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Leseprobe Kneer, Georg / Schroer, Markus / Schüttpelz, Erhard Bruno Latours Kollektive Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen Herausgegeben von Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1862 978-3-518-29462-8 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag - Buch.de - Bücher versandkostenfrei · das am Beispiel seiner Epistemologie, seiner Techniktheorie und sei-ner Diagnose der Moderne aufzeigen. In seiner Wissenschaftsfor-schung

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Leseprobe

Kneer, Georg / Schroer, Markus / Schüttpelz, Erhard

Bruno Latours Kollektive

Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen

Herausgegeben von Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1862

978-3-518-29462-8

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1862

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Zum ersten Mal ist dem bahnbrechenden Werk Bruno Latours eine umfassendeDarstellung gewidmet, die seinen unorthodoxen Neuentwurf aus verschiedenenPerspektiven in den Blick nimmt. Latours besondere Originalität verdankt sich ei-ner Theoriestrategie zur Entgrenzung des Sozialen. Gesellschaft, Technik und Na-tur gelten ihm nicht als getrennte Einheiten. Vielmehr konstituieren artifizielleund natürliche Gegenstände die soziale Welt ebenso wie Personen, und aufgrundihres Handlungspotentials verlangen sie ein politisches Mitspracherecht. DieseNeuverteilung des Sozialen baut das theoretische Vokabular um – Latours Kollek-tive sind bevölkert mit Hybriden und Mediatoren aus Kultur und Natur.

Georg Kneer ist Professor an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd.Markus Schroer ist Privatdozent an der TU Darmstadt.Erhard Schüttpelz ist Professor an der Universität Siegen.

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Bruno Latours KollektiveKontroversen zur Entgrenzung

des Sozialen

Herausgegeben vonGeorg Kneer, Markus Schroer

und Erhard Schüttpelz

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1862Erste Auflage 2008

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

Umschlag nach Entwürfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt

ISBN 978-3-518-29462-8

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

i. wissenschaftliche und technische objekte

Henning SchmidgenDie Materialität der Dinge? Bruno Latour und dieWissenschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Bernhard GillÜber Whitehead und Mead zurAkteur-Netzwerk-Theorie. Die Überwindungdes Dualismus von Geist und Materie –und der Preis, der dafür zu zahlen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Gustav RoßlerKleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden,Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge . . . . . . . . 76

Ingo Schulz-SchaefferTechnik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionender gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik imWerk Latours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

ii. medien und mediatoren

Christian Kassung und Albert Kümmel-SchnurWissensgeschichte als Malerarbeit? Ein Trialog über dasWeißeln schwarzer Kisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Tristan ThielmannDer ETAK Navigator. Tour de Latour durch dieMediengeschichte der Autonavigationssysteme . . . . . . . . . . . 180

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Wolfram NitschDädalus und Aramis. Latours symmetrischeAnthropologie der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Erhard SchüttpelzDer Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeitendes Denkens in Operationsketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

iii. sozialtheorie oder theorie der kollektive

Georg KneerHybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne?Eine Kritik an Bruno Latours Soziologieder Assoziationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Reiner Keller und Christoph LauBruno Latour und die Grenzen der Gesellschaft . . . . . . . . . . 306

Gesa Lindemann»Allons enfants et faits de la patrie …«Über Latours Sozial- und Gesellschaftstheoriesowie seinen Beitrag zur Rettung der Welt . . . . . . . . . . . . . . 339

Markus SchroerVermischen, Vermitteln, Vernetzen.Bruno Latours Soziologie der Gemenge undGemische im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

iv. amoderne perspektiven

Richard RottenburgÜbersetzung und ihre Dementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Werner KraussDie ›Goldene Ringelgansfeder‹. Dingpolitik ander Nordseeküste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

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Marcus Hahn»Marvelous Examples«. Zum Status deshistorischen Wissens in der Akteur-Netzwerk-TheorieBruno Latours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Hinweise zur Autorin und zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . 475

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Vorwort

Der Name des französischen Philosophen, Wissenschaftssoziologenund Kulturanthropologen Bruno Latour steht für einen unorthodo-xen und tief greifenden Neuentwurf. Die Originalität des Ansatzesverdankt sich einer Theoriestrategie zur Entgrenzung des Sozialen.Gesellschaft und Natur gelten nicht länger als getrennte Einheiten,vielmehr werden neben Menschen auch natürliche und artifizielleObjekte, Tiere und Pflanzen als Teil der Sozialwelt begriffen. Latournimmt eine Gleichbehandlung von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten vor. Aus seiner Sicht verfügen Dinge, tech-nische Gegenstände und nicht-menschliche Lebewesen ebenfallsüber ein Handlungspotential; ihnen kommt ein politisches Mit-spracherecht zu. In deutlicher Frontstellung zum traditionellen Be-griff der »Gesellschaft« entwickelt Latour das Konzept des »Kollek-tivs«, mit dem er die fortwährende Verquickung von menschlichenund nicht-menschlichen Wesen zu dechiffrieren versucht. Insoferngeht seine Neuvermessung des Sozialen mit einem beträchtlichenUmbau des Beschreibungsvokabulars einher – Latours Kollektivesind bevölkert mit eigenartigen Mischwesen, Hybriden aus Kulturund Natur. Der vorliegende Band greift diesen Vorschlag auf unddiskutiert ausführlich die begrifflichen und theoretischen Prämis-sen, Grundaussagen und Konsequenzen von Latours Theorie derKollektive.

Latours Konzeptionen gehen auf deutliche Distanz zum Main-stream des in Disziplinen geordneten, aber auch des eingespielteninterdisziplinären Wissenschaftsbetriebs. Paradigmatisch lässt sichdas am Beispiel seiner Epistemologie, seiner Techniktheorie und sei-ner Diagnose der Moderne aufzeigen. In seiner Wissenschaftsfor-schung weist Latour die Angebote der Naturalisierung, Soziologi-sierung und Dekonstruktion als einseitige Denkfiguren zurück. ImGegensatz zu einem realistischen Selbstverständnis betont Latour,dass die Tatsachen, von denen die Naturwissenschaften sprechen,nicht unabhängig von deren Beobachtungen und Interventionen ineiner Welt ›dort draußen‹ existieren, sondern unter hoch artifiziel-len Laborbedingungen durch eine Kette von Vermittlungsschrittenund Mediatoren fabriziert werden. Im Unterschied zum Sozialkon-

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struktivismus und zur Dekonstruktion erklärt er naturwissenschaft-liche Fakten nicht allein im Rekurs auf gesellschaftliche Praktikenoder textuelle Bedeutungseffekte, weil derartige Sichtweisen die wi-derständige Materialität der Dinge ausblenden. In seiner Sicht sindwissenschaftliche Tatsachen das hybride Produkt naturaler, gesell-schaftlicher und diskursiver Komponenten, ohne dass dabei einerder Zutaten eine Führungsrolle zugesprochen werden könnte.

Auch Latours Beschreibung alltagsweltlicher Dinge und techni-scher Gegenstände gewinnt ihren Stachel aus einer klaren Opposi-tionsstellung gegenüber herkömmlichen Theorieangeboten. Tech-nik ist in seinen Augen keineswegs ein willfähriges Werkzeug in derHand des Menschen, nicht ein zweckrationales Produkt von Klas-seninteressen und auch kein allmächtiges Gestell, das den Men-schen vollständig in den Griff genommen hat. In seinen Augen ver-sammeln gegenständliche Artefakte ein Handlungspotential, dasaus der Koproduktion von sozialen, materialen und diskursivenBestandteilen resultiert. In den Boden eingelassene Fahrbahn-schwellen transportieren politisch beschlossene Geschwindigkeits-beschränkungen, Türen definieren soziale Zugänge und diskursiveAusschlüsse, gusseiserne Anhänger von Hotelschlüsseln verfügenüber ein moralisches Gewicht, sie fordern den Gast auf, den Schlüs-sel beim Hotelier abzugeben. Zur genaueren Beschreibung der Ge-nese und Verwendung von technischen Gegenständen und Opera-tionen bedient sich Latour der von ihm mit Michel Callon, JohnLaw und anderen entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT).Mit dem Begriff des ›Akteurs‹ sind nicht mehr ausschließlich Men-schen gemeint, sondern sämtliche Einheiten, denen ein Hand-lungspotential zugeschrieben wird. Diese Handlungsfähigkeit istjedoch kein feststehendes Merkmal, das menschlichen oder nicht-menschlichen Wesen innewohnt. Vielmehr werden die Eigenschaf-ten der Aktanten erst durch ihre netzwerkartige Assoziation defi-niert. Mit jedem Neuarrangement der beteiligten Akteure findetzugleich eine Verschiebung, Medialisierung oder Übersetzung ihrerEigenschaften und Fähigkeiten statt. Alle Akteur-Netzwerke, undseien sie global vernetzt, müssen anhand ihrer lokalen Verknüpfun-gen und Verkörperungen untersucht werden. Dementsprechendbetont Latour, dass die Einsichten seiner ›empirischen Philosophie‹vor allem in teilnehmenden Beobachtungen und ethnographischenUntersuchungen gewonnen werden müssen.

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Schließlich distanziert sich Latour auch mit seiner Diagnose derModerne von weit verbreiteten Deutungsmustern. Der Auffassungeiner gesellschaftlichen Differenzierung von Funktionsbereichenwie Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst und Massenmedien wirdebenso widersprochen wie der Annahme einer grundsätzlichenTrennung von Kultur und Natur, von Gesellschaft und materialerUmwelt. Ähnlich wie der Ethnologe mit seinen Feldforschungen in›primitiven‹ Sozialformen ein nahtloses Gewebe von Werkzeugenund Techniken, Verwandtschaftsbeziehungen, Ritualen und My-then aufspürte, geht Latour der unauflöslichen Verschränkung vonmaterialen, gesellschaftlichen und narrativen Komponenten inunserer Gegenwartsordnung nach. Aus dem Blickwinkel einer sym-metrischen Anthropologie erweist sich die Vorstellung einer gesell-schaftlichen Modernisierung, in deren Verlauf sich die Verklam-merung von Kultur und Natur aufgelöst hat, als folgenreicherTrugschluss. Wir sind nie modern gewesen. Die Selbsttäuschung derModerne verdankt sich einer gigantischen Reinigungsarbeit, in de-ren offiziellen Selbstbeschreibungen die unaufhörliche Überset-zungsarbeit ausgeblendet wird, die menschliche und nicht-mensch-liche Wesen miteinander vernetzt. Was unsere heutige Ordnungvon früheren Sozialformen unterscheidet, ist also weder die Ver-mittlungsarbeit selbst noch ihre wissenschaftlich-technische Konfi-guration, sondern die eigenartige Leugnung der ›Kollektive‹ ausdinglichen, gesellschaftlichen und diskursiven Entitäten. Die vonLatour und seinen Mitstreitern geforderte Bewusstwerdung derVermittlungsarbeit – der Mischwesen und Mediatoren – rückt wievon selbst die bürokratischen Archive und technischen Medien inden Mittelpunkt seiner Heuristik. Allerdings nehmen die Medienund Archive in Latours Schriften eine Gestalt an, die sie gegenüberherkömmlichen Medientheorien zugleich lebensweltlich vertrautund exotisch verfremdet erscheinen lässt.

Der vorliegende Band greift eine Reihe von aktuellen internationa-len Kontroversen zu den drei genannten Schwerpunkten von La-tours Theoriebildung auf und verdichtet sie für eine deutschspra-chige Diskussion, die sich in den letzten Jahren aus denverschiedensten wissenschaftlichen Kontexten heraus Latour undder Akteur-Netzwerk-Theorie zugewendet hat. Latours Diagnoseeiner Selbsttäuschung der Moderne wird mehrfach und aus unter-

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schiedlichen Blickwinkeln thematisiert, dabei jedoch auch auf jeneethnologischen und philosophischen Entwürfe bezogen, die sichbereits seit Längerem einer Ausarbeitung dieser Diagnose widmen.Als populärster Diskussionsgegenstand stellt sich momentan querzu allen Disziplinen und Theorielagern Latours Konzeption techni-scher Objekte und Dinge dar, die in seinem eigenen Schaffen zuersteher als ein Seitenprodukt seiner Wissenschaftsforschung erschien,aber aufgrund ihrer unorthodoxen Vorgehensweise hierzulandebereits eine ganze Reihe aufschlussreicher Fallanalysen und Einwän-de hervorgerufen hat – und zwar sowohl in der Techniksoziologieund Techniktheorie selbst als auch in einer Medienforschung, dieauf Latours Thematisierung von Medien und ›Mediatoren‹ anfäng-lich eher zögerlich reagiert hatte. Darüber hinaus enthält die Wis-senschaftsforschung, die seit den späten 70er Jahren des 20. Jahr-hunderts von Latour kontinuierlich bereichert und provoziertworden ist, weiterhin ein reiches Potential für zukünftige Kontro-versen, insbesondere durch die philosophischen Genealogien, Pos-tulate und Entwürfe, in deren Rahmen Latour sein Werk mehrfachgestellt hat. Als explosivster Zündstoff erweist sich in der deutsch-sprachigen Diskussion allerdings Latours Neuprägung der ›Kollek-tive‹ und ihre polemische Entgegensetzung zur soziologisch verstan-denen ›Gesellschaft‹, die er in den Mittelpunkt seines neuenLehrbuchs der Akteur-Netzwerk-Theorie (Reassembling the Social)gestellt hat. Unser Band enthält ein ganzes Arsenal von kritischenEinwänden, Widerlegungen und Vorschlägen, die man am bestenals Eröffnungsspielzüge von Kontroversen verstehen sollte, die inZukunft noch mit ganz anderen Mitteln, Argumenten und Anwen-dungsbezügen – aber womöglich mit einer ganz analogen pole-mischen Wucht, wie sie Latour selbst in seiner Theoriebildungdurchwegs bevorzugt hat – ausgetragen werden können.

Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz

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I. Wissenschaftliche undtechnische Objekte

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Henning SchmidgenDie Materialität der Dinge?

Bruno Latour und dieWissenschaftsgeschichte1

Deleuze is the greatest French philoso-pher (along with Serres). […] I have readDeleuze very carefully and have beenmore influenced by his work than by Fou-cault or Lyotard.

Bruno Latour

Le catholique est un garçon qui arrive surla route et qui trouve très bon pour lui lepoteau indicateur qu’il y a pour tout lemonde.

Charles Péguy

Bruno Latour ist kein Wissenschaftshistoriker. Dennoch werdenseine Arbeiten in dieser »Disziplin«, diesem ebenso prekären wieexemplarischen Feld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften,intensiv rezipiert und diskutiert. Nicht immer ist es dabei freund-lich zugegangen (siehe Zammito 2004: 183-202). So hat sich SimonSchaffer (1991) in einer ausführlichen Besprechung von LatoursBuch The Pasteurization of France (1988) mit deutlichen Worten ge-gen den Versuch gewandt, den Unterschied von menschlichen undnicht-menschlichen Akteuren im Rahmen eines semiotischen An-satzes zu relativieren. Schaffer kann darin nichts anderes sehen alseinen Rückfall in den »Hylozoismus«, d. h. eine letztlich romanti-sche Auffassung von der Belebtheit und Beseeltheit der Materie.Darüber hinaus sei Latours Auswahl historischer Quellen derart be-grenzt, dass die Kontroversen um und mit Pasteur weitgehend aus-geblendet werden. Das Ergebnis ist Schaffer zufolge eine Studie, diekonventionellen historischen Arbeiten näher steht, als es ihr lieb

1 Gustav Roßler möchte ich für seine Kommentare und Hinweise zu einer früherenVersion dieses Texts danken. – Wo nicht anders angegeben, stammen die Überset-zungen fremdsprachiger Texte von mir (H. S.).

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sein kann: »Er [Latour] schreibt dem Unbelebten Leben zu, über-geht Kontroversen und vertraut in asymmetrischer Weise den Ge-schichten seines Helden [Pasteur], während er die derjenigen igno-riert, die seine Rivalen waren. […] Hier sind wir schon gewesen«(Schaffer 1991: 192). Tatsächlich tritt Latour wenige Jahre später, an-lässlich des hundertsten Todestages von Pasteur, als Autor des quasi-offiziellen Jubiläumsbandes Pasteur. Une science, un style, un siècle(1994a) hervor, wartet allerdings auch mit einer historischen Studiezur Kontroverse zwischen Pasteur und Félix Pouchet (1994b) auf.

Kaum weniger kritisch als Schaffers Besprechung ist Steven Sha-pins (1988) Aufsatz-Rezension von Science in Action (1987) ausgefal-len. Das Bild, das Latour in diesem Buch von Wissenschaft undTechnik entwerfe, sei zwar durchaus anregend, so Shapin, doch dievon Latour geschilderte Welt der technoscience bleibe so wolkig, dassein erklärender Zugriff auf diesen Gegenstand nicht mehr möglichsei:

Es ist die Welt des grenzenlosen Netzes, eine Welt, in der alles mit allemverbunden ist, in der selbst die diskrete Existenz von Dingen und die Ka-tegorisierung von Prozessen nicht benutzt werden können, um die Hand-lungen derjenigen, die sie offenbar hervorbringen, zu verstehen oder zu er-klären. Nun spricht vieles für monistische Impulse und die genaue In-spizierung von Grenzen, doch aus der Innenperspektive des grenzenlosenNetzes kann über kaum etwas gesprochen werden. Letztlich können dieje-nigen, die wirklich im grenzenlosen Netz hausen, nichts Einleuchtendesüber dessen Beschaffenheit sagen – wenn sie konsistent bleiben, nicht ein-mal, daß es grenzenlos und ein Netz ist (Shapin 1988: 547).

Auch die Tatsache, dass Latour die wissenschaftliche Praxis der heu-tigen Wissenschaft auf einen paper war reduziere, also beispielswei-se kaum Interesse an den ausgedehnten und aufwendigen Ausbil-dungsprozessen zeige, in denen Wissenschaftler instrumentelle undandere Fertigkeiten erwerben, lässt es nach Shapin fraglich werden,ob sein Ansatz aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte einen Fort-schritt darstellen kann.

Ähnlich skeptisch hat sich Jan Golinski (1990) über den Latour’-schen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte geäußert. Golinski hältes für zweifelhaft, ob Latours Netzwerktheorie in der Lage sei, denHistoriker bei der Suche nach Erklärungen für die Handlungen vonWissenschaftlern innerhalb konkreter Situationen zu unterstützen.Das wesentliche Verdienst Latours bestehe darin, durch die gemein-

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sam mit Steve Woolgar verfasste Studie Laboratory Life (1979) einen»bleibenden Einfluß« auf historische Arbeiten über Laborprakti-ken und den Prozess des Experimentierens ausgeübt zu haben – zu-nächst in thematischer Hinsicht, dann aber auch insofern, als Wis-senschaft dabei als rhetorisches Unterfangen verständlich werde.Deutlich kritischer haben sich Timothy Lenoir und Philipp Sarasinüber Latours interpretativen Zugriff auf die historische Wirklich-keit von Wissenschaft geäußert. Der Befund lautet in beiden Fällenähnlich. Da die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vornehmlich aufeine semiotische Analyse veröffentlichter Texte abstelle, deren Be-zug zur wissenschaftlichen Praxis unklar bleibe, sehe man sich miteiner Rückkehr zum »Realismus alten Stils« (Lenoir 1994: 126) bzw.zu einem »naiven, vorkantischen Empirismus« (Sarasin 2003: 203)konfrontiert. Golinski hält dem entgegen, dass die Schriften La-tours immerhin eine Vielzahl von begrifflichen Ressourcen bereit-halten, die produktiv in der historischen Arbeit angewendet werdenkönnen. Ganz in diesem Sinne haben sich auch Autoren wie PeterGalison (1997: 15) und Hans-Jörg Rheinberger (2001: 44) auf Latourbezogen, beispielsweise wenn es um die Heterogenität der wissen-schaftlichen Praxis geht oder wenn es sich programmatisch darumhandelt, Wissenschaftsgeschichte als eine »Geschichte der Dinge«zu schreiben.

Gleichsam im Gegenzug beruft sich Latour an vielen Stellen sei-ner Arbeiten auf wissenschaftshistorische Autoren: zum einen aufKlassiker wie etwa Gaston Bachelard, Alexandre Koyré und ThomasKuhn; zum anderen auf gegenwärtig herausragende Vertreter desFaches, z. B. Robert Fox, Gerald Geison, Thomas Hughes undDaniel Kevles. Während die Studien dieser jüngeren Autoren beiLatour zumeist unhinterfragt als Grundlage für soziologische undhistorische Argumente über Wissenschaft und Technik dienen, wirddie traditionelle Wissenschaftsgeschichte von ihm fast durchwegkritisch beurteilt. In einer zusammen mit Geoff Bowker verfasstenStudie setzt Latour sich beispielsweise folgendermaßen von GeorgesCanguilhem ab: »In all seinen Büchern bestand Canguilhems Auf-gabe darin, Ideologien von Wissenschaft zu trennen, die unmit-telbare verwirrende Vergangenheit von scharfen und revolutionärenBegriffen« (Bowker/Latour 1987: 725). Sieht man näher hin, erwei-sen sich solche Aussagen als kaum haltbar. Von Ideologie ist beiCanguilhem nur in einem einzigen Buch die Rede, und zwar

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keineswegs, um diese von der Wissenschaft zu trennen, sondern ge-rade, um die Rolle von erklärenden Systemen totalisierender Aus-richtung im Übergang zur Wissenschaft zu beschreiben (siehe Can-guilhem 1977a). Canguilhem nimmt auch keine strikte Trennungwissenschaftlicher Begriffe von ihrer unmittelbaren Vergangenheitvor, sondern schreibt diese in die longue durée einer kollektiven De-finitionsarbeit ein, die auf analogischer Einbildungskraft beruht(siehe Canguilhem 1977b). Er ist deshalb keineswegs ein »Philosophder radikalen Diskontinuität«, wie Latour und Bowker (1987: 725)schreiben. Durch seine Betonung des Eigenlebens von Maschinenund Organismen und durch seine Rückbindung der Experimentier-tätigkeit an die vitale Auseinandersetzung von Lebewesen mit ihrerUmwelt wäre er sogar ein potentieller Bündnispartner für Untersu-chungen zum ausgeglichenen Zusammenhang von Natur und Ge-sellschaft (siehe dazu z. B. Schmidgen 2006).

Dennoch, Latour besteht auf der Abgrenzung. Und zwar selbst injenem Buch, das durch seinen Titel gleich in zweifacher Weise nahe-legt, es entfalte ein historisches Argument. Tatsächlich wird in Wirsind nie modern gewesen die »Verfassung der Moderne« aus einer aus-führlichen Auseinandersetzung mit Shapins und Schaffers wissen-schaftshistorischer Studie Leviathan and the Air-Pump abgeleitet.Die Rolle der Geschichte spielt Latour jedoch herunter: »Ich verfü-ge nicht über die historischen Kenntnisse meiner Kollegen und wer-de daher auf eine zwangsläufig spekulative Übung angewiesen sein«(Latour 1995: 44). Nicht um die Entfaltung eines historischen oderwissenschaftshistorischen Arguments über historische Epochen undderen Grenzen scheint es somit zu gehen, sondern um die Entwick-lung einer These, deren Stichhaltigkeit durch geschichtliche For-schung erst noch zu belegen wäre. Vielleicht liegt darin auch derGrund dafür, dass Latour nur wenig tut, dem Eindruck entgegenzu-steuern, »die Moderne« sei eine Frage der Einstellungen, Interpreta-tionen und Denkweisen – mithin des »psychosozialen Profils«, wieer an anderer Stelle schreibt (Latour 2002a: 340).

Latours Zurückhaltung gegenüber der Geschichte hat ihrenGrund. Denn »von Haus aus«, by training, ist Latour Philosoph.1975 hat er sein Studium der Philosophie und Theologie an derUniversität Tours mit einer Thèse de troisième cycle über Exegèse etontologie à propos de la resurrection abgeschlossen (Latour 1975). Be-treut wurde diese (unveröffentlichte) Arbeit von Claude Bruaire,

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einem Schüler Gabriel Marcels und Paul Ricœurs. Bruaire gilt als»theologischer Philosoph« und »christlicher Rationalist« und isthierzulande u. a. für seine Arbeiten zu Hegel, seine Philosophie desKörpers sowie durch Bücher wie Die Aufgabe, Gott zu denken (1973)und Medizin und Ethik (1982) bekannt (siehe dazu z. B. Roßler/La-tour 1997: 45; zu Bruaire siehe Kühn 1993). Aus derselben Zeit unddemselben Zusammenhang stammt die erste Publikation von La-tour, ein 1973 gehaltener, 1977 veröffentlichter Vortrag zum Pro-blem der Wiederholung im Werk des Philosophen, Schriftstellersund Publizisten Charles Péguy. Im Mittelpunkt dieser Studie stehteines der berühmtesten Werke von Péguy, Clio. Dialogue de l’histoireet de l’âme païenne. Posthum zuerst 1917/18 in Auszügen veröf-fentlicht, erschien Clio 1932 erstmals in vollständiger Fassung und1955 in einer früher entstandenen alternativen Version mit dem Ti-tel Veronique. Dialogue de l’histoire et de l’âme charnelle (siehe Péguy1961a; 1961b). Latour (1977) setzt sich mit beiden Versionen aus-einander und vergleicht sie im Rahmen seiner strukturalen Lektüremit dem Text des Neuen Testaments.

Im Folgenden wird versucht, im Rückgang auf Latours frühe Pé-guy-Studie einen Zugang zu seinem Werk zu eröffnen, der diemittlerweile gängigen Etikettierungen nicht wieder aufnimmt. Essoll hier einmal nicht um den Wissenschafts- und Technikforscher,nicht um den Soziologen bzw. Anthropologen der wissenschaftli-chen Praxis und der Alltagstechnik und nicht um den Politikwissen-schaftler und Ding-»Parlamentarier« gehen. Stattdessen wird La-tour als Philosoph vorgestellt, für den das Verhältnis von Erfahrung,Zeit und Geschichte ein zentrales Thema ist, und zwar besonders inseiner Fassung als Problem der Überlieferung, der Überlieferung vonTexten. Zugleich wird verdeutlicht, dass dieses Problem bei Latourimmer wieder im theologischen Register gestellt und erörtert wird.Latour versteht sich als »Exeget« wissenschaftlicher Dokumente(Texte, Bilder), und die Disziplin, an die er dabei explizit anschließt,ist die der Bibelexegese. Auf seine Verwurzelung in diesem Feld hater wiederholt hingewiesen. »Ich bin in Philosophie und Bibelexege-se ausgebildet worden […]«, erklärt Latour beispielsweise in einemGespräch, das Hugh Crawford (1993: 250) mit ihm geführt hat. InLaboratory Life (Latour/Woolgar 1979) wird die von Rudolf Bult-mann mitbegründete »Formgeschichte« angeführt, wenn es um dieAuslegung und Kontextualisierung wissenschaftlicher »Erzählun-

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gen« geht. Und auf den ersten Seiten des Pasteurization-Buchs(1988) bezieht sich Latour auf die bibelexegetischen Abschnitte inSpinozas Theologisch-Politischem Traktat, um seinen eigenen Um-gang mit historischen Quellen zu charakterisieren.

Wie sich zeigen wird, hat Latours frühe Parallellektüre von Cliound Neuem Testament entscheidend dazu beigetragen, dass er sichauch im Bereich der Wissenschaft vordringlich für die Frage derEinschreibung, der Überlieferung und Übersetzung interessiert.Seine Aufmerksamkeit für die Wissenschaft ist insofern nicht vonseiner Aufmerksamkeit für die Religion zu trennen. Bislang gibt eszwar nur ein Buch, in dem Latour (2002b) sich explizit mit der Fra-ge der Religion und der Religiosität auseinandersetzt. Wie wichtigfür ihn aber der parallele Blick auf den »alten Glauben« und die»neue Wissenschaft« ist, verdeutlicht der programmatisch lesbareSchlussabschnitt des Berliner Schlüssels:

Es gibt eine Transzendenz der Wissenschaft, wie es eine Transzendenz derReligion gibt; es gibt eine Referenz der Religion, wie es eine Referenz derwissenschaftlichen Arbeit gibt; es gibt eine wissenschaftliche Repräsenta-tion, wie es eine religiöse Re-Präsentation gibt. Transzendenz gibt es imÜberfluss. Allein es fehlt der Glaube, sei er nun religiöser oder wie heute imallgemeinen wissenschaftlicher Natur (Latour 1996a: 275 f.).

Es ist keineswegs Melancholie, die aus diesen Sätzen spricht. Viel-mehr handelt es sich um die vergleichsweise nüchterne Beobach-tung eines »Liebhabers der Wissenschaften«, der aber ganz offenbarauch ein Liebhaber der Religion ist.

Latours frühe Beschäftigung mit Péguy ist keine Episode geblie-ben. Noch zwanzig Jahre später bezeichnet Latour ihn als den»größten französischen Prosaschriftsteller« und »zweifellos tiefgrün-digsten Philosophen der Zeit« (Latour 1997: 179). Auch an Bezügenauf Clio mangelt es in späteren Werken nicht. In The Pasteurizationof France wird auf diesen Dialog als »die wahrscheinlich tiefschür-fendste Untersuchung zum Verhältnis der verschiedenen geschicht-lichen und religiösen Zeiten« verwiesen (Latour 1988: 258). Wir sindnie modern gewesen zitiert Clio als »schönste Meditation über dasGemenge der Geschichten« und entfaltet im Anschluss daran eineKritik des modernen Zeitbegriffs und der Geschichtswissenschaft(Latour 1995: 92). Nicht weniger wichtig als diese bleibende Aus-richtung auf und an Péguy ist für den Ansatz der vorliegenden Stu-