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Leseprobe Müller-Wille, Staffan / Rheinberger, Hans-Jörg Das Gen im Zeitalter der Postgenomik Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme © Suhrkamp Verlag edition unseld 25 978-3-518-26025-8 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Mit der Komplettierung der Sequenzen ganzer Genome, insbesondere des Humangenoms, ist die Genetik – als Wissenschaft ein Kind des 20. Jahr-hunderts – an …

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Leseprobe

Müller-Wille, Staffan / Rheinberger, Hans-Jörg

Das Gen im Zeitalter der Postgenomik

Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme

© Suhrkamp Verlag

edition unseld 25

978-3-518-26025-8

Suhrkamp Verlag

edition unseld 25

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Mit der Komplettierung der Sequenzen ganzer Genome, insbesondere desHumangenoms, ist die Genetik – als Wissenschaft ein Kind des 20. Jahr-hunderts – an den Rand eines grundlegenden Denkwandels getreten. Viel-fach werden Stimmen laut, die den Genbegriff zugunsten systemischerPerspektiven in Frage stellen oder gar ganz aufgeben wollen. Auf der an-deren Seite treten Åberwunden geglaubte Denkfiguren wie die Vererbungerworbener Eigenschaften oder die Einteilung des Menschen nach ›Rassen‹wieder in das Blickfeld wissenschaftlicher und medizinischer Debatten. Umden Gegenwartshorizont des Genetischen angesichts dieser verwirrendenTendenzen abzustecken, ist eine historische Standortbestimmung ange-bracht. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß ›das Gen‹ das zentraleorganisierende Thema der Biologie des 20. Jahrhunderts war. Ein Blickauf die Geschichte der Genetik und Molekularbiologie zeigt jedoch, daßes nie eine allseits akzeptierte Definition des Gens gegeben hat. Vielmehrbefand sich der Begriff, und dies ist keineswegs untypisch fÅr historischeinflußreiche wissenschaftliche Begriffe, seit je im Fluß.

Staffan MÅller-Wille ist Dozent fÅr Wissenschaftsgeschichte und -philoso-phie und Research Fellow des Forschungszentrums fÅr Genomik in derGesellschaft an der Universit�t Exeter.

Hans-JÇrg Rheinberger ist Direktor am Max-Planck-Institut fÅr Wissen-schaftsgeschichte in Berlin. Im Suhrkamp Verlag erschienen Experimental-systeme und epistemische Dinge (2006) und Epistemologie des Konkreten(2006).

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Das Gen im Zeitalterder PostgenomikEine wissenschaftshistorischeBestandsaufnahme

Staffan Muller-WilleHans-Jorg Rheinberger

Suhrkamp

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Die edition unseld wird unterstÅtzt durch eine Partnerschaftmit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de

edition unseld 25

Erste Auflage 2009

OriginalausgabeF Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

OriginalausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des Çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Satz: Jouve Germany, KriftelDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlaggestaltung: Nina VÇge und Alexander StublicPrinted in GermanyISBN 978-3-518-26025-8

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Das Gen im Zeitalter der Postgenomik

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Inhalt

1 Das Gen, ein Begriff im Fluß . . . . . . . . . . 9

2 Das Erbe des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 18

3 Ein MÇnch und seine Entdeckung . . . . . . . . 33

4 Von der Kreuzung zur Karte – Klassische

Genkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5 Die klassische Genetik findet ihre Grenzen . . . . 62

6 Desoxyribonukleins�ure – Blaupause

oder MolekÅl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

7 Der Werkzeugkasten der Gentechnologie . . . . . 89

8 Robuste Module und flexible Assoziationen . . . 104

9 Genbanken und Biochips – Postgenomik . . . . 118

10 Die Zukunft des Reduktionismus . . . . . . . . 127

Literaturnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

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[A]lle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zu-sammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nurdas, was keine Geschichte hat.

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887),in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und

M. Montinari, Berlin: Walter de Gruyter 1968, Bd. VI/2, S. 333.

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1 Das Gen, ein Begriff im Fluß

In diesem Essay bÅndeln wir ein Jahrhundert genetischer For-schung. Dabei geht es uns um eine Art Tiefendiagnose desanbrechenden Zeitalters der sogenannten Postgenomik. Ent-wickeln wir zun�chst kurz, was unter Postgenomik zu verstehenist: Als Genom bezeichnet man die Gesamtheit der Erbinfor-mation, die in den Zellkernen eines Organismus in Form vonDesoxyribonukleins�ure (DNS) gespeichert ist. Genomikmeint dann zun�chst nichts weiter als das wissenschaftlicheFeld, auf dem Forscher die mÇglichst vollst�ndige Aufkl�rungdes molekularen Aufbaus von Genomen betreiben; untersuchtwird die Abfolge oder »Sequenz« von Basenpaaren, aus denensich die KettenmolekÅle der DNS zusammensetzen. WÇrtlichbenennt der Ausdruck »Postgenomik« daher zun�chst einmalnur die Phase, in der sich die Lebenswissenschaften befinden,seit es Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelang,Åber einzelne Chromosomenabschnitte hinaus ganze Chromo-somens�tze vollst�ndig zu sequenzieren.

So weit, so gut, mÇchte man sagen. Genomische Großpro-jekte wie insbesondere das Humangenomprojekt konnten zuBeginn des neuen Jahrtausends rechtzeitig zum fÅnfzigstenJahrestag der Aufkl�rung der Doppelhelixstruktur der DNS(im Jahr 1953) zum Abschluß gebracht werden. Doch nun sahensich die Biowissenschaften vor ganz neuartige Fragen gestellt –Fragen, die nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch dieExpression und die gesamte Funktionsweise des Genoms be-treffen und auf die es gegenw�rtig noch keine Åberzeugenden,geschweige denn abschließenden Antworten gibt. Vor allem dieGenetik – als Wissenschaft von der Vererbung ein Kind des

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20. Jahrhunderts – findet sich unversehens an der Schwelle zueinem grundlegenden Denkwandel wieder, mit unabsehbarenFolgen. Wie ist es dazu gekommen?

FÅr Evelyn Fox Keller waren es »gerade die Erfolge« derGenomik, die »auch ihre Triebfeder, den Genbegriff, radikalunterminiert[en]« (Keller 2001, S. 16). In Teilen der Wissen-schaft werden daher schon Stimmen laut, die den Genbegriffals fundamentale Einheit des biologischen Denkens in Fragestellen. Immer Çfter liest man hier S�tze wie: »Das ›Gen‹ ist zueinem vagen und schlecht definierten Begriff geworden. [. . .]Was ist ein ›Gen‹? �berraschenderweise gibt es in der Welt derBiologie und Genetik keine einfache Antwort mehr.« (Scherrerund Jost 2007, S. 1) Manche wollen den Genbegriff sogar –zugunsten grunds�tzlich neuer, systemischer Denkweisen –ganz aufgeben. Hier wie dort heißt es: »Gen in der Krise«(GID Spezial 2008). Zugleich rÅcken bereits Åberwunden ge-glaubte Denkfiguren wie die Vererbung erworbener Eigen-schaften oder die Einteilung des Menschen nach Rassen erneutin den Brennpunkt wissenschaftlicher und medizinischer De-batten. Auf all diese Uneindeutigkeiten und Ungleichzeitigkei-ten spielt die Rede von der »Postgenomik« mit ihrer offenkun-digen Anlehnung an die »Postmoderne« an.

Um den Gegenwartshorizont der Lebenswissenschaften an-gesichts dieser verwirrenden Situation abzustecken, ist eine wis-senschaftshistorische Bestandsaufnahme angebracht. »DasGen« wird darin trotz seiner gegenw�rtigen Infragestellung eineherausragende Rolle spielen. Denn selbst seine heutigen Kriti-ker bestreiten kaum, daß es als wissenschaftliches Objekt undals Begriff die Biologie des 20. Jahrhunderts zentral organisierthat (Keller 2001, Moss 2003). Auch aus dem Çffentlichen Dis-kurs ist es keineswegs verschwunden – aus nachvollziehbaren

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GrÅnden, wie wir noch sehen werden. Man kÇnnte glauben,daß die zentrale Stellung des Gens in der Biologie des 20. Jahr-hunderts eigentlich nur damit zu tun haben kann, daß ihm,unter Absehung von der Komplexit�t und Vielfalt der Lebens-erscheinungen, eine ganz bestimmte und einfache Bedeutungbeigelegt wurde. Der Blick, den wir in diesem Buch auf daslange Jahrhundert der Genetik und Molekularbiologie werfenwollen, wird jedoch zeigen, daß es eine solche einfache undallseits akzeptierte Definition des Gens zu keinem Zeitpunktgegeben hat, vor allem aber keine simplifizierend-reduktioni-stische, wie sie den Genetikern und Molekularbiologen des20. Jahrhunderts von den eifrigsten Verfechtern eines grund-s�tzlichen Neuanfangs in den Lebenswissenschaften gern unter-stellt wird. Vielmehr befand sich der Begriff des Gens – und dasist durchaus typisch fÅr einen historisch einflußreichen wissen-schaftlichen Terminus – immer »im Fluß« (Elkana 1970, Falk1986, Morange 2001). Bereits der d�nische Botaniker WilhelmJohannsen trug dem Rechnung, als er »das Gen« vor genaueinhundert Jahren in die wissenschaftliche Literatur einfÅhrte,ihm jedoch ausdrÅcklich eine allenfalls vage begriffliche Bedeu-tung beilegte. »Das Wort Gen«, schrieb er 1909, sei »vÇllig freivon jeder Hypothese« und solle »die bloße Vorstellung« zumAusdruck bringen, »daß durch ›etwas‹ in den Gameten [dasheißt den Keimzellen] eine Eigenschaft des sich entwickelndenOrganismus bedingt oder mitbestimmt wird oder werdenkann« (Johannsen 1909, S. 124).

Im 20. Jahrhundert gab es natÅrlich dennoch immer neueVersuche, diesem »Etwas« bestimmte Bedeutungen beizulegen(Rheinberger und MÅller-Wille 2008). Aber die anschließende»Operationalisierung« der gerade gewonnenen Definition – derVersuch, sie, meist zu experimentellen Zwecken, handhabbar

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zu machen – resultierte typischerweise in neuen R�tseln undrief damit wiederum zu alternativen und noch komplexerenBeschreibungen und Erkl�rungen auf. Etwas paradox kannman sagen, daß mit jeder definitorischen Festlegung weitereAnl�sse fÅr die Infragestellung des Gens geschaffen wurdenund daß gerade hierin die wissenschaftliche Produktivit�t desBegriffs lag. Seine Position als zentrales organisierendes Themader Biologie des 20. Jahrhunderts verdankte »das Gen« alsoweniger seiner immer definitiver und genauer werdenden Be-stimmung als vielmehr der Tatsache – so eine ÅbergreifendeThese dieses Buches –, daß der korrespondierende Forschungs-gegenstand, das Gen als »epistemisches Objekt« (Rheinberger2006a), sich Zug um Zug einer instrumentell vermittelten,experimentellen Handhabung erschloß. Auf wie unterschied-liche Weise dies geschah, verdeutlicht bereits die folgendeKapitelÅbersicht.

Kapitel 1 beschreibt Entwicklungslinien der Biologie im19. Jahrhundert, in deren Schnittpunkt sich »Vererbung« alszentrales biologisches Problem abzuzeichnen begann. Wir ver-deutlichen hier, daß die Vererbungsvorstellungen des 19. Jahr-hunderts kein einfaches Ph�nomen umkreisten; schon gar nichtsollten die �hnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern (etwa inder Haar- oder Augenfarbe) neu begrÅndet werden, die bereitsseit der Antike im Sinne der Regel »Gleiches erzeugt immer sichGleiches« erkl�rt wurden. Wenn Naturforscher in der zweitenH�lfte des 19. Jahrhunderts mit wachsender Eindringlichkeitvon Vererbungsvorg�ngen sprachen, hatten sie vielmehr etwasvor Augen, das dem ersten Blick als kapriziÇse Ausnahmekon-stellation erscheinen konnte. Denn von Vererbung sprachen sieeigentlich nur dann, wenn sich eine Abweichung von der Normbeobachten ließ – eine Krankheit, eine Mißbildung oder auch nur

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ein besonders auff�lliges Merkmal –, die in darauf folgendenGenerationen trotz ihres scheinbar zuf�lligen und individuellenUrsprungs immer wieder auftrat. Diese Beobachtung sprachfÅr die Annahme eines generationenÅbergreifenden Systemsmikroskopischer »Keime« oder »Anlagen«, das eigenen Ent-wicklungsgesetzen gehorchte und sich – wenn Åberhaupt –nur unvollkommen in individuellen, der direkten Beobachtungzug�nglichen Lebenserscheinungen manifestierte. Ein Zugriffauf diese Ebene des Lebens war nur theoretisch oder im Experi-ment mÇglich.

Kapitel 2 und 3 widmen sich dem Aufstieg der klassischenGenetik in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts, die imJahr 1900 durch die sogenannte Wiederentdeckung der Arbei-ten des BrÅnner AugustinermÇnches Gregor Mendel eingeleitetwurde. Weitgehend unbemerkt vom zeitgenÇssischen Wissen-schaftsbetrieb hatte Mendel bereits in den sechziger Jahren des19. Jahrhunderts ein Experimentalsystem geschaffen, das diegenetische Konstitution von Organismen durch gezielte Kreu-zungsversuche aufzudecken erlaubte. In der Hand seiner »Wie-derentdecker« wurde daraus zu Beginn des 20. Jahrhundertsmit erstaunlicher Geschwindigkeit ein Instrument zur Unter-suchung von einfachen, aber auch schon komplexen Erbg�n-gen. Ph�nomene der Kopplung und Wechselwirkung zwischenGenen sowie geschlechtsgebundene und multifaktorielle Ver-erbung durchkreuzten bald den in den Mendelschen Regelnvorausgesetzten Idealfall, dem zufolge elementare Erbanlagenstatistisch auf die Keimzellen verteilt und unabh�ngig vonein-ander weitergegeben wurden.

Als biologische Leitdisziplin wirkte die Genetik, wie wir inKapitel 4 und 5 sehen werden, weit Åber ihren ursprÅnglichengen disziplin�ren Rahmen hinaus. Die Weitergabe der An-

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lagen fÅr Merkmale und deren Entwicklung wurden voneinan-der unabh�ngigen und jeweils eigenen Gesetzm�ßigkeiten un-terworfenen Ordnungen zugeschrieben, dem Genotyp unddem Ph�notyp, und diese kategorische Unterscheidung be-herrschte bald das Denken der Epoche Åber das Lebendige.Obwohl die klassische Genetik ihrem Ansatz nach eine vorwie-gend ph�nomenologisch und formal orientierte Wissenschaftwar, standen Fragen der Evolution und der Embryologie zujeder Zeit an ihrem Horizont. Vor allem in den dreißiger Jahrenging man dazu Åber, der Bedeutung von Genen fÅr die Evolu-tion von Populationen und innerhalb der Entwicklung vonEinzelorganismen experimentell und mit mathematischen Mo-dellen nachzuspÅren. �ber die physische Natur des genetischenMaterials, die Mechanismen seiner Weitergabe von Generationzu Generation sowie seine Wirkungsweise im KÇrper wurdeallerdings auch in dieser Phase keine Klarheit erreicht, trotzder erstaunlichen Erfolge bei der Aufkl�rung seiner formaleninneren Struktur.

In Kapitel 6 rÅckt die Molekularisierung der Genetik um dieMitte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum. Im Gefolge der bio-physikalischen und biochemischen Techniken, die in der erstenJahrhunderth�lfte Einzug in die Lebenswissenschaften gehaltenhatten, erschloß sich die Materialit�t des Gens und schuf RaumfÅr einen neuen Diskurs Åber die eigentÅmliche Natur desLebendigen, der um die Zentralmetapher der Information krei-ste. Besonders folgenschwer war die Entwicklung molekular-genetischer Instrumentarien, mit denen sich das Genmaterialdirekt manipulieren ließ. Mit ihnen besch�ftigen wir uns inKapitel 7, wo wir fÅr die Entwicklung der Molekularbiologie�hnliches beobachten werden wie zuvor fÅr die klassische Ge-netik: Ausgehend von einer einfachen Annahme – dem soge-

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nannten »zentralen Dogma« der Molekularbiologie, wonachgenetische Information ausschließlich von den Genen zu denProteinen fließt und nie den umgekehrten Weg nimmt – ergabsich zur �berraschung vieler Beteiligter ein zunehmend kom-plexes Bild der Expression und Transmission genetischer Infor-mation. Beide Prozesse wurden offenbar von regulierendenNetzwerken, verteilten Architekturen und epigenetischen Me-chanismen gesteuert.

In Kapitel 8 ist die schrittweise Ver�nderung der Perspektiveauf Entwicklung und Evolution Thema, die die Molekularisie-rung der Biologie bewirkt hat. W�hrend »das Gen« als bestim-mender Faktor fÅr die Expression von Merkmalen zunehmendverschwimmt, nimmt es gleichzeitig ZÅge einer »Ressource« an,die in evolution�ren, ontogenetischen und metabolischen Pro-zessen auf unterschiedliche Weise mobilisiert werden kann.Kapitel 9 skizziert dann den Anwendungshorizont einer neuenGeneration genetischer und postgenetischer Technologien, dieorganismische Systemzust�nde sichtbar machen. Sie werdennicht nur das menschliche Reproduktionsverhalten, sondernauch die medizinische Therapeutik im 21. Jahrhundert mit-bestimmen und erlauben es, in Umrissen ein Bild davon zuzeichnen, welche Art von Entwicklungen auf diesem GebietfÅr ein postgenomisches Zeitalter charakteristisch sein kÇnn-ten. Im selben Maße, in dem sich Vorstellungen von Genen alsatomaren Erbanlagen aufgelÇst haben, hat sich der Gedankeeines modularen Ensembles aus genetischen und epigeneti-schen Mechanismen konkretisiert, was heute nicht nur die ge-zielte Reprogrammierung von Zellen, sondern auch deren syn-thetische Produktion am Horizont des technisch Machbarenerscheinen l�ßt.

Kapitel 10 wendet sich vor diesem Hintergrund der Frage zu,

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ob die gegenw�rtige Phase der Postgenomik uns tats�chlich –gleichsam in SelbstÅberwindung des genetischen und moleku-larbiologischen Reduktionismus – an die Ufer einer neuen,ganzheitlichen Systembiologie gefÅhrt hat; oder ob in ihr nichtdoch, wie schon angedeutet, jene reduktive Sicht des Lebenstriumphiert, die der klassischen wie auch der molekularen Ge-netik eigen war. Unsere Antwort soll den aktuellen Debattenum postgenomische Forschungsstrategien in erster Linie dierhetorischen und ideologischen Spitzen nehmen. Weder stehtdie Forschung kurz vor einem Durchbruch, der mit allen vor-herigen IrrtÅmern einfach aufr�umt und sie zu endlich auchwahr werdenden Heilsversprechen bef�higt, noch ist die heu-tige Genom- und Proteomforschung eine bloße Fortsetzungschon immer verkehrter und unheilvoller Reifikationen mitneuen Mitteln. Was am zurÅckliegenden »Jahrhundert desGens« wissenschaftstheoretisch und -historisch fasziniert, istseine ungeheure Dynamik. Sie scheint auch im Zeitalter derPostgenomik ungebrochen. Gerade dies sollte uns veranlassen –nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen, die mit der Umsetzungeugenischer Programme im vergangenen Jahrhundert gemachtwurden –, jeder Art Normierungs- oder Optimierungsver-sprechen skeptisch gegenÅberzustehen, ohne deshalb die tat-s�chliche Leistungsf�higkeit der modernen Genomforschungzu untersch�tzen.

In diesem Buch wollen wir ein Bild des »wissenschaftlichenFortschritts« als einer Form der kreativen Produktivit�t entwer-fen, in der Zufall und variable GestaltungsmÇglichkeiten eine�hnlich große Rolle spielen wie in den KÅnsten. Das wider-spricht in mancher Hinsicht dem Selbstverst�ndnis vieler Wis-senschaftler und Wissenschaftlerinnen, zumindest soweit essich in der �ffentlichkeit ausspricht. Es widerspricht in vielem

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aber auch den Erwartungen, mit denen �ffentlichkeit undPolitik an die Wissenschaft treten. Wir mÇchten aber – geradeangesichts der politischen und ethischen Probleme, die das bio-medizinische Arsenal der Gegenwart aufwirft – darauf auf-merksam machen, daß die Wege der Forschung, sofern siedem Unbekannten auf der Spur sind, per definitionem nichtauf ein vorherbestimmtes Ziel hinauslaufen. Oder wie Fran�oisJacob einmal gesagt hat: »Was wir heute vermuten kÇnnen,wird nicht Wirklichkeit werden. Ver�nderung wird es auf jedenFall geben, doch wird die Zukunft anders sein, als wir glauben.«(Jacob 1981, S. 130)

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2 Das Erbe des 19. Jahrhunderts

Die Gesetze und Mechanismen der Vererbung, Åber die unsGenetik und Molekularbiologie belehrt haben, sind aus heuti-ger Sicht von zentraler Bedeutung fÅr jedes Verst�ndnis derEvolution und Entwicklung von Organismen. Um so Åberra-schender mag es erscheinen, daß Charles Darwin – als einer derWegbereiter der Genetik – der Vererbung in seinem Hauptwerk�ber die Entstehung der Arten aus dem Jahr 1859 nur knapp zweiSeiten widmete. Bei den zeitgenÇssischen Lesern blieb auchseine sp�ter nachgereichte Hypothese von Vererbung durch»Pangenesis« ohne positive Resonanz. »Nicht-erbliche Ab�nde-rungen«, wußte Darwin schon, seien fÅr eine Theorie der Ent-stehung der Arten »ohne Bedeutung«. Doch die »Gesetze, wel-che die Vererbung der Charactere regeln«, seien, so mußte ereingestehen, »zum grÇßten Theil unbekannt, und niemandvermag zu sagen, woher es kommt, daß dieselbe EigenthÅm-lichkeit in verschiedenen Individuen einer Art und in verschie-denen Arten zuweilen vererbt wird und zuweilen nicht«(Darwin 1992, S. 32-33). Tats�chlich war dies ein Schwachpunktder Darwinschen Theorie der Entstehung der Arten durch na-tÅrliche Zuchtwahl, der viele Biologen der zweiten H�lfte des19. Jahrhunderts veranlaßte, nach aus heutiger Sicht »nicht-dar-winistischen« oder sogar »anti-darwinistischen« Alternativtheo-rien zu suchen (Bowler 1983; Gayon 1998).

Darwins Ahnungslosigkeit, was die Mechanismen der Verer-bung anging, lag vor allem darin begrÅndet, daß die ursprÅng-lich aus dem Rechtswesen entlehnte Metapher der »Vererbung«erst zu seiner Zeit Eingang in wissenschaftliche Schriften ÅberFortpflanzungserscheinungen fand (L�pez Beltr�n 2004). Vorher

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wurde Fortpflanzung Åberwiegend unter dem Aspekt der Zeu-gung von Einzelwesen betrachtet, eine Perspektive, in der Ent-wicklungs- und Vererbungsvorg�nge unentwirrbar blieben; ent-sprechend kam es auch zu keiner systematischen Erforschungvon Strukturen und Prozessen, die Åber den – bislang entschei-denden – Moment der Erzeugung des Einzelwesens hinausreich-ten (Jacob 2002, Kap. 1). Zugespitzt kann man sagen, daß fÅr diebiologische Betrachtung bis in das 19. Jahrhundert hinein dieFrage im Vordergrund stand, unter welchen �ußeren Bedingun-gen natÅrliche Nachkommen entstanden oder »gemacht« wur-den, und nicht, was dazu mÇglicherweise von Generation zuGeneration weitergegeben wurde. Jede Zeugung erschien als in-dividueller SchÇpfungsakt, so daß das regelm�ßige Wiederauf-tauchen von Krankheiten und Mißbildungen in bestimmtenFamilien als »außernatÅrlicher« Vorgang erfahren wurde, derdie hergebrachte Ordnung sprengte. Auf dem Gebiet der Verer-bungsph�nomene verfÅgten fÅr Darwin und seine Zeitgenossendenn auch allenfalls ZÅchter und Mediziner Åber relevantes Er-fahrungswissen – Praktiker also, die sich mit der Produktion bzw.Diagnose und Therapie von Abweichungen befaßten –, nichtaber Biologen (Rheinberger und MÅller-Wille 2009, Kapitel 2

und 3).Die Genetik mit ihrer Vorstellung von einer gesetzm�ßigen

�bertragung nicht nur krankhafter und ungewÇhnlicher, son-dern auch gewÇhnlicher und selbst lebensnotwendiger Eigen-schaften verl�ngerte so gesehen nicht eine jahrtausendealte undauf die Best�ndigkeit der Arten fixierte Tradition, sondernbrach vielmehr mit ihr. Daß Darwin sich dessen in aller Sch�rfebewußt war, stellt vielleicht seine bahnbrechendste Leistungdar. »Wenn eine Abweichung nicht selten erscheint, und wirsie im Vater und im Kind sehen«, argumentierte er in �ber die

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Entstehung der Arten, »kÇnnen wir nicht sagen, ob sie nichtderselben ursprÅnglichen Ursache zu verdanken ist, die aufbeide wirkte. Wenn aber unter Individuen, die offenbar den-selben Bedingungen ausgesetzt sind, eine sehr seltene Abwei-chung [. . .] in den Eltern erscheint [. . .] und in dem Kindwieder auftaucht [. . .], so sind wir schon fast allein auf Grundder Lehre der Wahrscheinlichkeiten gezwungen, das Wieder-auftauchen dieser Abweichung der Vererbung zuzuschreiben.«(Darwin 1992, S. 32)*

Wie schon diesen wenigen Worten zu entnehmen ist, wollteDarwin durch Vererbung nicht einfach nur erkl�ren, wie �hn-lichkeiten zwischen Vorfahren und Nachkommen zustandekamen. Solche �hnlichkeiten ließen sich, vereinfacht gesagt,genauso damit begrÅnden, daß �hnliche �ußere Umst�ndedie Zeugung sukzessiver Generationen begleitet hatten. Sehrviel spezifischer interessierten Darwin F�lle, in denen sich mar-kante Abweichungen unter Lebensumst�nden reproduzierten,die die gleiche Abweichung bei anderen Individuen derselbenArt eben nicht erzeugten. In solchen F�llen konnten �ußereLebensumst�nde nicht das auslÇsende Moment der beobachte-ten Variation sein; vielmehr lag hier »Vererbung« vor: die un-weigerliche Weitergabe einer Variation an Nachkommen. FÅrDarwin beinhaltete Vererbung, anders gesagt, daß die UrsachefÅr die anf�ngliche Entstehung der Abweichung in der innerenOrganisation der »Keime« und »Anlagen« liegen mußte, ausdenen sich mit jeder Generation neue Lebewesen entwickelten.

Kurz, der Begriff der Vererbung bezog sich von Anfang an

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* Die hier zitierte deutsche �bersetzung von Victor Carus folgt dersechsten Auflage von Darwins Origin of Species. Die oben zitiertenS�tze Åbernahm Darwin allerdings unver�ndert aus der ersten Auf-lage.