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Leseprobe Blumenberg, Hans Präfiguration Arbeit am politischen Mythos Herausgegeben und mit einem Nachwort von Angus Nicholls und Felix Heidenreich © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58604-4 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Profil erhöhen. Form und Richtung des eingeleiteten Prozesses, aber auch die Definition von Rechten und Lasten in der Ausgangssituation, erhalten dann so et-

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Leseprobe

Blumenberg, Hans

Präfiguration

Arbeit am politischen Mythos

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Angus Nicholls und Felix Heidenreich

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-58604-4

Suhrkamp Verlag

SV

Hans BlumenbergPräfiguration

Arbeit am politischen Mythos

Herausgegeben vonAngus Nicholls und Felix Heidenreich

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2014© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-58604-4

Inhalt

I Präfiguration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7II Ein Umweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

III Briefwechsel zwischen Hans Blumenbergund Götz Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

IV Götz Müller: Rezension vonArbeit am Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Nachwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . 83Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

I

Präfiguration

Das Phänomen der Präfiguration setzt voraus, daß diemythische Denkform als Disposition zu bestimmtenFunktionsweisen noch oder wieder virulent ist. In derPräfiguration geht die Mythisierung an die Grenze derMagie heran oder überschreitet diese gar, sobald mitdem ausdrücklichen Akt der Wiederholung eines Prä-figurats die Erwartung der Herstellung des identischenEffekts verbunden wird. Zunächst aber ist die Präfigu-ration nur so etwas wie eine Entscheidungshilfe: wasschon einmal getan worden ist, bedarf unter der Vor-aussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneu-ter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durchdas Paradigma vorentschieden.

Bedenkt man den anthropologischen Sachverhalt,daß Verzögerung und Zögern ganz wesentliche Gewin-ne einer neuartigen Optik, der räumlichen Distanz undihrer Abschätzbarkeit, gewesen sind, so ist es klar, daßhier ein zunächst unbesetztes Feld von Möglichkeitenentstand, deren Vielfalt ausschließlich vom Quantumder gewonnenen Distanz und damit der gewonnenenZeit abhängig war. Wer viel Zeit hat, kann viel über-legen; aber viel Überlegung ist keine Garantie für einebessere Entscheidung, oder jedenfalls dies nicht immer

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und um so weniger, wie mangelhafte Daten in die Über-legung einbezogen werden. Die Präfiguration verleihteiner Entscheidung, die von äußerster Kontingenz, alsoUnbegründbarkeit sein mag, Legitimität. Selbst wenndas Resultat der Entscheidung ungünstig ausfällt, läßtsich ihr nicht vorwerfen, sie habe den Aspekt des gün-stigen Augenblicks unter höchstem Gesichtspunkt undunter Verstärkung der mit der Entscheidung verbun-denen Intention nicht beachtet oder nicht genutzt. Fürden Überraschungsangriff des Yom-Kippur-Kriegeshatte das ägyptische Oberkommando den späten Nach-mittag angesetzt, weil dann die am Suezkanal stehen-den israelischen Streitkräfte hätten gegen die Sonnesehen müssen und die hereinbrechende Dunkelheitden Brückenschlag über den Kanal erleichtert hätte.Die Syrer hatten diesen Termin verhindert, weil siein der gleichen Richtung zur Sonne angreifen mußtenwie die Verteidiger am Kanal standen; sie wollten ihrer-seits den Angriff im Morgengrauen, um die Sonne imRücken zu haben. Das war eine Frage, in der nur einKompromiß den Ausweg bot: es wurde mittags 14 Uhrangegriffen. Aber an welchem Tag angegriffen werdensollte, war im Verhältnis zu diesen rational entscheid-baren Fragen kontingent. Der Operationsstab ent-schied für den zehnten Tag des Fastenmonats Rama-dan, den 6. Oktober. Weshalb? Am zehnten Tag desRamadan im Jahr 623 hatte der Prophet Mohammedmit den Vorbereitungen für die Schlacht von Badrbegonnen, die zehn Tage später den Triumph des Islamüber die arabische Welt mit seinem Einzug in Mekka

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einleiten sollte.1

1 Herzog, Chaim, Entscheidung in der Wüste, Berlin 1975, S. 48.

Sowenig die Kriegführenden es wag-ten, tatsächlich den heiligen Krieg auszurufen, zu demdie nicht an der Front beteiligten Staaten drängten,weil man einen so ungewissen Ausgang nicht mit demCharakter der letzten Entscheidung verknüpfen woll-te, so gern bediente man sich plakativ der Entschei-dungshilfe eines hochbedeutsamen Datums in der Ge-schichte des Islam.

An dem Beispiel ist zu sehen, daß die bedeutsameVorgabe, das Prägnat zur Präfiguration nicht geborenist, sondern gemacht wird, auf daß erfüllt werde, wasgeschrieben steht – sobald das Erfüllende das Erfüllteerkennen läßt. Bei Ungewißheit der Erfüllung ist eingewisses Maß von Ungenauigkeit der Vorgabe zwin-gend. Zwar ist Wiederholung die mythische Grund-figur, die sie noch im Kreisschluß der punktuellenIdentität behält, doch wird das Wiederholte erst durchWiederholung, durch diesen kontingenten Akt der Se-lektion, dessen Kontingenz zu verdrängen ist, zum my-thischen Programm. Doch das ist der Aspekt des histo-risch-archäologischen Zuschauers. Ihm stellt sich dieRelation erst durch die Relata her. Der im Ritual Le-bende nimmt die Verbindlichkeit zur Wiederholung inder Vorlage, die er nachvollzieht, unmittelbar wahr. Na-türlich ist die Schlacht bei Badr in der nationalen wiereligiösen Geschichte der Araber ein wichtiges Da-tum; aber ihre volle Bedeutsamkeit hat sie erst in Ver-bindung mit dem erfolgreichen Übergang über den

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Suezkanal gewonnen, der den Arabern ihr beschädig-tes Selbstbewußtsein zurückgegeben hat.

Es wird uns so schwer, die nachbildende Beziehungzu verstehen, die wir Präfiguration nennen, weil wirNachbildung für etwas der nachgebildeten Sache ganzund gar Zufälliges halten, nur mit Lächeln hinzuneh-men bereit sind, es müsse an ihr eine vorbildhafte Qua-lität gefunden werden können, die das nachbildendeHandeln motiviert. Ist es schon als ein ontologischerArchaismus hingenommen worden, daß Platos Ideenauch Relationen als in der Sachwelt selbst bestehendeSachverhalte auslegt und deren Begriffe auf Ideen zu-rückführt, so ist erst recht als unbedeutender Denkfeh-ler eines bedeutenden Denkers übergangen worden,daß diese Ideen Platos ›Urbilder‹ nicht erst kraft derin ihren Abbildern hergestellten Relation werden unddies an ihnen selbst gar nichts ausmacht, ihre Wieder-holbarkeit und Nachbildbarkeit an ihnen kein realesPrädikat ergibt, sondern sie durch und durch und alsIdeen das Wiederholung Heischende sind, noch bevorsie nachgebildet werden, sogar ohne daß sie je nachge-bildet wären. Sie sind Urbilder kraft ihrer selbst, nichtkraft ihrer faktischen Relation zu Abbildern. Nur dar-aus, wie Plato im Kunstmythos vom demiurgischen Ur-sprung der Erscheinungswelt mit ihnen umgeht, denDemiurgen gleichsam unter Handlungszwang stellt,weil er gut und tüchtig ist, erfahren wir indirekt undnebenbei, was in der Ideenlehre als unausdrücklicheSelbstverständlichkeit steckt und was ihre Affinitätzum artifiziellen Mythos, ihre nicht zufällige Darstell-

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barkeit durch diesen, ausmacht. Damit erklärt sich auchder gewaltsam erscheinende Übergang von einem frü-hen Ideenbegriff, der die Normativität von ethischenBegriffen erklären will und uns darin noch plausibelbleibt, weil wir ›Tugenden‹ als etwas in der Realität nichtVorfindliches und dennoch Verbindliches zu begreifenvermögen, zu dem naturphilosophischen Ideenbegriff,der auch für die Natur eine solche Vorlagenwelt reinerGattungen und Arten behauptet, die nicht minder denNormcharakter bei sich hat. Schon die neuplatoni[sche]reine Wirklichkeit, die sich doch in Ideen darstellen soll,ist zwar autark, aber Herausforderung dessen, was Pla-to Methexis nennt und die Scholastik ein ens se diffusi-vum nennen wird. Reine Wirklichkeit ist eine Geltungausstrahlende, sich Geltung verschaffende Sphäre unddaher sich ebenso in Verhalten wie in Erscheinungenals Realität auswirkend. Der Künstler, der aus der Na-tur seine Vorlagen nimmt, tut dies in der Verkennungihrer sekundären Stellung und infolge des schwachenAbglanzes jener essentiellen Vorbildlichkeit der Ideen;diese Verfehlung des genuin Vorbildlichen begeht er ausUnkenntnis dessen, daß Nachbilder von Nachbilderngerade nicht das verwirklichen, was des reinsten Aus-drucks wert und bedürftig wäre. Schon die Neupla-toniker haben diesen Wirklichkeitsbegriff nicht mehrnachvollziehen können und ihr Mißverständnis darankenntlich gemacht, daß sie das nachbildende Werk desDemiurgen als den Ursprung des Schlechten, als Ver-fehlung des authentischen Sollens qualifizierten und ihnso zur Gegeninstanz eines absoluten machten, dessen

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angemessene Selbstbewahrung nur darin hätte bestehenkönnen, für sich und in Identität mit sich selbst zu blei-ben, was sich schon daraus ergibt, daß die Rückkehr zudiesem Zustand die innerste Intention des Weltprozes-ses ist, der noch nicht die Funktion einer Vertiefung derSelbsterkenntnis des Absoluten angenommen hat, son-dern das mythische Ritual eines dramatischen Kreis-schlusses darstellt, der nur in jeder Phase der Rückkehrzum Ausgangspunkt Sinn zuweist, als ganzer aber nurdurch Sinnverfehlung erklärt werden kann.

Auch in der Betrachtung von einem späten Wirklich-keitsbegriff her ist nicht jedes Datum, jedes Ereignis,jede Handlung durch Wiederholung, durch Nachspie-len zur Präfiguration zu erheben. Anders ausgedrückt:die Gegebenheit wird potentiell zur Präfiguration durcheben die Eigenschaft, die dem Mythos zugeschriebenwerden muß, nämlich durch Bedeutsamkeit. Vor allemdarin, daß Präfiguration ein singuläres Instrument derRechtfertigung in schwach begründeten Handlungssi-tuationen ist, kommt es auf die Prägnanz der Bezugs-figur an; zugleich wird es im Maße ihrer Prägnanzschwierig, die Bezugsfigur in sachlich nicht abgestütz-ten Entscheidungssituationen ungenutzt liegenzulas-sen, schon deshalb nicht, weil sie potentiell immer auchanderen zur Verfügung steht.

Präfiguration ist also die Figur einer sprachindiffe-renten Rhetorik. Sie beruhigt über Motivation, schirmtgegen Unterstellungen ab, indem sie als gar nicht mehrdispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war. Sieschirmt den fremden Blick bei der Suche auf immer

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weitere ›Hintergründe‹ der Motivation ab. Die histo-rische oder sich historisch dünkende oder historischambitionierte Handlung rückt in die Zone der Frag-losigkeit: wer sie in Frage stellt, mißachtet, worauf siesich beruft.

Das Präfigurat ist verstärkungsfähig. Simulationkann sowohl die Bedingungen der Handlung als auchdiese selbst der Bezugsfigur annähern, das rhetorischeProfil erhöhen. Form und Richtung des eingeleitetenProzesses, aber auch die Definition von Rechten undLasten in der Ausgangssituation, erhalten dann so et-was wie eine natürliche Physiognomie. Auch Umkeh-rung der genuinen Richtung ist in der adaptierten Fi-gur möglich. Der Handelnde wird zum Vollstreckereines geschichtlichen Rechts, das in der Umkehrungvon Willkür und Gewalt und der Reduktion auf denursprünglichen Zustand bestehen soll. Aber auch derUmfang der Handlung steht dann nicht mehr zur Dis-position: Rituale müssen bis zur Erschöpfung ausge-schöpft werden. Alexanders Plan, Europa und Asienunter einer Macht zu vereinen, wird in dem Augen-blick zur nicht mehr teilbaren oder anhaltbaren Inten-tion, in dem er sich als Mandatar Griechenlands undEuropas gegen das von Xerxes angetane Unrecht fühlt,aber sich in umgekehrter Richtung erhebt zum Voll-strecker dessen, was der gewollt hatte, für den Rache zunehmen er auszog.2

2 Instinsky, Hans Ulrich, Alexander der Große am Hellespont, Go-desberg 1949, S. 66.

Diesen Anspruch macht er geltenddurch strengen und ›gleichsam wörtlichen‹ Umkehr-

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vollzug des Rituals, das Herodot von Xerxes überlie-fert hatte. Er opferte dort, wo auch Xerxes geopferthatte, etwa mit einem Trankopfer aus goldener Schalein den Hellespont, aber er adressierte das Opfer an diestärkeren Götter, die seinigen. Handlungsziel wie Ver-fahren seiner Verwirklichung wollte er nicht erfunden,sondern vorgefunden haben. Kein Wort brauchte beidieser Art der Rhetorik zu fallen; sie war sinnfällig fürjeden, der seinen Herodot und seinen Homer gelesenhatte. Denn was jetzt zum endgültigen Besitzstand ge-führt werden sollte, war auch durch die Landung derGriechen vor Troja präfiguriert. Es ist höchste Formder Selbstlegitimierung, an den vertrautesten Primär-akt der griechischen Geschichte und des griechischenSelbstbewußtseins Anschluß zu gewinnen. Noch Thu-kydides sah im Feldzug gegen Troja die erste gemein-griechische Geschichtshandlung, schon König Agesi-laos von Sparta hatte die Griechen zu einem Feldzug ge-gen den Großkönig zu vereinigen gesucht und seinenFeldzug in Aulis mit einem Akt begonnen, der nichtvon Homer überliefert worden war und dennoch denGriechen aus dem Mythos vertraut wurde, mit dem ri-tuellen Nachvollzug des der Artemis dort dargebrach-ten Opfers der Ephigenie durch Agamemnon.3

3 A.a.O., S. 24f.

Wererneut Griechenland gegen Asien einigen und Endgül-tigkeit der Geschichte herstellen wollte, mußte der er-sten Präfiguration folgen und die zweite umkehren.

Der Handlung soll durch den Bezug auf Präfigu-

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ration Entscheidungssicherheit, Verpflichtung auf Un-möglichkeit des Abbruchs, aber auch magische Siche-rung, ihrem Ergebnis Endgültigkeit dadurch verbürgtwerden, daß sie nicht in den Bahnen persönlicher Will-kür verläuft. Ein schon gebahnter Weg wird benutzt,und nichts schließt aus, daß er in umgekehrter Rich-tung begangen werden kann. Die Furcht, daß dies imHin und Her nicht nur ein einziges Mal und damitnicht für immer geschehen sein könnte, wird durch dieWendung an die stärkeren Götter zur magischen Zu-satzannahme. Es genügte nicht, den Palast des Xerxesin Persepolis niederzubrennen, um eine Schwelle derIrreversibilität zu schaffen, statt nur das die Jahrhun-derte überspannende Amt der Rache zu üben. Es warauch nötig, etwas zu tun, was dem mit Homer unver-trauten Xerxes fremd geblieben war: den Akt der Be-sitznahme von asiatischem Festland vor Troja zu wie-derholen, den letzten Akt der Geschichte über dieZwischenakte hinweg durch den ersten Akt zu sank-tionieren. Bei der Landung der Achäer vor Troja warder erste Gefallene, der gegen den Rat des Orakels vorallen ans Land gesprungene, Protesilaos gewesen, demdas Orakel eben für diesen Vorsprung Verlust des Le-bens angekündigt hatte. Das diesem Heros gewidmeteHeiligtum hatte ein Feldherr des Xerxes als erste in ei-ner Reihe von Tempelschändungen entweihen lassen.Nach dem Bericht Arrians brachte Alexander am Grab-hügel des Protesilaos ein Opfer dar, während das Heermit dem Übersetzen nach Kleinasien begann. Dabeiaber muß, wenn der von Diodor benutzten Überlie-

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ferung zu folgen ist, Alexander selbst voran gewesenund als erster noch vom Schiff aus den Speer in denfeindlichen Kontinent geschleudert haben, um nachdem Sprung an Land zu erklären, er nähme durch denSpeerwurf von den Göttern Asien in Besitz. Als mitdem Speer erworben wird die Kriegsbeute jeder Artbezeichnet.4

4 A.a.O., S. 29-40.

Daß es präsumptiv ganz Asien sein soll,könnte nachträgliche Überhöhung sein, liegt aber ganzin der Bindung an die Präfiguration beschlossen, dienicht gestattete, kleinere Ziele im Maße der eintreten-den Erfolge nachträglich auszuweiten.5

5 Das in das Wasser des Hellespont geschüttete Trankopfer war demPoseidon dargebracht. Alexander muß dafür Herodot gekannthaben, denn nach diesem hat Xerxes sein Opfer auf der Brücke zwi-schen den beiden Ufern, also zwischen Asien und Europa, mitten aufdem Hellespont dargebracht.

Friedrich II. von Hohenstaufen ist nicht nur eine Ge-stalt nachträglicher Mythisierung, etwa aus dem Geor-ge-Kreis, sondern dies nur infolge der von ihm nach-haltig betriebenen Selbstmythisierung. Es ist keine Min-derung des Realismus dieser Technik, wenn man sagt,Selbstmythisierung sei vor allem ein rhetorisches Phä-nomen. Dem vom Papst mit dem Bann belegten Kaiserbrachte der Kreuzzug 1229 den Triumph der Rücker-oberung Jerusalems und die Krönung am 18. März 1229in der Grabeskirche zum König von Jerusalem, die ihmbedeutsamer wurde als die nach der Tradition 1220 voll-zogene Krönung durch Papst Honorius III. Der Akt inder Grabeskirche von Jerusalem war die erste Selbstkrö-nung, wenn auch nicht zum Kaiser, so doch zum König

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der heiligsten Stätten der Christenheit. Damit begannfür Friedrich II. die Projektion seiner eigenen Lebensda-ten auf die Präfiguration des Gottessohnes. Er war ver-bunden mit einem Manifest an das Abendland von höch-stem Pathos der Rhetorik. Hätten wir nicht schon ge-nügend Vorschläge für die Datierung des Beginns derRenaissance, so wäre dies ein nicht abwegiger. Friedrichhat seinen Geburtsort Jesi ohne Scheu mit dem bibli-schen Bethlehem verglichen, aber dies erst, als seine Ver-suche zur Versöhnung mit dem Papsttum fehlgeschlagenund die angleichende Überhöhung des Kaisertums poli-tisch plausibel geworden war. Aber noch für die Rheto-rik der Renaissance gilt, daß sie von den Zeitgenossennicht mit den Ohren gehört und den Augen gelesenwurde, mit denen der Historiker auf der Witterung nachdem Ausbruch des blasphemischen Geistes der Neuzeitsolches abzuhorchen und auszuloten versucht. DieMystik bis hinein in die devotio moderna der »Nach-folge Christi« hat es an Kühnheiten nicht fehlen lassen,die aus dem Munde eines Potentaten als Hybris einesAnwärters auf das Amt des Antichrist genommen wor-den wären. Solche Anwärterschaft wurde ja auch amehesten und überall vermutet. Friedrich II. war viel-leicht, allem anderen vorweg, ein Meister der politischenPropaganda und der Selbsteinbeziehung in diese durchAndeutung einer singulären geschichtlichen Funktion.Wenn aber dies, dann doch immer unter Bezugnahmeauf das ebenso singuläre Ereignis der Heilsgeschichte.6

6 Vehse, Otto, Die amtliche Propaganda in der Staatskunst Kaiser Fried-

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richs II, München 1929; Kampers, Franz, Kaiser Friedrich II., derWegbereiter der Renaissance, Leipzig 1929.

Nicht aus dem Auge gelassen werden darf, daß inder Rezeption des Selbstmythos Friedrichs II. von Ho-henstaufen das entscheidende Werk, nämlich die Dar-stellung durch Ernst Kantorowicz, am Ausgang derzwanziger Jahre stand und in die Auseinandersetzun-gen hineingehört, die zwar noch nicht um den Mythosdes 20. Jahrhunderts in seiner schäbigsten Fassung,aber doch schon um die Erneuerung der mythischenDenkform als einer Alternative zur rational-positivi-stischen ging. Hier ist bei der heutigen rhetorischenBehandlung der Terminologie große Vorsicht bei derAnnahme einer vollständigen Disjunktion zwischenPositivismus und Neomythizismus geboten. Nicht ver-gessen werden darf, daß die mythische Gestalterfas-sung sich durchaus auf eine der rationalen Formen derPhilosophie, die Phänomenologie, und ihre eidetischeAnschauung zu berufen vermochte. Der Pakt mit ei-nem Programm der Anschauung wird immer auf dieEmpfindlichkeit der Verluste rechnen und bauen kön-nen, die durch rigidere Methoden des Evidenzgewinnsdurch Problemverlust eintreten. Das ist ein kaum jeabzuschließendes Thema. Der Erfolg des gewiß nichtgefälligen Buches war ungewöhnlich und eben des-halb symptomatisch für Bedürfnisse einer Ermüdungam gängigen historischen Verfahren, zugleich die Ur-sache für die heftige Selbstverteidigung der histori-schen Zunft gegen dieses sektiererisch eingekleideteWerk. Aber gerade die Verfehlung der darin angespro-

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