine Polemik. In seiner 2004 erschienenen Monographie „Karl Rahner.

Gotteserfahrung in Leben und Denken“ wirft er Balthasar vor „direkten Kontakt zum

‚Himmel’“ gesucht zu haben, der ihm durch Adrienne von Speyr gewährt worden sei. In

seinem zum 100.Geburtstag in den „Stimmen der Zeit“ erschienenen Beitrag zeigt er sich

6 Zur Biographie Adrienne von Speyrs: Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr. Einsiedeln 1968; Adrienne von Speyr, Aus meinem Leben. Fragmente einer Selbstbiographie. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1968; dies., Geheimnis der Jugend. Einsiedeln 1966; Elio Guerriero, Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie. Freiburg 1993, 129- 152. 223-228; Thomas Krenski, Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama. Mainz 1995, 129-132. 7 Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar. In: ders.: Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie. II Altenberge 1998 (MThA 49/2) 702-729, 711. 8 Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen. München 2002, 165. 9 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag. Bericht und Entwurf. Einsiedeln 1984, 11. 10 Zu Lehmanns Verhältnis zu Hans Urs von Balthasar: Thomas Krenski, Aus Opportunismus auf beiden Schultern getragen? Karl Lehmann im Gespräch mit Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. In: Weg und Weite FS für Karl Lehmann. Hrsg. von Albert Raffelt. Freiburg 2000, 387-401. 11 Hans Urs von Balthasar, Erster Blick auf Adrienne von Speyr 75.

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nicht nur darüber irritiert, dass Balthasar „durch Adrienne von Speyr (...) göttliche

Botschaften erlangt haben wolle.“12, sondern problematisiert die unterstellte Tatsache, dass

zentrale Inhalte seiner Theologie „auf der Basis von Privatoffenbarungen“13 entstanden

seien. Darin trifft er sich (ich unterstelle: ungewollt) mit traditionalistischen Autoren, die

den Kerngehalten der Theologie Hans Urs von Balthasars insofern die

erkenntnistheoretische Basis zu entziehen versuchen, als sie glauben machen, sie beruhten

einzig und allein auf den kirchlich nicht anerkannten und schon deshalb fragwürdigen Ein-

Sichten Adrienne von Speyrs. Der in dem fragwürdigen Blatt „Theologisches“

publizierende Luganeser Dogmatiker Manfred Hauke äußert in einem jüngst

veröffentlichten Beitrag die Erwartung, dass die von ihm ausgemachte „Zurückhaltung“14

der kirchlichen Autorität gegenüber Adrienne von Speyrs Visionen und der von Balthasar

geleisteten theologischen Transkription baldmöglichst einer „Zurückweisung weiche“15.

Grosso modo fordert man einen „Paradigmenwechsel in der Balthasar-Rezeption, die – und

hier, nur hier stimme ich zu - nicht weiterhin „Brisantes“16 umgehen dürfe.

1.2 Zwei in einem Ruf

Wer Studentenpfarrer ist, findet sich tagtäglich mit „Brisantem“ konfrontiert. Man begegnet

Menschen, die die „Gott oberhalb der verbrauchten Worte“17 suchen. So begegnete der 35

12 Herbert Vorgrimler, Karl Rahner. Gotteserfahrung in Leben und Denken. Darmstadt (Wiss.Buchg.) 2004, 125. 13 Herbert Vorgrimler, Hans Urs von Balthasar – 100 Jahre. In: Stimmen der Zeit (156) 2005, 521-532, 529. 14 Manfred Hauke (Auf den Spuren des Origenes. Über die Größe und die Grenze Hans Urs von Balthasar. In: Theologisches [35] 2005, 554-562, 562) macht diese Zurückhaltung an einer Bemerkung Johannes Pauls II. in seiner Ansprache anlässlich des 1985 in Rom stattgefundenen Symposiums über „Adrienne von Speyrs kirchliche Sendung“ fest. (Hans Urs von Balthasar / George Chantraine / Angelo Scola [Hgg.], Adrienne von Speyr und ihre kirchliche Sendung. 181): „In seiner Ansprache an die Teilnehmer des Symposions hielt sich der Heilige Vater freilich deutlich zurück und meinte: ‚Ich weiß, dass Sie im Rahmen dieser freundschaftlichen Begegnung von mir kein Urteil erwarten, das meine kirchliche Autorität beanspruchte’.“ (562) Er verschweigt freilich, dass dieses Symposium durch Johannes Paul II. selbst initiiert wurde, reist die Bemerkung des Papstes aus dem Zusammenhang und versäumt im Blick auf die Hans Urs von Balthasars Werk zu erwähnen, dass der damalige Joseph Kardinal Ratzinger als päpstlicher Delegat anlässlich der Beisetzung Balthasars erklärte: „Was der Papst mit dieser Geste der Anerkennung, ja der Verehrung ausdrücken wollte, bleibt gültig: Nicht mehr bloß einzelne und private, sondern die Kirche in ihrer amtlichen Verantwortung sagt es uns, dass er ein rechter Lehrer des Glaubens ist, ein Wegweiser zu den Quellen lebendiger Wasser – ein Zeuge des Wortes. (Joseph Kardinal Ratzinger, Ein Mann der Kirche . In: Walter Kasper / Karl Lehmann, (Hgg.). Hans Urs von Balthasar, Gestalt und Werk. Köln 1989, 349-354, 353. Dagegen erklärt David Berger: „Für die kirchlichen Verantwortungsträger kann es wohl kaum verkehrt sein, mit Lobreden auf Balthasar, die letztlich als Empfehlung, mindestens jedoch als Unbedenklichkeitserklärung angesehen werden können, zurückhaltend zu sein.“ (David Berger, Neben viel Licht auch Schatten. Eine Anfrage zu den Laudationes zum 100.Geburtstag von Hans Urs von Balthasar. www.stjosef.at/artikel/urs_von_balthasar_berger.htm 10.9.2005). 15 Manfred Hauke, Auf den Spuren des Origenes 562. 16 Michael Karger, „Glaubhaft ist nur die Liebe“. Eine Tagung der Katholischen Akademie in München zum hundertsten Geburtstag von Hans Urs von Balthasar. In: Deutsche Tagespost 12.07.2005. 17 Hans Urs von Balthasar / George Chantraine / Angelo Scola.(Hgg.): Die kirchliche Sendung Adrienne von

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jährige Studentenseelsorger Hans Urs von Balthasar im Sommer 1940 der Professorengattin

und Basler Ärztin Adrienne Kaegi-von Speyr. Sie trug sich seit Jahren mit dem Gedanken

zu konvertierten, war nach dem Unfalltod ihres ersten Gatten in eine lebensgeschichtliche

Sackgasse geraten18 und äußerte daher den Wunsch, sich mit einem katholischen

Geistlichen zu besprechen. Man nannte ihr den Namen des neuen Studentenseelsorgers.

Balthasar rief sie im Mai 1940 offensichtlich wenig begeistert an. Sie verabredeten auf den

xx.Mai seinen Besuch im Hause Kaegi am Basler Münsterplatz.19 Sie gewann nach ihrer

Konversion tiefe „Ein-Sichten“ in die Geheimnisse Gottes, die sie ihrem Beichtvater

weitergab. Ich will nicht auf die Akzeptanzprobleme20 eingehen, mit denen sowohl

Adrienne Kaegi-von Speyr als auch Hans Urs von Balthasar sich aufgrund der von da an

beginnenden Zusammenarbeit konfrontiert sahen. Hier ist nur von Bedeutung einen Blick

auf die Qualität dieser „Zusammenarbeit“ zu werfen. Während die Öffentlichkeit von

einem „übertriebenen Verhältnis“21 spricht und Adrienne Kaegi-von Speyrs Zustände für

„Illusionen“22, „Einbildungen“23 oder gar „Größenwahn“24 hält, erlebten die Betroffenen

ihr Miteinander als einen „Ort der Gemeinsamkeit, an dem sich Gottes Wille kundtut“25.

Mitte der 1940er Jahre erklärte Balthasar in der erst 1977 unter dem Titel „Christlicher

Stand“ veröffentlichten Meditation über die Gründe und Hintergründe der

Exerzitienbetrachtung vom Ruf Christi: „Wo es sich um ausgesprochen subjektive Aufträge handelt, wie in der Mystik, die doch nur dann als echt und wesentlich katholisch anzusehen ist, wenn die geschenkten

Speyrs 22. 18 Zur Biographie Dürrs: Felix Staehelin, Worte der Erinnerung an Prof. Dr. Emil Dürr. In: BZs (Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde) 33 (1954) 5-6; Andreas Amiet, (Hg.), Hermann Bächthold, Emil Dürr und der historische Zirkel Basel. Basel (Univ.Bibl.) 1“984. 19 „Als sie das erste Mal kamen, war alles sehr paradox. Im Mai hatten Sie mal angerufen. Ich: Ich freue mich, wenn Sie heute Abend kommen. Sie waren gekommen, obschon mein Mann fort war.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 275 / Nr. 2279). „Die erste Begegnung am Münsterplatz war wenig glücklich, das Gespräch stockend. A. begann von Aborten im Frauenspital zu reden, wozu ich nicht viel zu sagen wusste.“ - „Bei der zweiten Begegnung hatte ich Péguy gelesen und las eben Claudels ‚Soulier de Satin’. Ich nahm mir allen Mut zusammen und sagte: Ich weiß, dass ich katholisch werden sollte. Sie schienen nicht sonderlich interessiert.“ (Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III. Die späten Jahre. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1976, 275). 20 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 384 / Nr.1874; dies., Erde und Himmel I 162 / Nr.239. Ausdrücklich kommt Balthasar in seinem Abschiedsbrief an die Mitbrüder der Gesellschaft Jesu auf dieses Phänomen zu sprechen: „Einige Mitglieder der Gesellschaft Jesu haben gemeint – aus welchen Motiven will ich nicht prüfen – über meine Angelegenheit allerlei Anekdoten in Umlauf setzen zu sollen. Soweit diese zu mir drangen, kann ich nur sagen, dass sie gänzlich erfunden oder die Entstellung und Unkenntlichmachung wahrer Zusammenhänge sind, was ich jederzeit zu beweisen und zu bezeugen erbötig bin. Wer es mit der Wahrheit zu tun haben will, möge sich lieber einstweilen jeden Urteils enthalten, als auf das Gerede von Leuten zu achten (oder es gar noch zu verbreiten), welche Dinge zu wissen vorgeben, die sie in Wahrheit nicht kennen.“ (zitiert nach: Henri de Lubac, Meine Schriften im Rückblick. Freiburg 1996, 506. 21 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 146 / Nr.206. 22 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 98 / Nr.127 23 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 337 / Nr.707 24 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 414 / Nr.1923 25 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel H II 86 / Nr.1319.

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Erfahrungen und Zustände in die kirchliche Gemeinschaft hinein fruchtbar werden und sich nicht in sich selber erschöpfen, sorgt Gott für eine Zuordnung zwischen dem Schauenden und einem objektiv Auslegenden; er führt nicht selten die Berufenen paarweise so zusammen, dass sie nicht mehr zwei getrennte Berufene, sondern ‚zwei in einem Ruf’ sind. Solche Verbindungen können die gleiche Notwendigkeit und Dringlichkeit besitzen wie der Ruf selbst, und es kann von ihnen gelten, was von der natürlichen Verbindung durch Gott geschrieben steht: ‚Was Gott vereint hat, darf der Mensch nicht trennen’ (Mt 19,6).“26

Balthasar selbst beschreibt den komplementären Charakter der gemeinsamen Sendung,

indem er erklärt: „Mein Anteil an ihrer Theologie bestand vor allem darin, einen umfassenden theologischen Horizont bereitstellen zu können, um das Neue und Gültige ihrer Aussagen nicht zu verengen, zu verfälschen, sondern ihm den hinreichend weiten Platz einzuräumen, worin sie sich ausfalten kann. Mit einem bloßen Handbuchwissen wäre Adrienne von Speyrs Theologie nicht aufzufangen gewesen; es bedurfte einer Kenntnis der großen Tradition, um zu verstehen, dass das von ihr vorgetragene Orginelle in keinem Widerspruch zu dieser Überlieferung steht.“27 / „Ohne diese Wegbereiter wäre ich nicht fähig gewsen, die Diktate Adriennes von Speyr in der Exaktheit ihrer Einsichten wie in der fast unabsehbaren Vielfalt ihrer theologischen Durchblicke einigermaßen adäquat zu verstehen und wiederzugeben.“28

1.3 Keineswegs ‚Suggestion’ von meiner Seite

Wie aber begegnet er dem subkutan immer wieder erhobenen Vorwurf, er habe Adrienne

Inhalte unterschoben, die er bereits vor der Begegnung mit ihr favorisiert habe? So fragt

etwa der bereits zitierte Manfred Haucke, angesichts der Tatsache, daß Balthasar notierte,

daß Adrienne „sich bei Origenes wohl fühle“29 auf den ersten Blick verständlicher- und

berechtigter Weise: „Hat hier Adrienne ‚geschaut’, was dem Origenesfreund Balthasar

wohltat?“30 Balthasar notiert im Rückblick auf die „Zeit der großen Diktate“31, daß wenn

während der Lektüre der Werke Adriennes der Eindruck entstehen könne, daß das „purer

H.U.[von Balthasar]“32 sei, diese Vermutung durchaus zu Recht bestehe. Er selbst gebe

26 Hans Urs von Balthasar, Christlicher Stand. Einsiedeln 1977, 367. 27 Hans Urs von Balthasar, Prüfet alles, das Gute behaltet. Ein Gespräch mit Angelo Scola. Freiburg 2001, 88. 28 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 33. 29 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 39 / Nr.2071. In Kreuz und Hölle II. Auftragshöllen. Einsiedeln 1972 sieht Adrienne von Speyr Figuren der Theologiegeschichte, mit denen sie sich in einem Dialog weiß. Sie kann die Personen nicht benennen (Kreuz und Hölle II 420). 232Balthasar gibt ihr nach entsprechenden Schilderung den Namen. So für Origenes: II 56f.; 64 (Origenes: Es ist ganz falsch, einen in Bausch und Bogen zu verurteilen, weil er etwas behauptet, das man nicht anerkennen kann. Man müsste in der Wahrheit auch eine Mittellinie ziehen können. Man hat Origenes zu früh verurteilt, weil man es nicht verstanden hat, sich ihm anzupassen. Man sollte eine Sendung wie die des Origenes nicht einfach lahmlegen.“); 66 („Die Zwei [Origenes und Augustinus] machen immer Krach. Einen exegetischen Krach. Über die Hölle. Es gäbe doch heute wirklich Wichtigeres zu tun... Und sie behaupten, das käme daher, daß man sie nicht lese. Bei Origenes ist das sicher weahr. Wer kennt und liest noch die Väter? Man sollte die Väter mitsamt der patrisitischen Philosophie wieder zugänglich machen.“); 74 („Irgendwie betrachtet Origenes die Hölle als den Keller der Welt, das notwendige Untergeschoß, die Latrine usw.). Ähnliches könnte man für Maximus Confessor zeigen: Kreuz und Hölle II 67-68. 30 Manfred Haucke, Auf den Spuren des Origenes 559-560. 31 So der Untertitel von: Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II. 32 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 458 / Nr.1994.

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„gewisse Konturen“33 vor, die aber „nicht das Gesamtergebnis, sondern nur den Weg“34

beeinflussten. Andererseits bestreitet er, daß Adriennes Ein-Sichten „auf Suggestion

seinerseits beruhen können“35. Dafür spreche „die Originalität ihrer Theologie (meiner

bisherigen gegenüber)“36. Damit ist freilich nicht hinreichend die Vermutung widerlegt,

dass Balthasar ihr Gestalten, wie Irenäus, Origenes und Gregor von Nyssa, denen sein

besonderes Interesse bereits vor der Begegnung mit ihr galt „untergeschoben“ habe. Im

Gegenteil. Er selbst berichtet, dass er eine Liste von Namen aufgestellt habe, aus der einer

ausgewählt werde, um ihn Adrienne visionär zu zeigen. Während er einerseits das

Ineinander seines Interesses und ihrer Schau dahingehend kommentiert, dass er „durch die

Erfahrungen Adriennes [seine] Hauptinteressen an Irenäus, Origenes, Gregor von Nyssa,

Maximus Confessor fortgesetzt und die dort offen gebliebenen Fragen erfüllt oder in ihrer

Richtigkeit bestätigt“37 sieht, erklärt er andernorts enthusiastisch, dass Adriennes

theologische Themen, in seinen „Büchern vor 1940 keine Rolle spielen, so viele

Kirchenväter und andere Theologen ich auch studiert haben mochte.“38 Hier sind freilich

Zweifel angebracht. Insbesondere dann, wenn man ihn anderswo dahingehend

argumentieren hört, dass er das Idiom einer universalen Hoffnung auf die Erlösung der

gesamten Menschheit „lange vor [s]einer Begegnung mit Adrienne von Speyr“39 in den

Schriften der Väter gefunden habe. Und weiter hört man ihn nicht erst im Anschluß an

Adrienne von Speyr, sondern bereits in seiner germanistischen Doktorarbeit im Anschluß

an Lukács und Bloch von einer „sozialen“40 bzw. im Gefolge zunächst Schelers, dann aber

auch Berdjajews und Dostojewskis von einer „allgemeinen Eschatologie“41 sprechen. Es

wird sich zeigen, wie manches aus seinen patristischen, aber auch philologisch-

philosophischen Studien mit Adriennes Themen korrespondiert und Aussageformen oder

Konturen bereitstellt, die behilflich sein werden, das ihr Gezeigte einzuordnen und in

Einklang mit der Tradition zum Ausdruck zu bringen. Aufschlußreich scheint mir in

diesem Zusammenhang die auf 1975 zu datierende Bemerkung, er lege Wert darauf, dass er

in seinen „Büchern nicht einfach seine eigenen Einfälle wiedergegeben“, sondern übersetzt

33 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 458 / Nr. 1994. 34 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 458 / Nr. 1994. 35 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 52. 36 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 52. 37 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 81. 38 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 61. 39 Hans Urs von Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle / Apokatastasis. Freiburg 31999, 13. 40 Hans Urs von Balthasar, Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur. Zürich 1930 / Freiburg 21998, 224. 41 Hans Urs von Balthasar, Geschichte des eschatologischen Problems 224.

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habe, was Adrienne von Speyr in ihren Werken weniger ‚technisch’ niedergelegt“42 habe.

Er begreift sein Werk als „theologische Transkription des von ihr unmittelbar Erkannten“43.

Sein Charisma liege auf der Seite der technischen Fertigkeiten: „Die Gedanken sind völlig klar. Nur der sprachliche Ausdruck muß oft gesucht werden, Dann bittet mich A., einen Augenblick nicht zu schreiben, sondern erst zuzuhören: sie erklärt mir dann, vielleicht mit einigen Bildern und Gleichnissen die Sache, und ich schreibe dann einen zusammenhängenden Abschnitt, so treu als möglich nach diesen Schilderungen auf.“44 / „Meine Ausbildung sollte sich einst als ein nützliches Werkzeug für die Zusammenarbeit erweisen.“45

Dieses Selbstbekenntnis gibt mir Anlaß das meines Erachtens tragfähigste Interpretament

ins Feld zu führen, das kein anderer als Joseph Ratzinger an das Phänomen „Adrienne von

Speyr – Hans Urs von Balthasar“ anlegt, indem er in einem 1999 gegebenen Interview

erklärt: „Hans Urs von Balthasar ist undenkbar ohne Adrienne von Speyr. Ich glaube, man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, dass neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. Solange man nur rational weiterarbeitet, kommt nichts wesentlich Neues. Es wird vielleicht immer genauer systematisiert, es werden immer subtilere Fragen erfunden, aber die eigentlichen Durchbrüche, in denen dann wieder große Theologie neu entsteht, kommen nicht einfach aus dem rationalen Geschäft der Theologie, sondern aus einem charismatischen, prophetischen Anstoß heraus. Insofern - glaube ich - gehören Prophetie und Theologie eng zusammen. Die Theologie als wissenschaftliche Theologie im strengen Sinn ist nicht prophetisch, aber sie wird nur wirklich lebendige Theologie, wenn sie von einem prophetischen Impuls angeschoben und erleuchtet ist.“46.

1.4 Mystik - Irgendwie eine unsaubere Sache?

Nun fragt man sich freilich, ob solche prophetischen Impulse überhaupt denkbar und

theologisch verantwortet als solche eingestuft werden dürfen. In schöner Eindeutigkeit Karl

Rahner: „Die Möglichkeit einer Privatoffenbarung durch Visionen und damit verbundene Auditionen steht grundsätzlich für einen Christen fest. (...) Das Prophetische und Visionäre (im weitesten Sinn) ist aus der Geschichte des Christentums nicht wegzudenken. Wer alle solche Dinge zurückführen wollte auf natürliche oder gar krankhafte menschliche Zustände, würde konsequent leugnen, dass ein geschichtliches Handeln des sich im Wort offenbarenden persönlichen Gottes möglich sei. Damit aber würde er den Charakter des Christentums als einer übernatürlichen Offenbarungsreligion bestreiten. Hat es aber zur Begründung der alttestamentlichen und christlichen Offenbarungsreligion solche Phänomene gegeben, dann kann auch nicht a priori und grundsätzlich bestritten werden, dass es auch in nachchristlicher Zeit solche Erscheinungen geben kann.“47

42 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 90. 43 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 44 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 51-52 / Nr.1225. 45 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 47. 46 Joseph Ratzinger, Das Problem der christlichen Prophetie. Niels Christian Hvidt im Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger. In: IkaZ 27 (1999) 177-188, 183. 47 Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen 15.17. Auch Joseph Ratzinger widerspricht, nach eben dieser Möglichkeit prophetischer Äußerungen post Christum gefragt, der Auffassung, dass mit der Vollendung der

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Ein oder gar das entscheidende Kriterium für die prophetische Qualität einer mystischen

Erfahrung sei, so Karl Rahner, die zu erweisende Tatsache, dass es sich „um Erscheinungen

handle, die nicht bloß unter einem ‚privaten Aspekt’ gesehen werden wollen“48, sondern

deren objektiver Nutzen für die Kirche außer Frage steht. Immer wieder äußert sich

Adrienne von Speyr im Sinne Rahners kritisch gegenüber einer falschen Mystik, die in

irgendeiner Weise die subjektiven Erfahrungen des Visionärs in den Mittelpunkt stelle, statt

das objektive Substrat des Gesehenen zum Nutzen der Kirche zur Verfügung zu stellen. Sie

ringt um ihre Rolle und wehrt sich gegen jeden Versuch, sie zu einer Mystikerin zu

stilisieren: „Sie fragt wieder nach ‚Mystik’. Nicht wahr, sie sei doch keine Mystikerin? Das sei doch etwas total anderes, habe mit ihr nichts zu tun. Sie habe vom Protestantismus her so einen Horror vor der Mystik. Obwohl sie sich nichts Genaues darunter vorstellen könne. Nur irgendwie eine unsaubere Geschichte.“49

Sie will „nichts zu tun haben mit irgendeiner Art bewusst kultivierter Mystik. Was in ihr

vorgehe, habe mit solcher nichts zu tun“50 Sie spricht von „Durchgabe“51 objektiver

Inhalte, deren Adressat die Kirche sei. Das Subjekt, dem dies und jenes gezeigt werde,

komme „als Empfänger gar nicht in Betracht“52. Adrienne polemisiert gegen die von

Friedrich Gogarten so genannte „Erleberei“53 und spricht im Blick auf methodische

Versenkungen, die dazu dienten, ein höheres Erlebnis aus sich herauszupressen,

unverblümt von „geistlicher Onanie“54. Sie entwickelt ihre Sicht von Mystik nicht

ausschließlich in dem von Balthasar vorgelegten und zusammengestellten Werk „Wort und

Mystik“, sondern vornehmlich im Rahmen ihrer Schriftauslegung55, so dass mittels des

Schriftbezuges die heilsökonomische Basis des Geschauten nicht nur gewahrt bleibt,

sondern als Voraussetzung einer neutestamentlich legitimierten Mystik verstanden werden

darf. So erklärt sie im Blick auf die Steinigung des Stephanus:

Offenbarung in Christus das Ende der Prophetie besiegelt sei. Freilich könne man „nicht über den Logos hinaus etwas sagen“ aber der Geist könne prophetisch immer tiefer in die Wahrheit einführen. (Das Problem der christlichen Prophetie 180). Darüber hinaus erklärt Adrienne von Speyr, dass Mystik nicht „bloße Bestätigung von etwas schon ausdrücklich Gewusstem und Besessenen“, sondern „eine Verlebendigung dessen [sei], was in der Kirche erstarrt war. Ein frischer, ursprünglicher Hauch Gottes in das Vereiste hinein“ (Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I. Subjektive Mystik. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1970 (= NB VI) 46). 48 Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen 20. 49 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 140 /Nr.195. 50 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 52 / Nr.64. Weitere Einlassungen: Erde und Himmel I 72 /Nr.98. 51 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 274 / Nr.1700. 52 Adrienne von Speyr, Wort und Mystik I 45. 53 Friedrich Gogarten, Die religiöse Entscheidung. Jena (Diederichs) 1921, 55.63. 54 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 75 / Nr.1289. 55 Alois Maria Haas, Adrienne von Speyrs Typologie der Mystik. In: Adrienne von Speyr und ihre spirituelle Theologie.. Die Referate am Symposion zu ihrem 100.Geburtstag. 12.-13.September 2002 in Freiburg im Breisgau. Freiburg 9-30, 29.

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„Stephanus blickt in den Himmel und sieht das Unendlich Erhabene, von dem sein Ausruf zeugt. Er beachtet nicht, dass etwas mit ihm vorgeht, dass er ein Erlebnis hat, dass seine bisher beschränkten Einsichten sich erweitern, er macht deshalb keine Aussage über sich und sein Erlebnis; er sieht das Andere, das Neue. Er zeigt damit der kommenden Mystik den Weg: nicht über sich selbst zu reden, sondern über das Neue Gottes, das geschenkt wird und weitergegeben werden soll. Unendlich groß und offen soll Stephanus den Himmel zeigen, damit die Christen nicht in Versuchung kommen, ihn nach ihren eigenen Maßen vorzustellen“56

Echte Mystik sprengt Grenzen, so dass an sie die Meßlatte angelegt werden darf, die

Ignatius mit seinem „Deus semper maior“ aufrichtet: „Die Mystik ist aber auch dafür gespendet, das Leben der Christen zu erweitern, ihnen schon auf Erden einen Anteil am Himmel zu gewähren, ohne dass sie mit diesem Anteil fertig werden könnten. Mancher Christ, dem es auf Erden ordentlich geht, versucht, die Dinge der Offenbarung und der Kirche auf sein eigenes Maß zuzuschneiden, sie zu verkleinern, sie überraschungslos und alltäglich zu machen. (...) Vor allem dagegen richtet sich die Mystik. Die Dinge Gottes sollen Gottes Maß behalten. Jede Installation soll erschüttert werden. Die Neuheit Gottes soll nicht nur verkündet, sondern offenkundig werden. Dieses Neue liegt immer im Himmel und in der Ewigkeit; aber schon die kleinen Ausschnitte, die dem Mystiker davon zugänglich werden, sind so unerwartet und sprengend, dass jeder Glaubende versteht: es ist im Immer-Größeren der Ewigkeit noch viel Unfaßlicheres zu erwarten.“57

Letzten Endes überzeugt ein von Hans Urs von Balthasar selbst eingeführtes Kriterium, das

eine nicht nur formale, sondern inhaltliche Auseinandersetzung mit Adriennes von Speyrs

Theologie angeraten sein lässt: „Das Echtheitskriterium ihrer Mystik liegt ganz primär,

wenn nicht ausschließlich, in der Qualität dessen, was sie geleistet und was sie zu sagen

hatte und hat.“58

2 Mit Handbuchwissen wäre Adriennes Theologie nicht aufzufangen gewesen

2.1 Plädoyer für eine synchrone Lesung beider Autoren

Es steht völlig außer Frage, dass Hans Urs von Balthasars Arbeiten nach der Begegnung

mit Adrienne von Speyr von deren Erfahrungen geprägt und inspiriert sind. Ausdrücklich

die Descensus-Kapitel von „Das Herz der Welt“ (1945)59 und „Gottesfrage des heutigen

Menschen“ (1967)60. In besonderer Weise aber der Geniestreich „Theologie der drei Tage“

56 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I 36. Ähnlich im Blick auf die apokalyptische Isebel: Apokalypse. Betrachtungen über die Geheime Offenbarung. Einsiedeln 1950, 168. 57 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik I 36-37. 58 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 61. Es bedürfte freilich einer Diskussion der von Karl Rahner eingebrachten Bedenken: „Die Gottgewirktheit (Echtheit) einer imaginativen Vision aus ihrem Inhalt zu beweisen, könnte nur gelingen, wenn es möglich wäre, darzutun, dass der konkrete Inhalt einer bestimmten Vision nicht aus den schon vorliegenden Möglichkeiten der sinnlich-geistigen Fähigkeiten (Gedächtnis, schöpferische Phantasie, Unterbewusstsein, parapsychologische Fähigkeiten, wie Telepathie usw.) des Visionärs ableitbar ist.“ (Visionen und Prophezeiungen 52). 59 Hans Urs von Balthasar, Das Herz der Welt. Zürich (Arche) 97-113. Heute zugänglich: Freiburg 2002, 105-122. Dazu: Manfred Lochbrunner, Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom Karsamstag bei Hans Urs von Balthasar. In: RTLu 6 (2001), 171-193, 184. 60 Hans Urs von Balthasar, Die Gottesfrage des heutigen Menschen. Wien (Herold) 1956, 187-204.

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(1969)61, von dem Balthasar später sagen wird, dass er „den Versuch darstellt, der kühneren

Lehre Adriennes von Speyr einen Weg zu bahnen.“62 Die Trilogie mündet schon im letzten

Band der Theodramatik63, vollends aber im zweiten Band der Theologik64 in eine

Paraphrasierung Adriennes, so dass schon rein philologisch die Einheit beider Werke

offenbar wird. Bisher ist aus bereits angesprochenen Gründen in der Balthasar-Rezeption

nur sehr zurückhaltend auf Adrienne von Speyrs Einfluß auf Balthasars Werk bzw. ihren

Anteil am gemeinsamen Werk eingegangen worden. Man hat zwar auf den Zusammenhang

hingewiesen, ihm aber eher insofern Aufmerksamkeit geschenkt, dass man ihn als

Phänomen beschrieb und diskutierte. Eine eher inhaltlich akzentuierte Synopse steht noch

aus. Einen ersten Versuch unternahm Manfred Lochbrunner in seinem 2001

veröffentlichten Beitrag „Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom

Karsamstag“65. Die Mainzer Theologin Daniela Mohr forderte bereits vor einigen Jahren

eine „synchrone Lesung beider Autoren“, die heute möglich, aber „nur in Anfängen

verwirklicht sei“66. Auch der in Washington lehrende Holger Zabrowski hat jüngst auf die

„nicht zu vernachlässigende (aber – leider – oft vernachlässigte Zusammenarbeit mit der

Mystikerin Adrienne von Speyr“67 hingewiesen. Je länger man Adrienne von Speyrs und

Hans Urs von Balthasars Werke parallel, also komplementär liest, um so mehr sieht man

Balthasars Dictum bestätigt, ihr Werk und seines seien „weder psychologisch noch

philologisch zu trennen“68.

61 Hans Urs von Balthasar, Theologie der drei Tage. Freiburg 141-258. Erstveröffentlichung: Einsiedeln (Benzinger) Separatdruck aus: Feiner, Johannes / Löhrer, Magnus (Hgg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik III/2. Einsiedeln (Benzinger) 1970, 133-326. Dann: Mysterium Paschale. In: Feiner, Johannes / Löhrer, Magnus (Hgg.): Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik III/2. Einsiedeln (Benzinger) 1970, 133-326. 62 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 63 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik IV. Das Endspiel. Einsiedeln 1983, 12; 482. 64 Hans Urs von Balthasar, Theologik II. Wahrheit Gottes. Einsiedeln 1985, 314-329 (Hölle und Trinität). 65 Manfred Lochbrunner, Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom Karsamstag bei Hans Urs von Balthasar. In: RTLu 6 (2001) 171-193. Weitere Versuche bei Roten, Johann G.: Die beiden Hälften des Mondes. Marianisch-anthropologische Dimensionen in der gemeinsamen Sendung von Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr. In: Lehmann, Karl / Kasper, Walter (Hgg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln (Communio) 1989, 104-132; Servais, Jaques: Per una valutazione dell’influsso di Adrienne von Speyr su Hans Urs von Balthasar. In: Rivista Teologica di Lugano 6 (2001), 67-90. Fisichella, Rino: Hans Urs von Balthasar e Adrienne von Speyr: l’inseparribilità delle due opere. In: Rivista Internazionale di Teologia e Cultura No.156(1997) 61-74. 66 Daniela Mohr, Existenz im Herzen der Kirche. Zur Theologie der Säkularinstitute in Leben und Werk Hans Urs von Balthasars. Würzburg (Echter) 2000, 58. 67 Holger Zaborowski, Katholische Integration. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Hans Urs von Balthasar. In: Magnus Striet / Jan-Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen. Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen. Freiburg 2005, 28. Das Desiderat benennt auch: Jan-Heiner Tück, dEr Abgrund der Freiheit. Zum theodramatischen Konflikt zwischen endlicher und unendlicher Freiheit. In: Magnus Striet / Jan- Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen 82-116, 103. 68 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 77. Pierangelo Sequeri ist der Auffassung, dass “die christliche Verbindung und der geistige Zusammenklang mit Hans Urs von Balthasar ... für die Erforschung des kirchlichen Charismas Adriennes eine besonders hilfreiche Vermittlung [bietet]“ (Der kirchliche Glaube als

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Hier soll nun nicht ein beliebiger Strang, sondern der zentrale rote Faden, der sich sowohl

durch die experimentelle Dogmatik Adrienne von Speyrs als auch durch die Theologie

Hans Urs von Balthasars zieht und sie verbindet, in einer vorläufigen Skizze verfolgt

werden. Ich versuche das Ineinander beider Werkhälften bezüglich der von den Kritikern

Balthasars in Frage gestellten Interpretation des innertrinitarischen bzw. extratrinitarischen

Mit- und Auseinanders der göttlichen Hypostasen in seiner genuinen Entwicklung zu

verfolgen. Dabei beschränke ich mich auf den Versuch, die von Balthasar in die

Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr eingebrachten Verstehenshorizonte zu erheben

und in ihrer Anwendung auf die Weitergabe bzw. Verschriftlichung des von ihr unmittelbar

Geschauten zu dokumentieren. Bereits in dieser von Hans Urs von Balthasar geleisteten

Transposition des von ihr unmittelbar Geschauten erkenne ich eine im wahrsten Sinne des

Wortes „theologische Transkription“69 ihrer Einsichten. An anderer Stelle wird zu belegen

sein, in welcher Weise Balthasar die von ihm verschriftlichten Erfahrungen Adrienne von

Speyrs mittels seines Werkes orchestriert und in eine unerwartete und erhellende

Korrespondenz zur theologischen und geistesgeschichtlichen Tradition bringt.

2.2 Bergson, Hegel, Balthasar und Adrienne von Speyr

Wenn man fragt, welche Werkzeuge, Kategorien oder instrumentelle Konturen Balthasar

im Laufe seiner Studienjahre zuwuchsen, die ihn in die Lage versetzen sollten, „die Fülle

ihrer [Adriennes] Einsichten aufzunehmen und ihnen einen angemessenen Ausdruck zu

geben“, wird man sich zunächst seines „umfangreichen Erstling[s]“70: der 1933-35

entstandenen und 1937-39 veröffentlichten „Apokalypse der deutschen Seele“71 bedienen.

Peter Henrici hat bereits darauf hingewiesen, daß „die ganz frühen Schriften noch

außerhalb dieser Verflechtung“ entstanden seien, so daß sich „an ihnen in etwa ablesen

[lasse], wie viel Eigenes Balthasar in sein späteres Werk eingebracht hat und wie sehr

Gnade für die Andern. Die theologische Bedeutung der Mystik Adriennes von Speyr. In: Adrienne von Speyr und ihre spirituelle Theologie. Symposion zu ihrem 100.Geburtstag. Herausgegeben von der Hans Urs von Balthasar-Stiftung. Freiburg (Johannes) 2002, 115-122). 69 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 70 So bezeichnet Balthasar seine „Apokalypse der deutschen Seele“ im Vorwort zur zweiten Auflage (Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. I. Der deutsche Idealismus. Freiburg 31998, 735). 71 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. I-III. Freiburg 31998. Der erste Band (.Der deutsche Idealismus) erschien erstmals 1937, der zweite (Im Zeichen Nietzsches) und dritte (Die Vergöttlichung des Todes) 1939 bei Pustet. Bereits in seiner Promotion, die er 1930 unter dem Titel „Geschichte des eschatalogischen Problems in der modernen deutschen Literatur“ veröffentlichte, legte er ein „Bruchstück umfänglicherer Untersuchung“ vor. Wesentliche Teile der Apokalypse entstanden bereits in den Jahren 1928/29. Weitere Beachtung verdiente Balthasars 1933 veröffentlichter Aufsatz: Die Metaphysik Erich Przywaras. In: Schweizerische Rundschau 6 (1933) 489-499.

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dieses Werk Eigenstem treu bleibt, wenn auch manches vertieft oder anders betont wird“72

So empfiehlt es sich, in Balthasars Frühwerk gewissermaßen retrospektiv nach

Deutungsmustern zu suchen, mittels deren es Balthasar nach 1940 gelang, Adriennes

Einsichten zu deuten bzw. zum Ausdruck zu bringen. Dieses Vorgehen entspricht dem

Versuch Balthasars „nachträglich ... nach Ansätzen in der Theologiegeschichte [zu suchen],

um ihre [Adrienne von Speyrs] Lehre darin einzuführen“73 Man sieht sich bereits auf den

ersten Blick mit einem Philosophem konfrontiert, das im Rahmen der Zusammenarbeit mit

Adrienne von Speyr eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erhalten sollte. Balthasar

widmet sich fortwährend dem Phänomen des Anderen, das ihm sowohl in der

personalistischen Philosophie Schelers, in Bergsons Rede von der „altérité pure“74 als auch

in der hegelschen Liebesdialektik begegnet. Dabei weist er darauf hin, dass das von

Bergson und Nietzsche als wertvoll qualifizierte Anderssein von Scheler weiterentwickelt

worden sei „zur Idee einer radikalen, qualitativen Verschiedenheit der Personen“75, die

ihrerseits die „absolute Je-Andersheit“ der Gottperson[en] wiederspiegelt“76 Balthasar

spricht in diesem Zusammenhang von einer ursprünglichen „Differenziertheit des Seins“,

das „der Differenzierung“ „der [endlichen] Geister“77 zugrunde liege. Dass Hegel der

eigentliche Adversarius Balthasars sei, erklärten und belegten Peter Henrici78, Elmar

Salman79, Werner Löser80 und zuletzt Michael Schulz81 in seiner der Hegelrezeption in der

katholischen Theologie gewidmeten Dissertation. Balthasars Auseinandersetzung mit dem

Berliner Philosophen stellt meines Erachtens den entscheidenden Hintergrund dar, vor dem

die philosophische Aktualität, das denkerische Niveau und die interdisziplinäre Relevanz

der von Adrienne von Speyr vorgelegten Trinitätslehre erst wirklich erkennbar zu werden

verspricht. In Hegels Überzeugung, dass „das Wahre der Persönlichkeit also eben dies [ist],

72 Peter Henrici, Erster Blick auf Hans Urs von Balthasar. In: Walter Kasper / Karl Lehmann (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln 1989, 18-77, 47. 73 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 34. 74 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 75 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 76 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 77 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 78 Peter Henrici, Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars. In: Walter Kasper / Karl Lehmann (Hgg.), Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln 1989, 237-259, 247. 79 Elmar Salman, Urverbundenheit und Stellvertretung. Erwägungen zur Theologie der Sühne. In: MThZ 35 (1984) 17-31, 17. 80 Werner Löser, Rezension zu: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit III/2 2.Teil: Neuer Bund. Einsiedeln 1969. In: ThPh 46 (1971), 119-122, 121. 81 Michael Schulz, Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar. St.Ottilien 1997, 686-821.

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sie durch (...) Versenktsein in das Andere zu gewinnen“82 zeichnet sich, so Balthasar „das

Trinitarische als Idee und Wahrheit alles Seins in und außer Gott ab“83. Der absolute Geist

bringt sich durch das Anerkennen seiner „Negativität“, die Balthasar als „Antithesis zum

Insichsein“84 verstanden wissen will, zu sich selbst. Er paraphrasiert Hegel: „Aber tiefer ist

es doch gerade dieses Sichverlieren, das den Geist zu sich bringt.“85 Indem der absolute

Geist sich an das oder den Anderen seiner selbst verliert, bringt er sich zu sich und erweist

sich als Liebe, die als solche den Anderen als Anderes ihrer selbst braucht, um an ihm und

in Rückkehr zu sich selbst Liebe zu sein bzw. zu werden. Balthasar spricht von „Gottes

‚Entfremdung’ innerhalb seiner Identität“86, die sich aber bei Hegel nicht innertrinitarisch

ereigne, sei doch der Sohn als Anderer, weil er gleichen Wesens mit dem Vater sei „nur das

Leuchten des Blitzes, der in seiner Erscheinung unmittelbar verschwunden ist“87. Mit

anderen Worten: „Gott ist die Liebe, d.i. das Unterscheiden und die Nichtigkeit des

Unterscheidens, ein Stück des Unterscheidens, mit dem es kein Ernst ist, der Unterschied

ebenso als aufgehoben gesetzt, d.i. die einfache, ewige Idee“88 Oder noch anders mit

Gustav Siewerth: „Die Differenz ist immer schon aufgehoben und kommt gar nicht ins

Walten: Sie ist nur ‚rational’ oder ‚ideel’“89. So sei das nicht nur ideele, sondern das

wirklich Andere Gottes die Welt. Der Sohn sei also seitens des Vaters ein „Außersichsein,

das als solches keine Wahrheit“90 habe. Weil also „im ewigen Kreislauf der

Dreieinigkeit“91 Vater, Sohn und Geist zusammenfielen, es also mit dem Unterschied kein

Ernst sei, „ist das Moment des Andersseins, die Welt notwendig“92. Ergo: „Ohne Welt ist

Gott nicht Gott“93. Damit aber Welt sei, muß Gott sich als Gott preisgeben, den Tod des

Insichseins sterben, so dass außerhalb seiner Welt wird und werden kann. Dieser „Tod in

Gott“94 avanciert zur Quelle allen geistigen Lebens. Die damit einhergehende Negation des

82 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion (1840) II 330 (zitiert nach.: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 87). 83 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 587. 84 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 591. 85 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 591. 86 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 596. 87 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 252. (zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597). 88 Hegel; G.W.F.: Philosophie der Religion II/ 2 (Lasson). Hamburg (Meiner) 1966 (= PhB75) 75. 89 Gustav Siewerth, Gott in der Geschichte. Düsseldorf (Patmos) 1972, 178. Dazu: Michael Schulz, Überlegungen zur ontologischen Grundfrage in Gustaw Siewerths Werk ‚Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger’. Freiburg 2003, 54-68 (Siewerths Antwort auf Hegel: Seinsdenken und Trinität). 90 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 252 (.zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 597. 91 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 598. 92 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 598. 93 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion I 194 (zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 598). 94 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik IV 221f.

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In-sich-seins, bewirkt einen Schmerz, den Balthasar den „Welt-Schmerz“95 nennt. Man

könnte ihn als Geburtsschmerz ausgeben, den Gott erleidet, um in der Negation des In-

Sich-Seins aus sich die Welt zu entlassen, an die er sich verliert, um zu sich zu finden. Das

Andere, an dem Gott er selbst: also Liebe wird, also: „das Andere Gottes als Anderes“96 ist

die Welt. Liest man auf diesem in der „Apokalypse der Seele“ aufgemachten Hintergrund

Adrienne von Speyrs trinitätstheologische Einlassungen, wird man unschwer erkennen,

dass Balthasars Studien die Kontrastfolie darstellen, die ihm ermöglichte, ihre Ein-Sichten

entsprechend einzuordnen bzw. ihr in Hegels Liebesdialektik eine Kontur zu bieten,

angesichts derer das positive Gegenstück, das sie mit einer deutlichen Akzentuierung der

innertrinitarischen Hypostasen einführt, Platz zu greifen verspricht. So sieht Balthasar

Adrienne fortwährend von einem Gegenüber der Personen sprechen: „Wenn Gott, Gott

gegenübersteht“97 / „Wenn Gott mit Gott spricht“98, „wenn er sich als Vater, Sohn und

Geist gegenübersteht“ / „Vater, Sohn und Geist sind ineinander und doch im Abstand“99.

Sie erklärt programmatisch: „Jeder in Gott soll er selbst sein und nicht der Abklatsch des

Anderen“100. Und weiter: „In jeder Liebe braucht es Abstand (...) So auch im Innersten

seiner [Gottes] Trinität“101. Sie spricht angelegentlich ihrer Gebetslehre vom „Gebet in der

Trinität“102 und sieht die Personen sich gegenseitig anbeten. Nachdem sie darauf zu

sprechen kommt, dass Anbetung insbesondere Ausdruck einer qualifizierten „Ehrfurcht“

und Wertschätzung sei, stellt sie fest: „In der Anbetung erfindet und erschafft die Liebe den

Abstand“103. Im Hintergrund dürfte das von Balthasar bei Bergson und Nietzsche

gefundene Prinzip der Wertschätzung oder der unbedingten Positivität des Anderen

stehen104, das sie im Gegensatz zu einem unitarischen „Ein-Gott“ als grundlegendes

Fundament trinitarischer Theologie erkennt und einführt. Adrienne entwickelt den

Gedanken weiter, indem sie Gott, den sie als Liebe begreift, „gottnotwendig“ die Sehnsucht

hegen lässt, „seiner Liebe einen Gegenstand der Liebe zu geben, der so wäre wie er“105.

Diesen „Gegenstand“ findet der Vater im Sohn, der Sohn im Vater und der Geist in Vater

95 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597. 96 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 597. 97 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 49. 98 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 63. 99 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 285 / Nr. 2287. 100 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 65. 101 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel 283 / Nr. 2287. 102 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 21-65. 103 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 47. 104 Balthasar wird später ausdrücklich auf den Zusammenhang dieser Trinitätskonzeption mit der dem Personalismus verwandten Dialogik aufmerksam machen. Die Dialektik qualifiziere das Andere demgegenüber als das Negative, durch das hindurch das Eine seiner wahren Positivität gelange. Dazu: Hans Urs von Balthasar, Theologik II. Wahrheit Gottes. Einsiedeln 1985, 40-43. 105 Adrienne von Speyr, Die Welt des Gebetes. Einsiedeln 1951, 24.

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und Sohn. Sie spricht von einem wirklichen „Abstand“, der gewährleiste, dass Gott Gott

gegenüberstehe und in ihm den Anderen seiner selbst finde, bemerkt aber, dass der Geist

beider als principium unionis bewirke, „dass ihr Abstand nie Trennung sein kann“106. Sie

kann dennoch sagen: „Um der Einheit der Liebe willen beschlossen Vater und Sohn sich zu

trennen. Wäre diese Trennung nicht gewesen, so wäre das gegenseitige Schenken nie so

vollkommen geworden.“107 Indem sie die Personen in Gott zwischen sich einen Abstand

setzen sieht, wie er zwischen den innergöttlichen Hypostasen nicht weiter gedacht werden

darf und kann, sieht sie Gott der Notwendigkeit enthoben, sich, um sich zu sich selbst zu

bringen, an die Welt zu verlieren oder – in der Diktion Hegels - sich in sie als dem Anderen

seiner selbst zu versenken. Balthasar wird später in Auseinandersetzung mit Hegel von

einer „unendlichen Differenz zwischen Vater und Sohn“108, „einem unendlichen

Abstand“109, einer „Distanz zwischen Gott und Gott“110 und gar von einer „absoluten und

[im Gegensatz zu Hegel nicht nur idealen, sondern] wirklichen Trennung von Vater und

Sohn“111 sprechen. Freilich hagelt es Proteste. Man glaubt die Einheit des göttlichen

Wesens gefährdet und fragt an, ob eine solche Gegenständlichkeit der innertrinitarischen

Hypostasen nicht Gefahr laufe, ins Fahrwasser des Tritheismus zu geraten112. Man darf aber

nicht übersehen, dass Adrienne von Speyr im Geist als dem einenden Prinzip jeden Abstand

in Gott zugleich offen gehalten, aber auch immer schon überbrückt sieht. Auch hier

vermute ich ein von Balthasar zur Verfügung gestelltes Deutemuster. Schon im

Hegelkapitel seiner Apokalypse spricht er im Blick auf den „Geist“ von der

„schöpferischen Negation, welche den ‚Vater’ und den ‚Sohn’ trennend eint und einend

106 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 41. 107 Adrienne von Speyr, Johannes II. Die Streitreden. Betrachtungen über das Johannesevangelium. Einsiedeln 1949, 353f. 108 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III. Die Handlung. Einsiedeln 1980, 303. 109 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik 301 110 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik II. Die Personen des Spiels 1.Teil: Der Mensch in Gott. Einsiedeln 1976, 242. 111 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III 302. 112 So etwa: Walter Simonis, Über das Werden Gottes. Gedanken zum Begriff der ökonomischen Trinität. In: MThZ 33 (1982) 133-139; Michael Stickelbroeck, Trinitarische Prozessualität und Einheit Gottes – Zur Gotteslehre H.U. von Balthasars. In: Forum katholische Theologie 19 (1994) 24-29. Besonders beachtenswert scheint mir: Jürgen Werbick, Gottes Dreieinigkeit denken? Hans Urs von Balthasars Rede von der göttlichen Selbstentäußerung als Mitte des Glaubens und Zentrum der Theologie. In: ThQ 176 (1996) 225-240, der vorschlägt nicht von Teilung, sondern von einer „Selbst-Mit-Teilung Gottes“ (229) zu sprechen. Den Einwurf Karl Rahners referiert: Thomas Krenski, Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars. Freiburg 1990, 150-154. Interessant scheint mir Werbicks Vermutung, Balthasars Versuch, Liebe als Selbstlosigkeit in Gott zu hypostasieren, rühre von einer bei ihm auszumachenden „asketischen Überanstrengung“ (237). Ich erkenne in dieser Tendenz eher einen Reflex der von Hans Urs von Balthasar geführten Auseinandersetzung mit der Liebesdialektik Hegels, die ihre Spuren in die von Werbick ausgemachte Richtung hinterlässt. Dazu auch: Steffen Lösel, Kreuzwege. Ein ökumenisches Gespräch mit Hans Urs von Balthasar. Paderborn (Schönigh) 2001, 171-182.

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trennt.“113. Darüber hinaus darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass Balthasar im

Rückgriff auf Adriennes interpersonale Trinitätstheologie mit der freilich

missverständlichen Rede von einer „Trennung“ in Gott klarzustellen versucht, dass das

immanente Leben Gottes nicht „erst im Durchgang durch eine geschaffene zeitliche Welt

seine Bewegtheit und Farbigkeit, durch Sünde, Kreuz und Hölle seinen Ernst und seine

Tiefe“114 erhält. Sohn und Geist seien in Gott eben „nicht nur im Wesen ‚der Gleiche’,

sondern ebenso der unendlich ‚Andere’“, so dass „Gottes Liebe , um jenseits des Gleichen

den Anderen (im Hegelschen Sinn) zu lieben, nicht erst den Menschen erfinden muß“115.

Da Gott also in sich den Ernst des Unterschieds kennt, findet er nicht erst durch den

Schmerz der Gezweiung zur Einigung. Er ist als Dreifaltiger immer schon er selbst ist.

Balthasar greift nahezu wörtlich auf Adrienne von Speyr zurück, wenn er erklärt: „Der Vater, der den Sohn zeugt, ‚verliert’ sich in diesem Akt nicht an ein anderes, um sich selbst zu ‚gewinnen’, er ist als der sich Schenkende immer schon er selbst, indem er sich zeugen und den Vater über sich verfügen lässt. Der Geist ist immer schon er selbst, indem er sein ‚Ich’ als das ‚Wir’ von Vater und Sohn versteht. (Nur, wer das versteht, entgeht der Maschinerie der Hegelschen Dialektik).“116

Adrienne stellt Balthasar eine Konzeption zur Verfügung, die ihm erlauben wird, dem

Impuls der Hegelschen Liebesdialektik insofern zu folgen, dass er Gott im Anderen zu sich

selbst kommen sieht. Andererseits bestärkt die von Adrienne von Speyr eingesehene

innertrintarische Qualität des Abstands der Hypostasen ihn, den wirklich Anderen, an dem

Gott Liebe ist und immerfort wird, in Gott und nicht erst außerhalb seiner in der Welt als

dem Anderen Gottes wahrnehmen zu können.117 Peter Henrici wies angesichts dieser von

mir anderswo vorgetragenen These dankenswerter Weise darauf hin, dass Balthasar bereits

113 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 595. 114 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III 304. 115 Hans Urs von Balthasar, Zu einer christlichen Theologie der Hoffnung. In: MThZ 32 (1981), 81-102, 100. 116 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik II/1 232. Grundlage: Speyr, Adienne von: Welt des Gebetes 51. 117 Die von Werner Löser (Rezension zu: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit III/2/NB In. ThPh 46 (1971) 119-122, 119), Elmar Salmann (Urverbundenheit und Stellvertretung. Erwägungen zur Theologie der Sühne. In: MThZ 35 (1984), 17-31, 17) und Peter Henrici (Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars. In: Lehmann, Karl / Kasper, Walter (Hgg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln (Communio) 1989, 237-259, 247) geäußerte Überzeugung, dass Balthasars Denken maßgeblich von Hegel inspiriert sei, findet sich in der bereits in der „Apokalypse der deutschen Seele“ im Anschluß an Franz von Baader gemachten Bekenntnis bestätigt: „Seit dem von Hegel das dialektische Feuer einmal angezündet worden, kann man nicht anders als durch dasselbige selig werden, d.h. indem man sich und seine Werke durch dieses Feuer führt, nicht etwa, indem man von selbem abstrahieren oder es wohl gar ignorieren möchte.“ (Apokalypse der deutschen Seele I 624-625). Balthasar selbst war wohl der Meinung man solle dem Einfluß des Deutschen Idealismus auf sein Werk nicht zuviel Bedeutung zumessen. (Markus Jöhri, Descensus Dei. Teologia della Croce nell’opera di Hans Urs von Balthasar. Rom 1981, 104.) Zur Hegelrezeption Balthasars: Schulz, Michael: Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G.W.F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H.U. v. Balthasar. St.Ottilien (Eos) 1997, 686-821. Auch: Hans Urs von Balthasar, Evangelium und Philosophie. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 23 (1976) 3-12.

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im Weltbild Maximus Confessors das Handwerkszeug gefunden habe, „den Hegelschen

Pantheismus aus den Angeln zu heben“118 So versteht sich von selbst, dass Adrienne von

Speyr nicht den, sondern einen Impuls gab, den Balthasar in der Auseinandersetzung mit

Hegel aufnahm. Dabei handelt es sich um einen Impuls, der an bereits zuvor bearbeitete

Argumentationsfiguren anknüpft und sie bestätigt.

Umgekehrt soll mit dem Versuch, in der Auseinandersetzung Balthasars mit Hegels

Trinitätslehre einen der Deutehorizonte auszumachen, mit Hilfe dessen er die Auditionen

Adrienne von Speyrs zu positionieren in der Lage war, nicht der Eindruck erweckt werden,

es handle sich um ein durchgängiges Interpretationsmuster, von dem aus Balthasar

Adriennes Erfahrungen deutete. Neben Hegel wären Origenes und Maximus, Gregor von

Nyssa, Nietzsche, Bergson, Scheler und viele andere Autoren zu nennen, die Balthasar

jenseits jeden Handbuchwissens in die Lage versetzen Adriennes Erfahrungen adäquat zum

Ausdruck zu bringen und in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen. Pars

pro toto sei auf Balthasars Kommentar im Nachwort seiner ersten Nietzsche-Anthologie

hingewiesen: „Die christliche Distanz ... hat zu ihrem innersten Kern eine Liebe, die grundgelegt ist im Ewigsten selbst. Denn nur im Christlichen wird begreiflich, warum Liebe wirklich ‚Distanz’ ist und sein muß, und sie diese so wenig aufhebt, dass sie sie vielmehr auf immer bestätigt und erhalten wissen will: nur hier wird offenbar, dass Gott selbst als Distanz Dreier in Einheit der Natur ist und damit Urbild aller wahrhaften Einheit, die nicht ein Verschmelzen und Sich-Gemeinmachen ist, sondern das innere Licht der Ehrfurcht und Anerkennung des Du.“119

2.3 Rilke, Balthasar und Adrienne von Speyr

Noch greifbarer wird der Adrienne angebotene oder der von Balthasar bereitgestellte

hegelsche bzw. antihegelsche Deutungshorizont, wenn er ihre Karsamstagserfahrungen

wiederzugeben versucht: „A sagt, sie verstehe nun gut, warum der Herr hier hinunter musste. Es sei die letzte Konsequenz der Menschwerdung. Zuerst war er reiner Gott in sich selbst. Dann wurde er Mensch. (...) Nun fehlt ihm noch die Erkenntnis des reinen Nicht-Gott-seins, des puren Gegensatzes zu Gott.“120

Adrienne von Speyr sieht den innertrinitarischen Abstand, den Balthasar später als

„göttliche Gott-losigkeit der Liebe“121 beschreiben wird, sich angesichts der

Höllenerfahrung des Sohnes extratrinitarisch ins Unermessliche weiten, begibt sich doch

der Sohn mittels seiner Höllenfahrt an den „Ort“ der Gott-losigkeit und damit dorthin, wo 118 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 19. 119 Hans Urs von Balthasar, Nachwort: In: Friedrich Nietzsche. Anthologien. Vom vornehmen Menschen. Vergeblichkeit. Von Gut und Böse. Freiburg 2000, 105-111, 111. 120 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I. Die Passionen. Einsiedeln 1966, 79. 121 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III. Die Handlung. Einsiedeln 1980, 301.

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er den Vater keinesfalls finden kann. Der Abstand zwischen Vater und Sohn scheint zum

Zerbersten überspannt. Ich erinnere an Balthasars Hegelparaphrase: „Er gewinnt seine

Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“122 Aufgrund

dieses unendlichen Abstands zwischen Vater und Sohn zeigt sich der Dreifaltige in der

Lage, alle Abständigen insofern einzubergen, dass sie in den im Geist geeinten Abstand

zwischen Vater und Sohn heimgeholt scheinen. Ohne dass es zwischen Vater und Sohn

diesen ursprünglichen Unterschied der Liebe immer schon gegeben hätte, wäre eine solche

Einbergung der negativen Abständigkeit in den höchst positiven Abstand zwischen Vater

und Sohn nicht möglich gewesen. Adrienne kann in diesem Zusammenhang auch von

einem innergöttlichen „Sich-Trennen“123 sprechen, so dass man sich sowohl aufgrund der

Terminologie als auch im Blick auf den erlösenden Aspekt der innertrinitarischen und

heilsgeschichtlichen Differenz zwischen Vater und Sohn an eine Zeile Rilkes erinnert, mit

der Balthasar das Hegelkapitel seiner „Apokalypse der deutschen Seele“ einleitet:

Wolle die Wandlung

Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;

jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte ; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?

Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe - : abwesender Hammer holt aus !

Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung ; und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,

das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst in Wind.

Rainer Maria Rilke124

Adrienne von Speyr jedenfalls erblickt im „Versenken in das Andere“125, durch das Hegel

der Meinung war, dass Gott zu sich selbst fände, weniger eine ontologische als eine

soteriologische Wirklichkeit und schafft dadurch die Grundlage für die von Balthasar

insbesondere im dritten Band der Theodramatik ausgeführte und orchestrierte „theologische

122 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele 593. 123 Adrienne von Speyr, Das Hohelied. Einsiedeln 1972, 91. 124 Rainer Maria Rilke, Gedichte 1910 bis 1926. Hrsg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/Leipzig 1996, 263. 125 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 246.

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Transkription“126 dieses immer wieder geschauten und erlittenen karsamstäglichen

Versinkens Gottes in das Gegenteil seiner selbst127.Im Blick auf die heftig kritisierte und

diskutierte Rede Balthasars von einer „Trennung“ oder einem „Drama“ bzw. einer

„Kenose“ in Gott, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass Balthasar sich als

„Literaturtheologe“ der unbegreiflichlichen Wirklichkeit Gottes anzunähern versucht. Hin

und wieder kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Adrienne von Speyr in jenen

Passagen ihrer Trinitätstheologie, die die Grenze des Sagbaren überschreiten, in einer

Weise spricht, die ihr Balthasar möglicherweise in Gestalt der Lyrik Rilkes anbot. Ohne

Rilke trinitätstheologisch vergewaltigen bzw. vereinnahmen zu wollen, lässt nicht nur die

zitierte Zeile, sondern auch das französische Gedicht „maternité“ einen Spielraum offen,

innerhalb dessen man den Vater, aus dessen Mutterschoß der wesensgleiche Sohn geboren

ist, den von ihm unterschiedenen und ins Reich der Abwesenheit Gottes absteigenden Sohn

ansprechen hört: Ma vie, tu me l’as remplie de ton parfum d’absence, mon fils dans l’infini, ô ma substance.128

2.4 Gregor von Nyssa, Maximus Confessor, Balthasar und Adrienne von Speyr

Neben der Philosophie des Anderen glaube ich in der „Metaphysik des Werdens“ einen

Deutehorizont wahrnehmen zu können, der sich aus Balthasars Beschäftigung mit dem

Deutschen Idealismus129, der Lyrik Rilkes130, der Lebensphilosophie131, aber eben auch und

in besonderer Weise seiner Auseinandersetzung mit der „Philosophie religieuse“132 eines

126 Hans Urs von Balthasar, Zu seinem Werk 91. 127 Zur Karsamstagstheologie Hans Urs von Balthasars: Thomas Krenski, Spekulativer Karsamstag – Hans Urs von Balthasars originärer Beitrag zur Relecture des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im 20.Jahrhundert. In: Mariano Delgado (Hrsg.), Das Christentum der Theologen im 20.Jahrhundert. Stuttgart (Kohlhammer) 2000, 148-163. 128 „Mein Leben, du hast es mir erfüllt mit deinem Duft der Abwesenheit, mein Sohn in Unendlichkeit, o mein Wesen“ (Rilke, R.M.: Gedichte in französischer Sprache. Hrsg. von M.Engel und D.Lauterbach. Übertragungen von R. Luck. Frankfurt (Insel) 2003, 272-273). Dazu: Krenski, Thomas: „Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung“. Zur „Wahrheits-Form“ der trinitarischen Gottes- und Erlösungslehre Hans Urs von Balthasars. In: Magnus Striet / Jan Heiner Tück (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen. Theologische Provokationen Hans Urs von Balthasars. Freiburg (Herder) 2005, 181-219. 129 Insbesondere in : Apokalypse der deutschen Seele I. Der deutsche Idealismus. Freiburg 31998. Auch: Herrlichkeit III ,1 Im Raum der Metaphysik. Teil 2 Neuzeit. Einsiedeln 1965, 879-921. 130 Insbesondere: Rilke und die religiöse Dichtung, in: SdZ 63 (1932) ; Apokalypse der deutschen Seele III 193-229 (Heidegger und Rilke); Herrlichkeit III,1/2 757-769. 131 Insbesondere in: Apokalypse der deutschen Seele III 84-151; ders; Von den Aufgaben der katholischen Philosophie in der Zeit. Freiburg 1998. 132 Hans Urs von Balthasar, Présence et pensée. Essai sur la Philosophie religieuse de Grégoire de Nysse. Paris 1939.

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Gregor von Nyssa und dem Weltbild eines Maximus Confessors133 ergibt. Nicht nur, dass

er Bergson von Gott als einem „werdenden Wesen“, das im „Lebens-Rhythmus des

Seins“134 unaufhörliches Leben sei, sprechen hört. Nicht nur, dass er sich immer und immer

wieder mit dem „goethisch-hegelschen Begriff einer Metaphysik, die im Werden des Seins

und des Geistes sich selbst vollzieht“135 konfrontiert sieht. Er erklärt darüber hinaus: „Das durchgängige Leitmotiv des deutschen Denkens ist das Motiv des ‚Werdens’, genauer das Motiv der Potentialität des Seins, durch das es sich gegenüber dem eleatisch-platonischen, scholastischen Begriff des actus purus abhebt. Der Gottesbegriff des deutschen Denkens steht darum mit Notwendigkeit über Akt und Potenz, weil dieses Denken die unaufhebbare Positivität des Werdens betont“136.

Er hört Hegel nicht nur von der „unendlichen Elastizität der Substanz“137, sondern von

einem durch „Entwicklung sich vollendende[n] Wesen“138 sprechen. Er erkennt das Prinzip

einer „ontologischen Dynamik“139, die von einer „’flüssigen Natur’ des Seins“140 auf eine

„Werdensgeschichte des Geistes“141 schließt, so dass man im Blick auf den Geist von

einer„die Bewegung seines Gewordenseins“142 sprechen könne. Adrienne von Speyr wird

die innergöttlichen Personen als „die ewig-Werdend-Gewordenen“143 bezeichnen. Bei

Gregor von Nyssa findet er eine „Metaphysik des Werdens“144, die ihn begeistert erklären

lässt: „Die Menschwerdung hat uns die Augen aufgetan dafür, was Gott in Sich ist. Und es fand sich, dass Er nicht die Starre der Ewigkeit ist, ewiger Fels für die Welle des Werdens, sondern dass Er als innergöttlicher Liebesstrom ebenso Über-Werden wie Über-Sein ist“145.

So habe Gregor eine Sicht des „innere[n] strömende[n] Leben[s] Gottes“146 vorgelegt, das

im Blick auf Gottes ewiges Leben nicht „Sattheit und Überdruß“147 erwarten lässt, weil in

133 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Höhe und Krise des griechischen Weltbildes bei Maximus Confessor. Freiburg 1941. Hier zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners. Einsiedeln 21961. 134 Hans Urs von Balthasar, Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie 68. 135 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 197. 136 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 137Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion II 197 (zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 586). 138 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 566. 139 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 570. 140 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 570 141 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 567. 142 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie 157 (zitiert nach: Apokalypse der deutschen Seele I 568). 143 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 22. 144 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell. In Kürzung übertragen und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Salzburg 1939, 26. (Einsiedeln 31984, 19). Auch: Hans Urs von Balthasar, Présence et pensée 10-19. 145 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 1939, 33. (Einsiedeln 31984, 23) 146 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 33 (31984, 24). 147 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 20 (31984, 15).

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ihm „Begierde in der Erfüllung sich nicht abspannt und Sehnsucht ihre Glut in der Lust

behält“148. Bei Adrienne wird es von Gott nahezu wortgleich heißen, dass er sich im

Andern und im Gleichen finde und erfülle, „ohne dass je Langweile entsteht, weil die

Spannung nicht erlahmt, immer neu im Ursprung ist.“149 Balthasar findet Gregors

Gedankengang bei Maximus Confessor, den er für einen „Mystiker [in der neuplatonischen

Tradition des Gregor von Nyssas] hält, der zugleich [aristotelisch gebildeter] Metaphysiker

ist“150 weiterentwickelt und gegen Missdeutungen gesichert. Was Balthasar Staudenmaier

mit Hilfe Scotus Eriugenas versuchen sieht, nämlich: „den hegelschen Pantheismus aus den

Angeln zu heben“151 scheint er selbst mit Hilfe Maximus’ des Bekenners versuchen zu

wollen. Dabei weist er fortwährend auf des Bekenners Nähe zu Hegel hin152, sei Maximus

doch der „einzig christliche Philosoph, der im Ernst die Notwendigkeit gesehen hat, die

Bewegung in eine Ontologie des (idealen) Seins selbst einzuführen“.153 Im gleichen

Atemzug weist er darauf hin, dass Maximus von Hegel „ein Abgrund“154 trenne, der sich

dadurch auftue, dass Hegel einer „Werdenstrunkenheit“155 verfalle, die alles Sein in

Werden auflöse156. Maximus hingegen synthetisiere Ruhe und Bewegung, indem er

jenseits, wörtlich: „über der Bewegung und der Beharrung“ / “ύπερ κίνησιν τε και στάσιν” /

„super motum et statum“157 von einer „Über-Bewegung“158 spreche. Balthasar zeigt sich

offensichtlich fasziniert vom Werdecharakter des Seins, das Gott ein Werden zuspricht,

148 Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell 20 (31984, 15). 149 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 27. 150 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 51. 151 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 19. 152 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 57f. 76, 78, 79, 159f.166. 204. Dazu: Werner Löser, Im Geiste des Origenes. Hans Urs von Balthasar als Interpret der Kirchenväter. Frankfurt 1976, 202. 153 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 159. 154 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 266. 155 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 141. 156 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie 78: „Während hier [bei Eriugena] die Hineinnahme der [werdenden] Welt in den göttlichen Prozeß zu beinahe pantheistischen Akzenten führt und das Positiv-Christliche fast ganz überblendet, bleibt bei Maximus die Theologie ganz vom christlichen Geiste der Unterscheidung von Gott und Welt beherrscht: sie ist weder ‚himmlische Liturgie’ wie bei Dionysius, noch ‚kosmische Gnosis’ wie bei Eriugena, sondern Kosmische Liturgie.“ Maximus hingegen überwinde Hegels Identitätsphilosophie durch das chalkedonische „Unvermischt“, das er zur Weltformel (Kosmische Liturgie 57) stilisiere. Die zentrale Argumentation des Bekenners gibt Werner Löser folgendermaßen wieder: „Wenn sie uns aber sagen, die Geister könnten zwar wohl [dem göttlichen Gut anhangen], sie wollten es nur nicht, um nämlich die Erfahrung des Gegenteils zu machen, dann wäre auch so das Schöne nicht durch sich selbst, als Schönes, sondern nur durch seinen Gegensatz für sie ein notwendig zu begehrendes Gut, nicht als ein durch seine Natur und absolut liebenswertes“, (Maximus Confessor, Ambigua ad Iohannem / Eduard Jeauneau. Turnhout 1988 / CCG 18, 22 Zeilen 36-41 / Übersetzung: Werner Löser, Im Geiste des Origenes 206.) 157 Maximus Confessor, Ambigua ad Iohannem / Eduard Jeauneau. Turnhout 1988 / CCG 18,122 Zeile 142 : “ύπερ πασαν ειναι κίνησιν τε και στάσιν” / „et quod iuxta super omnem sit motum et statum“. Der Textpassage findet sich übersetzt bei: Maximos der Bekenner. All-eins in Christus. Auswahl, Übertragung, Einleitung von Endre von Ivánka. Einsiedeln 1956, 15-24. Die hier zitierte Sentenz findet sich auf Seite 23-24. 158 Hans Urs von Balthasar, Maximus Confessor 137.

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„das noch nichts von Zeit enthält“159, so dass es immer schon ist, was es „wird“ bzw.

„wird“, was es immer schon ist. Er nennt dieses Werden „Über-Werden“160 Dieser

Terminus findet sich in der Niederschrift der 1949 von Adrienne von Speyr erlittenen

„Passionen“: „Nun erhält unbegreiflicherweise im Herzen der Unveränderlichkeit die Veränderung einen Platz. Man müsste sagen: jeder Veränderlichkeit der Schöpfung gegenüber gibt es in Gott von jeher eine Über-Veränderlichkeit. Wir nehmen zu kleine Maßstäbe, wenn wir mit unseren Maßstäben ‚veränderlich-unveränderlich’ operieren: die Wirklichkeit ist viel voller, als wir uns vorstellen können.“161

Adrienne beschreibt dieses „Über-Werden“ als „ein Werden, das je immer schon die

Eigenschaften des Seins trägt“162, so dass die Personen in Gott nicht einfachhin sind,

sondern werden, was sie immer schon sind: „der Vater ist immerfort am Erzeugen seines

Wortes, das sich dauernd erfüllt“: „Man kann davon nicht anders reden, als indem man gleichzeitig Aussagen des Seins und des Werdens macht. Gott ist, der dreieinige Gott ist, und das ‚Werden’ in ihm ist Zeichen seiner Lebendigkeit. Ewig zeugt der Vater den ewigen Sohn, aber in der Zeugung ‚wird’ der Sohn nicht, sondern ist. Das ‚Werden’ in Gott ist eine Bestätigung seines Seins. Auch weil Gott unveränderlich ist, kann die Lebendigkeit seines ‚Werdens’ nie etwas anderes sein als sein Sein.“163

In Balthasars „Apokalypse der deutschen Seele“ liest man im Blick auf Schelers

Personalismus: „Die Identität der Person in ihren Akten ist keine tote und formale

Einerleiheit. Sie ist ‚Variation’ und ‚pures Anderswerden’ vor und über allem

Zeitnacheinander. ‚Die Identität liegt hier allein in der qualitativen Richtung dieses puren

Anderswerdens selbst’“164. Ich vermute, dass Balthasar Adriennes trinitarische

Einlassungen mittels des schelerschen Personalismus zum Ausdruck zu bringen versuchte.

So wenn, er ihre Erfahrungen wie folgt wiedergibt: „Jede Person weiß, was in der anderen vorgeht, und der ganze Gott weiß, dass er Gott ist. Die Möglichkeiten von ‚Überraschungen’ liegen für Gott einzig innerhalb der Liebe, die ihrem Wesen nach, auch als ewige Liebe, das stets Überraschende ist. Das schließt selbstverständlich Gottes Allwissenheit nicht aus. Aber die Geheimnisse der Liebe sind in Gott vordringlicher als die Geheimnisse der Allwissenheit. Es gibt das Auseinander-Hervorgehen der Personen, und ewig das immer neue Aufeinander-Zukommen der auseinander hervorgegangenen Personen. Darin liegt die ewige und immer neue Überraschung.“165

159 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. 160 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 437. 161 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 252. 162 Adrienne von Speyr, Welt des Gebetes 25. 163 Das Wort und die Mystik II 82. 104-105. 164 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele III 155. (Zitate aus: Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Halle 1916, 400.) 165 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 205. Sehr ähnlich: Welt des Gebetes 26-27, 42.

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Die plastische Diktion stammt sicher von Adrienne, die, so Balthasar, „weniger technisch“

spricht, sondern unmittelbar nachzuvollziehende Erfahrungen zur Erläuterung eines

abstrakten Sachverhaltes beiziehe: „Haben Sie je ein Versteckspiel mit kleinen Kindern gemacht? Das Kind geht hinter meinen Sessel und ich frage: Wo ist denn nur der Michel hingekommen? Ist er fort? Nun lacht er unbändig und kommt hervor; und ich bin schrecklich überrascht, wenn ich ihn sehe. Das ist ein Als-Ob. Aber der Trug wird von der Einbildungskraft des Kindes so überdeckt, dass er gar keine Rolle spielt. Und im Spiel liegt die Freude, die das Wichtigste und Echte ist. Und der Mutter geht es im Spiel um das gleiche Wichtige und Echte. Man würde beide, Mutter und Kind, verkennen, wenn man das Ganze nur als ein Als-Ob deuten wolle. Etwas davon gilt auch für Gottes ewiges Leben der Liebe.“.166.

Was Balthasar bekannte, als er 1984 erklärte, dass „die eigene Denkform durch das von

Adrienne Empfangene nicht ausgelöscht, sondern bereichert worden“ sei, „dass er „durch

die Erfahrungen Adriennes [seine] Hauptinteressen an Irenäus, Origenes, Gregor von

Nyssa, Maximus Confessor fortgesetzt und die dort offen gebliebenen Fragen erfüllt oder in

ihrer Richtigkeit bestätigt“167 sah, verifiziert sich im Blick auf Gregor von Nyssa an der von

Adrienne von Speyr fortgeführten und konkretisierten „Metaphysik des Werdens“.

Balthasar hat später insofern eine systematische Umsetzung dieser Einsichten betrieben als

er unter ständigem Verweis auf Adrienne von Speyrs Trinitätslehre einer Ontologie der

Liebe das Wort redete, von der er der Überzeugung war, dass sie die scholastische Akt-

Potenz-Lehre zu ihrer ursprünglichen Aussageabsicht zurückzuführen im Stande sei.168

3 Den dreifaltigen Gott zum Eingott zusammenschmilzen?

Im Ganzen versteht sich Adrienne von Speyrs Trinitätsmystik als Korrektiv einer

„intellektualistisch“ spekulativen Trinitätslehre, der „etwas völlig Abstraktes, rein

Begriffliches“169 anhänge. Andererseits will sie jenen Kräften wehren, die den dreifaltigen

Gott „zum Eingott zusammen[zu]schmilz[en]“170 in Gefahr stehen: „Die Offenbarung Christi steht im Dienst der Offenbarung der Trinität. Wenn die Dogmatik diese Differenzierungen wieder verwischt oder verflacht, indem sie nur von äußeren Appropriationen reden will, wird man Acht geben müssen, dass nicht das ganze Credo in sich zusammenfällt, so weit, dass nur noch Pontius Pilatus als sicher erkennbare Größe übrig bleibt, während das übrige zu einer Gleichnisrede herabsinkt.“171

166 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 205. 167 Hans Urs von Balthasar, Unser Auftrag 81. 168 So etwa TD IV 57-86. Dazu: Krenski, Thomas: Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars. Freiburg 1990, 175-191 (Ontologisches Implikat). Auch: Werner Löser, Das Sein - augelegt als Liebe. In: IkaZ 4 (1975) 410-424. Peter Blätter, Pneumatologia crucis. Das Kreuz in der Logik von Wahrheit und Freiheit. Ein phänomenologischer Zugang zur Theologik Hans Urs von Balthasars. Würzburg (Echter) 2004 (=BDS 38) 363-364; 394-400. 418-422. 169 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 434 / Nr.969. 170 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel I 434 / Nr. 969. 171 Adrienne von Speyr, Das Wort und die Mystik II 97.

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Indem sie zwischen den Personen eine „Erwartung“ leben sieht, die immer schon erfüllt ist

und sich dennoch nie erschöpft, indem sie die Selbstbegegnung Gottes im jeweils Anderen

innertrinitarisch verortet, indem sie auf unbegreifliche Weise „Überraschung“ zwischen den

Personen erblickt, die in keiner Weise Gottes Allwissenheit und sein Immer-schon

gefährde, sondern befeure und dynamisiere, wehrt sie dem Versuch der „Theologen“, „aus

den drei göttlichen Personen fixe Punkte [zu machen], die immer in gleicher Nähe

voneinander stehen sollen“172. Wieder wittere ich Hegel, mittels dessen Philosophie

Balthasar Adriennes Einsichten „in die großen Zusammenhänge“173 nicht nur der

Theologie, sondern der Philosophiegeschichte stellt: Im wahren Denken ist „sowohl das Fixe des reinen Konkreten“ als auch „das Fixe von Unterschiedenen“ aufzugeben.174.

Ich schließe die zu Beginn geöffnete Klammer und komme abschließend noch einmal auf

auf Karl Barth zu sprechen. Balthasar muss ihm bereits 1942 eine Andeutung bezüglich der

Qualität seines Verhältnisses zu Adrienne von Speyr gemacht haben, die über den

vertrauten Umgang sowohl Barths als auch seiner Mitarbeiterin und Gefährtin Charlotte

von Kirschbaum mit Adrienne von Speyr hinausging. Auf Nachfrage Barths antwortete

Balthasar unter dem Datum des 30.August 1942: „Sie forschen freundlich nach jenem „Kummer“, den ich Ihnen mysteriös genug andeutete und sogar zu erzählen versprach, und ich danke Ihnen sehr, dass sies tun. Ein „Kummer“ ist es gar nicht, sondern etwas für mich Schönes, das nur hie und da sehr und fast über meine bourgeoisen Kräfte hinaus fordernd wird. Ich sagte Ihnen auch, dass ich vielleicht einmal froh sein werde um ein privates Viertelstündchen der Freundschaft bei Ihnen, wenn einmal ein gewisser „Sturm“ losbricht. Und an einer Ecke oder der anderen werden Sie wohl auch von dem Wirbel erfasst werden – ich bin rein sachlich furchtbar gespannt, wie Sie dann reagieren werden als Freund (des Job ???) – und es könnte Ihnen noch ein böses Stündchen bereiten. On n’est pas jésuite pour rien. Aber ich sehe, dass ich schon wieder im „Mysteriösen“ herumschwimme, ohne mich doch genauer erklären zu können – nur dies wollte ich eigentlich sagen, dass ich 1) Ihnen danke und 2.) dass es kein Kummer ist, sondern eine schöne Verantwortung.175

Nachdem Balthasar mehr als zwei Jahrzehnte später Karl Barth seinen „Ersten Blick auf

Adrienne von Speyr“ hat zusenden lassen, bemerkte er, er sei sich der Zumutung bewusst,

die dieses Buch für den befreundeten Barth würde bedeuten müssen: „Vielleicht versöhnt Sie eins: Adriennes unbezwinglicher Humor. In allem Leiden ein mozartisches Gemüt.“176

172 Adrienne von Speyr, Kreuz und Hölle I 216. 173 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel III 119 / Nr.2161. 174 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I 571. 175 Hans Urs von Balthasar an Karl Barth 30.8.1942. Der Briefwechsel zwischen Hans Urs von Balthasar und Karl Barth wurde eingesehen im Hans Urs von Balthasar-Archiv Basel. 176 Hans Urs von Balthasar an Karl Barth 13.3.1968.

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Eine Kostprobe aus dem Hause Kaegi:

„Am Abend sagt ihr W.[erner Kaegi], es gebe Leute, die behaupteten, sie sei eine Heilige. Ob sie auch einen Heiligenschein trage. A. sagt: ‚Natürlich’, sie bewahre ihn in der untern Schublade des Wäscheschrankes auf, weil er so groß sei. W. lacht, fragt, ob es wahr sei. A. sagt: ‚Wenn du mich Blödsinn fragst, so werde ich wohl das Recht haben, Blödsinn zu antworten. Aber du kannst ja nachsehen, ob er dort liegt oder nicht. W.: ‚Ob man ihn wohl durch die Spalte glitzern sieht, wenn man das Licht auslöscht?’ A.: Am besten gehst du und siehst selber nach.’ W. geht bis zum Schrank und bleibt vor der Schublade stehen. Er meint, es sei zu riskant, aufzumachen.“177

177 Adrienne von Speyr, Erde und Himmel II 401 / Nr.888.