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Leseprobe Gabowitsch, Mischa Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2661 978-3-518-12661-5 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Revolution gegen Hosni Mubarak.1 Es war das erste Mal seit Be- ginn der Bewegung für faire Wahlen im Dezember 2011, dass Bürger aus dem ganzen Land ermuntert

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Leseprobe

Gabowitsch, Mischa

Putin kaputt!?

Russlands neue Protestkultur

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2661

978-3-518-12661-5

Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2661

Seit im Dezember 2011 in Moskau und Petersburg, aber auch anders-wo zwischen Archangelsk und Wladiwostok Hunderttausende Bür-ger auf die Straße gingen, um für faire Wahlen zu demonstrieren, istRussland ein anderes Land geworden. Auch wenn die Proteste denerneuten Machtantritt Putins nicht verhindern konnten und der Staatseine Kritiker mit zum Teil drakonischen Strafen überzieht: Die Zei-chen stehen auf Sturm.

Gestützt auf umfangreiches Interviewmaterial, ausgehend von bio-graphischen Porträts protestierender Bürger aus unterschiedlichenSchichten und Regionen Russlands liefert Mischa Gabowitsch einedichte Beschreibung der Verhältnisse im Umbruch. Indem er die Pro-testbewegung aus verschiedenen Blickwinkeln durchleuchtet, por-trätiert er eine Gesellschaft, die dabei ist, sich selbst zu begreifen undüber die eigene Zukunft zu bestimmen.

Mischa Gabowitsch, 1977 in Moskau geboren, studierte in Oxford,promovierte 2007 in Paris und unterrichtete in Princeton. Der So-ziologe und Zeithistoriker war Chefredakteur der russischen Zeit-schriften NZ und Laboratorium. Er ist wissenschaftlicher Mitarbei-ter am Einstein Forum in Potsdam und leitet ein Forschungsprojektzum Wandel der Protestkultur in Russland.

Foto: Alla Teterina (Jate)

Mischa GabowitschPutin kaputt!?Russlands neue Protestkultur

Suhrkamp

Erste Auflage 2013edition suhrkamp 2661Originalausgabe© Suhrkamp Verlag Berlin 2013Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in GermanyISBN 978-3-518-12661-5

Für Jacob

and to the memory of Jim Clark

Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11I Das System Putin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33II Der Aufstand der Beobachter . . . . . . . . . . . 77III Die Struktur des Protests . . . . . . . . . . . . . . 114IV Der Fall Pussy Riot . . . . . . . . . . . . . . . . . 185V Protest und Neugier . . . . . . . . . . . . . . . . . 224VI Gewaltfreiheit und Gewaltphantasien . . . . . . 267VII Der staatliche Gewaltapparat . . . . . . . . . . . 291VIII Die transnationale Dimension . . . . . . . . . . . 330IX Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . 439

Gartenring

Boulevardring

Christ-Erlöser-Kathedrale Bolotnaja

Große Steinbrücke

Tretjakow-Galerie

Große Ordynka

Kleine Steinbrücke

Jakimanka

Kaluga-Platz

Kreml

Staatsduma

Roter Platz

Manegenplatz Revolutionsplatz

Theaterplatz

Tschistye prudyPuschkinplatz

Triumphplatz

Twerskaja

Lubjanka

Sacharow-Prospekt

Neuer Arbat

Krasnopresnenskaja-Platz

Poklonnaja-Hügel

Weißes Haus

Moskauer InnenstadtKarte: Ansgar Gilster und Jan Philipp Fiedler

PROLOG

Marsch der Millionen

Am Montag, dem 7. Mai 2012, sollte Wladimir Putin zum drit-ten Mal als Präsident der Russländischen Föderation vereidigtwerden. Die Wahlen, denen er die Rückkehr in dieses Amt nachvier Jahren als Premierminister verdankte, waren unter unfairenBedingungen und mit massiven Fälschungen verlaufen. Für denVortag seiner Amtseinführung hatten Aktivisten der außerparla-mentarischen Opposition in Moskau eine Demonstration ange-meldet, die Putin die Legitimität als Präsident absprechen sollte.Die Stadtverwaltung hatte den Bolotnaja-Platz als Veranstaltungs-ort genehmigt. Hier hatte bereits am 10. Dezember 2011 die ersteRiesendemonstration gegen Wahlfälschungen bei der Parlaments-wahl stattgefunden. Der weitläufige, parkähnliche Platz befin-det sich im Stadtzentrum, am gegenüberliegenden Ufer der Mo-skwa sind die Türme und Zacken des Kremls zu sehen, den mannormalerweise über die Große Steinerne Brücke erreichen kann.Sein Name bedeutet wörtlich »Sumpfplatz«. Um die Sümpfe aus-zutrocknen, die dort jedes Frühjahr nach der Schneeschmelzeentstehen, hatten die Moskauer Oberbefehlshaber Sacharij Tscher-nyschow und Jakow Brjus in den Jahren 1783 bis 1786 den so-genannten Wasserumleitungskanal anlegen lassen. Dadurch ent-stand parallel zur Biegung der Moskwa eine lange, bumerang-förmige Flussinsel; der Platz befindet sich auf deren westlicherHälfte. Blickt man von Süden über die Kleine Steinerne Brückein Richtung Kreml, rückt linker Hand das legendäre, inzwischengeschlossene Kino »Udarnik« ins Bild. Das Lichtspielhaus istTeil eines monumentalen konstruktivistischen Baus, des Hau-ses an der Uferstraße, in dem sich Funktionäre der Kommunis-tischen Partei luxuriöser Wohnbedingungen erfreuten, bis siein der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre Stalins Großem Terrorzum Opfer fielen.

Die zentrale, zugleich isolierte und überschaubare Situationmacht den Bolotnaja-Platz für die Polizei gut kontrollierbar.Daher verlegt die Stadtregierung Demonstrationen von Opposi-tionellen, Bürgerrechtlern und sonstigen Protestierenden in denletzten Jahren gerne dorthin – oft als Ersatz für symbolträchtige-re Orte entlang der Twerskaja-Straße in der Innenstadt, die vomManegenplatz vor dem Kreml über den Puschkinplatz am Boule-vardring bis zum Triumphplatz am Gartenring verläuft.

Die Demonstration trug den auch innerhalb der Protestbewe-gung umstrittenen und von vielen belächelten Titel »Marsch derMillionen«. Angelehnt war diese Bezeichnung an einen gleich-namigen Aufmarsch in Kairo vom 1. Februar 2011 im Zuge derRevolution gegen Hosni Mubarak.1 Es war das erste Mal seit Be-ginn der Bewegung für faire Wahlen im Dezember 2011, dassBürger aus dem ganzen Land ermuntert wurden, nach Moskauzu kommen, statt Parallelveranstaltungen in ihrer Stadt durch-zuführen. Die Teilnehmer kamen mit Zügen, in Fahrgemeinschaf-ten, mit Linienbussen, per Flug oder per Anhalter nach Moskau,einige von ihnen aus weit entfernten Landesteilen, sogar aus demüber 6000 Kilometer entfernten Petropawlowsk-Kamtschatskijnordöstlich von Japan. Wichtigstes Kommunikationsmittel wardas Internet-Netzwerk vkontakte – ein Facebook-Klon, dessenReichweite in der russischsprachigen Welt größer ist als die desOriginals. Über vkontakte-Gruppen organisierten sich Autokor-sos; allein unter dem Motto »Ich will selbst sehen, was aus demMutterland geworden ist« reisten Autofahrer aus 55 Städten an.

Bereits im April war in Samara an der Wolga eine Initiative ent-standen, die über das Internet Spenden sammelte, um Freiwil-ligen aus dem ganzen Land die Fahrt ins südrussische Astrachanzu ermöglichen und den dortigen Bürgermeisterkandidaten OlegScheïn zu unterstützen, der aus Protest gegen Wahlfälschungenin den Hungerstreik getreten war. Unmittelbar vor dem »Marschder Millionen« wurde die Spendeninitiative wiederbelebt, dies-mal um für Provinzbewohner Zugtickets nach Moskau zu kaufen.Zahlreiche Bürger in der Hauptstadt stellten den DemonstrantenZimmer oder Bettplätze zur Verfügung. Oft kam der Kontakt

PROLOG 12

über Netzwerke von Landsleuten zustande. Auch auf dem Marschnoch fanden Menschen aus derselben Region zueinander – an-hand von Postern oder im zufälligen Gespräch. Während des Mar-sches und danach waren hin und wieder ältere Damen zu sehen,die per Plakat anboten, Nichtmoskauer kostenlos bei sich auf-zunehmen. Immer wieder gab es Berichte, dass Protestteilneh-mer in der Provinz von staatlichen Stellen oder von ihren Ar-beitgebern eingeschüchtert, mit oder ohne Angabe von Gründenschon zu Beginn der Fahrt an der Anreise gehindert oder unter-wegs von der Polizei aufgehalten oder beschattet worden seien.Als Vorwand dienten häufig Drogenkontrollen. Von Fällen wur-de berichtet, in denen junge Männer zwischen 18 und 27 nach ih-rer Verhaftung sofort zur Armee eingezogen wurden.2

Die Moskauer Protestkundgebungen von Dezember bis Märzwaren von Journalisten und Schriftstellern mit angemeldet wor-den, die sich im Januar zu einer überparteilichen »Wählerliga«vereinigt hatten. Die Diskussionen des Komitees, das die Groß-demo am 24. Dezember 2011 organisiert hatte, waren live imInternet übertragen worden, auch die offizielle Korrespondenzwurde veröffentlicht. Diesmal traten ausschließlich Aktivistender außerparlamentarischen Opposition als formale Organisato-ren auf.3 Über Sinn und Zweck der Veranstaltung herrschte Un-einigkeit. Ein Bündnis namens »Aktion für eine faire Staats-macht« hatte dazu aufgerufen, am Vorabend der Amtseinfüh-rung den Manegenplatz neben dem Kreml zu besetzen und den»Dieb« gar nicht erst in den Kreml einziehen zu lassen: echterProtest dürfe sich nicht in ein staatlich kontrolliertes Reservatzwängen lassen.4 Politiker der legalen Oppositionsparteien undeinige andere prominente Figuren hatten erklärt, sie würdendem Marsch fernbleiben, da die vorangegangenen Demonstra-tionen nicht das erwünschte Resultat gebracht hätten und mansich auf andere Protestformen, auf mühevolle Kleinarbeit oderaber auf bevorstehende Wahlen konzentrieren sollte.5 Der Skan-dalschriftsteller und Protestveteran Eduard Limonow, Führerder nicht zugelassenen Partei »Anderes Russland«, nannte dieAktion zögerlich und verspätet. Die bürgerlichen Anführer hät-

13 Marsch der Millionen

ten die Revolution gestohlen und zugrunde gerichtet; die Poli-zei habe genug Zeit gehabt, um den Manegenplatz abzuschottenund ein Zeltlager zu verhindern.6 Die sowjetnostalgische Kom-munistische Partei und kleinere linke Gruppen konzentriertensich auf Veranstaltungen zum 1. Mai – dem Tag der Arbeit – undzum 9. Mai – dem Tag des Sieges. Einige kurzgeschorene Ultra-nationalisten veranstalteten am 6. Mai eine eigene Aktion aufdem Theaterplatz; am Ausgang aus der Metro warteten bereitsPolizisten mit einem Gefangenentransporter auf sie.7 Am Frei-tagabend, zwei Tage vor dem »Marsch der Millionen«, hatte die»Allrussländische Volksfront« erklärt, sie würde am selben Tagihr einjähriges Bestehen auf dem Poklonnaja-Hügel feiern. Dienur auf dem Papier bestehende Vereinigung von Pro-Putin-Or-ganisationen, im Jahr zuvor als potenzieller Ersatz für die immerunbeliebtere Staatspartei »Geeintes Russland« gegründet, setztedem »Meeting« der Protestbewegung ein straff durchorganisier-tes und überwachtes »Puting« mit bezahlten Teilnehmern ent-gegen, das in den Nachrichten des Staatsfernsehens als die zah-lenstärkere Veranstaltung präsentiert wurde.8

Trotz allem stand der »Marsch der Millionen« im Brennpunktder Aufmerksamkeit. Aus technischen Gründen war eine De-monstration mit 5000 Teilnehmern angemeldet: für so viele Men-schen ist der Platz nach amtlichen Vorgaben ausgelegt. Über dietatsächliche Teilnehmerzahl entbrannte der übliche Zahlenkrieg.Die Polizei bezifferte sie mit 8000; die BBC sprach von 20 000nach Angaben der Organisatoren. Der Landvermesser NikolajPomeschtschenko, der sich im Zuge der Protestbewegung auf dieZählung von Teilnehmern bei Massenveranstaltungen speziali-siert hatte, kam auf ungefähr 60 000 Menschen.9 Für die höhereZahl spricht, dass sich sowohl Demonstranten und Veranstalterals auch die Polizei von der hohen Beteiligung überrascht zeig-ten. Immerhin lag das Datum der Vereidigung – wie schon seitPutins erster Amtseinführung im Jahr 2000 – zwei Tage vor dem9. Mai, der als »Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Kriegvon 1941-45« de facto Russlands wichtigsten Nationalfeiertag dar-stellt. Die Zeit ab dem 1. Mai gilt traditionell als Feierwoche und

PROLOG 14

für ausreichend Betuchte als gute Gelegenheit für eine Fahrtzur Datscha oder an die türkische Mittelmeerküste. Mit Verweisauf anstehende Proben für die Siegesparade hatte die Stadtre-gierung die Genehmigung für den Protest erst zwei Tage zuvorerteilt. Daher hatte es im Vorfeld Spekulationen gegeben, der Auf-marsch könnte abgesagt oder verschoben werden, was nach An-sicht vieler die Absicht der Verzögerung gewesen war.10

Der Großteil der Teilnehmer, die sich ab dem Vormittag au-ßerhalb der Metrostation Oktjabrskaja versammelten, fühlte sichkeiner der politischen Gruppierungen zugehörig, die die Veran-stalter repräsentierten. Die Demonstranten identifizierten sichmit Hilfe von Bannern, Flaggen, Plakaten, Buttons, Luftballons,Flugblättern und Kostümen als Einwohner bestimmter Städte,als Umweltschützer, Menschenrechtler, Homo-Aktivisten, So-zialprotestler, Studenten, Rocker, Anarchisten, Kommunisten,Christen, Abstinenzler, NATO- oder WTO-Gegner und Mitglie-der einer breiten Palette von zumeist kleinen Bündnissen undpolitischen Parteien. Wie bei vorangegangenen und späteren Ak-tionen waren auch Ultranationalisten mit schwarz-gold-weißenTrikoloren dabei; etwa hundert Personen von der Kleinstpartei»Großrussland« tauchten vor Beginn des Marsches kurz auf, rie-fen antiliberale Parolen und verließen die Veranstaltung wieder.11

Die meisten Teilnehmer jedoch verzichteten auf eine Kennzeich-nung oder trugen nur das weiße Bändchen, das seit Dezemberals Symbol der Bewegung für faire Wahlen galt, einige auch dasschwarz-orange Sankt-Georgs-Band zum Tag des Sieges. Auchdie Plakate waren meist mit individuell formulierten Botschaf-ten beschriftet. Viele ältere Menschen und einige Kinder warenzu sehen, auch behinderte Protestteilnehmer in Rollstühlen wa-ren gekommen. Dutzende, wenn nicht Hunderte in- und auslän-dische Journalisten mit professioneller Ausrüstung hatten sichfrühzeitig in Position gebracht; den Tausenden Graswurzelre-portern und Bloggern genügten Digitalkameras und Mobilte-lefone. Viele posteten bereits während des Marsches Bilder aufFacebook, vkontakte und Twitter oder boten Live-Übertragun-gen auf UStream an. Schon auf dem U-Bahnsteig standen Sozial-

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forscher, die versuchten, im Strom der Ankommenden die Ge-wichtung von Einzeldemonstranten und Gruppen zu bestim-men. In der Menge und an den Straßenrändern waren professio-nelle Ethnologen, Politikwissenschaftler und Soziologen sowieinteressierte Laien unterwegs, die beobachteten, fotografierten,zählten, verglichen, notierten, befragten und interviewten, da-runter der Autor dieses Buchs. Mehrere hundert Polizisten inder Kampfausrüstung der OMON-Sondereinsatztruppen beglei-teten den Zug; etliche von ihnen waren in geschlossenen Reihenauf der Insel stationiert, hinter ihnen Soldaten der Inneren Streit-kräfte mit Panzerwagen. Männer in Zivil gaben den PolizistenAnweisungen, und auch am Anfang und am Ende der Marsch-route standen einige von ihnen bereit. Manche Polizisten warenebenfalls mit Fotoapparaten oder kleinen Handycams ausgerüs-tet. Über der Menge kreiste ein Hubschrauber.

Nach einem anfänglichen Regenschauer war das Wetter mitüber 20 Grad und strahlendem Himmel nahezu sommerlich. Wäh-rend sich der Umzug durch eine Batterie von Metalldetektorenzwängte und sich dann fast zwei Kilometer die Jakimanka-Stra-ße hinunter bis zum Bolotnaja-Platz bewegte, herrschte diefriedliche, ja freundschaftliche Stimmung, die bereits im Winterzum Kennzeichen der Protestbewegung geworden war. KleinereProvokationen konnten die Stimmung nicht trüben: So hattenUnbekannte einer Gruppe betrunkener Obdachloser Geld an-geboten, um am Versammlungspunkt des Umzugs vor laufen-den Kameras zu grölen; sie wurden jedoch kaum beachtet. Der»Marsch« glich eher einem riesigen Frühlingsspaziergang. Ein-zelne Gruppen skandierten immer wieder Parolen. Beliebt wa-ren die Sprechchöre »Gauner und Diebe – packt eure Sachen,ihr habt fünf Minuten!« und »Wir sind hier die Macht«, die aufbekannte Zitate des nationalliberalen AntikorruptionsbloggersAlexej Nawalnyj anspielten. »Russe sein heißt nüchtern sein!«rief ein Block von Nationalisten. »Freiheit für Pussy Riot!« töntees aus der benachbarten Kolonne der Lesben, Schwulen, Bisexu-ellen und Trans (LGBT). Die meisten Teilnehmer jedoch unter-hielten sich miteinander oder knüpften neue Bekanntschaften.

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Um sich auszuruhen oder ihren Durst zu stillen, setzten sicheinige unterwegs an die im Freien stehenden Tische eines Cafésder Coffee House-Kette, kehrten im Irish Pub ein oder kauf-ten Getränke im »ABC des Geschmacks«. Nach über einer Stun-de ließ die Polizei, die auf den Marsch mitgebrachte Glasbehälterkonfisziert hatte, auch hier die Regale mit Glasflaschen verde-cken. Nicht die Abschlusskundgebung, sondern der Marsch unddie Möglichkeit des Austauschs in der Menge waren für die meis-ten das eigentliche Ziel: Schon bei den Protestkundgebungen imDezember hatte nur eine kleine Zahl der Anwesenden dem, wasauf der Bühne passierte, Beachtung geschenkt. So verließen eini-ge Teilnehmer den Marsch denn auch noch vor der Brücke überden Wasserumleitungskanal.

Etwa zwei Stunden nach dem Beginn des Umzugs, kurz nach17 Uhr, entstand an dieser Brücke ein Flaschenhals. Währendauf der Bühne schon die ersten Redner und Musiker auftraten,hatten Einsatzkräfte entgegen den veröffentlichten Vereinbarun-gen mit den Organisatoren den größten Teil des Bolotnaja-Plat-zes abgeriegelt und versuchten nun, die Demonstranten auf einenengen Uferstreifen zu lenken. Eine Gruppe bekannter Aktivis-ten, darunter Alexej Nawalnyj, Sergej Udalzow von der »LinkenFront« und der liberale Politiker Ilja Jaschin, reagierten mit ei-nem Sitzstreik vor den Polizeikolonnen, der wiederum die An-kommenden am Weitergehen hinderte. Einige versuchten, die Rei-hen der Uniformierten zu durchbrechen. Der OMON verhindertedies nicht nur, sondern drängte die Demonstranten mit Gewaltzurück. Es begannen Zusammenstöße. In den vordersten Reihenwaren einzelne Aktivisten und Rauflustige dabei, die es vonvornherein auf gewalttätige Konfrontation mit der Polizei abge-sehen hatten.12 Allerdings sind auf Foto- und Videoaufnahmenauch Mitglieder kremlnaher Jugendgruppen zu sehen, die vermut-lich zumindest einige der Zusammenstöße angeheizt oder zurEskalation gebracht haben.13 Nach den ersten Handgreiflichkei-ten kam es zu Verhaftungen von Protestierenden, die Plastikfla-schen und andere Gegenstände auf die Polizisten warfen. Aberauch etliche friedliche Demonstranten wurden festgenommen.

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Die behelmten Bereitschaftspolizisten bildeten keilförmige Stoß-trupps: Indem sie sich an den Schultern festhielten, drangen sieknüppelnd in die Menge vor, griffen sich Einzelne heraus undverschwanden rücklings hinter den eigenen Reihen. Die Festge-nommenen übergaben sie der regulären Polizei, die sie in bereit-stehende Gefangenentransporter verfrachtete und zu Polizeiwa-chen im gesamten Stadtgebiet fuhr. Einige, vor allem jüngereDemonstranten setzten sich zur Wehr und schlugen zurück, in-dem sie Polizisten die Helme vom Kopf rissen und diese zumJubel der Menge in den Kanal warfen. Einige Demonstrantenstürzten mobile Toilettenhäuschen um und versuchten, daraus ei-ne Barrikade zu errichten. Es regnete Plastikflaschen, aber auchSteine flogen – später sogar Asphaltbrocken. Mehrere Polizistenwurden verletzt.14

Nach einiger Zeit begannen die OMON-Einheiten, die riesigeMenge über die Kleine Steinerne und die Lushkow-Brücke vonder Insel zurückzudrängen. Über mehrere Stunden hinweg sperr-ten die Einsatzkräfte einen Abschnitt nach dem anderen zwi-schen den Brückenköpfen und der am nächsten gelegenen Me-trostation, der Tretjakowskaja. Indem sie immer wieder Keilein die Menge trieben, spalteten sie diese in kleinere, beherrsch-bare Segmente – eine ursprünglich von den französischen Com-pagnies républicaines de sécurité entwickelte Methode des Stra-ßenkampfs. Knüppelnd drängten sie die Demonstranten nachund nach weiter, während diese sich immer wieder zur Wehrsetzten, die Polizisten als Faschisten beschimpften und versuch-ten, ihnen die zielgerichtet oder wahllos aus der Menge heraus-gegriffenen Verhafteten wieder zu entreißen. Die einen bewarfendie Polizisten mit Kleingeld und schrien »Hier, nehmt, ihr wolltdoch nichts als Geld!« Andere skandierten: »Die Polizei ist mitdem Volk! Dient nicht den Monstern!« Wieder andere unterbra-chen ihre angeregten Gespräche nur kurz, um der jeweils nächs-ten Knüppelattacke zu entkommen, und setzten sie dann ein paarMinuten später fort. Insgesamt wurden mindestens 650 Men-schen verhaftet. Viele der auf Versammlungsfreiheit spezialisier-ten Bürgerrechtler und Anwälte hatten sich durch die friedlichen

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Kundgebungen der letzten Monate in Sicherheit gewiegt und wa-ren deshalb nicht darauf vorbereitet, auf den Polizeiwachen umdie Freilassung hunderter unrechtmäßig Verhafteter zu kämp-fen.15 Einem Mann schlugen die Polizisten mit solcher Wuchtauf den Kopf, dass er blutend und ohnmächtig liegenblieb. Späterhieß es, er sei gestorben, doch der einzige gesicherte Todesfalldieses Tags war der eines Fotografen, der sich durch eine waghal-sige Kletteraktion eine bessere Sicht zu verschaffen hoffte unddabei in den Tod stürzte.

Die Konfrontation ging bis zum späten Abend weiter. Als dieUniformierten die Demonstranten an der Tretjakow-Galerie, denVertretungen der Commerzbank und der Europäischen Kommis-sion und den umliegenden Restaurantterrassen in der Fußgän-gerzone der Lawruschinskij- und Klimentowskij-Gassen vor-beigeschoben hatten, blieben noch einige hundert Menschen ver-schiedensten Alters übrig (die anderen hatten sich zerstreut oderwaren verhaftet worden). Nachdem die Polizisten sie aufforder-ten, die Fahrbahn der Großen Ordynka-Straße zu räumen, star-tete ein junger Mann einen Flashmob: Dutzende Demonstrantenspazierten jeweils bei grünem Licht über einen Zebrastreifen aufdie andere Seite und warteten dort, bis die Ampel wieder aufGrün schaltete. Ein anderer junger Mann blockierte zum Jubelder Umstehenden eine halbe Stunde lang die Fahrbahn hinterden Polizeireihen mit seinem Auto. Nach dieser Atempause wur-den die Einsatzkräfte wieder brutaler und zerstreuten die übrig-gebliebenen Demonstranten, die sich nicht rechtzeitig in das na-hegelegene McDonald’s geflüchtet hatten, indem sie sie mit vol-lem Körpereinsatz die Treppe zur Metrostation Tretjakowskajahinunterschoben. Auch einige zufällig anwesende ausländischeTouristen gerieten in den gelenkten Strom. Während der gesam-ten mehrstündigen Aktion wurden immer wieder Demonstran-ten – darunter ältere Menschen, die zu Ruhe gemahnt hatten –brutal verhaftet und in Kleinbussen abtransportiert.

Am nächsten Tag setzten sich – wie geplant – jene Protestaktio-nen fort, die unter dem Namen »Weiße Stadt« bekannt wurden.Putins Amtseinführung fand in einem leergefegten Stadtzen-

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trum mit ausgewählten Gästen und unter Ausschluss der Öf-fentlichkeit statt. Zur gleichen Zeit gingen Tausende mit weißenBändchen an der Kleidung in der Innenstadt spazieren. Es bil-dete sich ein von Trommlern begleitetes mobiles Protestlager,an dem sich rund um die Uhr mehrere hundert wechselnde Per-sonen beteiligten. Auch die Verhaftungen setzten sich fort: Vom7. bis zum 10. Mai wurden noch einmal etwa tausend Menschenfestgenommen; ohne jede rechtliche Grundlage bekamen die Po-lizisten Anweisungen, alle Menschen mit weißen Bändchen zuverhaften, darunter Journalisten und bekannte Oppositionsfi-guren. Am Tag der Amtseinführung stürmte der OMON einMcDonald’s-Restaurant auf der Twerskaja sowie das Café Jean-Jacques und den John Donne Pub auf dem Nikitskij-Boulevard.16

Nawalnyj und Udalzow, die bereits auf dem »Marsch der Mil-lionen« für 24 Stunden verhaftet worden waren, wurden in derNacht zum 8. Mai erneut festgenommen und zu 15 Tagen Ord-nungshaft verurteilt. Kurzzeitig traf es auch Xenia Sobtschak,eine bekannte Reality-Show-Moderatorin, die Tochter von Pu-tins Mentor, dem 2000 verstorbenen Ex-Bürgermeister vonSankt Petersburg. Seit dem Beginn der Demonstrationswelle imDezember 2011 trat sie regelmäßig auf Protestaktionen auf; vonvielen der Teilnehmer anfangs nicht ernstgenommen und sogarausgepfiffen, wurde das blonde Society-Girl für apolitische Kon-sumenten von Russlands Glamour-Kultur zu einem Gesicht derBewegung.

Am 9. Mai ging das Wanderlager am Tschistoprudnyj-Boule-vard vor der sechs Jahre zuvor errichteten Statue des kasachi-schen Nationaldichters Abai Qunanbajuly vor Anker. DurchTwitter-Mitteilungenwurde das Lagerals #OccupyAbay bekannt.Wie in den US-amerikanischen Occupy-Lagern fanden hier Ver-sammlungen,Vorlesungen, Diskussionen, Konzerte, Filmvorfüh-rungen und Ausstellungen statt. Dabei wurden die Ereignissein Russland in einen globalen Kontext gerückt. Die Geschichts-lehrerin Tamara Ejdelman erntete mit ihrem Referat zur Ge-schichte des gewaltfreien Widerstands tosenden Beifall. Der zwi-schen Berlin und Moskau pendelnde Dichter und Performance-

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