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Suhrkamp Verlag Leseprobe Kovce, Philip / Priddat, Birger P. Bedingungsloses Grundeinkommen Grundlagentexte Herausgegeben von Philip Kovce und Birger P. Priddat © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2265 978-3-518-29865-7

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Kovce, Philip / Priddat, Birger P.Bedingungsloses Grundeinkommen

GrundlagentexteHerausgegeben von Philip Kovce und Birger P. Priddat

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 2265

978-3-518-29865-7

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Das bedingungslose Grundeinkommen wird vielerorts diskutiert. Was würden wir tun, wenn unsere Existenz bedingungslos gesichert wäre? Wä-ren wir fleißiger oder fauler? Experimente versuchen inzwischen, darauf eine Antwort zu geben, und Plädoyers für oder gegen das Grundeinkom-men finden breites Gehör. Doch wie hat sich diese Idee entwickelt? Wer hat sie mit welchen Argumenten vorangebracht? Anhand von Schlüsseltexten unterschiedlichster Vordenker des bedingungslosen Grundeinkommens, darunter Thomas Morus, Charles Fourier, Bertrand Russell, John Maynard Keynes und Philippe Van Parijs, dokumentiert dieser Band umfassend die wechselvolle Geschichte einer Idee, die uns auch künftig beschäftigen wird.

Philip Kovce ist Research Fellow an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er befürwortet ein bedin-gungsloses Grundeinkommen.

Birger P. Priddat ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Er lehnt ein bedingungsloses Grundein-kommen ab.

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Bedingungsloses Grundeinkommen

GrundlagentexteHerausgegeben

von Philip Kovce und Birger P. Priddat

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

2. Auflage 2020

Erste Auflage 2019 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2265

© Suhrkamp Verlag Berlin 2019Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-518-29865-7

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Philip Kovce und Birger P. PriddatBedingungsloses Grundeinkommen. Zur Einführung . . . . 11

Thomas MorusUtopia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Thomas PaineAgrarische Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Thomas SpenceDie Rechte der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Charles FourierBrief an den Justizminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Allen DavenportAgrarische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Joseph CharlierLösung des Sozialproblems oder Humanitäre Verfassung . . 133

Paul LafargueDas Recht auf Faulheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Josef Popper-LynkeusDie allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage . 177

Walther MarcusDie Verteidigung des Nährpflicht-Programms . . . . . . . . . . . 207

Bertrand RussellWege zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

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John Maynard KeynesWirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder . . . . 246

Hannah ArendtVita activa oder Vom tätigen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

Milton FriedmanKapitalismus und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Erich FrommPsychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Joseph BeuysAufruf zur Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Michael OpielkaDas garantierte Einkommen – ein sozialstaatliches Paradoxon? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Kollektiv Charles FourierDas allgemeine Grundeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Ralf DahrendorfEin garantiertes Mindesteinkommen als konstitutionelles Anrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Georg VobrubaDie Entflechtung von Arbeiten und Essen . . . . . . . . . . . . . . 338

Philippe Van Parijs und Robert J. van der VeenEin kapitalistischer Weg zum Kommunismus . . . . . . . . . . . 356

Philippe Van ParijsWarum Surfer durchgefüttert werden sollten . . . . . . . . . . . . 373

André GorzArbeit zwischen Misere und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

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Bernhard H. F. TaureckDie Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung . . . . . . 445

Claus OffeDas bedingungslose Grundeinkommen als Antwort auf die Krise von Arbeitsmarkt und Sozialstaat . . . . . . . . . . 454

Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

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Vorwort

Wer darüber befinden will, ob die Zeit einer Idee gekommen sei, der hat sich nicht nur mit dem herrschenden Zeitgeist, sondern ebenfalls mit der Zeitgestalt der Idee auseinanderzusetzen. Dabei spielen nicht zuletzt folgende Fragen eine Schlüsselrolle: Woher kommt die Idee und wohin geht sie? Wer hat sie vorangebracht und wer trägt sie weiter? Und schließlich: Worauf verweist die Idee? Welche Zusammenhänge, die auf den ersten Blick jenseits ihres Wirkungskreises liegen, werden von ihr dennoch inspiriert?

Wer sich diese Schlüsselfragen angesichts des bedingungslosen Grundeinkommens stellt, dem wollen wir mit diesem Band be-hilflich sein. Er dokumentiert die Zeitgestalt der Idee in Form von schriftlichen Zeugnissen ihrer Vordenker; er entfaltet die Geschich-te des Grundeinkommens anhand ausgewählter Grundlagentexte – und schafft damit bestenfalls gute Voraussetzungen, um Gegenwart und Zukunft des Grundeinkommens historisch informiert zu dis-kutieren. Nicht mehr, nicht weniger will dieser Band erreichen.

Wir danken allen, die auf ganz unterschiedliche Weise zu diesem Gemeinschaftswerk beigetragen haben. Sie selbst wissen am besten, wofür.

Philip Kovce und Birger P. Priddat

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Philip Kovce und Birger P. Priddat

Bedingungsloses Grundeinkommen. Zur Einführung

1. Ordnung des Diskurses

Wenn dieser Tage immer wieder vom bedingungslosen Grund-einkommen die Rede ist, dann handelt es sich dabei um einen Vorschlag von geradezu provozierender Schlichtheit. Jeder Bürger eines Gemeinwesens soll, so der Vorschlag, lebenslang ein exis-tenzsicherndes Einkommen beziehen, das ihm als individueller Rechtsanspruch ohne etwaige (Arbeits-)Pflicht oder (Bedürftig-keits-)Prüfung gewährt wird. Alter, Bildung, Beruf, Vermögen – all das soll dabei keine Rolle spielen.1 So radikal dieser Vorschlag klingt, so umstritten ist er auch. Es gibt Unternehmer und Gewerk-schafter, die ihn lautstark befürworten – und ebensolche, die ihn lautstark ablehnen. Er findet ebenso liberal und konservativ wie kapitalistisch und sozialistisch gesinnte Unterstützer – und nicht minder Skeptiker, die ihm aus all diesen Lagern entgegentreten. Das Grundeinkommen bildet, wann und wo immer es diskutiert wird, neue Bündnisse und stellt alte infrage. Wer es fordert, will mit 1 Yannick Vanderborght und Philippe Van Parijs (Ein Grundeinkommen für alle?

Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt/M., New York 2005, S. 14) verstehen unter einem bedingungslosen Grundeinkommen – in Anlehnung an das Verständnis des Basic Income Earth Network (BIEN) – »ein Einkommen, das von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder ohne Bedürftigkeits-prüfung und ohne Gegenleistung individuell ausgezahlt wird«, während das deutsche Netzwerk Grundeinkommen (Kleines ABC des bedingungslosen Grundeinkommens, Neu-Ulm 2012, S. 11), selbst Mitglied des BIEN, »vier Grundelemente« eines be-dingungslosen Grundeinkommens benennt: »Existenz- und Teilhabesicherung; individueller Rechtsanspruch für alle Menschen; keine Bedürftigkeitsprüfung; kein Zwang zur Arbeit oder zu anderen Gegenleistungen«. Ronald Blaschke (»Grundeinkommen – Was ist das? Eine kurze Begriffsklärung«, in: ders., Adeline Otto, Norbert Schepers (Hg.), Grundeinkommen. Von der Idee zu einer europä-ischen politischen Bewegung, Hamburg 2012, S. 10-16, hier: S. 13) bemerkt also zu Recht, dass in der Definition des BIEN »das wichtige Merkmal der existenz- und teilhabesichernden Höhe [fehlt]«.

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denen, die es ebenfalls proklamieren, oftmals nichts zu tun haben, und wer es verwirft, dem ist sein Nachbar, der es ihm gleichtut, noch längst nicht geheuer.2

Dass das Grundeinkommen heutzutage dermaßen polarisiert und integriert, hängt damit zusammen, dass es zwar einerseits in einem bestimmten Sinne radikal, andererseits aber auch äußerst unbestimmt ist. So einfach der Vorschlag, so vielfältig die Wege und Ziele, die damit verbunden sind – von seiner politischen und ökonomischen Ausgestaltung bis hin zu diesen oder jenen erhofften oder befürchteten individuellen und gesellschaftlichen Auswirkun-gen.3 Das Grundeinkommen spiegelt dabei vieles wider, was weni-ger mit ihm selber als mit den gehegten Träumen seiner Anhänger und den gepflegten Vorurteilen seiner Gegner zu tun hat. Dieser Umstand soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es natür-lich auch das Grundeinkommen selber ist, welches diese Träume und Albträume hervorruft, indem es sich teilweise quer zu gängi-gen Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit stellt und den gewohnten Zusammenhang von Arbeit und Einkommen, Leistung und Verdienst grundsätzlich hinterfragt.4

Will man den Grundeinkommensdiskurs ordnen, lassen sich drei Hauptgründe ausfindig machen, die immer wieder für ein Grundeinkommen angeführt werden. Außerdem lassen sich drei Haupteinwände aufzeigen, mit denen es sich regelmäßig konfron-tiert sieht. Beginnen wir mit den drei dafürsprechenden Gründen: Das bedingungslose Grundeinkommen wird erstens als wirksames Mittel zur Armutsbekämpfung, zweitens als sinnvolle Antwort auf bestehende oder bevorstehende Arbeitslosigkeit und drittens als Freiheitsgarant und Gerechtigkeitserfordernis angesehen. Was hat es mit diesen drei Gründen genau auf sich?

2 Eine Übersicht bzw. Beispiele dieser Debatte liefern Christoph Butterwegge, Kuno Rinke (Hg.), Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozi-almodell, Weinheim, Basel 2018; Amy Downes, Stewart Lansley (Hg.), It’s Basic Income. The Global Debate, Bristol 2018; Philip Kovce (Hg.), Soziale Zukunft. Das bedingungslose Grundeinkommen. Die Debatte, Stuttgart 2017; Karl Widerquist, José A. Noguera, Yannick Vanderborght u. a. (Hg.), Basic Income. An Anthology of Contemporary Research, Oxford 2013.

3 Vgl. Eric Schröder, Zur Konsensfähigkeit der Grundeinkommensidee, Baden-Baden 2018.

4 Vgl. Michael Opielka, Matthias Müller, Tim Bendixen u. a., Grundeinkommen und Werteorientierungen. Eine empirische Analyse, Wiesbaden 2010.

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Erstens: Armut kommt ein Gemeinwesen teuer zu stehen, nicht zuletzt wegen ihrer Folgekosten (Krankheit, Kriminalität etc.). Es gilt als unbestritten, dass ein Grundeinkommen in exis-tenzsichernder Höhe Armut in finanzieller Hinsicht beseitigt. Je gewichtiger die Armut, desto eher wird mit diesem Argument für ein bedingungsloses Grundeinkommen geworben. Ob ein solches Grundeinkommen jedoch auch ein effizientes Mittel zur Armuts-bekämpfung darstellt, ist äußerst umstritten. Wäre ausschließlich Armutsbekämpfung sein Ziel, dürften es all diejenigen nicht erhal-ten, die nicht arm sind. Dennoch könnte es sich unter Umständen lohnen, es allen auszuzahlen, denn die Verwaltungskosten indivi-dueller Leistungsbewilligung bei anspruchs- und bedarfsprüfen-den Hilfsprogrammen sind um ein Vielfaches höher als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen. Außerdem könnte es Armut wirksam vorbeugen helfen, indem es auch diejenigen finanziell ab-sichert, die derzeit nicht von Armut bedroht sind. Es könnte also dazu beitragen, Armut gar nicht erst entstehen zu lassen, anstatt sie später umständlich zu bekämpfen.5

Zweitens: Was für Armut gilt, das gilt ganz ähnlich auch für Arbeitslosigkeit. Sie bringt ungeheure gesellschaftliche Folgekosten (Dequalifizierung, Desintegration etc.) mit sich und wird dieser Tage eher verwaltet als verhindert. Die teils umständliche, teils unwürdige Ersatzleistungsbürokratie, die nicht nur Anspruch und Bedarf andauernd überprüft, sondern die Betroffenen unter Andro-hung von Sanktionen auch zu jedweder Arbeitsaufnahme nötigen kann, führt in vielen Fällen gerade nicht zu steigender Leistungs-bereitschaft und zum erwünschten Vermittlungserfolg. Und wenn

5 Vgl. Rutger Bregman, Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen, Reinbek 2017, S. 57-78 (Kap. »Das Ende der Armut«); Wolfgang Eichhorn, »Deutschland ohne finanzielle Armut und mit Bedingungslosem Grundeinkommen: Ein Weg zu die-sen Zielen«, in: Götz W. Werner, Wolfgang Eichhorn, Lothar Friedrich (Hg.), Das Grundeinkommen. Würdigung – Wertungen – Wege, Karlsruhe 2012, S. 331-337; Sascha Liebermann, Aus dem Geist der Demokratie: Bedingungsloses Grundeinkom-men, Frankfurt/M. 2015, S. 172-177 (Kap. »Armut«); Sendhil Mullainathan, Eldar Shafirm, Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben, Frankfurt/M., New York 2013; Guy Standing, Basic Income. And How We Can Make It Happen, London 2017, S. 71-94 (Kap. »Reducing Poverty, Inequality and Insecurity«); Van-derborght, Van Parijs, Ein Grundeinkommen für alle?, S. 64-74 (Kap. »Ein effizien-tes Mittel im Kampf gegen die Armut?«).

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doch, dann sorgen exorbitante Transferentzugsraten nicht selten dafür, dass viele Arbeitslose nach Wiederaufnahme einer regulären Beschäftigung finanziell noch schlechter dastehen als zuvor. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde zunächst einmal die finanziellen Risiken der Arbeitslosigkeit abfedern, indem es das Existenzminimum sanktionsfrei garantiert. Außerdem könnte es die finanziellen Anreize zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung erhöhen, insofern Erwerbseinkommen damit nicht oder nur ge-ringfügig verrechnet würden. Ob ein bedingungsloses Grundein-kommen allerdings effizient gegen Arbeitslosigkeit vorgeht, darf durchaus bezweifelt werden, da es eben nicht nur arbeitslose, son-dern sämtliche Bürger adressiert. Wobei zu bedenken bleibt, dass es auch hier von Vorteil sein könnte, auf kostspielige, demotivierende, stigmatisierende Kontrollen der Sozialbehörden zu verzichten und stattdessen dem Einkommensverlust bei Arbeitslosigkeit allgemein vorzubeugen. Dies ist vor allem angesichts des Strukturwandels der Arbeit im Zeitalter von Individualisierung und Digitalisierung relevant, der den bismarckschen Sozialstaat der Industrialisierung herausfordert – ganz abgesehen davon, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Gesellschaft neu verhandeln ließe, inwiefern Erwerbsarbeit überhaupt wünschenswert ist und was jenseits davon als sinnvoller Beitrag zum Gemeinwesen, mithin als anerkennens-werte Tätigkeit verstanden werden kann.6

6 Vgl. Hans-Jürgen Arlt, »Erwerbsarbeit und soziale Existenz. Leitbilder von gestern und Werte für morgen«, in: Werner, Eichhorn, Friedrich (Hg.), Das Grundein-kommen, S. 138-149; Manuel Franzmann (Hg.), Bedingungsloses Grundeinkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft, Weilerswist 2010; Manfred Füll-sack, Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens, Berlin 2002; Sascha Liebermann, »Das Selbstmissverständnis der ›Arbeitsgesellschaft‹ oder zur strukturellen Gemeinsamkeit von Demokratie und Bedingungslosem Grundein-kommen«, in: Thomas Meyer, Udo Vorholt (Hg.), Bedingungsloses Grundeinkom-men in Deutschland und Europa?, Bochum, Freiburg i. Br. 2016, S. 63-85; Standing, Basic Income, S. 155-184 (Kap. »The Implications for Work and Labour«); Vander-borght, Van Parijs, Ein Grundeinkommen für alle?, S. 74-80 (Kap. »Ein effizientes Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit?«); Georg Vobruba, Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft, Wiesba-den 2019; ders., Alternativen zur Vollbeschäftigung. Die Transformation von Arbeit und Einkommen, Frankfurt/M. 2000. Vgl. darüber hinaus zum Strukturwandel von Arbeit und Sozialstaat Nils Adamo, Bedingungsloses Grundeinkommen. Sozi-alromantik oder Zukunft des Sozialstaats?, Darmstadt 2012; Elizabeth Anderson, Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht

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Drittens: Ganz anderer Natur ist das Argument, welches ein be-dingungsloses Grundeinkommen als Freiheitsgarant und Gerech-tigkeitserfordernis ansieht. Es ist nicht vorrangig sozialpolitisch, sondern grundrechtlich motiviert. Jedem Einzelnen, so heißt es, stünde unabhängig von Bedarf und Verdienst ein gerechter Anteil der natürlichen Ressourcen bzw. des kulturellen Erbes der Mensch-heit zu, der sich in Form eines bedingungslosen Grundeinkom-mens manifestieren bzw. kapitalisieren ließe. Dabei handelt es sich explizit nicht um eine Sozialleistung der Starken für die Schwachen, der Reichen für die Armen, sondern um ein gleiches Anrecht aller auf einen Teil der Früchte von Natur und Kultur. Die Bedingungs-losigkeit des Grundeinkommens wird in diesem Zusammenhang nicht bloß pragmatisch, sondern normativ begründet. Ähnlich verhält es sich mit der Freiheitsgarantie: Während Freiheitsrechte den Bürgern bestimmte Freiheiten formal zusichern (Allgemeine Handlungsfreiheit, Berufsfreiheit etc.), könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen dafür sorgen, dass diese Freiheiten nicht bloß formal, sondern auch real gewährt werden. Freiheit wird dabei nicht nur ideell als eine Frage des Rechts, sondern auch materiell als eine Frage der Ausstattung begriffen. Wer nicht über die Res-sourcen verfügt, von seinen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen, dem sind sie de facto verwehrt. Da es sich jedoch um unveräu-ßerliche Grundrechte handelt, ist von vornherein sicherzustellen, dass sie jedem Einzelnen tatsächlich gewährt werden. Die Bedin-gungslosigkeit des Grundeinkommens entspricht in diesem Sinne der Garantie der Freiheit. Wer diesem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit nicht folgt oder bezweifelt, dass das Grundeinkom-men ihm entspricht, der lehnt es ab.7 Jedenfalls kann man kaum für

darüber reden), Berlin 2019; David Graeber, Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stuttgart 2018; Birger P. Priddat, Arbeit an der Arbeit: Verschiedene Zu-künfte der Arbeit, Marburg 2000; Jeremy Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005; Katja Thimm, Das bedingungslose Grundeinkommen – Kollaps oder Reanimation des Sozialstaates?, Marburg 2010.

7 Vgl. Simon Birnbaum, Basic Income Reconsidered. Social Justice, Liberalism and the Demands of Equality, New York 2012; Ian Carter, »Distributing Freedom over Whole Lives«, in: Axel Gosseries, Yannick Vanderborght (Hg.), Arguing about Jus-tice. Essays for Philippe Van Parijs, Neu-Löwen 2011, S. 135-144; Loek Groot, Basic Income, Unemployment and Compensatory Justice, Boston 2010; Michael Haus, »Das bedingungslose Grundeinkommen – eine Forderung der Gerechtigkeit?«,

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oder gegen das Grundeinkommen argumentieren, ohne sich dabei auf Freiheit und Gerechtigkeit zu beziehen.8

in: Rigmar Osterkamp (Hg.), Auf dem Prüfstand: Ein bedingungsloses Grundein-kommen für Deutschland?, Baden-Baden 2015, S. 39-57; Frieder Neumann, Gerech-tigkeit und Grundeinkommen. Eine gerechtigkeitstheoretische Analyse ausgewählter Grundeinkommensmodelle, Berlin 2009; Timo Reuter, Das bedingungslose Grund-einkommen als liberaler Entwurf. Philosophische Argumente für mehr Gerechtigkeit, Wiesbaden 2016; Standing, Basic Income, S. 23-69 (Kap. »Basic Income as Social Justice« und »Basic Income and Freedom«); Thomas Straubhaar, Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert, Hamburg 2017, v. a. S. 171-181 (Kap. »Ist das Grundeinkommen gerecht?«); Philippe Van Pa-rijs, Real Freedom for All. What (If Anything) Can Justify Capitalism?, Oxford 1995; ders., Yannick Vanderborght, Basic Income. A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy, Cambridge (MA) 2017, v. a. S. 4-28 (Kap. »The Instrument of Freedom«); dies., Ein Grundeinkommen für alle?, S. 87-98 (Kap. »Gerechtigkeits-erfordernis?«); Karl Widerquist, Independence, Propertylessness and Basic Income. A Theory of Freedom as the Power to Say No, New York 2013; ders., Noguera, Van-derborght u. a. (Hg.), Basic Income, S. 1-77 (Kap. »Freedom« und »Justice«). Das Grundeinkommen als Grundrecht erörtern außerdem Max Bauer, Ubi Utopia? Verfassungsrecht und Grundeinkommen. Warum eine freiheitstheoretische (Re-)Kon-struktion des Sozialstaatsprinzips der utopischen Irritation bedarf, Berlin 2016; Mi-chael Brenner, Solidarisches Bürgergeld und Grundgesetz, Baden-Baden 2011; Wolf-gang Eichhorn, André Presse, »Grundrechte und Grundeinkommen«, in: Werner, Eichhorn, Friedrich (Hg.), Das Grundeinkommen, S. 20-26; Jan Heider, Von der Idee zur Institution. Eine soziologische Analyse des Grundeinkommens als Grund-recht, Marburg 2012; Thomas Holzner, »Das bedingungslose Grundeinkommen im Lichte des deutschen Staats- und Verfassungsrechts«, in: Osterkamp (Hg.), Auf dem Prüfstand, S. 185-197; Dennis Seifarth, Grundeinkommen und Grundgesetz. Soziale Sicherheit im freiheitlichen Verfassungsstaat, Jena 2005.

8 Axel Honneth (Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, S. 35-37) schreibt: »Unter all den ethischen Werten, die in der moder-nen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt sind und seither um Vormachtstellung konkurrieren, war nur ein einziger dazu angetan, deren institutionelle Ordnung auch tatsächlich nachhaltig zu prägen: die Freiheit im Sinne der Autonomie des Einzelnen. Alle anderen Vorstellungen des Guten […] gerieten […] schnell in das Fahrwasser des Autonomiegedankens, dem sie am Ende nur weitere Tiefen-schichten verliehen. […] Seither ist von der Vorstellung sozialer Gerechtigkeit, von Überlegungen darüber, wie die Gesellschaft eingerichtet werden soll, um den Interessen und Bedürfnissen ihrer Mitglieder gerecht zu werden, das Prinzip der individuellen Autonomie nicht mehr abzutrennen; so groß auch der Stellenwert all dessen sein mag, was zusätzlich noch an ethischen Gesichtspunkten in den Dis-kurs über Gerechtigkeit eingebracht wird, stets wird all das von der Bedeutung des Wertes überragt, den die Freiheit des Einzelnen in der modernen Gesellschafts-ordnung genießt.« Unter diesen Bedingungen scheint es kaum verwunderlich,

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Kommen wir nun zu den drei Haupteinwänden, mit denen sich Verfechter des Grundeinkommens immer wieder konfrontiert se-hen und die als Fragen formuliert wie folgt lauten. Erstens: Wie ließe es sich finanzieren? Zweitens: Wer würde dann noch arbeiten? Drittens: Wie ließe sich damit experimentieren?

Ob sich ein bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt finanzieren ließe, darüber lässt sich ebenso trefflich wie heillos streiten. Denn ins Blaue hinein ist diese Frage schlicht und ein-fach nicht zu beantworten. Es bedarf, um diese ökonomische Frage auch nur annähernd sachgemäß zu erörtern, der politischen Ver-ständigung darüber, wie ein solches Grundeinkommen en détail ausgestaltet sein soll.9 Es bedarf der Verständigung darüber, welche Individuen es erhalten und welche Institutionen es auszahlen; in welcher Höhe und in welchem Rhythmus es ausgezahlt wird; ob es den Lebenshaltungskosten angepasst und nach Lebensalter dif-ferenziert wird; welche anderen Leistungen es ersetzt oder ergänzt; schließlich bedarf es einer Bestimmung der Finanzierungsquellen und Finanzierungsinstrumente sowie eines Übergangsszenarios der Einführung. In Beispielen gesprochen: Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen Welt-, Steuer- oder Staatsbürger beziehen; ob es internationale, nationale, regionale oder kommunale Institutio-

dass der moderne Grundeinkommensdiskurs nicht ohne andauernde Verweise auf Freiheit und Gerechtigkeit (im Lichte der Freiheit) auskommt.

9 Grundsätzlich bedarf es zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkom-mens aus ökonomischer Sicht arbeitsteiliger und geldwirtschaftlicher, aus poli-tischer Sicht demokratischer Verhältnisse. Subsistenz- und tauschwirtschaftliche Verhältnisse entbehren der ökonomischen, autokratische der politischen Vor-aussetzungen eines Grundeinkommens. Vgl. Sascha Liebermann, Autonomie, Gemeinschaft, Initiative. Zur Bedingtheit eines bedingungslosen Grundeinkommens. Eine soziologische Rekonstruktion, Karlsruhe 2010. Was es nicht zwangsläufig zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bedarf, ist eine Wohl-standsgesellschaft westlichen Typs, weshalb es auch andernorts diskutiert wird. Vgl. Sarath Davala, Renana Jhabvala, Soumya Kapoor Mehta u. a., Basic Income. A Transformative Policy for India, London, New York 2015; Monika Lenz, Das Bedin-gungslose Grundeinkommen – eine Chance zum Leben? Ein Projekt in Namibia und Aspekte der möglichen Übertragbarkeit auf die Bundesrepublik Deutschland, Görlitz 2010; Rubén Lo Vuolo (Hg.), Citizen’s Income and Welfare Regimes in Latin Ameri-ca. From Cash Transfers to Rights, New York 2013; Guy Standing, Michael Samson (Hg.), A Basic Income Grant for South Africa, Kapstadt 2003; Eduardo Matarazzo Suplicy, »Towards an Unconditional Basic Income in Brazil?«, in: Gosseries, Van-derborght (Hg.), Arguing about Justice, S. 337-346.

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nen administrieren; ob es das Existenz- oder das Kulturminimum sichert; ob es jährlich, vierteljährlich, monatlich, wöchentlich oder gar nur einmalig (als Grundkapital) ausgezahlt wird; ob Städter oder Dörfler, Kinder oder Rentner mehr oder weniger erhalten; ob es Kindergeld oder Rentenzahlungen ersetzt oder ergänzt; ob es schließlich mittels dieser oder jener Steuern, Gebühren oder Beiträge erhoben und an einem bestimmten Stichtag vollständig oder im Laufe der Zeit etappenweise eingeführt wird – das alles hat erhebliche Folgen für seine Finanzierung. Ganz zu schweigen von den dynamischen Auswirkungen seiner Einführung, die sich umso schwerer vorab kalkulieren lassen. Wer dies bedenkt, den mag es kaum verwundern, dass es bereits eine enorme Literatur zur Fi-nanzierungsfrage des Grundeinkommens gibt – und dass jene, die es politisch als wünschenswert erachten, es meistens auch ökono-misch für machbar halten, während es jenen, denen es politisch unerwünscht ist, meistens auch ökonomisch als unrealistisch gilt.10

Und wer würde dann noch arbeiten? Derart gestellt, ist dies nicht bloß eine Frage, sondern zugleich eine Unterstellung. Sie 10 Vgl. Stefan Bergmann, In zehn Stufen zum BGE. Über die Finanzierbarkeit und

Realisierbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens in Deutschland, Nor-derstedt 2018; BIEN-Schweiz (Hg.), Die Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens, Zürich 2010; Füllsack, Leben ohne zu arbeiten?, S. 165-183 (Kap. »Die Finanzierungsfrage«); Benediktus Hardorp, Arbeit und Kapital als schöpferische Kräfte. Einkommensbildung und Besteuerung als gesellschaftliches Tei-lungsverfahren, Karlsruhe 2008, S. 181-188 (Kap. »Finanzielle Aspekte eines be-dingungslosen Grundeinkommens«); ders., »Ausgaben- statt Einkommensteuer! Zum Finanzierungsverständnis des Grundeinkommens«, in: Paul Mackay, Ul-rich Rösch (Hg.), Grundeinkommen für jeden Menschen. Eine Herausforderung für Europa?, Dornach 2007, S. 57-71; Ingmar Kumpmann, »Das Problem der Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens«, in: Franzmann (Hg.), Bedingungsloses Grundeinkommen, S. 369-391; Rigmar Osterkamp, »Ist ein bedin-gungsloses Grundeinkommen in Deutschland finanzierbar?«, in: ders. (Hg.), Auf dem Prüfstand, S. 225-245; Helmut Pelzer, Das bedingungslose Grundeinkommen. Finanzierung und Realisierung nach dem mathematisch fundierten Transfergrenzen-Modell, Stuttgart 2010; Richard Pereira (Hg.), Financing Basic Income. Addressing the Cost Objection, Cham 2017; André Presse, Grundeinkommen. Idee und Vor-schläge zu seiner Realisierung, Karlsruhe 2010; Standing, Basic Income, S. 127-154 (Kap. »The Affordability Issue«); Straubhaar, Radikal gerecht, S. 136-152 (Kap. »Ist das Grundeinkommen finanzierbar?«); Götz W. Werner, André Presse (Hg.), Grundeinkommen und Konsumsteuer. Impulse für »unternimm die zukunft«, Karls-ruhe 2007; Widerquist, Noguera, Vanderborght u. a. (Hg.), Basic Income, S. 189-257 (Kap. »Economics«).

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äußert einen weiteren Haupteinwand gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen: dass es Menschen nämlich ermöglichen würde, sich nicht weiter um Arbeit zu scheren und stattdessen unfairerwei-se auf Kosten anderer, die weiterhin arbeiten wollen bzw. müssen, zu faulenzen.11 Diesem Vorwurf begegnen Verfechter eines Grund-einkommens zumeist auf zweierlei Weise: indem sie ihn erstens für berechtigt, aber nicht gewichtig, oder zweitens weder für berechtigt noch für gewichtig halten. Entweder wird eingestanden, dass es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zwar möglich wäre, je-den Leistungsbeitrag zu verweigern und sich bloß fürs Nichtstun alimentieren zu lassen, zugleich aber bestritten, dass dies in relevan-tem Umfang tatsächlich geschehen würde; oder es wird zur Gegen-offensive ausgeholt und darauf hingewiesen, dass gerade die heutige Arbeitswelt mit ihrem impliziten Arbeitszwang Arbeitsmotivation verdränge und Ausbeutungsverhältnisse befördere, die es wenigen ermöglichten, sich unfairerweise auf Kosten vieler zu bereichern, während ein »Recht auf Faulheit« gerade die Voraussetzung dafür schaffe, wirklich motiviert und produktiv zu arbeiten. Abgesehen von diesen argumentativen Scharmützeln lässt sich konstatieren, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen sicherlich dazu füh-ren würde, dass vor allem schlecht bezahlte und geringgeschätzte Tätigkeiten zunächst einmal gemieden würden. Dies müsste al-lerdings gar nicht bedrohlich, sondern es könnte ebenso gut er-wünscht sein, denn es würde vor allem im Niedriglohnsektor bes-seren Arbeitsbedingungen und konsequenterer Automatisierung Vorschub leisten. Unabhängig davon liegt es auf der Hand, dass, wer seinen Lebensstandard mit einem bedingungslosen Grundein-kommen halten will, größtenteils weiterhin erwerbstätig sein bzw. aus Einkommensquellen jenseits des Grundeinkommens schöpfen

11 Vgl. Birnbaum, Basic Income Reconsidered, S. 145-170 (Kap. »Why Do People Work If They Don’t Have To? Basic Income, Liberal Neutrality and the Work Ethos«); Füllsack, Leben ohne zu arbeiten?, S. 137-148 (Kap. »Parasitentum«); Phi-lip Kovce, »Wer frei ist, muss nicht faul sein. Der Tag der Arbeit und das bedin-gungslose Grundeinkommen«, in: Butterwegge, Rinke (Hg.), Grundeinkommen kontrovers, S. 50-63; Gijs Van Donselaar, The Right to Exploit. Parasitism, Scarci-ty, Basic Income, Oxford 2008; Van Parijs, Real Freedom for All, S. 133-185 (Kap. »Exploitation Versus Real Freedom«); ders., Vanderborght, Basic Income, S. 99-132 (Kap. »Ethically Justifiable? Free Riding Versus Fair Shares«); Widerquist, Noguera, Vanderborght u. a. (Hg.), Basic Income, S. 79-140 (Kap. »Reciprocity and Exploitation«).

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muss. Schließlich sind noch Erkenntnisse der empirischen Sozi-alforschung in diesem Zusammenhang interessant: Nämlich gibt in entsprechenden Umfragen stets eine große Mehrheit an, dass sie selbst unter den Bedingungen eines bedingungslosen Grund-einkommens weiterarbeiten würde; diese Bereitschaft, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt, gesteht sie anderen jedoch nur in weitaus geringerem Maße zu.12 Was sich dabei zeigt, ist ein »›Ich bin fleißig, du bist faul‹-Paradox«,13 ein gespaltenes Menschenbild,14 bei dem Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinanderklaffen. Faul sind, so scheint es, vor allem die anderen. All dies lässt noch unberücksichtigt, dass – wie bereits angedeutet – der Arbeitsbegriff als solcher mit einem bedingungslosen Grundeinkommen Gegen-stand grundlegender gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse wer-den könnte. Die Frage, wer mit einem bedingungslosen Grundein-kommen noch arbeiten würde, wird nicht unwesentlich von der Antwort darauf abhängen, was unter Grundeinkommensbedin-gungen schließlich als Arbeit angesehen und anerkannt wird.15

Wer sich unsicher ist, was er von einem bedingungslosen Grundeinkommen halten soll, der fragt zu guter Letzt nach Expe-rimenten. Wo er sich theoretisch nicht entscheiden kann, da sol-len ihm Experimente praktisch den Weg weisen. Sie sollen klären, ob bzw. wie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen tatsäch-

12 Vgl. Straubhaar, Radikal gerecht, S. 155 f.13 Ebd., S. 221, Fn. 178. Damit korrespondiert das »Ich bin frei, du bist unfrei«-

Paradox, das besagt, dass Menschen sich selbst eher als frei bzw. selbstbestimmt, andere dagegen eher als unfrei bzw. fremdbestimmt annehmen. Vgl. Katherine E. Hansen, Emily Pronin, »Illusions of Self-Knowledge«, in: Simine Vazire, Tim-othy D. Wilson (Hg.), Handbook of Self-Knowledge, New York 2012, S. 345-362.

14 Vgl. Philip Kovce, »Die Aufhebung des Menschen. Über Individualität und So-zialität oder: Wer bin ich, wenn wir zusammen sind?«, in: Börries Hornemann, Armin Steuernagel (Hg.), Sozialrevolution!, Frankfurt/M., New York 2017, S. 191-198; Sascha Liebermann, »Das Menschenbild des Grundeinkommens – Wunsch-vorstellung oder Wirklichkeit?«, in: Werner, Eichhorn, Friedrich (Hg.), Das Grundeinkommen, S. 12-19; Richard David Precht, »Frei leben! Digitalisierung, Grundeinkommen und Menschenbild«, in: Butterwegge, Rinke (Hg.), Grund-einkommen kontrovers, S. 32-49; Ferdinand Rohrhirsch, Zur Bedeutung des Men-schenbildes in der Diskussion zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Philoso-phische und theologische Anmerkungen, Karlsruhe 2009; Enno Schmidt, »Zeitgeist und Menschenbild«, in: Kovce (Hg.), Soziale Zukunft, S. 144-159.

15 Vgl. Fn. 6.