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Ökonomie und/oder Natur Zur Abschätzung ökonomischer Reichweiten ökologischer Ideen Schriftenreihe des IÖW 11/88 Birger P. Priddat

Birger P. Priddat Ökonomie und/oder Natur · Die ökologische Kriti akn der Ökonomie si, e habe, modern, "die Natur ver-gessen", vergißt selber, daß die ökonomisch Theorie "die

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Ökonomie und/oder Natur

Zur Abschätzung ökonomischer Reichweiten ökologischer Ideen

Schriftenreihe des IÖW 11/88

Birger P. Priddat

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Schriftenreihe des IÖW 11/88 BIRGER P. PRIDDAT:

ÖKONOMIE UND/ODER NATUR Zur Abschätzung ökonomischer Reichweiten ökologischer Ideen

Berlin, April 1988

ISBN 3-926930-06-3

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Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) GmbH

Die aktuellen und zukünftigen Probleme der Wirtschafts- und Ge-sellschaftspolitik werden nur auf dem Weg der systematischen. Ver-knüpfung ökonomischen, ökologischen und sozialwissenschaftlichen Sachverstands zu bewältigen sein. Daraus folgt ein wachsender Bedarf an innovativer, ergebnisorien-tierter Forschung, an interdisziplinärer Theoriebildung und Poli-tikberatung. Mit diesem Verständnis akquiriert das IÖW Forschungs-projekte und Gutachten, veranstaltet Fachtagungen und veröffent-licht die Ergebnisse seiner Arbeit in einem regelmäßig erscheinen den "Informationsdienst" sowie der institutseigenen Schriften-reihe.

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Ö K O N O M I E U N D / O D E R N A T U R

ZUR ABSCHÄTZUNG ÖKONOMISCHER REICHWEITEN

ÖKOLOGISCHER IDEEN.

BIRGER P. PRIDDAT

1. GIBT ES EINE ÖKOLOGISCHE DIMENSION DER ÖKONOMIE ?

VON DER ANTIKE BIS N.GEORGESCU-ROEGEN

2. ÖKONOMIE ODER NATUR.URSPRÜNGE.

FÜLLE UND RETRIBUTION DER NATUR BEI JOHN LOCKE

UND FRANCOIS QUESNAY

3. ÖKONOMIE UND NATUR.

DER GEBRAUCHSWERT DER NATUR, ÜBER H.IWLERS

"NATUR IN DER ÖKONOMISCHEN THEORIE"

4. UBER DAS VERHÄLTNIS VON WIRTSCHAFT UND ETHIK

IN ÖKOLOGISCHER HINSICHT

5. EDITORISCHE NOTIZ

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GIBT ES EINE ÖKOLOGISCHE DIMENSION DER ÖKONOMIE ?

VON DER ANTIKE BIS N. GEORGESCU-ROEGEN.

Die ökologische Kritik an der Ökonomie, sie habe, modern, "die Natur ver-

gessen", vergißt selber, daß die ökonomische Theorie "die Natur" aus ihren

produktionstheoretisehen Grundlagen herausgenommen hatte. D.h. erstens:

Natur und Ökonomie waren bereits einmal in Relation gesetzt gewesen; zwei-

tens: Die Trennung beider hatte Gründe. Von einer Naturvergessenheit der

Ökonomie läßt sich i.d.S. nicht reden.

Ob wir die Gründe akzeptieren, ist eine zweite Frage.

Aber jene Rekapitulation "der Natur", deren "Einheit" auch die moderne öko

nomie wieder in sich aufnehmen soll, setzt sich damit nochmals den Gründen

aus, die die "klassischen" Ökonomen und deren Nachfolger im 19. Jahrhun-

dert bereits ausführten, als sie die physiokratische Version der aus-

schließlichen Natur-Produktivität kritisierten. Insofern ist eine theorie-

geschichtliche Skizze durchaus zur kritischen Betrachtung "ökologischer

Naturphilosopheme" von Nutzen.

Dieser Versuch soll im folgenden unternommen werden. Wenn er auch längere

Passagen theoriegeschichtlich bleibt, ist der Zweck der Darlegung, wie

sich unschwer zeigen läßt, ein Infragestellen fragwürdiger Ideen, die

"Naturbilder" oder "Naturbewußtsein" vor die umweltökonomische Analyse

stellen. Diese bleibt für diesen Aufsatz unfraglich (was nicht heißt, daß

sie nicht ihre eigene Fraglichkeit hat).

So entsteht oft der Eindruck, daß eine hol istische Natur-Idee (sine philo-

sophia) mit moralisch-politischen Imperativen kurzgeschlossen wird, um

die Forderung nach ökonomischer Analysekompetenz in ökologischen Dingen

umgehen zu können, und damit den Vorwurf aufrecht zu erhalten, gleichsam

"zu beweisen", daß "die Ökonomie" "die ökologischen Probleme" gar nicht

zu lösen in der Lage sei. Der alte moralische Verdacht gegen "die Ökono-

mie", sie verderbe die Sitten, wird auf ihren Naturumgang erweitert bzw.

an ihm restauriert - wobei, unausgesprochen, und manchmal auch schon expli

zit, der Glaube sich einstellt, "die Natur" sei selber von sittlicher Ord-

nung oder jedenfalls Muster hierfür, dem nur zu folgen sei, um die Welt

"natürlich" zu adjustieren - in grober Vereinfachung des Standpunktes der

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physiokratisehen Ökonomie des 18. Jahrhunderts.

Hierbei wird ein wenig übersehen, daß "die Natur" selber keine Sitten

offenbart, sondern nur wir an ihr. Die Physiokraten gingen noch einen

Schritt weiter: Indem sie als das entscheidende Erkenntnisorgan der zu

regulierenden prästabilierten Harmonie von ordre de la nature und ordre

de la morale die neue Wissenschaft der économie etablierten. Deren Zweck

war auch keine "Erhaltung der Natur" sondern die bienfaisance,das Wohl-

ergehen der Gesellschaft.

Aber in einem hat der Verweis auf die "Natur-Ökonomie" der Physiokraten

recht: daß sie der Natur eine Rolle im Produktionsprozeß zubilligten,

die modern nicht mehr behauptet wird und auf antike Traditionen zurückver-

weist. Eine "ökologische"Rubrizierung antiker Naturmodelle bedarf aber,

neben besonderen philosophischen Problemen, mehr als ihre bloße Behaup-

tung - und zudem eine Widerlegung eben jener Gründe, die zu ihrer Ab-

schaffung führte.

Daß der ökonomische Begriff der Natur nur ein methodischer ist, eine leere

Menge, die ihren Wert erst durch ökonomische Aktivitäten erfährt, bleibt

eigentümlich übersehen oder gerät zum Vorwurf. Um zu ermessen, ob es der

Ökonomie an einem "Naturbegriff" ermangelt, wie die ökologische Diskus-

sion manchmal schon vorab zu wissen meint, sind einige Ausfuhrungen über

die Genese dieser methodischen Disposition vonnöten. Denn die neuzeitliche

Ökonomie ist nicht a priori ohne Naturbegriff, sondern konstituiert sich

gerade dort, wo es um produktionstheoretische Fragen geht, auf dem Funda-

ment einer Naturphilosophie. In diesem Sinne ist der methodische Naturaus-

schluß aus der modernen Ökonomie das Ergebnis einer Reflektion über das

Verhältnis von Ökonomie und Natur und nicht, wie man vermeint, eine Unter-

lassung. Damit sind die ökologischen Fragen nicht beiseite geschoben, aber

es wird sich fragen lassen, ob die ökologische Anfrage an die Ökonomie von

vornherein ein naturphilosophisches Problem anzeigt bzw. ob es nötig ist,

die "Einheit der Natur" zu beschwören, um die Umweltfragen ökonomisch und

politisch beantworten zu können.

Für diesen Zweck aber begrenzen wir uns auf die Skizze der Geschichte der

Produktionstheorie: auf die Frage nach der Allokation natürlicher Ressour-

cen, die das andere ökologische Problem der Vergiftung und Verschmut-

zung der Ressourcen nicht vordringlich ins Visier nimmt.

Von der endgültigen und universalen Industrialisierung und, in der Folge,

der Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses, seiner Technologisie-

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rung, war die "Produktion" nicht von vornherein ein Akt menschlicher Her-

stellung, sondern immer auch, je nach Theorie ausschließliche oder par-

tielle, Produktion der Natur selber - am deutlichsten in der Ökonomie der

Physiokraten des 18. Jahrhunderts, in Mischformen noch bei den englischen

"Klassikern" und den frühen deutschen NationalÖkonomen (und dort nicht nur

bei den sogenannten "Romantikern").

Die Produkte der Natur sind "obtained by labour. Nature, indeed, pro-duces them". Die Arbeit, setzt Ricardo den Satz fort, präpariere (prepares) die Naturprodukte "for our services" (D. Ricardo, On the prinaiples of political economy and taxation, Vol. I seiner Works (ed. P. Sraffa), Cambridge, London/N.Y./Melbourne 1975; S. 85).

Um die Valenz dieser Definition zu untersuchen, ist ein Exkurs über die

antike Tradition der ökonomischen Theorie und ihrer spezifischen Konstel- >

lation zur "Natur" sinnvoll.

a) Antiker ökonomiebegriff

Ricardos Definition des Verhältnisses von Natur und Arbeit entspricht genau

dem, was S.T. Lowry als Quintessenz der antiken Theorie der Allokation na-

türlicher Ressourcen zusammenfaßt:

"Only nature produces wealth, man can organize it" (S.T. Lowry, The classi-cal greek theory of natural ressource economics, S. 203 ff. in: Land Eco-nomics, Vol. XLI, no. 3, 1965; S. 207).

Lowry's Sentenz resümiert die bekannten antiken Schriftsteller, die sich

ökonomischen Fragen zugewandt hatten: Hesiod, Xenophon, Piaton und Aristo-

teles. Die aristotelische oikonomike (im 1. Buch seiner Politik) trennt

ganz selbstverständlich zwischen einer "natürlichen" Ökonomie (oikonomike

chrematistike), die dem autarken Erwerb des oikos' diene (und einen "natür-

lichen" Handel einschließt (metabletike)), und zwischen einer "unnatürli-

chen" Ökonomie (kepelike chrematistike), die den Erwerb um des Erwerbs wil-

len auffaßt, vornehmlich den (Fern- bzw. See-)Handel und die Geldge-

schäfte .

Die Prädikation der "natürlichen" Ökonomie (kata physin) bezieht sich z.e.

darauf, daß der Erwerb selbstredend Erwerb von Naturprodukten der Landwirt-

schaft (georgike) ist, z.a. auf ein metaphysisches Argument, daß nur das-

jenige Sein vollendet sei, das sein ihm immanentes Telos erlangt. Handel

und Geldgeschäfte dagegen, die die unendliche Praxis des Erwerbens betrie-

ben, negierten die "Natur des Seins" in ihrer schlechten Unendlichkeit

(s. dazu: M. Riedel, Politik und Metaphysik bei Aristoteles, S. 63 ff. in:

derselbe, Metaphysik und Metapolitik, Ffm. 1975). Was nicht seinsgemäß sei,

ist unnatürlich, d.h. verstößt gegen die Physis und bedrohe schließlich die

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Lebensform der koinonia in der Polis. Dieses Verhältnis von Metaphysik

und Politik (inklusive der Ökonomik) schließt grundsätzlich aus, daß die

Menschen etwas für und durch sich herstellen, was nicht eine formale Voll-

endung des in der Materie (hyle) immanent Angelegten sei. Die Metaphysik

des Stoff (hyle)/Form(morphe, eidos)-Verhältnisses umschließt alle mensch-

lichen Tätigkeiten, weshalb es in der griechisch-antiken Ökonomik auch

keinen gesonderten Produktions-Begriff gibt, sondern nur den der Nachahmung

(mimesis) des natürlichen (physischen) Werde-Geschehens. Die menschlichen

Herstellungen sind in einer physis/techne-Relation begründet.

Welche Bedeutung dieser Topos für die Herausbildung der "klassischen" Pro-

duktionstheorie der ökononomen hatte, läßt sich nicht ohne Rekurs auf die

Physiokratie verstehen (und nicht ohne daran zu erinnern, welche Traditions-

wirkungen die aristotelische Philosophie bis in die Moderne hatte, solange

sie die einzige systematische Konzeption der Ökonomie war, die auch philoso-

phischen Ansprüchen gerecht wurde).

b) Produktion als Regeneration. Die Physiokratie.

Ober den antiken Hintergrund der physiokratisehen Ökonomie ist schon genü-

gend verlautet worden. Das Kunstwort "Physiokratie" (von "phyein", wachsen

lassen und " kratein", herrschen) thematisiert einen Grundgedanken, der

nicht sogleich als "Naturbeherrschung" oder "Naturherrschaft" interpretiert

werden kann, sondern als Idee, die "Natur" als zu achtende Voraussetzung

menschlicher Gesellschaft zu betrachten, die die aufgeklärte Vernunft in der

Form einer Wissenschaft der Ökonomie zu ermessen lehrt.

Drei Einkommensklassen - classe productive oder laboureuse (der Bauern, Päch-

ter und Landarbeiter), classe propriétaire (Grundbesitzer) und der Rest der

Gesellschaft, die classe stérile (Handwerker, Händler, Manufakteure und alle

anderen Bürger, inklusive Staat und Militär) - entsprechen den drei Katego-

rien, auf die Aristoteles seine Ökonomie gegründet hat: e r w e r b e n

(1. classe), b e s i t z e n (2. classe), g e b r a u c h e n (3. classe).

Aristoteles' K t e s i s / c h r e s i s -Schema (siehe dazu: R. Nickel,

Das Begriffspaar Besitzen und Gebrauchen. Diss. Phil. Berlin 1970) zieht er-

werben und besitzen in dem einen Begriff der ktesis zusammen, da der, der

etwas besitzt, nach dem Verständnis der "natürlichen" Ökonomie, nicht mehr

zu erwerben braucht (oder nur soviel, um seinen Besitz zu erhalten). Die

Größe des Besitzes ist durch das Gebrauchs-Maß bestimmt. Was, nach Aristote-

les, ein oikos braucht, ist konventionell (nach den "Sitten") bestimmbar.

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Die ktesis-chresis-Formel steht wiederum im metaphysischen Kontext, wonach

ein Gebrauch über den Gebrauch hinaus den immanenten Zweck (telos) des

Seins verletze.

François Quesnay, der Begründer der Physiokratie, allerdings transponiert

den antiken Gehalt der ökonomischen Kategorien in die Moderne. Die classe

productive e r w i r b t die Naturprodukte; die classe stérile g e -

b r a u c h t sie. Der ariStotelische-antike oikos ist als privatwirt-

schaftliche Institution aufgelöst bzw. transponiert in das Modell einer

nationalen, autarken Ökonomie. Nicht mehr der "merkantilistische" Reich-

tumserwerb zur Vergrößerung der nationalen Macht (qua Außenhandelsüberschuß),

sondern die nationale Selbstversorgung durch die eigene Agrikultur und die

Erhaltung dieses "nationalökonomischen" Zustandes ist Quesnays Hauptanlie-

gen - die Allokation der national-natürlichen vor der internationalen oder

Handelsressourcen. I.d.S. trennt er Erwerb und Gebrauch und wertet sie ver-

schieden.

Der Gebrauch ist unproduktive Tätigkeit zur Erhaltung der eigenen Existenz,

während allein die Klasse der Pächter und Landarbeiter produktiv agiere»

indem sie die Nettowertschöpfung betreibe, die die Gebrauchsaktivitäten,

letztlich den nationalen Konsum aller anderen Gesellschaftsmitglieder er-

mögliche und produziere. Das Brutto- oder Gesamtprodukt einer (national-

autarken) Wirtschaft - le produit total - ergibt, nach Abzug der advances,

der Wiedererstattungskosten bzw. Investitionen in die Landwirtschaft, das

Nettoprodukt (le produit net): die N e u wertschöpfung.

Der gesamtwirtschaftliche Neuwert, gemessen in physischen Einheiten, ent-

steht demnach vollständig in der Agrikultur (zu der traditionell Bergbau,

Fischfang und Forstung gerechnet werden).

I.d.S. ist der Begriff "produktiv" doppeldeutig interpretierbar:

1. Versi on: Allein die Natur "produziert", die classe productive erwirbt

die Naturprodukte.

2. Version: Die Natur produziert zwar allein und ausschließlich, aber erst

die Transformation der rohen Materien in menschlichen Zweckzu-

sammenhänge ist der wirkliche produktive Akt, sozusagen eine

Verwandlung der Natur-Produkte in ökonomische Produkte.

In dieser Version wird nur das, was die Menschen anbauen (Agri-

kultur als Kultivation) und der Natur zu entnehmen für wert be-

finden, als ökonomisches Produkt klassifiziert, während der Pro-

duktionsbereich der Natur an und für sich unendlich viel größer

sein mag, als es die menschliche Ökonomie mit ihren eignen

Zwecken interessiert.

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Bei Quesnay gelten beide Versionen. Die wichtigste Aussage besteht darin,

daß die Natur "produziert" und daß die menschliche Formierung der Materien

zur Wertschöpfung nichts beiträgt. Das antike Materie/Form-Schema wird ein-

deutig zur Seite der Materie-Produktion verschoben. Die Voraussetzung einer

Naturproduktivität ist das Fundament der physiokratisehen Ökonomie.

Aber die Agrikultur ist eine Präparation der Böden für eine gezielte und be-

zweckte "Natur-Produktion", d.h. selber schon formierte Natur-Produktivität.

Die produktive Arbeit der classe laboureuse besteht logischerweise für Ques-

nay in der régénération, der Re-Kultivierung (durch Re-Investition der avan-

ces) der Felder.

Beide Arbeitsmodi - der agrikulturelle und der sterile - sind Formierungen

der Materie. Die Selbstformierung der Natur (hier wäre der Begriff der

autopoiesis angebracht) zu bestimmten rohen Stoffen ist zwar ein aller mensch-

licher Ökonomie vorgängiger Prozeß, ein Apriori der Natur, aber in nur spe-

zifischer Weise. Die wirkliche, für die Menschen relevante Produktion ge-

schieht in der Formierung der Äcker, d.h. durch die Herstellung der auf

menschliche Zwecke ausgerichteten produktiven Potenz der Natur. Ohne mensch-

liche Formierungsaktivitäten bleibt die Fülle der Naturproduktionen auch bei

den Physiokraten wertlos. Die neue Wissenschaft von der Ökonomie gilt fortan

als allgemeine Wissenschaft der Bewertung der Resultate natürlicher Pro-

zesse.

Aber - und das ist der signifikante Unterschied zur späteren "Neoklassik",

die die Naturressourcen als gegeben voraussetzt - die physiokratisehe Ökono-

mie betrachtet noch die Herstellung der Bedingungen für die Gegebenheit der

Ressourcen als ihre eigene Aufgabe.

Diese "Produktion der Naturproduktivität" - eine moderne Formulierung für

die alte agrikultureile Aufgabe - definiert den spezifischen Charakter des

physiokratisehen Modells und darin ein frühes, rudimentäres Kapitaltheorem:

daß die Verteilung der Nettoproduktion in Re-Investition (der Landwirtschaft)

und gesamtwirtschaftlichen Konsum die Erhaltung künftiger "Naturproduktivi-

tät" bzw. deren Steigerung (im Rahmen des Bevölkerungsanstieges) mit zu be-

messen habe. Dieses spezifische Allokationstheorem - im "tableau économique"

arithmetisch rechenbar gemacht - läßt es der aufgeklärten Ökonomie des 18.

Jahrhunderts erscheinen, als ob die "Gesetze der Natur" (ordre de la nature,

lois naturelles) die ökonomischen Handlungen (die dem ordre de la morale

zugehören) determinieren würden.

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2) Die weitere Entwicklung des Produktionsbegriffes.

Die Einsicht in ihre selbst gesetzten Voraussetzungen, daß im Allokations-

zusammenhang jede Arbeit produktiv sei, die zur Erhaltung der gesamtwirt-

schaftlichen Produktivität beiträgt, wird, außer bei Turgot, erst von

Adam Smith vollzogen (und die unproduktive Tätigkeit einzig denjenigen

zugewiesen, die ihre Einkommen bloß konsumieren).

Die arbeitswerttheoretische Wende der englischen "Klassik" bewertet alle

kapital produzierenden Prozesse als produktiv. Ihre Schwierigkeit bestand

darin, die Produktionsresultate wieder in physischen Einheiten messen zu

wollen, während das Kapitalkriterium selber schon eine ausschließlich öko-

nomische Bewertung impliziert. Jeder Prozeß, der über den Gebrauch (Subsi-

stenzkriterium) hinaus Werte schafft (overplus), ist demnach produktiv.

Eine solche Definition setzt voraus, daß die "Natur-Produktion" nurmehr

noch als allgemeine Voraussetzung gelten kann, die effektiv nur in dem Maße

der auf sie angewandten Arbeits-Investition erscheint.

Smith und Ricardo sehen, unterschiedlich, wohl auch noch "Naturkräfte",

jedenfalls im Ackerbau, an der Hervorbringung der Früchte beteiligt, aber

ihre Mitwirkung ist ökonomisch nicht mehr von Belang, da sie, als freie

Kräfte, keinen Arbeits- oder Kapitalaufwand erfordern.

(Dagegen spricht scheinbar das Zitat, das wir zu Anfang dieser Erörte-rungen von Ricardo bezogen hatten. Es beweist aber das Gegenteil. Ri-cardo schreibt diese Sentenz, die so prägnant das antike Naturproduk-tivitäts-Konzept aufrecht erhält, im Kapitel Uber den "Bergbau", der als einziger naturnaher Produktionsprozeß nicht durch Kultivationsbe-mühungen gepflegt und dessen Regeneration durch menschliche Arbeit nicht betrieben werden kann).

Bei Ricardo nimmt die Gesamtproduktivität der Bodenfläche, trotz zunehmen-

den Arbeitseinsatzes auf den schlechteren, d.h. minder fruchtbareren Böden,

ab. Die "Naturproduktivität" erscheint bei ihm, residual, als Differenz

zwischen "guten" und "schlechten" Bodenqualitäten. Langfristig sei die

Steigerung der agrikulturellen Produktivität weder durch Erschließung zu-

sätzlicher Böden noch durch zusätzlichen Arbeitsaufwand aufrecht zu erhal-

ten. Auch hier haben wir noch einen, wenn auch in Wachstumsprozesse umfor-

mulierten, Rest antiker Naturphilosophie: "Die "Naturproduktivität" deter-

miniert die menschliche Produktivität (oder, um es genauer zu sagen, die

Industrie) an der absoluten Grenze der Bodenproduktivität. In diesem stag-

nierenden Finale werden menschliche und Naturproduktion wieder identisch.

Aber der ökonomische Handlungsspielraum liegt in dem weiten Feld vor

dieser Grenze.

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Der physiokratische Normalfall der bestimmenden Naturproduktivität wird

bei Ricardo zu einem Phänomen langfristiger Wachstumsprozesse, und es be-

durfte nur noch der neuen Agrartechnologien (der rationellen Fruchtwechsel

und der Düngung (A. Thaer) und der chemischen Düngung (J.v.Liebig)), um

die "Natur-Grenz-Produktivität" und damit die statische "Natur"-Determina-

tion antiken Musters in den philosophischen Hintergrund zu rücken, der

nicht mehr zur ökonomischen Analyse gehört.

In dieser Verschiebung der Stoff/Form-Topik werden die formenden Kräfte

menschlichen Tuns endgültig dominant.

Bei J.St. Mi 11 ist die Natur zwar auch noch die erste produzierende Instanz:

sie "bietet den Stoff dar", "verschafft das Material" und "sie gewährt auch

Kräfte". "Der Mensch hat keine anderen Mittel auf den Stoff einzuwirken, als

indem er ihn bewegt" Er "übt diese Macht aus, indem er sich entweder vorhan-

dener Naturkräfte bedient, oder Gegenstände zu solcher Mischung und Verbin-

dung zusammenfügt, daß Naturkräfte dadurch hervorgebracht werden", nämlich

"Kraft, welche zur Erreichung menschlicher Zwecke nützlich wird" (J.St. Mill,

Grundsätze der politischen Ökonomie (Obers. A. Soetbeer), Hamburg 1852, l.Bd.,

Kap. Produktion, S. 30-33).

Die Kräfte-Terminologie entstammt der neuen, klassischen-mechanisehen Physik

und ist in der Lage, Aktions-Reaktionsschemata so zu verwenden, daß die

(passive) Materie bzw. die potentiellen Kräfte der "Natur" durch (aktive)

menschliche Einwirkungen (oder indirekt durch wissenschaftliche Nutzung der

Naturkräfte) in zweckdienliche Formen gebracht werden, ciie, unter dem Ein-

fluß der utilitaristischen Philosophie, hier "nützliche" heißen.

Die Ökonomie als Theorie menschlicher Produktionskräfte kann die "Natur" als

Konglomerat verschiedener passiver oder potentieller Kräfte - Energien wie

Materien - voraussetzen und das Maß der Formierung durch den Aufwand an

Kräfte-Anwendungen bestimmen. I.d.S. ist jetzt die Ökonomie mit einer "Phy-

sik sozialer Kräfte" kompatibel, in die sich die Naturkräfte bruchlos ein-

schließen lassen, ohne daß die Gesetze der Physik gebrochen werden müssen.

Die Wechselwirkungen zwischen "natürlichen" und "menschlichen" Kräften bei

der Produktion hängt ab von der Organisation ökonomischer und technischer

Prozesse, d.h. auf technologisch-industriellem Niveau, von der "Herstellung

der Naturprozesse" als industriellen.

Die Stoff/Form-Topik gibt noch ein Erklärungsschema her, aber die zugrunde-

liegende physis-techne-Relation ist ganz auf die Seite der techne verschoben,

der nach nur noch das "als Natur" erscheint, was ökonomisch-technisch her-

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stellbar geworden ist.

Die naturphilosophische Fundierung der Ökonomie, die ihre Entstehung so

fördern konnte, ist in ein operatives Naturverhältnis verwandelt und die

Redeweise von den "knappen natürlichen Ressourcen" zeigt an, daß die

"Natur" nicht mehr als eine unerschöpfliche Produzentin gilt, sondern daß

vielmehr die Grenze ihrer Erscheinung durch die Allokationskompetenz der

Wirtschaft bestimmt wird.

In der deutschen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts ist dieser Verwand-

lungsvorgang der Naturproduktion in ökonomische Naturoperati vität beson-

ders dokumentiert. Seine Entwicklung soll an anderer Stelle nachgezeichnet

werden; aber ein Aspekt ist von besonderer Bedeutung:

Die Einflüsse der Physik des 19. Jahrhunderts führen z,B. bei K.H. Rau,

dem bekanntesten National Ökonomen der l.H. des 19. Jahrhunderts, zur Er-

kenntnis, daß "Die Werthserhöhung, insoferne sie aus einer körperlichen

Veränderung hervorgeht, ..., wie die Verzehrung, nur auf Umgestaltungen,

Verbindungen und Trennung der auf der Erde vorhandenen Stoffe beruhen

(kann), deren Menge im Ganzen, wenn man die Atmosphäre mit einrechnet, un-

abänderlich ist" (K.H. Rau, Lehrbuch der Politischen Ökonomie, Leipzig und

Heidelberg 1855, S. 88).

Der hier spezifisch zugerichtete 1. Hauptsatz der Thermodynamik (in der

Formulierung Clausius': Die Energie des Universums ist konstant) dient

Rau (ebenso wie anderen Ökonomen) zur endgültigen Begründung der menschli-

chen Produktivität, ohne auf naturphilosophische Naturproduktivitätserklä-

rungen zurückgreifen zu müssen. Denn die menschliche Produktion formiert

die Materie auf mannigfachste Weise, ohne ihre Substanz im mindesten zu

ändern. Die stoffliche Konstanz der Materien und Energien erlaubt einen

unendlichen Formwandel ohne Rücksicht auf die alte physiokratische Natur-

Regeneration. Die ökonomischen Werte sind allein Form-Produkte ohne Rück-

wirkungen auf die Naturidentität. Natur-Stoff und Wert-Form werden zwei

ontologisch distinkten Sphären zugeordnet.

Ob die "Natur" Materien und Energien "produziert", ist für die ökonomische

Wissenschaft nunmehr ohne Belang. Die menschliche Produktion besteht nicht

in der Herstellung von Materien und Stoffen, sondern von Nützlichkeiten,

wie Alfred Marshall zum Ende des 19. Jahrhunderts resümiert:

"Der Mensch kann materielle Dinge nicht erschaffen.Wohl kann er in der

geistigen und moralischen Welt neue Ideen produzieren, aber wenn ihm

nachgesagt wird, materielle Dinge hervorzubringen, stellt er in Wirk-

lichkeit nur Nützlichkeiten her. Mit anderen Worten: Seine Bemühungen

und Opfer bestehen im Verwandeln der Form oder in der Mischung der

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Materie, um die Befriedigung der Bedürfnisse besser zu bewerkstelligen"

(A.Marshall, Principles of Economics, Cambridge 1961 (9.AufV. nach der

8. von 1920; 1. Aufl. 1890), S.63).

Die alte naturphilosophische Grundlage ist zwar noch in der Semantik

präsent, aber nicht mehr ihr Gehalt. Die Produktion, als Formwandel betrach-

tet, hat nichts mehr mit der der Materie immanenten Gestalt (morphe) zu tun.

Die Utilities, die die Menschen produzieren können, sind eher, wie Marshall

nahelegt, new ideas (der eidos-Aspekt des antiken Formbegriffs). Der Schritt

zu einer ideellen Wertbestimmung, die durch "Natur" in keiner Form mehr de-

terminiert wird, ist endgültig vollzogen - sozusagen eine neo-platonische

Wendung gegen die aristotelische Natur-Metaphysik im philosophischen Unter-

grund der modernen Ökonomie. Die "Neoklassik" und ihre subjektive Werttheo-

rie haben auch die Produktionstheorie der Ökonomie verwandelt.

d) Ober einen Aspekt der ökologischen Renaissance in der modernen Ökonomie.

Mit der "neoklassischen" Reformulierung der Ökonomie Ende des 19. Jahrhun-

derts ist "die Natur" zum Parameter ökonomischer Modelle, zu einem Faktum

vorgegebener Ressourcen geworden. Eine solche Formulierung läßt anklingen,

als ob die Ökonomie etwas wesentliches verloren hätte, wenn sie zu Naturvor-

gängen keine Aussagen mehr macht. Sie ist eine Wissenschaft des sozialen

Handelns unter spezifischen, ökonomischen Rationalitätsbedingungen geworden.

Für die Zwecke des menschlichen Handelns reicht es hin, die Mittel der Hand-

lungsrealisation nach dem Kriterium ihrer Verfügbarkeit zu betrachten und,

im zu ermittelnden Maße, Verfügbarkeiten herzustellen. Mit dieser rechtlich-

ökonomischen Kategorie können natürliche und technische Prozesse ausreichend

analysiert werden, wenn man weiterhin davon ausgehen kann, daß die natürli-

chen Ressourcen zwar knapp, aber subsitutierbar sind. Der ökonomische "Na-

turbegriff" wird operationalisiert und keinem "Naturbild" mehr zuordenbar

(wie auch die Naturwissenschaften kein "Naturbild" mehr pflegen). Die Öko-

nomie des 19. Jahrhunderts vollzieht - in eigner, d.h. z.T. natürlich unge-

eigneter Weise - die Entwicklung der Physik ihrer Zeit nach und damit auch

deren Wandlung von Naturphilosophie in Naturwissenschaft. Der moderne ökolo-

gische Vorwurf, daß die Ökonomie "die Natur" vergessen habe, übersieht gene-

rös, daß dies alle Wissenschaften angeht, auch gerade die Naturwissenschaf-

ten. Ohne Kritik des "Naturbildes" der Naturwissenschaften kann der Ökono-

mie keine besondere Verfehlung vorgehalten werden. Gerade die Frage der

RessourcenVerknappung gehört von vornherein zum Gegenstandsbereich der mo-

dernen Allokationstheorie, ist grosso modo ihre Basis.

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Die Kernfrage "ökologischer Ökonomie" richtet sich auf das Theorem der

freien Substituierbarkeit der Produktion, die voraussetzt, daß bei Ver-

knappungen spezifischer natürlicher Ressourcen andere, freie, d.h. bisher

noch nicht verfügte in den Produktionsprozeß eingesetzt werden (was wiede-

rum neue Technologien voraussetzt, diese wiederum wissenschaftlichen Fort-

schritt, etc.).

Wenn nun die "Erde" als Reservoir eines finiten Ressourcenbestandes betrach-

tet wird, der durch beschleunigte Industrialisierung absehbar erschöpft wür-

de, kann von freier Verfügbarkeit nicht mehr unbedenklich die Rede sein. Die

Erd-Ökonomie käme - irgendwann einmal - unweigerlich an eine Grenze und das

ökologische Gedankenmodell erweist sich in dieser Hinsicht als universali-

siertes Stagnationsmodell vom Ricardo-Typ. Allerdings ist die Zeitbestim-

mung "irgendwann" ein Problem: denn gemessen werden kann der Ressourcenver-

brauch nur im Verhältnis zum endgültigen Verbrauch und seiner Entwicklung -

ein nicht prognostizierbarer Wert, da er auch die künftigen Technik- und

Produktionsverbrauche mit erwägen können müßte. Zudem ist die darin einge-

lagerte normative Behauptung, daß künftige Generationen dieselbe Verbrauchs-

struktur haben sollen, eine philosophisch-moralisch schwierige Behauptung

einer bestimmten Verantwortungsethik. Die Behauptung der "Einheit der Natur"

und ihrer "Erhaltung" verbindet sich mit einer moralischen Behauptung der

"Kontinuität" der Lebensqualität - beides aber sind statische Versionen der

Weltentwicklung, die weder geschichtliche noch evolutionäre Komponenten im

ausreichenden Maße berücksichtigen, d.h. möglicherweise eine Idee des "Fort-

schritts" transportieren, die den Erkenntnismöglichkeiten über die Real Pro-

zesse nicht gerecht werden und in etwa eine Technologie der Moral der Welt-

erhaltung vertreten, die einen geschichtlich oder evolutionär-kontingenten

Zustand "verewigen" will.

Doch sind diese Fragen nicht hier zu besprechen, aber zu erwähnen, da sie

auch an das folgende Konzept heranzutragen sind, das, von einem Ökonomen,

die moderne Produktionstheorie der "neoklassischen" Ökonomie kritisiert.

Die prognostizierte Erschöpf!ichkeit der Erd-Ressourcen führt sie wieder als

Variablen ins ökonomische System zurück; die Wiederaufbereitung der Ressour-

cen und die Erhaltung ihrer natürlichen Regeneration lassen die physiokrati-

schen Gedanken als durchaus moderne Konzepte erscheinen. Denn es gälte, den

Produktionsbegriff neu zu formulieren und nicht mehr nur die Allokation na-

türlicher Ressourcen, sondern auch ihre Reproduktion zu betreiben. Da die

Reproduktion natürlicher Ressourcen aber Energie verbraucht, ist die Substi-

tution von knappen in weniger knappe Materien und Energien kein beliebig er-

weiterbarer Prozeß, sondern nur die Energiepotentiale der Erde determiniert.

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So lautet Nicolas Georgescu-Roegens Konsequenz, die er aus der Analyse der

ökonomischen Produktionstheorie und ihrem Verhältnis zur Thermodynamik ge-

winnt. Ausgehend von der Begrenztheit der ricardianisehen Bodenproduktivi-

tätstheorie, die lediglich die räumliche Ausdehnung betrifft, kritisiert

er den eindimensionalen Ressourcenbegriff der modernen Produktionstheorie.

Die Fruihtbarkeit des Bodens und seiner Vegetation sei im geschlossenen Sy-

stem Sonne/Erde allein durch die Einstrahlung der Sonnenenergie bewirkt.

Die "Materie"-Bestände der Erde sind nicht regenerierbar und die Fruchtbar-

keit der Böden nur in dem Maße des Energiezuflusses. Spezifisch für die mo-

derne industrielle Produktion sei nun, daß nicht nur Produkte, sondern auch

Abfall (waste) produziert werde. Energieeinsparungen sind geboten.

"Der wirtschaftliche Kampf des Menschen (dreht) sich um niedrige Entropie

aus der Umwelt"^Entropie, ein thermodynamisches "Maß für Unordnung" ener-

getischer Strukturen, definiert die freie Energie der Naturressourcen (z.B.

Kupfererz) als Zustand "niedriger Entropie", der durch den ökonomischen Pro-

duktionsprozeß 1. in freie Energie niedriger Entropie (höherer Ordnung, d.h.

z.B. Kupferbleche) und 2. in gebundene Energie höherer Entropie (höherer Un-

ordnung; Wärme, Abfall) verwandelt wird. Die eindimensionale Transformation

von Materie in formierte Produkte zum menschlichen Gebrauch verzweigt in

eine doppelte Produktion, deren Hauptteil einen Energieverbrauch anzeigt,

der sich in nicht brauchbaren oder regenerierbaren Resultaten niederschlägt.

Niedrige Entropie wird ständig vernichtet und in ökonomisch nicht verwend-

bare höherentropische Energieformen überführt.

Aus dieser Perspektive ist jede höhergeordnete Struktur (niedrige Entropie)

allein von ökonomischem Wert und das ökologisch-ökonomische Ziel sei die

Minimierung von waste-outflow oder höherentropischen Abfällen.

Einzig die Landwirtschaft kann sich durch den sonnenenergetischen Einfluß

regenerieren. Dem ökonomischen Konzept Georgescu-Roegens liegt eine moderni-

sierte Version der physiokratischen Ökonomie zugrunde, denn nur der Boden

hat energetische Regenerierungskompetenz, während die subterranen Naturres-

sourcen unweigerlich abgebaut würden. Weder können die Menschen Materie und

Energie schaffen noch verbrauchen. Die Natur "produziert", wie bei Quesnay,

autonom. Die Menschen können, wie in der antiken und der physiokratisehen

Theorie, die Naturproduktionen nurmehr verwalten oder organisieren. Das Maß

der natürlichen (d.h. jetzt energetischen) "Fruchtbarkeit" determiniert, in

the long run, das Ausmaß industrieller Produktion. Der physiokratisehe ordre

naturel, thermodynamisch aufgewertet, versetzt den Beobachter Georgescu-

Roegen in die Lage, der "Species Homo sapiens ... ein kurzes, aber anregen-

des Leben (zu) genießen" anheimzustellen.

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In einem Schema läßt sich die Logik dieses Konzeptes deutlich machen:

Der Terminus "Reproduktion" (den Roegen nicht verwendet) bezeichnet ein mög-

liches energetisches Gleichgewicht, demnach die Ökonomie soviel Energie ver-

braucht, soviel an Sonnenenergie zufließt (alle technologischen Energiespar-

maßnahmen und die möglichen Variablitäten eingerechnet). In diesem Sinne ist

jeder Verbrauch über das solarenergetische Agrarproduktionsmaß hinaus ein

Verbrauch nichtregenerierbarer Naturmaterie (es sei denn, eine prometheische

Innovation würde einen Energieproduktionsprozeß kreieren, der weniger Ener-

gie verbraucht als er herstellt). Unter diesen Bedingungen ist die Industrie-

entwicklung in toto eine der künftigen Produktionsbedingungen gefährdende

Tendenz.

Georgescu-Roegen kommt, über die thermodynamische Analyse, zu einem welt-

ökonomischen Resultat, das in erweiterter Dimension die Industrie-Kritik der

vor-klassischen Ökonomie wieder aufnimmt: das Verhältnis von notwendiger und

von Luxus-Produktion (das der aristotelischen Unterscheidung von "natürli-

cher" und "unnatürlicher" Ökonomie für die spätere Ökonomie schon zugrunde-

liegt). Folglich kann sich Roegen auch nicht, jedenfalls nicht in letzter

Konsequenz, moralischer Urteile enthalten, die, ähnlich wie bei den Physio-

kraten, durch die (jetzt thermodynamisch formulierten) Naturgesetze präjudi-

ziert werden.

Die Frage, wieviel und welche Güter produziert werden sollen, wird durch die

Energiepotentiale der "Erd-Ökonomie" - durch den Zusammenschluß von Waren-

und Energiehaushalt - unabhängig von den menschlichen Begehren definiabel.

Wie bei Quesnay, läuft Georgescu-Roegens ökologische Ökonomie darauf hinaus,

den ordre de la moral auf den ordre de la nature abzustimmen. Nicht nur die

Ökonomie, sondern auch die Moral (als das ausrichtende Bewußtsein, in allen

Handlungen energetisch zu "sparen") wird naturdeterminiert. Die ökonomischen

Ökonomie

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Formierungen der natürlichen Materien und Energien werden der menschlichen

Beliebigkeit entnommen und die Solarenergie hat in die naturgegebene (quasi-

immanente) Form der agrikulturell en Produktion gewandelt zu werden. Die phy-

siokratische Renaissance erfolgt in schärferer Form, da ja die neue sterile

Klasse, die Industrie insgesamt, nicht bloß ihre Existenz erwirtschaftet,

ohne zum Neuwert beizutragen, sondern zudem noch den Energieverbrauch er-

höht. Nun ist Georgescu-Roegen keine ausdrückliche Tendenz zu einer welt-

weiten Agrarwirtschaft nachzusagen, aber die Logik seines Konzep-

tes geht über die Energiesparwirtschaft hinaus und stellt einen neuen Bei-

trag zur alten Stadt/Land, Industrie/Agrikultur und Luxus/notwendige Produk-

tion - Schematik vor.

Georgescu-Roegens höchst distinguierte Kritik an der "neoklassischen" Pro-

duktionstheorie kommt scheinbar ohne das pauschale Naturphilosophem von der

"Einheit der Natur" aus. Und doch, in letzter Instanz, ist die relative Ge-

schlossenheit des Energiesystems Erde ein theoretisches Konzept, das das

ökonomische Produktionsverhalten verantwortlich macht für seinen Fortbestand.

Daraus ergibt sich, daß jede Formation sozialen Verhaltens natürlich-energe-

tischen Grenzbedingungen unterliegt, die einzuhalten und zu beachten zur

conditio sine qua non des Fortbestandes der Menschheit wird. Eine Formulie-

rung der Art, daß auch "die Natur" gefährdet sei, kann nicht angebracht wer-

den, weil die Transformation der niederentropischen Energie in höherentro-

pische Zustände "die Natur" weiterhin erhält, wenn auch in unverfügbarerer

und damit human nutzloser Form. Georgescu-Roegens thermodynamisch begründe-

te Ökonomie, die er neuerdings bio-economics nennt, analysiert die Bedin-

gungen natürlicher Prozesse unter dem Blickwinkel, wie wir sie, notwendig

in Richtung auf Entropiezunahme, behandeln. Den Schaden hat allein unsere

Gattung, nicht "die Natur". Damit ist seine Ökonomie naturphilosophischen

Darstellungen enthoben, indem sie sich auf die Seite der Moral, speziell

der Art der Jonasschen Verantwortungsethik, schlägt: Wir sollen ermessen

lernen, wie wir uns künftig verhalten wollen in Hinblick auf den Gattungs-

erhalt.

Die alten Schwierigkeiten sind durch das neue thermodynamisehe Gewand nicht

beseitigt. Formvorschriften des Energiegebrauchs und Rücksicht auf die Ma-

terie-Immanenz machen zwar keine neue Naturphilosophie, aber die gleichen

moralischen Konsequenzen, wie sie die Physiokraten - damals allerdings in

theologischer Absicht - vorexerzierten. Ober die Probleme seiner Interpre-

tation der Thermodynamik kann hier nicht verhandelt werden.

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Die größeren Schwierigkeiten entstehen an den normativen Implikationen,

denn es geht bei Georgescu-Roegen nicht um eine technisch-ökonomische Kri-

tik der bisherigen Produktionstheorie, sondern um die Formulierung einer

ökologischen Allokationstheorie, die ermessen will, wie zwischen aktuellem

(Energie-)Verbrauch und zukünftigem (Energie)Kapital je aktuell entschieden

wird. Die "Minderschätzung künftiger Bedürfnisse", die Böhm-Bawerk zur Grund-

lage seiner Kapitaltheorie nahm, wird bei Roegen ins Gegenteil, zum Gegen-

stand ausdrücklichen Allokationswillens gewandelt. Ob aber die künftigen Ge-

nerationen - wieviele und in.welchem Ausmaß - heute schon je mit-alloziiert

werden können, bleibt, neben den schon erwähnten philosophischen Problemen,

auch ökonomisch fraglich, da wir ja nicht die künftigen Bedürfnisse, sondern

die künftigen Produktionspotenzen zu erwägen hätten. Roegen bleibt hier vor-

sichtig, nicht erwartete Entwicklungen sind immer möglich. Deshalb bleibt

nichts anderes zu tun übrig, als jetzt Energien einzusparen, um die künfti-

gen Möglichkeiten nicht zu beschränken.

Eine solche Regel aber ist eine moralische Verlautbarung, die die Allokation

der Ressourcen von - relativ fraglichen - Erwägungen über unsere Neigung,

späteren Generationen vorzusorgen, abhängig machte. Auch nützt hier nichts

mehr, eine physikalische Grundlage der Ökonomie gewonnen zu haben, da die

aktuellen und künftigen Bedarfe soziale Faktoren sind.

Diese Ökonomie birgt die gleichen Vorsorgestrukturen wie jede kapitaltheo-

retische Erwägung, aber mit einem Unterschied. Georgescu-Roegen stellt eine

Theorie des effizienten Energieverbrauchs vor, die insofern eine metaökono-

mische (thermodynamo-technologische) Norm generiert, als sie, abstrakt, in

der Lage ist, Produktionsprozesse (und nicht nur Produkte) zu bewerten.

Damit werden die Effizienzkriterien der Allokation verschärft: anstatt über

das Verhältnis von Konsumtion und Produktion bzw. Investition zu entschei-

den, wird ein zusätzlicher Wahlakt zwischen verschiedenen Graden entropie-

fördernder Produktionsprozesse erforderlich.

ökonomisch kann man sich, auf diesem Abstraktionsniveau, leicht vorstellen,

daß eine Energiebilanzbehörde Produktionswerttaxierungen über Technologie-

steuern durchsetzt, um Substitutionsvorgänge zu beschleunigen. Oder es wer-

den Rohstoffzölle erhoben.

Die ökonomischen Probleme aber heben sich dadurch nicht auf, da die Steuer-

oder Zolldifferenzen zwischen verschiedenen Materien und Energien sofort

Wettbewerbsvor- oder-nachteile erzeugen. Konkret hängt jeder Zukunftsener-

giewert jeder Materie oder Energie von vagen Schätzungen ab, deren Publi-

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kation sowieso gleich die Erzeuger(weltmarkt)preise modifiziert und damit

die national-wirtschaftlichen Regulationen nicht nur aufheben kann, sondern

zudem zwingt, ständig, für jede Materie, je neu zu berechnen.

Georgescu-Roegens energie-technische Theorie, die metaökonomisch auftritt,

hat, bei jeder Anwendung, sofort Folgen für die internationale Preisstruk-

tur, was erforderlich machte, dem global definierten Energieproblem mit

weltökonomischen Maßnahmen zu antworten. Das aber zeigt die abstraktive

Redlichkeit dieses technologischen Ansatzes, die einen Vorschlag zur Besin-

nung, nicht aber für die Realisation macht.

Neben dem moralischen Ton, der umstandslos humanistisch jede beliebige Nach-

folgepopulation in aktuellen Allokationssituationen mitzuversorgen überlegen

läßt, treten ökonomische Probleme auf, die die Verwirklichung politischer

Maßnahmen selber wieder ökonomisch desavouieren.. Das Ansinnen, Uber die öko-

nomische eine energie-technologische Rationalität zu stellen, fällt doch

wieder der ökonomischen anheim.

In diesem Spannungsfeld - zwischen Politik, Ökonomie und Bedarfsmoral -

bleibt die ökonomische Problematik allemal auf die praktischen Möglichkei-

ten begrenzt, die sie ökonomisch zu realisieren weiß.

Der ökonomiekritische Impetus dieser Theorien geht nicht auf eine andere

Ökonomie, wiecfer Wunsch nach Alternativen oft vermeldet, sondern darauf,

die Ökonomie anders einzusetzen, denn das ökologische Problem hat sich noch

einer gänzlich anderen Entwicklung zu stellen, die diese energieökonomische

Langfristperspektive unwichtig machen könnte. Denn was nützt das thermodyna-

mische Raisonnement über unbestimmte Energiepotentiale, wenn die Vergiftung

der Rohstoffe und der Lüfte und Wässer ein akut werdendes Problem an-

zeigt, das die Frage, ob wir möglicherweise die 50. Generation nach uns mit-

erhalten sollten, obsolet machen könnte.

Der Rekurs auf die "Einheit der Natur" (die Roegen nicht naturphilosophisch,

sondern thermodynamisch einführt), die Idee der prästabilierten Harmonie in

ökologischer Absicht, setzt mit eigentümlicher Verkennung auf moralische Er-

kenn tniskräf te von einer universalen Dignität, daß die Befürchtung , das

ganze sei eine idée pure und ohne Realisationsbasis, sich unweigerlich auf-

drängen muß.

Die Zeit aber drängt, die ökologi*schen Probleme existieren. Haben wir nicht,

statt ein neues Denken zu reflektieren, das unserem ja recte entgegenstehen

solle, dieses Denken für die Lösungen zu verwenden? Statt es, auf die viel-

fältigste Art, zu verweisen auf die unentdeckten Lagerstätten seiner ver-

meintlich "höheren" Natur?

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3) Anmerkungen zur "Herstellung der Natur"

Wenn wir Georgescu-Roegens bioeconomics als den elaboriertesten Versuch

einer ökologischen Ökonomie betrachten, können wir Betrachtungen über die

"Herstellung der Natur" nur eingeschränkt zustimmen.

Sinnvoll ist dieser Ausdruck gegen unbedenkliche Wünsche der Art zu verwen-

den, "die Natur wiederherzustellen" - eine gleichsam ästhetische Auffassung

"der Natur", die ein kontingentes Naturbild, einen gewünschten Naturzustand,

wie er gerade imaginiert wird oder gewollt werden soll, konserviert. Daß wir

angesichts fortgeschrittener Industrialisierung und Agrikultivierung "die

Natur" nur noch aus Reservaten kennen, die wir wiederum ebenfalls her-ge-

stellt haben, mag als Hinweis genügen. "Wiederherstellung der Natur" wäre

eine normative Entscheidung zugunsten anderer Kultivationsprodukte; "die

Natur", so wie sie an und für sich sei, wiederherzustellen, wäre ein ökolo-

gisch unvertretbarer Zustand, da wir als eil des Oikos' mindestens darin

leben können müßten (forderte jemand ein "Recht der Natur" gegen sich sel-

ber, müßte der ökologische Diskurs sprachlos bleiben ).

"Herstellung der Natur", .nn sie als Grenze der Wandlungsfreiheit ge-

meint ist, bedarf ebenfalls ökologischer Abwägungen, die leicht zu fordern,

aber schwierig zu rechnen sind. Denn wie sollen wir ermessen, was die Natur

braucht, ohne unsere Zwecke einzusetzen, da wir ja entscheiden, was ihr

Brauchtum sei. Diese Aussage ist nicht auf einen "objektiven" Zweck der Na-

tur zu bringen, da wir ihr enthalten sind. Gerade bei einer Vorstellung von

der "Einheit der Natur" wären ihre Zwecke auch unsere. Was aber leitet uns

zu entscheiden, inwieweit unsere Zwecke nicht auch ihre sind?

Roegen begrenzt sich hierin wohlweislich auf das Kriterium der Transforma-

tionstendenz zunehmender Entropie, d.h. auf ein Maß an Unbrauchbarkeit der

Natur bzw. an Unverfügbarkeit ihrer für uns.

"Herstellung der Natur" ist i.d.S. eine Metapher für den Versuch, die Entro-

pievermehrung durch unser Handeln möglichst zu verzögern, um sie gattungsge-

schichtlich nicht zu schnell bedrohlich werden zu lassen. Radikal ist das

(regenerative) Sonnenenergiepotential absolutes Maß, um die "relative Ewig-

keit" der Gattung und ihre Versorgung zu gewährleisten. I.d.S. ist die "Her-

stellung der Natur" eben jene "natürliche Herstellung" oder Reproduktion,

die die Energiebilanz noch neutral sein läßt. Begriffsradikal heißt das:

Abbau der Industrietendenz auf Null (bzw. ihre Dimensionierung auf das Maß

der technisch möglich werdenden Konvertion von Solarenergie).

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Die metaphorische Rede von der "Herstellung der Natur" kann also nur meinen,

a) daß künftige Generationen dieselbe Natur-Potenz (an Materie und Energie)

zur Verfügung haben sollen, b) daß unsere Natur-Umwandlungen diesen Regene-

rationsaspekt strikte einzuhalten haben.

Jeder Verstoß ist eine Deminuierung einer (unschätzbaren) n-ten Generation.

Dabei ist aber der Sinngehalt der Metapher von einem quasi-natürlichen Er-

haltungssatz (der Erd-Energien) auf den des Gattungserhaltens verwandelt

worden, und der natursphilosophische Gehalt, der eingespielt wird, als nor-

mative Sozial philosophie dechiffrierbar.

Die "Natur-Frage" aber als soziale Frage zu thematisieren, die Uber die Gren-

zen des Begehrs und seine sozial-ökonomische Organisation neu zu verhandeln

hat, stellt Ethik und Ökonomik vor neue Probleme, die weder durch energie-

technologische noch durch naturphilosophische Imperative entscheidbarer wer-

den.

Den historischen Gewinn sozialer Autonomie an "das Andere" der Natur oder an

den zukünftigen Gattungserhalt zu delegieren, hat in jeder Blickrichtung ein-

schneidende Konsequenzen, die unsere Gesellschaft hic et nunc so stark be-

treffen, daß in den sozialen Auseinandersetzungen, die eine imperativische

Lösung der Umweltprobleme hervorriefe, bereits schon die nächste Generation

kein Argument mehr sein würde.

In ökologisch radikalisierten Allokationszusammenhängen würde weniger "die

Natur", sondern die soziale Frage, d.h. die Erlangung von Verfügungsrechten,

in erweiterter Dimension brisant.

(1) - Nicolas Georgescu-Roegen: Was geschieht mit der Materie im Wirt-schaftsprozeß ? S. 17 ff. in: Brennpunkte. Publikation des Gott-lieb Duttweiler Institutes, Bd.V, Nr.2, 1972; siehe zu Roegen besonders: E.K.Seifert, Geleitwort, in: N.Georgescu--Roegen, The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect. Übersetzung des IÖW, Berlin, Schriftenreihe Nr.5/1987; dort auch die Bibliographie Roegens.

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ÖKONOMIE ODER NATUR.

FÜLLE UND RETRIBUT ION DER NATUR BEI JOHN LOCKE UND

FRANCOIS QUESNAY.

Drei Stadien der Geschichte der Ökonomie lassen sich auseinanderhalten

1. die vorneuzeitliche Konzeption aristotelischer Provenienz, 2. die

neuzeitlichen Übergangstheorien, 2. schließlich die moderne Ökonomie

seit dem 19. Jahrhundert. Die ethische Einbettung der alten Ökonomie

aristotelischer Herkunft wurde in der Neuzeit von Problemen abgelöst,

die z.e. die Legitimation des Handels und der monetären Ökonomie, z.a.

die Idee einer selbständigen menschlichen Produktion betrieben. Die

Herausbildung der Konzeption autonomer Geldwirtschaft läuft parallel

zur Entwicklung früher Produktionstheorien, die das Verhältnis von

Natur-Produktion und menschlicher Neuwertschöpfung neu bestimmten.

Die Genese der modernen Ökonomie ist in der Neuzeit weitaus stärker

den philosophischen Fragen verpflichtet, die die Autonomie des Hand-

lungssubjektes mit der Entelechie des Naturprozesses konfrontierten.

Am Beispiel der lockeschen Naturrechtsökonomie und der physiokrati-

schen Vorstellung zeigen sich die Antinomien neuzeitlicher Ökonomie

am deutlichsten in der Bestimmung der produktiven Kräfte. Dem Ord-

nungsschwund der alten Welt galt es durch die Ordnung der äußeren

Natur - in der Physik - und der der menschlichen Natur - in der öko-

nomischen Fundierung der Gesellschaftsorganisation - das Projekt der

Moderne entgegenzusetzen.

Die moderne Ökonomie beginnt mit der englischen Klassik der Spätauf-

klärung; die neuzeitliche mit der handelsökonomischen Literatur und

den staatsfiskalistischen Konzepten des 16. und 17. Jahrhunderts.

Davor wurden ökonomische Fragen entweder in der Rechtsmaterie oder

in Kommentaren zum 1. Buch der Politik und zum 5. Buch der Nikoma-

chischen Ethik des Aristoteles behandelt, mit dem Schwerpunkt in

Münzgeld- und Zinsfragen1^. Die aristotelische Konzeption der Ökono-

mik war bis in die Neuzeit die e i n z i g e t h e o r e t i s c h

Form der Wirtschaftsbetrachtungen. Im großen und ganzen wurde der

traditionelle Verbund von Politik, Ethik und Ökonomik gewahrt. Der

Bruch dieser Einheit vollzog sich endgültig erst im 19. Jahrhundert.

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G.W.F. Hegel, der die moderne Ökonomie seiner Zeit hinreichend kannte,

beschrieb 1821 in der "Rechtsphilosophie" die Zäsur zwischen alter

und neuer Ökonomie in einer Nuance, die uns auf das Thema führt:

"In unserer Zeit wird die Ökonomie auch auf reflektierende Weise, wie eine Fabrik, betrieben und nimmt dann einen ihrer Natürlichkeit widerstrebenden Charakter des zweiten Standes (des bürgerlichen; B.P.) an. Indessen wird dieser erste Stand (der landbauende Adel; B.P.) immer mehr die Weise des patriar-chischen Lebens und die substantielle Gesinnung desselben be-halten. Der Mensch nimmt hier mit unmittelbarer Empfindung das Gegebene und Empfangene auf, ist Gott dankbar dafür und lebt im gläubigen Zutrauen, daß diese Güte fortdauern werde. Was er bekommt, reicht ihm hin; er braucht es auf, denn es kommt ihm wieder. Dies ist die einfache, nicht auf Erwerb des Reichtums gerichtete Gesinnung; man kann sie auch die altadelige nennen, die, was da ist, verzehrt. Bei diesem Stande tut die Natur die Hauptsache, und der eigne Fleiß ist dagegen das Untergeordnete, während beim zweiten Stande gerade der Verstand das Wesentliche ist und das Naturprodukt nur als Material betrachtet werden kann". 2)

Nicht der Gegensatz zwischen älterer Gesinnungs- gegenüber moderner

Verstandesorientierung der Ökonomie - die Entgegensetzung von Ethos

und Logos -, sondern die im letzten Satz beanspruchte Differenz in

der Naturauffassung ist das Entscheidende: In der älteren Ökonomik

aristotelischer Provenienz - und nichts anderes trägt Hegel ins

Zitat - "tut die Natur die Hauptsache", während der modernen Ökono-

mie des frühen 19. Jahrhunderts die Natur nurmehr als Material der

Neuformierung des industriösen Verstandes vorkommt.

Natur und Produktion geraten in Gegensatz. Es ist genauestens auf

die Semantik zu achten: die Natur als Material der menschlichen For-

mierung ist noch bei Hegel Produkt der Natur - die Menschen produ-

zieren hier gar nicht. So bleibt zu unterscheiden zwischen einer

P r o d u k t i o n d e r N a t u r und der m e n s c h 1 i -

c h e n P r o d u k t i o n , die Natur-Materie nach dem Bilde

formt, das der Verstand zu setzen weiß. 3)

Die neuzeitliche Ökonomie konzentriert sich auf die Produktion des

Reichtums (wealth/richesse). Reichtum ist das Produkt nationaler

wirtschaftlicher Bemühungen und in der kameralistischen Tradition

eine Staatsaufgäbe. Produktion und Distribution sind in der klassi-

schen, vornehmlich der englischen, Ökonomie Komplementärbegriffe.

Nicht nur das makroökonomische Resultat, der Reichtum oder wealth

of nations, sondern auch die Verteilung auf die verschiedenen

Einkommensklassen nach Maßgabe ihrer produktiven Beiträge gehört

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zum Kern ökonomischen Wissens. Die Frage der Neuwertschöpfung - welche

ökonomische Tätigkeit produktiv sei - bewegt die klassische Ökonomie

bis an ihr Ende in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Vorsichtig noch

hantiert Adam Smith mit dem Produktionsbegriff; im "Inquiry to the

Nature and Causes of the Wealth of Nations" (1776) werden die "causes"

der Reichtumsentstehung mit dem terminus technicus "productive Powers

of Labour" im 1. Buch des Werkes eingeführt. In J. Steuarts "Principle

of Political Economy" (1767) gibt es noch keinen ökonomischen Produk-

tionsbegriff; im 2. Buch seines Werkes spricht er lediglich von

"Trade and Industry". Die klassische Konnotation "wealth is produced

and distributed" taucht 4^ erstmals im Artikel "Political Economy" der

5. Ausgabe der Encyclopaedia Britannica von 1810 auf.^ Auch D. Ricar-

dos "Principles of Political Economy and Taxation" (1817) führen weder

Produktion noch Distribution in der systematischen Gliederung, obwohl

die Einleitung dieses Thema verspricht. Erst sein Schüler und Freund,

J. Mill, der Vater J.St. Mills, gliedert sein Buch "Elements of Poli-

tical Economy" (1821) "klassisch": 1. Production, 2. Distribution,

3. Interchange, 4. Consumption; und Torrens im selben Jahr publizier-

tes Werk formuliert den Titel als "Essay on the Production of Wealth".

Und erst bei J. St. Mill erfolgt endgültig die Trennung von Produktion

- d i e nach "natural laws" sich richtet - und Distribution, die der

normativen Verfügung der Gesellschaft anheimgestellt ist.®)

Beide letztgenannten aber, Mill wie Ricardo, haben noch Schwierigkei-

ten, den Produktionsbegriff gänzlich zum ökonomischen zu erheben; die

Grenze zwischen menschlicher Produktion (= Arbeit) und Naturproduktion

(= Hervorbringung der Natur)^ sei nicht leicht zu ziehen; und auch

wenn Ricardo vordem - im, wenn auch kritischen, Anschluß an A. Smith's

Ökonomie - die Arbeit besonders hervorhebt, so sind die Naturkräfte

noch eigenständig, die Produkte der Natur "obtained by labour. Nature,

indeed, produces them". 8) Arbeit, setzt er fort, "prepares them (die

Naturprodukte; B.P.) for our service". Noch am Anfang des 19. Jahrhun-

derts wird der von Hegel für unsere Zwecke aufgeworfene Gegensatz von

natürlicher und menschlicher Produktion bestätigt und verschwindet

erst in den werttheoretischen Debatten des späteren Jahrhunderts.

Doch ist der Objektbereich der Ökonomie bereits gesichert. Die Natur-

kräfte, durchaus selbständige Untersuchungsobjekte der Naturwissen-

schaften, interessieren die Ökonomie nur insofern, wie sie Werte

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schaffen, d.h. wie sie nach dem Bilde des menschlichen Verstandes durch

tätige Umformung zweckdienlich werden. Für die neuzeitliche Ökonomie,

auf die die klassische gründet, ist dieses Fundament noch nicht gesi-

chert; ihre Antinomien beziehen sich aus der Schwierigkeit, ältere

Natur- und Ordnungsauffassungen durch einen Begriff der selbsttätigen

Zwecksetzung zu ersetzen, der die Ökonomie erst zu einem eigengesetz-

lichen Gebilde zu entwickeln erlaubte. Die lapidare Entgegensetzung

in Hegels Fußnote bezeichnet einen Jahrhunderte andauernder Prozess

des 'Projektes der Moderne1 von der älteren kosmischen Naturordnung,

der die Polis und deren Ökonomie eingefügt galt, bis zur Autonomie

des neuzeitlichen Subjektes, das die Natur seiner Verstandeskräfte

entfaltet und darin nicht mehr naturvorgegebenes Telos, sondern sich

selbst zu setzende Zwecke realisiert.

Nun wäre es ein Mißverständnis, der älteren Ökonomie eine Konzeption

vernünftigen Handelns abzusprechen, aber die Zielsetzungen sind

andere:

"Ein aristotelischer Theorieansatz betrachtet die paradigmati-schen subjektiven Zielsetzungen als von der Ordnung der Natur bestimmt. Vernunftgeleitet zu handeln bedeutet, gemäß der Ein-sicht in diese Ordnung zu handeln. Im Gegensatz dazu ist der moderne Freiheitsbegriff prozedural definiert. Wir sind ratio-nal in dem Maße, in dem unser Denken prodedurale Standards er-füllt, ... . Vernunftgeleitet zu handeln bedeutet nun, eignes Handeln an Methoden und Maßstäben zu orientieren, die dem Ka-non rationaler Prozeduren entsprechen, z.B. gemäß klarer Kal-kulation zu verfahren oder selbstbestimmten Gesetzen Folge zu leisten, da sie den Erfordernissen der Vernunft entsprechen. Vernunftgeleitet zu handeln ist daher synonym mit der als Freiheit verstandenen Selbststeuerung - entsprechend einer Ordnung, die das Subjekt selbst geschaffen hat, und im Gegen-satz zur angenommenen Ordnung der Natur". 9)

Die ältere Ökonomie zentriert die menschlichen Zwecke auf die Ein-

haltung oder Erfüllung einer Naturordnung. S.T. Lowry definiert

diesen Topos prägnant:

"Only nature produces wealth, man can organize it"*^. Jene Ord-

nung der Dinge ist neuzeitlich verwandelt in die einer Natur, die

vom freien Subjekt erwartet, ihre Gesetze vorgeschrieben zu bekom-

men; mit der Folge, daß die Natur als selbst produktive nicht mehr

in Erscheinung tritt. Mit der neuzeitlich erlangten Autonomie des

Subjektes gilt die Natur als eine tabula rasa der eignen Zweck-

setzungen. Nicht mehr die "Natur der Natur", sondern die des mensch-

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liehen Verstandes ist wissenschaftsbestimmendes Moment geworden - und

darin das Fundament auch der neuen Wissenschaft der Ökonomie.

Damit sind wir in den Spannungsbereich der Herausbildung der neuzeit-

lichen Ökonomie getreten, zu John Locke, der, als philosophical eco-

nomist, und als Engländer, im 17. Jahrhundert eine Naturrechtsökonomie

der freien Subjektautonomie gegenüber der Natur entwickelte. Und ihr

entgegen stellt sich ein halbes Jahrhundert später die im aufgeklärten

Frankreich entworfene physiokratische Ökonomie mit einer anderen Pro-

duktionstheorie, worin die Natur allein produktiv ist.

Im Folgenden geht es nicht um die Darstellung früher Vorformen moder-

ner; ökonomischer Produktionstheorie, sondern darum, die besondere Be-

deutung einer p r o t o ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e

d e r P r o d u k t i o n d e r N e u z e i t hervorzuheben.

Bevor nicht die Fundamente des Verhältnisses von natürlicher und

menschlicher Produktion analysiert sind, kann von einer Eigengesetz-

lichkeit der Ökonomie, im strengen Sinne nicht die Rede sein.

1.

Fülle der Natur und Selbsterhaltung durch Arbeit: John Lockes Natur-

rechtsökonomik

John Locke ist in der ökonomischen Theoriegeschichte ein wenig unter-

schätzt worden, weil man seine geld- und zinstheoretisehen Essays für

die Ökonomie, seine Naturrechtslehre für die Politik reservierte, ohne

den Zusammenhang herzustellen, den sie für ihn bildeten. 1 1) Den ökono-

mischen theoretischen Kern bildet das 5. Buch der II. treatise, worin

das Recht auf Eigentum durch die Pflicht, es arbeitend zu erwerben,

postuliert wird.

Frei und unabhängig kann ein Bürger der lockeschen Gesellschaft nur

durch ein selbsttätig erworbenes Eigentum sein, durch fortwährende

Tätigkeit. Der Grund für diese Arbeitspflicht besteht ökonomisch in

der Selbsterhaltung 1. seiner selbst, 2. danach der anderen, der Ge-

sellschaft, wobei (1) die notwendige Voraussetzung für (2) ist. Dieses

utilitaristische Moment ist grundsätzlich schöpfungstheologisch ein-

gebettet: Gott hat den Menschen die Erde zur Bewahrung und vollstän-

digen Inbesitznahme übereignet.1^) Das dominium terrae findet sich

ideal in Obereinstimmung mit expansivem Außenhandel und Kolonialisie-

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rung. Die theologische Einbettung ist nicht nur ein Remeniszens an

die Zeit, sondern legt eine Ambivalenz des Arbeitsbegriffes offen,

die durch die schlichte Lektüre des 5. Buches der II. treatise nicht

erlangt wird. Selbstverständlich gilt die Arbeit/Reichtum-Relation

in dem Sinne, daß jeder sich selber zu erhalten hat, und auch in

dem erweiterten, daß nur diejenigen Gottes Schöpfung vollenden und

erhalten können, die sich selber zu erhalten verstehen, was die Er-

haltungsbedingungen für die sich fruchtbar vermehrende Gattung der

industrious, der fleißigen Christen gegenüber den faulen Indianern,

einbeschließt. Ausschließlich die Arbeit ist in diesem Sinne produk-

tiv: Werte entstehen ohne Beihilfe der Natur; darauf kommen wir

gleich genauer zurück. Die Locke eigentümliche Konnotation der

selbsterhaltenden Arbeit und der schöpfungstheologisch deduzierten

Annektion unfruchtbarer Böden der Erde, d.h. aller Landpartien nicht

vollendeter Schöpfung, die nach dem Paradiesmodell in fruchtbare

Gärten zu verwandeln wären, verschiebt den Grundgehalt des Arbeits-

begriffes auf die Handelstätigkeit: auf den vom Verstand (reason) 1 ̂ j

getragenen Fleiß (industry). Der Arbeitsbegriff wird verallgemei-

nert, von der körperlichen Hantierung auf jede klug disponierende

Handlung erweitert. Diese Verallgemeinerung gehört zusammen mit der

besonderen Bedeutung des Geldes in der lockeschen Ökonomie, die in

der gewöhnlichen Interpretation der Bedeutung der Eigentum/Arbeit-

Relation unterschlagen wird. Ebenso wie Hegel, den wir zitierten,

macht Locke eine Unterscheidung zwischen dem natural State, in dem

jeder soviel erwarb, wie er brauchte und wie die Natur hergab, und

dem civil State der Gesellschaftsentwicklung, der mit der Einführung

des Geldes keine natürlichen Grenzen des Begehrs mehr gewährleistet.

Locke wiederholt hier lediglich die aristotelische Grundunterschei-

dung zwischen oikonomike chrematistike (bzw. oikonomia kata physin),

der natürlichen, agrarischen Erwerbsform der Wirtschaft, und dem auf

Geldverkehr basierenden Handel, der kapelike chrematistike, der un-

natürlichen, nämlich strukturell maßlosen Form.

Locke aber betreibt die endgültige I n v e r s i o n der aristote-

lischen Ökonomie, indem er seine Argumentation auf ein anderes Ziel

hinauslaufen läßt: auf die Legitimation des Geldgebrauches. Das ist

der entscheidende Schritt systematischer Natur in der Entwicklung

der neuzeitlichen ökonomischen Theorie. Im 5. Buch der II. treatise

entfaltet Locke die geldtheoretischen Konsequenzen seiner Eigentum/

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Arbeit-Relation am Beispiel einer inselbesitzenden Familie (§ 45

Es gibt kein Geld, aber genügend fruchtbaren Acker. Locke stellt die

entscheidende Frage, die aus den Bestimmungen der älteren oeconomia

und ihrem autarkisehen Grundkonzept herausführen soll:

"Welche Veranlassung könnte auf seiner solchen Insel irgendein Mensch haben, seinen Besitz an dem was der eigne Fleiß erzeugte oder was er für ebenfalls verderbliche, nützliche Dinge mit anderen eintauschen könnte, über das hinaus zu vergrößern, was für den Bedarf seiner Familie und zu ihrer reichhaltigen Ver-sorgung notwendig ist?" 14)

Die Antwort auf diese Frage ist in einem anderen, universelleren Zu-

sammenhang von Locke schon vorher entschieden worden. In der I. trea-

tise (§ 37) bestätigt er, daß Gott Noah und seine Söhne mit "unend-

lich viel mehr" ausgestattet habe, "als alle zusammen für ihre Bedürf-

nisse brauchten". In der II. treatise nimmt Locke diesen Gedanken

wieder auf: daß die "Menschen zu Abrahams Zeiten" nicht mehr Eigentum

brauchten, "als sie wirklich nutzen konnten" (§ 38).

Die Menschen "haben durch stillschweigende und freiwillige Zustimmung einen Weg gefunden, wie ein Mensch auf redliche Weise mehr Land besitzen darf als er selber nutzen kann, wenn er nämlich als Gegenwert für den Oberschuß (overplus) an Produkten Gold und Silber erhält, jene Metalle, die in der Hand des Besitzers weder verderben noch umkommen und die man, ohne jemandem Schaden zuzufügen, aufbewahren kann". 15)

Im Insel bei spiel wird die hier resümierte Verbindung von overplus und

Ansammlung dauerhaften Geldes mit dem H a n d e l verknüpft;

"denn ich frage, welchen Wert soll ein Mensch zehn- oder hunderttausend Acres vortrefflichen, fertig bebauten und gut mit Vieh besetzten Bodens mitten im Inneren Americas zumessen, wo er keinerlei Hoffnung hat, mit der übrigen Welt Handel treiben zu können, um durch den Verkauf sei-ner Erzeugnisse Geld zu gewinnen?" 16)

Geldgebrauch, Handel und Bodenvermehrung - durch Aneignung, Kultivie-

rung oder Produktivitätsverbesserung - bilden einen geschlossenen Zu-

sammenhang, innerhalb dessen sich die neuzeitliche (Außen-)Handels-

marktökonomie entfaltet. Die spezifische Definition der Geldfunktion

lautet: Geld - als selber dauerhafter (Münz-)-Gegenstand - macht den

Besitz d a u e r h a f t . Denn Geld, im Gegensatz zu den durch die

Arbeit hergestellten Gütern, verdirbt nicht. Hiermit werden keine

Phänomene beschrieben, sondern Definitionen gesetzt. Güter sind,

selbst die haltbarsten, letztendlich Gegenstände des Konsums und da-

mit vom Wesen der Sache her vergänglich. Geld hingegen erhält sich im

Gebrauch, wechselt den Besitzer, behält aber den Wert (unabhängig von

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den gesondert behandelten ökonomischen Valutierungen). Die lockesche

Legitimation des Geldes als, dauerhafter Besitz - in der Art der For-

mel des "Gebrauchs ohne Verbrauch" - ist nicht nur ein Gegenargument

gegen den Verdacht, daß das Geld unendlichen Begehr und Maßlosigkeit

entfessele.17^ Ein Eigentum, das nur im Gebrauch Bedeutung erlangt,

ist, auch als Geld, weiterhin erst einmal ein "barren thing". Von

seiner prinzipiellen Sterilität wird das Geld erst durch eine produk-

tive Verwendung befreit. Der Gesamtzusammenhang der produktiven Ver-

wendung des Geldes ist die neue Ökonomie des expansiven Außenhandels,

deren Theorie Locke entwirft. Der Zusammenhang zwischen dem Geld und

der Bodenvermehrung stellt sich nun wie folgt dar: da nichts bloß um

des Verderbens willen hergestellt werden darf, sondern nur das, was

auch gebraucht wird (weil sonst den anderen, die es brauchen könnten,

etwas weggenommen wird), entsteht ein Konflikt zwischen dem schöpfungs-

theologisch lancierten Gebrauchsgebot der ganzen Erde und der dadurch

erzeugten Oberproduktion. Erst das Geld - und der Tausch der Oberpro-

duktion (overplus) gegen das Geld - garantiert legitime Eigentumsver-

mehrung, denn der eine behält das Geld als dauerhafte Form des Be-

sitzes und inkorporierter Arbeit, der andere erhält, was er braucht,

zum Konsum. Der Oberschuß ist sozial - durch den Markt - vermittelt

und die monetäre Handelsökonomie dynamischen Typos' legitimiert.

Wie sich zeigt, ist die Eigentum/Arbeit-Relation nicht unabhängig vom

gesamtökonomischen Kontext zu verstehen. Arbeit ist bei Locke ein uni-

versaler Begriff der Schöpfungsaneignung in ökonomischer Sicht; der

Ausbau der Arbeitsfähigkeiten, zu der mehr der Verstand und die Hand-

lungsklugheit als das Vermögen, körperlich tätig zu sein, gehören,

ist eine dynamisch konzipierte Form der Selbsterhaltung menschlicher

Gesellschaft. Wir haben, in Lockes Ökonomie, eine angelsächsisch insu-

lare Version der Autonomie des neuzeitlichen Subjektes vorliegen,

das sich die Zwecke seines Handels unter der Bedingung der Selbster-

haltung frei selber setzt, um den Schöpfungsauftrag erfüllen zu können.

Locke steht noch in der Tradition der nominal istischen Scholastik seit

Duns Scotus (eine Tradition gerade der Oxforder Universität, die auch

Lockes Schule und Lehrstätte war), die die Freiheit Gottes vor die

Vernunftnotwendigkeit der geschaffenen Ordnung stellt, so daß auch

die potentia.absoluta - die völlige Freiheit Gottes gegenüber seiner

Schöpfung - vor die potentia ordinata - die Selbstbeschränkung Gottes

auf die in seiner Schöpfung auch für ihn geltende Ordnung - kommt.

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Ockham unterscheidet innerhalb dieses Zusammenhanges zwischen uni-

versaler Kontingenz - der Freiheit Gottes gegenüber der Welt - und

innerweltlicher Kontingenz - der voluntas creata, der Freiheit des

Menschen. Die beiden Kontingenzen entsprichen sich und der mensch-

liche freie Wille sowie sein Handeln können als Realisationen des

göttlichen Willens verstanden werden. Die Vernunft, sagt Locke, ist

die Stimme Gottes in uns. 1 8)

Die Natur ist in der lockeschen Ökonomie zum Sujet der Verstandes-

autonomie verwandelt worden. Im 5. Buch der II. treatise wird der

Natur 1. Fülle, 2. Wertlosigkeit zugeschrieben.1^) Die Prädikationen

sind komplementär gesetzt: Die Fülle der Hervorbringungen ist solange

ohne Wert für die Menschen, bevor sie sie nicht arbeitend sich ange-

eignet haben. Im Umkehrschluß ist es dann ausschließlich die Arbeit,

die Werte erzeugt. Doch damit ist der ökonomische Sinn noch nicht

erfaßt. Werte sind der Ausdruck dauerhaften Besitzes; die qua Arbeit

erzeugten Güter sind als reine consumptiva noch ohne ökonomischen

Wert, der sich erst im Austausch des Überflusses der autarken Erzeu-

gungen ergibt. Wert hat ein Gut nur im äußeren Sinne: indem es auf

dem Markt gegen Geld abgeschätzt wird, einen Preis bekommt. Der Ar-

beitswert führt bei Locke nicht zu einer Arbeits-Wert-Theorie in

der Art der englischen Klassik, sondern ist systematisch mit dem Geld

verknüpft; und deshalb kann die Arbeit nur dann produktiv sein, wenn

sie ihre Resultate auf dem Markt, im Handel realisiert. Arbeit und

Produktion, und damit kommen wir auf das Hauptthema zurück, stehen

in einem komplexeren Zusammenhang.

Die Fülle der Natur ist eine neutrale Fülle, die den menschlichen

Zwecksetzungen nirgendwo entspricht. Die Natur erscheint gleichsam

als eine potentia, die durch die Arbeit erst aktualisiert werden

muß. In dieser Aktualisierung der Naturpotenz aber erscheint die

Arbeit nurmehr als eine Ursache in einer Reihe anderer als causa

efficiens.

Die vier Ursachen der scholastischen Tradition - causa materialis

(der Stoff)/ causa formalis (die Form) / causa finalis (der Zweck)/

und causa efficiens (die den Effekt bewirkende Ursache) - geraten

in der Neuzeit, außer der letzten, in Vergessenheit. Causa efficiens

erscheint als die einzige, die Anspruch erheben kann, eine Ursache

genannt zu werden, weil sie allein wahrnehmbar etwas bewirkt. Im

26. Kapitel des II. Buches seines "Essay Concerning Human Under-

standing" legt Locke die Beziehungen von Ursache und Wirkung offen.

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"Wenn ein Ding ganz von neuem gebildet wird, so daß kein Bestand-teil jemals vorher existierte, wenn zum Beispiel eine neue Parti-kel der Materie, die vorher kein Dasein besaß, in rerum natura zu existieren beginnt. In diesem Fall sprechen wir von SCHÖPFUNG (creation). Wenn ein Ding zwar aus lauter schon vorher existierenden Parti-keln gebildet wird, das Ding selber aber, das sich in dieser Weise aus präexistenten Partikeln zusammensetzt, die, gemeinsam betrach-tet, eine bestimmte Zusammenstellung von einfachen Ideen bilden, früher keinerlei Dasein besaß, wie zum Beispiel dieser Mensch, dieses Ei, diese Rose, diese Kirsche usw.. Bei dieser Art von Ent-stehung sprechen wir von ERZEUGNIS (generation), wenn sie auf eine Substanz bezogen ist, die im gewöhnlichen Naturverlauf durch ein inneres Prinzip zustandekommt, das durch ein äußeres Mittel oder eine äußere Ursache in Tätigkeit gesetzt und empfangen wird und auf eine für uns nicht wahrnehmbare Weise wirkt. Ist die Ursache dagegen äußerlich und wird die Wirkung durch eine für uns sinnlich wahrnehmbare Trennung oder Nebeneinanderstellung unterscheidbarer Teile erzeugt (produced), so sprechen wir vom MACHEN (making). Hierzu gehören alle künstlichen Dinge. Wird eine einfache Idee erzeugt, die vorher nicht in dem betreffen den Gegenstand vorhanden war, so nennen wir das VERÄNDERUNG (alter nation). Somit wird ein Mensch erzeugt (generated), ein Gemälde gemacht (made); beide werden verändert (altered), wenn in ihnen eine neue, vorher nicht vorhandene sinnlich wahrnehmbare Qualität oder einfache Idee erzeugt (produced) wird. Alle Dinge, die auf diese Weise zur Existenz gelangen und vorher nicht vorhanden waren, heißen Wirkungen; diejenigen, die diese Existenz bewirken, Ursachen." 20)

Die Schöpfung (creation) bleibt ausschließlich Gottes Handlungsver-

mögen, Erzeugung (generation) und Herstellen, Machen (making) sind

durch die Menschen bewirkt; beim making ist dieses sicher, bei der

generation aber nur zur Hälfte: So kann wohl ein Mensch einen ande-

ren zur Welt bringen helfen. Mann und Frau treten als externa! agent

or cause in Erscheinung, die ein internal principle in Gang setzen -

die embryonale Entwicklung des neuen Menschen.

Von den vier Produktionsmodi Lockes: 1. creation 2. generation

3. making 4. alternation sind der 1. und der 3. Modus wohl definiert;

beim 2. aber, der generation stellt sich sofort eine Analogie zur

Eigentum/Arbeit-Relation im § 27 der II. treatise her. Dort wird

die Arbeit des menschlichen Körpers als Mischung (mixed) mit der

Natur bezeichnet. In der Analogie von Arbeit und generation erfah-

ren wir den lockeschen Produktionsbegriff.

Die Natur (auf ihrem ordinary course) erzeugt ihre Hervorbringungen,

Früchte nach einem inneren Prinzip, dessen Wirken wir nicht wahrneh-

men können. Für den natural State in Lockes naturrechtlicher Gesell-

schaftstheorie reicht diese Fülle der Naturproduktionen für die Men-

schen, die sie aufheben, jagen und sammeln. Diese frühe Aneignungs-

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Arbeit verwandelt sich im civil State in geordnete Agrikultur. Auf

den Kulturböden aber erzeugt die Natur ihre Fülle nur durch die auf

sie aufgewendete Arbeit. Die agrikulturellen Arbeiter treten als

äußere Ursache (external agent or cause) in Tätigkeit, die der Natur

einen gezielten Impuls geben.

Zwei Produktions-Formen sind zu unterscheiden:

1. Die Natur, die, indem sie ihr internal principle wirken und den

Dingen, die sie entwickelt, ihren Lauf läßt, produziert - die

alte, alles in ihrer eigenen Lebendigkeit hervorbringende Physis

(natura naturans).

2. der neuzeitliche Arbeiter, der der Natur gegenüber als causa

efficiens auftritt, die die Naturmaterie anregt, ihr einen Im-

puls oder Stoß gibt, damit sie das ihrige beginne und ausführt.

Der neuzeitliche Arbeiter vollendet, was die Natur von sich aus

für ihn nicht leistet, nach dem Bild seiner Vorstellung. Diese

zweite Natur (des civil State) ist die eine der "two sorts of

beings in the world ... such as a purely material, without sense,

perception, or thought"^), der die andere Sorte, die neuzeit-

lichen Arbeitermenschen, gegenübertreten: "sensible, thinking,

perceiving beings, such as we find ourseives to b e " . ^

Wo die Naturdinge als Rohstoffe des menschlichen Handelns betrachtet

werden, sind die naturteleologisehen Traditionen aufgegeben. Man

verschiebt die Produktion der Natur auf die des Arbeiters, da offen-

sichtlich die Naturfrüchte nur wegen ihres Arbeitseinsatzes hervor-

gebracht werden. Der Charakter dieser Verschiebung wird selbst nicht

genau gesehen, da ja die Natur weiterhin ihre Produkte hervorbringt,

aber ihr wird die selbsttätige Ursächlichkeit abgesprochen und es

gilt nun, daß der kultivierende Arbeiter den Naturprozess erst in

Gang bringt. Die Gründe für diese Verschiebung sind schließlich er-

kenntnistheoretischer Art. Da"man den Prozess, der in der Natur ab-

läuft und ihre eigenständige Produktivität ausmacht (ihr internal

principle) nicht wahrnehmen kann, erscheint jetzt der Arbeiter,

gleichsam substitutiv, als Bewirker des Resultates. Folglich wird

die Produktion der Natur nicht mehr als eigenständiger Prozess ver-

standen, sondern als Voraussetzung der eignen Arbeit. Die Entprozes-

sual isierung der Natur, ihre Konstatierung als natura naturata, ent-

spricht der Prozessual isierung des Arbeitssubjektes in der Neuzeit.

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Die Tätigkeit des Arbeiters lockescher Provenienz wird identisch mit

seiner Selbst- und Lebenserhaltung: er produziert jetzt sein Leben

selber, und alle vormalige Lebendigkeit der wirkenden Physis zieht

ein in die Selbsterhaltung des menschlichen Lebens, dessen Handeln

als Bewirken, und die Vernunftnatur des neuzeitlichen Menschen ent-

faltet formende Aktivitäten, die künstlichen, d.h. vom Verstände her

entwickelten Zwecken folgen.

Diese Modifikation des ordinary course of nature in Richtung auf

menschliche Lebens-Mittel-Produktion ist bei Locke in dem bisher

noch vernachlässigten 4. Produktionsmodus: der alternation, thema-

tisiert.

'Alternation1 überformt 'generation' und 'making', wenn es neue

Qualitäten erzeugt. Die Umformung der Naturprodukte zu ökonomischen

Werten ist eine solche alternation. Causa finalis, traditionell eine

Naturabsicht, wird nun zu einer durch die Notwendigkeit der mensch-

lichen Selbsterhaltung bedingten- neuen Zwecksetzung. Was bedeutet

alternation oder Veränderung?

Nichts anderes als eine Bewegungsänderung (die einen bewegten Körper,

dem eine von anderswo her bezogene Kraft einwohnt, in seiner Richtung

abändert). So gibt die Billardkugel einer anderen einen Impuls, indem

sie die Bewegung überträgt (transfer), aber nicht erzeugt (produce)

Die Übertragung kann auch als ein beim anderen Körper hervorgerufener

Obergang (alternation), eine Veränderung von der Ruhe in die Bewegung

angesehen werden. Dadurch entsteht aber noch keine eigentliche Tätig-

keit, merkt Locke gleich an. 2 4) Der 'transfer' ist mit der 'alterna-

tion' synonym zu setzen, wodurch wir genauer wissen, daß die 'alterna-

tion' die Veränderung der Bewegung eines anderen Körpers ist, ohne daß

wir eine bestimmte Idee der aktiven Kraft erlangen; "denn die Körper

gewähren uns keinerlei Idee von einer ihnen innewohnenden Kraft, eine

Tätigkeit, sei es Bewegung oder Denken, zu beginnen". 2 5)

'Only transfer, but not produce1 ist die analoge Formel für den Arbei-

ter. 'Transfer1 oder 'alternation' ist die durch "Reflexion erhaltene

Idee eines Beginns", die durch die Fähigkeit unseres Willens glaubhaft

wird, die Organe unseres Körpers in Bewegung zu setzen. 2®)

Damit ist die Mitarbeit der Natur, ihre aktive Kraft, wiederum nicht

ausgeschlossen, nur ist sie nicht wahrnehmbar und bleibt eine "unbe-

stimmte Idee" 2 7). Allein deshalb können die Menschen glauben, daß sie

die endgültigen Bewirker einer Handlung sind: Indem sie den Impuls

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geben, ändern sie die Richtung einer aktiven Kraft, ohne selbst diese

Kraft zu sein. Die Natur ist nicht mehr identisch mit dem "inneren

Prinzip", aus dem heraus die Bewegung der Körper erfolgen soll. Da

die inneren Kräfte unzureichend verstanden werden, muß der reflek-

tierende Verstand auf die Kausalität der Bewirkung durch aktive Ver-

ursachung ausweichen, wenn er seine Resultate haben will.

In der Analogie von Arbeits-Kraft zu sprechen, führt auf energetische

Irrwege; die Arbeit erzeugt neue Zwecke durch die Änderung der Bewe-

gungsrichtung der durchaus, im alten Sinne, aktiven Naturproduktivität.

Aber die durch den Verstand in Gang gesetzte Wirkung dieser Verände-

rung ist das entscheidende Resultat, nicht die Kraftäußerung des

menschlichen Arbeiters. Die ökonomische Theorie der Arbeit ist eine

Theorie der instrumentellen Vernunft, der die Naturbewegungen nurmehr

Gegenstand der Reflexion und tätigen Änderung geworden sind. 2 8) Die

Arbeit aber ist nicht vollständig Produktion, da in der generativen

Mitwirkung der Natur im agrikulturellen Prozess noch die ältere Pro-

duktionsidee, die allein der Natur vorbehalten war, mitschwingt.

Lockes analytische Ambivalenz zeigt die Schwierigkeit der Ablösung

des alten Bildes, die erkenntnistheoretisch besser zu gelingen scheint

als im ökonomischen Kontext.

Die Abschaffung der Naturzwecke für die Belange menschlichen Handelns

aber schlägt sich nicht nur in der protoökonomisehen Produktionstheo-

rie, sondern ebenso auch in der Werttheorie nieder: die ältere bonitas

intrinsecas, die den Dingen inhärente Qualität, the intrinsic value,

gilt nicht mehr, wie noch in der Scholastik, für die ökonomische Wert-

bestimmung, sondern allein der Preis (bonitas extrinsecas), der sich

nach Marktumständen, nicht aber nach der Natur der Dinge richtet.

Einzig beim Geld führt Locke noch eine Debatte um dessen intrinsischen

Wert, indem er dem Silbergehalt der Münzgeldmenge eine verläßliche

Konstanz zuschreiben möchte, die die Funktion des Geldes als Werter-

haltungsmittel normieren soll. 2 9) Damit ist aber die Geld"Natur" durch

gesellschaftliche Konvention definiert; die sozialvertrag!iche Insti-

tutionalisierung des Geldes wird zur neuen Rechtsnatur, die die Auf-

gaben der älteren Natürlichkeit einer Sache übernimmt.

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2. Rétribution der Natur und Limitation der Industrie nach Naturgesetzen:

François Quesnays physiokratische Ökonomie.

Das ökonomische Konzept der Physiokratie ist von François Quesnay in

der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden. Quesnay war protegée

der Madame Pompadour am Hofe Louis XIV und Louis XV und zuvor Arzt im

Fach der Chirurgie. Die Bezüge, die die interpretierende Literatur

hieraus schon herstellen zu können meint, daß er als Mediziner eine

"oeconomie animale" geschrieben habe, woraus Rückschlüsse auf seine

économie humaine zu ziehen seien, trügen. Das Kreislaufmodell, das

das Fundament der physiokratischen Ökonomie bildet, ist weniger dem

harvey'-sehen Blutkreislaufmodell nachgebildet als vielmehr ein Modell

des Billardtisches. Le zig-zag, wie der tableau économique populär

hieß, entspricht einer impulstheoretisehen Konstruktion einer Impe-

tus-Physik. Damit ist aber in Ersatz eines physiologischen kein

mechanisches Weltbild inauguriert, sondern nurmehr ein Bezug zur

malebranchischen Metaphysik herauszulesen, deren okkasionalistische

Grundthese Gott als einen Mitspieler beim menschlichen Handeln auf-

faßt, der bei Gelegenheit menschlichen Tätigwerdens seine Macht ein-

setzt, gleichsam wie der Stoß eines göttlichen Billardspielers. 3^

Der Mensch ist nur die angelegentliche Ursache seiner Handlungen,

Gott die wahre und primäre Ursache, die Natur sein Handlungsraum.

Natur ist bei Quesnay noch - sehr antik - in der Art der Physis

konzipiert: eine natura naturans, die selber zeugt und hervorbringt.

Sie ist die einzige Quelle der Reichtümer. Durch die Membran des

Ackerbodens hindurch springen die Früchte in die Welt im jährlichen

Zyklus nach Maßgabe einer guten agrikultureilen Behandlung.

Das ist das Fundamentaltheorem: Die Natur als Quelle der Werte. Die

agrikulturelle Arbeit der laboureurs, der Pächter, Landarbeiter und

Bauern, bringt die Werte hervor, weshalb die agrikulturelle Klasse

die wahrhaft produktive ist.

Dagegen erscheinen alle Tätigkeiten der Handwerke, Manufakturen, des

Handels und aller Dienstleistungen als steril, d.h. unfruchtbar,

keine neuen Werte erzeugend.

Die dritte Klasse der Grundbesitzer (classe propriétaire) - wesent-

lich der Adel - ist Wächter und Kontrolleur der einzigtn Reichtums-

quelle der Menschen: ihrer Äcker, die nicht brach liegen dürfen.

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Die classe productive, die laboureurs, erzeugt die Reichtümer der

Nation und erhält dafür im Austausch alles für ihre Erzeugungstätig-

keit und für ihren eigenen Lebensunterhalt zusätzlich nötige.

Die beiden anderen Klassen sind von dieser Primärproduktion abhängig.

In dem Maße, wie die classe productive über ihre Subsistenz hinaus

Reichtümer erzeugt, können die beiden anderen Klassen existieren und

sich entwickeln. Industrieentwicklung ist in diesem Sinne ganz ab-

hängig von der Produktivität der Agrikultur.

Denn beide letztgenannten Klassen verzehren nur, was die laboureurs

in Ko-Operation mit der Natur erzeugt haben.

Die Gliederung des tableau économique, des politischen Körpers ("la

famille nationale" 3 1), in drei Klassen folgt der fundamentalen Idee,

die die ganze physiokratische Konzeption bestimmt:

"Daß die Herrscher und die Nation niemals die Tatsache aus den Augen

verlieren, daß der Boden der alleinige Quell der Reichtümer ist, und

daß es die Landwirtschaft ist, welche diese vervielfältigt".32)

In seinem Dialog "Ober die Arbeiten der Handwerker" erläutert Quesnay

dieses Fundament:

"Alle Menschen, welche arbeiten, konsumieren, um existieren zu können.

Aber der Konsum vernichtet die SubsiStenzmittel. Sie müssen also von

neuem hervorgebracht werden. Nun ist es die Arbeit des Landwirts, die

nicht nur die SubsiStenzmittel hervorbringt, welche er selbst vernich-

tet hat, sondern auch diejenigen, welche von allen anderen Konsumenten

vernichtet werden. Im Gegensatz hierzu verschafft die Arbeit des Hand-

werkers diesem nur ein Recht auf Teilnahme am Verbrauch der Subsistenz-

mittel, welche durch die Arbeit des Landwirts von neuem hervorgebracht

werden". 3 3^

Handwerker (artisans) werden von den Landwirten (cultivateurs) auf-

grund eines Konzeptes unterschieden, dessen Basis die P r o d u k -

t i o n als R e g e n e r a t i o n bildet. Quesnay unterscheidet

streng zwischen einer "Kombination von Reichtümern" und einem "Gene-

rieren", d.h. einer "Schöpfung von Reichtümern". Das "Generieren"

aber wird als Hervorbringung d e r N a t u r angesehen, an deren

Produktivität oder Fruchtbarkeit den Menschen mittels ihrer Arbeit

teilzunehmen (prendre part) erlaubt (permis) ist. 3 4) Die cultivateurs

empfangen alles nur direkt aus den Händen der Natur, welche durch

Vorschüsse (avances) und Pflegearbeiten (soins) produktiv gemacht wor-

den ist. 3 5)

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Und so dürfen wir, wollen wir die physiokratische Ökonomie in ihrem

Kern verstehen, den terminus "produktive Arbeit" nicht dahingehend

mißdeuten, als ob die Arbeit selbst produktiv wäre. Sie kultiviert

nur den Boden oder Acker, der mittels solcherart initiierter Natur-

Arbeit die Früchte zeugt und also produziert. Die laboureurs oder

cultivateurs sind die Ko-Operateure der Naturproduktion.

Von sich aus betätigt sich die Natur nur für ihre eigenen Zwecke. Sie

bleibt für sich und ist unfruchtbar in menschlichen Belangen. Ihre

"Zwecke" sind nicht unsere. Die classe productive lenkt die Hervor-

bringungen der Reichtümer der Natur in die Richtung menschlicher

Zwecke. Schließlich gelingt die 'Humanisierung' der Naturproduktionen

nur in der Einrichtung und Einhaltung des ordre naturel: der Homöostase

von Mensch- und Natur-Verhalten, die Mirableau/Quesnay den "concert

universel"3®) nennen.

In allem aber ist die Natur zuerst produktiv.

"Was immer (dieser Arbeitsmann) für seine Subsistenz verzehrt' hat, muß

von der Erde bereits vorher produziert worden sein. Es ist also nicht

seine Arbeit, mittels derer seine SubsiStenzmittel produziert worden

waren. Der Verzehr der SubsiStenzmittel hat ebenfalls nichts produ-

ziert, da dieser nur eine Vernichtung der von der Erde im voraus produ-

zierten Reichtümer ist". 3 7)

Das Naturapriori ist unhintergehbar.

Die Handwerker (artisans) modifizieren nurmehr die Formen der von den

Primärproduzenten oder laboureurs erzeugten "echten" Reichtümer;3®)

sie verbessern die Rohmaterialien durch KOMBINATION, was streng vom

"Generieren, oder einer Schöpfung von Reichtümern (zu unterscheiden

ist; B.P.), welche eine Erneuerung oder einen realen Zuwachs von Reich-

tümern zustandebringt, die des Wiedererstehens fähig sind". 3 9)

WIEDERERSTEHEN war ein Substitut Quesnay's für PRODUKTION im Sinne von

REGENERATION.

Der grundlegende Begriff der Regeneration erklärt die sonst etwas eigen-

tümliche Redeweise von" "... mehren und immerfort erhalten".4^) Während

das "mehren" auf Ertragssteigerung abzielt, steht für Quesnay die Pro-

duktion zugleich in der Verpflichtung, die Grundlagen bzw. Vorausset-

zungen der Mehrungen zu erhalten und zu pflegen. Quesnay benutzt ein

- vorsichtig formuliert - makroökonomisch ausgeweitetes ususfructus-

Theorem. Der römischrechtliche ususfructus verpflichtet den Pächter

eines Ackers, nur soviel von den Erträgen zu nehmen, daß seine Fertili-

tät erhalten bleibt.

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"Die Quelle der durch sterile Arbeiten erworbenen Reichtümer würde

nach recht kurzer Frist versiegen, wenn diese Reichtümer für den

Bedarf des täglichen Lebens verbraucht werden würben, ohne durch

Kulturarbeiten erneuert zu werden. Diejenigen, die den üppigen Wohl-

stand der Imperien dieser Art von Reichtümern zuschreiben würden,

wären wie Kinder, die in einem Garten sehr viel mehr Wert auf die

Blumenraoatten legen als auf die Pflanzen und Bäume im Küchen-

garten." 4 1)

Der "tableau économique".- das Schema der Quesnay'schen Ökonomie -

will dieses Verhältnis von Lebenserhaltungsbedarf und Erhaltungsbe-

darf als Voraussetzung künftiger Lebenserhaltung - das Verhältnis

von "Blumen-" und "Kücheilgarten" - ausmessen und proportionieren.

Die Methode des tableau économique wird arithmetisch aufgefaßt in

Form einer Verteilungsbilanz zwischen den drei Klassen im Verlauf

eines Jahres. Ihre Faszination als erstes Kreislaufmodell der Makro-

ökonomie geht hin bis zu W. Leontieff, der sich für seine Input-

Output- Anal y se von Quesnay inspirieren ließ. Die Bedeutung der Me-

thode ist zwar systematischer, dennoch aber anderer Art, als die

modern- economics herauszulesen beansprucht.

Im tableau économique werden die Bilanzen der menschlichen Moral

ökonomisch verrechnet. Der ordre de la moral, oder die Sittlichkeit,

wird ins Verhältnis gesetzt zum ordre de la nature. Die Erinnerung

an das antike Verhältnis von kosmos und polis hilft nicht besonders

zur Erklärung. Der Zusammenhang ist "moderner", und zwar nach dem

Modell der Theodizee zu verstehen, die das Verhältnis von Natur und

Gnade untersucht.

Gott hat die Welt im Prinzip wohl geordnet. Die Obel der Welt sind

von den Menschen selbst erzeugt. Nur wenn die Menschen die Obel als

Resultate ihres Handelns erkennen und wenn sie ihr Handeln auf den

göttlichen Ordnungsplan (eine oeconomia divina) auszurichten ver-

mögen, können sie der Gnade teilhaftig werden. Die Ökonomie dient

der Berechnung der Gnadenwege, indem sie Abweichungen von der Natur-

ordnung notieren läßt und gesetzeshafte Vorschläge machen kann, wie

der ordre de la moral, zu dem auch die ökonomischen Institutionen

gehören, in Obereinstimmung mit dem Naturzugesetz zu bringen ist.

Die Nation hat dazu selber die Mittel des ordre positif, der korri-

gierenden Gesetzgebung. Die Klassen haben sich letztendlich gemäß

ihrer durch die Naturordnung vorgeschriebenen Weise zu verhalten,

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wenn die Selbsterhaltung aller nicht gefährdet werden soll. Wenn die

classe stérile mehr produziert, als die classe productive versorgen

kann, werden die Naturgesetze, d.h. die Pläne Gottes, verletzt und

die Menschen schaffen sich selber die Obel der Not.

Es ist interessant, daß in diesem Falle der Luxus nicht moralisch,

sondern ökonomisch aus dem Konzept der Selbsterhaltung kritisiert

wird. Die Ökonomie steht auf dem Fundament einer Naturkonzeption,

und der wohl geregelte Kreislauf, der auf die natürlichen Fertilitä-

ten abgestimmt ist, bezeugt das Modell einer natürlichen Ökonomie.

Die praedeterminatio physica zwingt die Menschen zur Einhaltung ei-

ner natürlichen Ordnung, wenn sie nicht in Not geraten wollen, d.h.

Obel erzeugen wollen und damit den Entzug der-Gnade Gottes.

Die Natur ist somit nicht ausschließlich auf die Produktivität der

Erde, sondern - weiter gefaßt - auf die Vorleistungen Gottes ausge-

richtet. Ihre Fülle gibt die Natur her, wenn die Menschen das Buch

der Natur zu lesen verstehen (Aufklärungsaspekt) u n d sich den

erkannten Gesetzmäßigkeiten fügen. Die menschliche Handlungsfreiheit

findet ihre Grenzen in der Erkenntnis und Befolgung der Wege der

Vorsehung, die sich in der Natur offenbaren.

Die Natur ist kein friedlicher Partner, sondern droht, ihre Nahrungs-

produktion in ungenießbare Früchte zu verwandeln, wenn sie nicht

ständig und im richtigen Maße kultiviert wird. Die Wüstungen und Brach-

länder, die die in die Städte abwandernden Bauern zurücklassen, sind

der Ausgangspunkt für Quesnays ökonomisches Raisonnement.^ Die

Resurrektion der Natur, die ehedem fruchtbares Land in wilde Natur

zurückzuwandeln droht, steht im Hintergrund der physiokratischen

Berechnungen jenes schmalen Pfades, der die notwendige Agrikultur

ins angemessene Verhältnis zur gesellschaftlichen Gesamterhaltung

zu setzen hat. Nicht die heilige Ehrfurcht, sondern

die Furcht vor ihrer potentiellen Wildheit bringt die Physiokratie

auf die Erstellung eines Modells natürlicher Ökonomie.

In diesem Sinne ist der ordre de la moral nicht bloß ein humaner

Kanon von Rechten und Pflichten, sondern ein doppelt eingefaßtes

Naturrecht, das die Menschen z.e. von Natur aus haben, z.a. aber

immer auf die Naturverpflichtung hin zu prüfen haben. Der wissen-

schaftliche Vorteil der Physiokratie im 18. Jahrhundert ist ein

Kalkül der Gnade, die Ökonomie eine Meßkunst, die Aufklärung schafft

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über die notwendigen Zusammenhänge, in die menschliches Handeln

sich begeben muß, um Prosperität zu fördern und Not abzuwenden.

Denn könnte die Produktion von Reichtümern, die sich aus der

handwerklichen oder sterilen Arbeit ergäben, größer sein "als

die jährliche Reproduktion, die selber das Maß der jährlichen

Ausgaben der Nation abgibt?

Es ist offensichtlich, daß hier nur eine Zirkulation ohne Steige-

rung von Reichtum vorliegt, ..., wobei deren Ausmaß gleich dem

der Reichtümer ist, welche das Territorium jährlich hervorbringt.

Die Arbeiten der Handwerker und Künstler können sich also nicht

über den Anteil an den Ausgaben ausdehnen, welchen die Nation

dafür, nach Maßgabe des Gesamtausmaßes, zu verwenden in der Lage

ist. Diese Arbeiten können also den Reichtum, welchen die Nation

jährlich ausgibt, nicht steigern, und zwar weil ihnen selbst Gren-

zen erwachsen aus dem Ausmaß dieses Reichtums, welcher sich nur

durch die Arbeiten in der Landwirtschaft, nicht aber durch die

Ausgaben für die Arbeiten des Handwerks erhöhen kann. Somit liegt

der Ursprung, die prinzipielle Ursache jeder Ausgabe und jeglichen

Reichtums in der Fruchtbarkeit des Bodens, dessen jährliche Erträge

man eben nur durch seine Erträge selbst vervielfachen kann". 4 3)

Das physiokratische System ist etwas komplexer als hier unter dem

einzigen Gesichtspunkt des Verhältnisses von Natur und Ökonomie dar-

gelegt worden ist. Es stellt eine Gesellschaftstheorie dar, die den

Zusammenhang von Ökonomie, Recht, Politik und Sittlichkeit in eigen-

ständiger Ordnung zu gliedern versucht. Die Folgerungen - so das

"laisser-faire"-Prinzip (für den Außenhandel) und der impot unique,

die Einheitssteuer auf die Pachterträge - sind bekannter geworden

als das System selbst. Aber nicht diese Spezifikationen, sondern

der Grundzusammenhang von Naturproduktivität und Neuwertschaffung

hat die spätere Ökonomie noch beschäftigt.

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3. Rezeption der Natur und Freigabe der Industriedynamik: Die Auflösung

der Antinomie im 19. Jahrhundert.

Es hat sich zeigen lassen: daß die neuzeitliche Ökonomie antinomischer

Gestalt ist, die zu der Frage nach den Quellen des Reichtums zwei Ant-

worten bereit hält, die von der philosophischen Basis des Weltver-

ständnisses nicht getrennt werden können. I. die ältere, die die ge-

samtwirtschaftliche Neuwertschöpfung an die richtige Bemessung der

natürlichen Produktivität bindet, und II. die neuere, die die Neu-

wertschöpfung an die Ausweitung der menschlichen Produktionsvermögen,

der Entwicklung der sie tragenden Marktformen und -institute bindet.

Die II., lockesche Version baut auf die Kritik und Inversion der

aristotelischen Ökonomietradition, während die Physiokratie in ihrem

Versuch, natürliche Grenzen des Reichtumserwerbs zu bestimmen, das

aristotelische Programm wieder aufnimmt, wenn auch mit modernen Mit-

teln der Sozial Produktsberechnung. Lowrys schon zitierte Definition

des antiken Wirtschaftstypus1 - only nature produces wealth, man

can organize it - wird bei Quesnay zu einem Imperativ, die Naturdis-

position der Ökonomie in korrekter Bemessung zu realisieren. Die

Freiheit der menschlichen Zwecksetzungen - Lockes ökonomischer Hand-

lungsimpetus - wird von den Physiokraten in eine strenge Gesetzes-

bindung gebracht, deren Einhaltung den Vorteil bringt, die geheimen

Intentionen der Natur zu verwirklichen, was die Gnade Gottes erwirkt,

das Gute in der Welt (und damit die Welt als positive Schöpfung) er-

hält und von vornherein die Schuld tilgt.

Zwei unterschiedliche theologische Bezugsrahmen lassen sich extra-

hieren. Bei Locke ist die Erhaltung der Schöpfung identisch mit einer

dynamischen Handelsexpansion und der Aneignung der Weltressourcen.

Die Unschuld der Natur in das den Menschen Dienliche zu verwandeln

ist die universelle Aufgabe der Arbeit. Allein die tätigen und indu-

striösen Christen (in denen die Stimme Gottes Vernunft erzeugt) ha-

ben die Kompetenz, den Schöpfungsauftrag zu verstehen und zu reali-

sieren. Die Vernunft ist die besondere Fähigkeit der menschlichen

Geschöpfe, die komplexe Idee der Welterhaltung formierend zu aktua-

lisieren.

Die Natur besitzt kein inneres Prinzip mehr, das zu erforschen und

auszuführen die Menschen leben, sondern ist, wie der Verstand selbst,

eine tabula rasa, die neu zu besetzen die wichtigste Aufgabe wird.

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Anders die Physiokraten, die der Welt, d.h. der Natur und der Gesell-

schaft, innere Gesetzmäßigkeiten zuschreiben, die, durch aufklärende

Vernunft, erkannt und befolgt werden müssen, damit der nämliche Telos,

der Locke auch bewegte, erfüllt wird: die Schöpfungserhaltung. Die

Wahrheit dessen sei evident; das menschliche Wirtschaften hat die

Wege der Vorsehung zu analysieren und zu gehen.

Wie bei Locke schon angedeutet, wird dessen nominal istische Grundlage

bei den Physiokraten durch die thomistische Präposition ersetzt: die

potentia ordinata, die Selbstbeschränkung Gottes auf die in seiner

Schöpfung auch für ihn geltende Ordnung. Im Rahmen der theodizialen

Fassung der Ökonomie interessiert Quesnay dabei weniger die Ordination

Gottes als die der Menschen, deren Freiheit, von den Wegen der Vor-

sehung abzuweichen, kalkulable Störungen in der Gesamtwirtschafts-

rechnung verursachen, deren praktische Folgen Verarmung und Not sind,

d.h. selbstverschuldeter Entzug der Gnade.

Die Frage nach einer Selbsterhaltungsordnung in der Neuzeit läßt als

Antwort die Ökonomie als einen gesellschaftlichen Handlungszusammen-

hang konstituieren, der nicht nur die Handlungsfreiheit, sondern auch

die Bedingungen ihrer Erhaltung etabliert. Die Schöpfungserhaltung

setzt die Selbsterhaltung der Menschen voraus. Die Organisation der

Selbsterhaltung - die neue Ökonomie - soll diejenige Sicherheit ge-

währleisten, die vordem die göttliche Weltordnung bot.

Beide, Locke wie Quesnay, thematisieren die Sicherheit der Selbster-

haltung. Bei Locke garantiert wohl die Arbeit die aktuelle Reproduk-

tion, aber erst die Institutionalisierung einer monetären Ökonomie

sichert den dauerhaften Erhalt des Erarbeiteten.

Allein das gesellschaftlich verabredete Institut des Geldes kann den

selbstgeschaffenen Besitz dauerhaft gewähren. Die Verderblichkeit

aller Dinge, der Naturfrüchte, wird durch eine gesellschaftliche In-

stanz in ein Vorsorgeinstrument verwandelt. Die ökonomische Sachdis-

kussion geht dann - in den Zins - und Geldessay Lockes - auf die

Frage, wie das Verhältnis von Geld- und Gütermenge bemessen sein

müsse, damit der Geldwert konstant bleibe. Die ökonomischen Fachfra-

gen sind Ausdifferenzierungen der Grundfragen, wie die Ökonomie die

menschliche Selbsterhaltung organisieren kann. Die neue Ontologie der

bürgerlichen Gesellschaft (des civil state) ist eine dynamische Siche-

rung durch tätige Arbeit und gesellschaftliche Institutionen, die de-

ren Resultate wertbeständig aufbewahren und wieder in den investiven

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Kreislauf einschießen lassen. Die ontologische Qualität der ver-

schwundenen alten Kosmos-Natur wird nunmehr als dynamische Ente-

lechie der Arbeit einer Sozial Vertragsgesellschaft dargestellt.

Diese neue Form der Dauerhaftigkeit der Welt muß ständig herge-

stellt werden. Ihre Instabilität kann nur durch die Kontinuation

der Arbeit und deren vorsorgende Oberschußproduktion, die neuen

Unsicherheiten gewappnet gegenüberstehen läßt, beantwortet werden.

Die kapitalistische Wirtschaft, deren Form bei Locke erst rudi-

mentär, bei den Physiokraten deutlicher, wenn auch, mit ihrem Be-

griff der avances, wesentlich auf die Agrarinvestitionen beschränkt,

sich herausbildet, ist eine historische Konsequenz der im Ordnungs-

schwund der Neuzeit hervortretenden Unsicherheit. Dieselbe Kontin-

genz, die im Verlust der alten Ordnungen die menschliche Handlungs-

freiheit (nominalistisch) begründet, erfordert eine Selbsterhal-

tungsorganisation, die sich nicht mit den aktuell befriedigenden

Resultaten zufrieden gibt, sondern die Vorsorge soweit treibt, daß

den Kontingenzen der Zukunft ein Kapital zuhanden ist, damit die

Handlungsfreiheit der wirtschaftlichen Selbsterhaltung nicht uner-

wartet beeinträchtigt werden kann.

Die Fülle der Natur, ihre noch nicht kultivierte Erdfläche, bot ge-

nügend Anreiz zur Handelsexpansion und den entsprechenden Disposi-

tionen. Bei den Physiokraten dagegen war es die sensible Natur,

die sie zum Opfer-Begriff der avances greifen ließ. Die Dauerhaf-

tigkeit der wiederkehrenden Naturproduktion sei allein durch eine

Einschränkung des menschlichen Verzehrs zu bewerkstelligen: nur

wenn der Natur gegeben würde, was ihres ist, gäbe sie, was den Men-

schen zukäme.. Die besondere Form der prästabilierten Harmonie, die

die eigenartige Theodizee der Physiokraten ausmacht, ist eine Art

Investition in die Dauerhaftigkeit nicht der menschlichen Gebilde,

wie sie das englische Naturrecht vorschlägt, sondern in der Natur,

der selber in einer gewissen Weise archaische Göttlichkeit zukommt:

der moderne Kapital begriff, der bei den Physiokraten herausgebildet

wurde, ist zugleich ein Begriff alteuropäischen Naturopfers, was

aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß der Grund für diese

Konstruktionen die Sorge um die Unsicherheit ist, die die neuzeit-

liche Menschheit, auf sich allein gestellt, auszuhalten lernen muß:

das Wesen der Existenz ist, mag nun heideggerisch einfließen, die

Sorge, und die Ökonomie, ganz unheideggerisch, der Versuch, die

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Sorge in Besorgung zu transformieren, die Existenz auf Dauer zu stel-

len. Die Naturrechtsverfassung der Ökonomie bei Locke, in der die ver-

nünftigen Gesellschaftsorgane sich selber Gesetze des vernünftigen

Handelns geben, steht in Korrespondenz zur neuzeitlichen Einrichtung

der Physik, die die mechanische Ordnung der Naturkräfte beschreibt

und experimentell ermittelt, in einer Weise, die den Physiokraten

nahelegen konnte, eine innigere Entsprechung von Physik und Moral zu

konstituieren, deren Meßbarkeit das neue System der Ökonomie ver-

mittelt.

Dem lockeschen Optimismus der ökonomischen Weltaneignung steht die

aufgeklärte, physiokratische Skepsis gegenüber, die der Wirtschafts-

entwicklung nur dann Erfolg zuspricht, wenn die Gesetze der Natur

und die Wege der Vorsehung eingehalten werden. Sicherheit ist nun-

mehr nur durch exakte Berechnung gewährleistet. Die arithmetische

Präzision, die die Physiokraten anstreben, ist ein Zeichen ihrer

Furcht vor den kulturellen Verfehlungen der Menschen, die die Natur

in ihrer ursprünglichen Wildheit wieder hervorbrechen lassen könnte.

Die kalkulierte Allokation der Gesamtwirtschaft wird zur politisch-

ökonomischen Aufgabe des Staates, und kann nicht, wie bei Locke und

der in seiner Tradition stehenden späteren englischen "Klassik", der

freien Marktbildung überlassen bleiben. Aus den Antinomien der neu-

zeitlichen Ökonomie entwickeln sich - rudimentär - die späteren

Divergenzen zwischen Markt und Plan.

Im 19. Jahrhundert klärt sich endgültig die Frage des Verhältnisses

von Natur, Arbeit und Produktion - der produktionstheoretische Kom-

plex der neuzeitlichen Ökonomie. Produktiv sind alle jene wirtschaft-

lichen Handlungen, die Werte erzeugen. Lockes Ansinnen wird konse-

quent zuende gedacht, und die Physiokraten erscheinen als einseitige

Konzeptualisten, die an der Substanz der rohen Materien hängen blie-

ben, ohne die ökonomische Realität in der arbeitsformenden Aktuali-

sierung des Stoffes zu begreifen.

Die neuen Naturwissenschaften und ihre Entwicklungen brachten die

Verwandlung der Materien in eine allgemeine Form: die Substanz der

Materie bliebe allemal gleich (Summenkonstanz), aber ihre Formen

könnten ins Unendliche wachsen. Dieses Spiel der Formen war der

jungen Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre Grund genug, die

alte Frage nach dem produktiven Beitrag der Natur an der Wertschöp-

fung endgültig aufzuheben; denn wenn die Substanz der gesamten

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Weltmaterie immer die gleiche bleibt, werden ökonomische Neuformie-

rungen - die nunmehr in Wert-Formen verwandelte Materie - die onto-

logische Qualität der Natur nicht beeinträchtigen.44)

Die technischen und ökonomischen Möglichkeiten scheinen unbegrenzt

zu sein und nur an den Fortschritt des Kenntnisstandes der Natur->

Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung in industrieller Tech-

nik gebunden. Das Naturproblem ist für die Ökonomie ein naturwissen-

schaftlich-technologisch separierbares geworden, und die Wirtschafts-

wissenschaft kann sich endgültig ihrem eignen Gegenstand zuwenden:

dem Problem der Allokation von Gütermengen und Bedarf. Mit der Um-

nennung der poli.tical economy in pure economics am Ende des 19.

Jahrhunderts ist auch die Genesis der produktionstheoretischen Proto-

ökonomie des Verhältnisses von Natur und Arbeit beendet. Paul Natorp

resümiert in seiner "Wirtschaftsphilosophie" eben jenen Zusammenhang:

"Die Substanzgrundlage des Naturgeschehens muß konstant gedacht werden, damit eine Rechnung der Natur aufgestellt werden kann. Sie kann nur rechnen mit einem festen Grundbestande, oder wenn auch mit einem beweglichen, dann einem wiederum nur nach einem festen Gesetz veränderlichen Bestände. Anders die Praxis. Die Möglichkeitsgrundlage für sie ist zwar für die einzelne Berech-nung (...) auch als festbleibend anzunehmen; aber die Praxis selbst weiß sehr wohl, sie bleibt nicht fest, sie darf gar nicht festbleiben, sie soll vielmehr sich beständig steigern, um für die niemals in feste Schranken sich einschließenden, sondern stets sich selbst steigernden, ins Unendliche kühnlich hinaus-strebenden Zielsetzungen der Handlung immer wieder bereitzustehen. Aber das ändert nichts an der Grundvoraussetzung des verfügbaren (...) Fonds, der jedenfalls auch fernerhin zu erhaltenden, dann aber nach Möglichkeit zu steigernden Substanz der Handlungsmög-lichkeiten, mit der hauszuhalten, zu rechnen ist, nach der das Handeln hier und jetzt sich ausrichten und, für hier und jetzt, sich begrenzen lassen muß. Hieraus ergibt sich nun als die erste Gestalt-Gehaltphase der Handlung: das wirtschaftliche Handeln".45)

Natorp denkt in den Bahnen des 19. Jahrhunderts. Die "Substanz der

Handlungsmöglichkeiten" ist die "Erhaltung des Möglichkeitsgrundes

selbst" 4 6^. Die Praxis, die, hier, ganz aristotelisch konzipiert,

ihr Ziel in sich selber hat, ist bei Natorp als "Möglichkeitsgrund...

ein Analogon der Materie in der Natur" 4 7). Die neue Natur der Praxis

- Substanzerhaltung der Handlungsmöglichkeit - ist, ökonomisch kon-

kretisiert, in der Struktur der KapitalWirtschaft beschrieben. Das

Projekt der Moderne endigt im 19. Jahrhundert in der dauerhaften

Praxis menschlicher Handlungsmöglichkeiten, die sie sich mittels

der ökonomischen Organisation des gesellschaftlichen Lebens ge-

schaffen haben. Die alte Entelechie der Natur ist in die Selbsther-

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vorbringung und damit -erhaltung der Praxis wirtschaftlichen Handelns

transformiert worden - von der (protoökonomisehen) Naturtheorie zur

Vorherrschaft handlungstheoretischer Analyse.

Dem Resümee des 19. Jahrhunderts ist noch hinzuzufügen: Die Natur er-

scheint nicht mehr als Gabe oder materielle Voraussetzung des ökono-

mischen Handelns, sondern wird durch die naturwissenschaftlichen

Möglichkeiten und die ökonomischen Anwendungen selber auf neue und

systematische Weise rekonstruierbar. Der industriellen Umwandlung

aller Materien stand nichts mehr im Wege, zumal jetzt auch künstliche

Materien, die in der bloßen Fülle der Natur nicht vorkamen, entwickelt

wurden. Damit wurde 1. die ehemalige Fülle der Natur zur Fiktion er-

klärt, da letztlich das menschliche Ingenium, die technische Vernunft

und die dispositive Klugheit des innovativen Unternehmers die Menge

der möglichen Materien zu bestimmen schien, und 2. war auch die Idee

der Retribution der Natur sorglos aufzugeben, da dort, wo die Natur

von sich aus nichts mehr hergeben wollte, ein künstlicher Stoff zu

erfinden war, der den natürlichen ersetzte.

Die alte Vorstellung der FÜLLE der NATUR - Lockes barocke Auffassung -

und die konträre der RETRIBUTION der NATUR - die furchtsame Auffassung

der durch das Erdbeben zu Lissaborl8lrschütterten Aufklärung, die die

Resurrektion der Wildnis fürchtete - verwandelte sich im 19. Jahrhun-

dert in eine neue Auffassung der REZEPTION der NATUR.

Diese Redeweise scheint aus zwei Gründen tauglich zu sein. 1. bezeich-

net sie den Status einer neutralen Natur, die weder Fülle (= unbegrenzte

Ressource) noch Vernichtung (= absolute Knappheit) anzeigt. 2. bindet

sie die ökonomische Nutzung der Natur an die naturwissenschaftliche

Kompetenz, d.h. an ein erkenntnistheoretisches Programm der Naturwahr-

nehmung, das die industrielle Revolution, die kontrollierte Energie-

umwandlung i.w.S., möglich machte. In dieser Vorstellung des 19. Jahr-

hunderts wird die Ökonomie zum Allokationssystem, das die Kosten der

Ressourcenverwertung und die Alternativen der Substitution bemißt.

Natorp beschreibt diese Tendenz als "totale Wechselbeziehung des Gan-

zen der Natur zum Ganzen der Zweckwelt ... Ausgesprochen ist es oft

genug, etwas in der Wendung, daß die höchste Kunst wieder Natur w e r d e " 4 ^

In dieser pathetischen Rhetorik ist das 'ökologische Problem', das die

moderne Ökonomie wieder mit der protoökonomisehen Fragestellung nach

den legitimen Produktions-Werten i.w.S. stellt, längst mitgedacht.

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"Es bildet sich dann ein Drang der Eroberung, der Bemächtigung der Natur als ganzer durch den "Geist"; so sagt man dann gern. Schon hingedeutet wurde aber auf die darin liegende Gefahr der Vergewaltigung, der Denaturierung der Natur, und dann, in der Rückwirkung auf den Vergewaltiger selbst, auch dieses sich so nennenden Geistes, d.h. der Zwecksetzungen selbst. Aber diese Gefahr könnte leicht besiegt werden; wäre nur der Geist recht geistig, so müßte er das Geistverwandte, dem Geist zugekehrte und Antwortgebende im Natürlichen selbst erkennen und aus ihm sich selbst stärken und steigern. Dann würden beide sich nicht mehr bloß äußerlich gegenüberstehen als Gebraucher und Ge-brauchtes, sondern es würde sich zwischen beiden wie ein ehe-liches Verhältnis innerlichster Gemeinschaft herausbilden. Es würde die Naturgrundlage nicht, indem sie gebraucht würde, zu-gleich verbraucht und durch den Verbrauch verdorben werden, son-dern, vom Geist befruchtet, willig und dankbar wieder ihm fruch-ten Und damit enthüllte sich dann ein noch größeres ...

Ziel", das schon zitierte der Wechselbeziehung zwischen Natur und Zweckwelt.

Die Wechselwirkungsdefinition Natorps weist aus dem Resümee des 19.

Jahrhunderts auf Fragestellungen des 20.. Die Trennung von eigenge-

setzlicher Natur und ihrer Wissenschaft und zwischen einer eigenge-

setzlichen Ökonomie ist kein wieder aufhebbarer Akt. Solange die

Naturgesetze - im 19. Jahrhundert - deterministisch und reversibel

aufgefaßt wurden, konnte die Ökonomie die Natur zur disponiblen

Voraussetzung ihres Handlungskreises machen, indem sie den Natur-

wissenschaften die Verwaltung jener Naturinterpretation überließ.

Am Ende des 20. Jahrhunderts aber sind die Naturwissenschaften zu

einer diametral entgegengesetzten Auffassung gelangt, in der Irre-

versibilität und Instabilität die Hauptrollen spielen. Die Analyse

von Instabilitäten oder Krisen aber ist schon länger das Untersu-

chungsfeld der modernen Ökonomie. Ist möglicherweise die "Naturver-

gessenheit" der modernen Ökonomie nicht ein Zeichen für den Umstand,

daß die Ökonomie zwischenzeitlich mit komplexeren Phänomen konfron-

tiert war als die ältere Naturwissenschaft? Gesetzt den Fall, dies

wäre so: dann würden sich Natorps Forderung nach Wechselwirkung

erst heute erfüllen lassen. Eine ökologische Ökonomie aber, ihrer

theoriegeschichtlichen Genesis bewußt, brauchte die Natur nicht zum

"Mythos" stilisieren.

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Fußnoten

1 - siehe dazu den fundierten Uberblick: 0.Langholm,Price and Value in the Aristotelian Tradition,Bergen/Oslo/Troms¿ 1979; und: derselbe: Wealth and Money in the Aristotelian Tradition, Bergen/0slo/Troms«É 1983, und. derselbe, The Aristotelian Analysis of Usury, Bergen/Oslo/Troms¿ 1984;

2 - 6.W.F.Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a,M.1976; Zusatz zu § 203;

3 - Es dient weiter die hyle/Stoff-eidos,morphe/Form-Topik der aristotelischen Metaphysik als erklärendes Schema.

4 - nach E.Cannan: A History of the Theories of Production and Distribution from 1776 to 1848; Reprint N.Y.1967 (der 3. Auflage von 1917); chap. II;

5" - worin E.Cannan irrt; die Formulierung gigt es bereits in der Überschrift zum I.Buch in Adam Smith's "Wealth of Nations";

6 -siehe hierzu: E.F.Paul: Moral Revolution and Economic Science, Westport/London .1979; •

7 - J.Mill: Elemente der Nationalökonomie, Halle 1824;S.9;

8 - D.Ricardo: On the principles of political economy and taxation, vol.I der Works (ed.P.Sraffa), Cambridge/London/N.Y./Melbourne 1975; S.85;

9 - Ch.Taylor: Die Motive einer Verfahrensethik, in: (Hrsg. W.Kuhlmann) Moralität und Sittlichkeit, Frankfurt a.M. 1986; S.115 f.;

10 - S.T.Lowry: The classical greek theory of natural resource economics; in: Land Economics, vol. XLI, no.3 1965; S.207;

11 - siehe dazu: B.P.Priddat: Die vollständige Erschliessung der Erde durch vernunftgemäßen Gebrauch des Geldes, über John Lockes Versuch einer naturrechtlich fundierten Ökonomik. Frankfurt/M.;Sern;N.Y. 1988;

12 - J.LOcke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (Hrsg. W.Euchner),Frankfurt

a.M.1977; I.Abhdlg. § 21 - §43; II.Abhdlg: § 26;

13 - J.Locke: a.a.O., II § 34;

14 - J.Locke: a.a.O.; II § 48;

15 - J.Locke: a.a.O.; II $ 50;

16 - J.Locke: a.a.O., II § 48;

17 - Lockes Geldtheorie ist eine moralische Legitimation des Geldgebrauches

und eine Inversion der aristotelischen Tradition der Ökonomie.

18 - J.Locke: a.a.O.; I § 86;

19 - J.Locke: a.a.O.; II § 41 - 44;

20 - J.Locke: Essay Concerning Human Understanding, II. Buch, 26. Kap.;

21 - J.Locke.: Essay....a.a.O., IV.Buch, 10.Kap.,9;

22 - J.Locke: Essay...,a.a.O.; dito;

23 - J.Locke: Essay...,a.a.O.; II.Buch, 21.Kap.;

24 - J.Locke: dito;

25 - J.Locke: dito;

26 - J.Locke: dito;

27 - J.Locke: dito;

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28 - In der erkenntnistheoretischen Abteilung seiner Philosophie untersuche Locke "nature's action upon man", während die naturrechtliche Abteilung das Entgegengesetzte zeige - die durch die Arbeit der Menschen ver-mittelte Herrschaft über die Schöpfung (W.Stark: The Ideal Foundations of Economic Thought, London 1944; S.1). Die Erkenntnisprozesse - nature's. action upon man - erscheinen als "active opeeations of things upon the passive mind of man"(dito).Umgekehrt behandeln die Menschen die Natur nach ihren Zweckvorstellungen. Damit die Menschen aber die Natur solchermassen behandeln können, muß sie ihnen passiv, ohne Eigen-

aktivität - als Stoff oder Material - gegenübertreten (dito).

29 - O.Locke: Further Considérations concerning raising the Value of Money, S.131 ff in: J.Locke, The Works of John Locke, vol 5, London 1823;

30 - siehe dazu: A.KUbota: Fondement philosophique de la théorie économique de François Quesnay, S.26 ff. in: derselbe. Essais sur François Quesnay, Tokyo 1960; und auch: H.Rieter: Zur Rezeption der physiokratisehen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft, in: (Hrsg. H.Scherf) Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie I, Berlin 1982;

31 - Marquis de Mirabeau: La science ou les droits et les devoirs de l'homme, Lausanne 1774 (Reprint Aalen 1970), S. XXIX;

32 - F.Quesnay: Allgemeine Maximen der Wirtschaftspolitik eines agrikolen Königreiches, S. 294 ff. inî derselbe, ökonomische Schriften, (Hrsg. M.Kuczynski, Berlin 1976, II. Bd., I.Hbd., S.295;

33 - F. Quesnay: über die Arbeiten der Handwerker, S. 234 ff. in: a.a.O.; S.270 f.;

34 - siehe dazu: F.Quesnay:a.a.O*; S.263 und S.237; und: Marquis de Mirabeau (d.Ä.), Victor de Riqueti: Philosophie rurale, Amsterdam 1764 (Reprint Aalen 1972), 3 Bde., 1. Bd., II. Kap., S.37; an diesem Werk Mirabeaus hat Quesnay entscheidend mitgearbeitet;

35 - F.Quesnay: über den Handel, S.167 ff. in: a.a.O.; S.170;

36 - Marquis de Mirabeau: Philosophie rurale, a.a.O.; S. XXXVI;

37 - F.Quesnay: über die Arbeiten...,a.a.O. ; S.244;

38 - F.Quesnay: a.a.O.; S.237;

39 - F.Quesnay: a.a.O.; S,240;

40 - F.Quesnay: Anaylse du Tableau économique, S.381 ff. in: E.Schneider, Einführung in die Wirtschaftstheorie, IV.Teil, Tübingen 1970; S.387;

41 - F. Quesnay: Uber den Handel..., a.a.O.; S.147;

42 - siehe dazu die frühen ökonomischen Artikel Quesnays, die er für die Enzyklopädie geschrieben hat( Pächter, Getreide, Stuern, Bevölkerung) in: F.Quesnay, ökonomische Schriften, a.a.O., 1. Bd., 1.HBd.,S.1-335;

43 - F.Quesnay: über die Arbei ten. m m f d« â• 0.; S.243;

44 - "Die Werthserhöhung, insoferne sie aus einer körperlichen Veränderung hervorgeht, kann, wie die Verzehrung, nur auf Umgestaltungen, Ver-bindungen und Trennung der auf der Erde vorhandenen Stoffe beruhen, deren Menge im Ganzen, wenn man die Atmosphäre mit einrechnet, unab-änderlich ist" (K.H.Rau, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Leipzig und Heidelberg 1855, S.88); siehe dazu auch: B.P.Priddat: Natur und Ökonomie. Uber das Verschwinden der Natur..aus der ökonomischen Theorie von Quesnay bis Menger, Diskussiosnpapier-Nr.82-am Fachbereich Wirtschaftswissen-schaften der Universität Hannover, Jan 1986;

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45 - P.Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie, Erlangen 1925;

S. 372 f.;

46 - P.Natorp: a.a.O.; S.371;

47 -P.Natorp: a.a.O.; S.370; 48 - Das Erdbeben von Lissabonn 1755 war nicht nur für Goethe (s.Dichtung

und Wahrheit) bemerkenswert, sondern ein Einschnitt in alle theo-dizialen Konzeptionen, die die Welt als Realisation des göttlich Guten denken wollten.Auch die Teleologie der Natur wird erschüttert; ihre "Ruinenhaftigkeit" verbindet sich mit katastrophentheoretischen Konzepten (siehe dazu: H.Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Ffm. 1973; Kap. X, bes. S. 227 ff.).

49 - P. Natorp: a.a.O.; S.369;

50 - P. Natorp: a.a.O.; S.368 f.;

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ÖKONOMIE UND NATUR.

DER GEBRAUCHSWERT DER NATUR. ÜBER H.IMMLERS "NATUR

IN DER ÖKONOMISCHEN THEORIE™.

Hans Immler untersucht in seinem Buch "Natur in der ökonomischen

Theorie" (Opladen 1985) das 'Naturproblem' in der ökonomischen

Theoriegeschichte seit Aristoteles (über Thomas von Aquin, Morus,

Hobbes, Petty, Locke, Smith, Ricardo) bis auf Marx. Allein bei den

Physiokraten des 18. Jahrhunderts findet er eine "Ökonomie, die

sich in Obereinstimmung mit der Natur befindet" (Immler 409).

In den anderen ökonomischen Konzeptionen scheint dagegen das Na-

turproblem abhandengekommen zu sein. Ist aber überhaupt das Natur-

problem der älteren ökonomischen Theorien identisch mit dem der

sogenannten "ökologischen Frage"?

Die "Natur" ist vielfältiger Natur. Darin besteht eine besondere

Schwierigkeit. Immler nennt "Natur ... zunächst die physische Um-

welt der Menschen" (Immler 15). Der Umweltbegriff bezeichnet eine

systematische Differenz von "Welt" und "Nichtweit". "Natur" wird

unter Anwendung des Umweltbegriffes zum Sammelbegriff für alle

Nichtartefakten. Die "Welt" der "Umwelt" ist Artefakt, ein Herge-

stelltes menschlicher Architektur; die "Umwelt" der "Welt" Mate-

rial des Weltenbauhauses oder unverfügbares Vorereignis eines je-

den menschlichen Tuns.

Für die ökonomische Theorie macht sich Immler die Unterscheidung

von W e l t und U m w e l t als Differenz von A r b e i t

und N a t u r zueigen (Immler 15 ff.) wie es im Begriff der

"physischen Umwelt" schon angeklungen ist. Damit aber wird die

"Natur" nicht natur-, sondern systemtheoretisch eingeführt. Der

Topos von Natur und Arbeit ist eine Betrachtungsweise des 19. Jahr-

hunderts: "So arbeitet der Mensch, das Fatum der Vernunft, die

Notwendigkeit der Natur in menschliche Freiheit umzusetzen"

(Trendelenburg 187). Für das 20. Jahrhundert verschiebt der Topos

auf das Verhältnis von Welt und Umwelt. Beide Topoi sind nicht un-

eingeschränkt aufeinander abbildbar und zudem nur mittelbar auf die

Ökonomie bezogen. Eine, wenn auch vage, ökonomische Nomenklatur

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gewinnt Immler durch die Verwandlung des Natur/Arbeit-Verhältnisses

in die werttheoretische Fragestellung des Verhältnisses von Ge-

brauchs« und Tauschwert. Die moderne Tauschwertanalyse sei über

die älteren Werttheorien hinweggegangen» die den Wert "als phy-

sische Qualität gesehen, d.h. sein Entstehen auf physisch-naturale

Quellen zurückgeführt" (Immler 27) habe.

1. P h y s i s c h e o d e r G e b r a u c h s w e r t e ?

Die physische Qualität der Güter und Dinge erhebt sich bei Immler

zu einem Gegenprogramm gegen die werttheoretische Ökonomie. An

Aristoteles wird der Vorrang der Gebrauchswertanalyse für das

'ökologische Problem' herausgehoben: "Die Versorgung mit Gebrauchs-

werten ist nicht mehr das Ziel dieser Produktionsweise (der Chrema-

tistik, die Geld um des Geldes willen erwirbt; B.P.), sondern wird

zum Mittel. Deshalb kann Aristoteles auch davon sprechen, daß die

physischen Gebrauchswerte den wirklichen Reichtum darstellen, da-

gegen die Geldwerte lediglich einen vermeintlichen" (Immler 32 f.).

Diese Gebrauchswertbestimmung ist nur scheinbar ein antikes oder

aristotelisches Theorem. In der Kritik der einseitigen Tauschwert-

analyse bei Ricardo kommt von Immler dasselbe Argument:

"Die physische Natur einschließlich der menschlichen Natur und ihrer Arbeit zeigt sich dann in einer unüberschaubarea Zahl von Qualitäten, die nicht miteinander kommensurabel sind. Dann ist nicht nur die ricardianische Wertlehre voll-kommen hinfällig, es erscheint überhaupt ausgeschlossen, in-kommensurable Qualitäten über eine gemeinsam angenommene Quantität des Werts messen und bewerten zu wollen. Eine Öko-nomie der Naturqualitäten wird sich daher nicht lange damit aufhalten, die physischen Qualitäten in abstrakte Quantitäten umformen zu wollen, sondern muß im Gegenteil die naturalen Eigenschaften begreifen lernen. Dies ist nicht das Ende aller Ökonomie, wohl aber das Ende einer, die sich anmaßt, alles an einer Elle messen zu wollen und dazu noch behauptet, diese Elle wäre absolut" (Immler 236).

Die Gebrauchswertökonomie avanciert zu einer Ökonomie der Natur-

qualitäten. Die wertbildenden Aspekte der Natur sollen dem Tausch-

wert eine Art Rücksicht auf die Natur imprägnieren. Andere - natural-

-qualitative - Maße sollen gelten. Im engeren Sinne rekonstruiert

Immler eine Gebrauchswertökonomie, die sich gegen die Tauschwert-

ökonomie der englischen "Klassik" von Smith und Ricardo wendet und

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wiederholt damit eine Reaktion deutscher Ökonomen des 19. Jahr-

hunderts (s. dazu Friedländer, Wagner 329 ff.). Immler unter-

scheidet am Gebrauchswert einen physisch-qualitativen (Immler 245)

und einen natural-utilitären (Immler 243) Aspekt, und zwar so,

daß "im Gebrauchswert (...) daher ein Naturverhältnis des Menschen

zum Ausdruck" (Immler 246) kommt, wozu die "Eigenschaft des Waren-

körpers ... des Eisens, des Weizens, des Diamanten etc." (Immler

246) erkoren ist. Ist nun eine Gebrauchswertanalyse dieses Typus'

identisch mit einer Art von ökologischer Warenkunde, worin die phy-

sische Herkunft der Sachen ihre Natur ausmacht?

Immler bleibt unschlüssig. Die Naturverkörperung im Stoff der Güter

bezeuge deren Qualität, womit ihre Tauglichkeit, Trefflichkeit bzw.

das Zutagekommen der Natur der Sache gemeint sein soll. Die ältere

Unterscheidung zwischen value und virtue (die auf die scholastische

Unterteilung von bonitas extrinsecas und bonitas intrinsecas zurück-

geht (Taeuber 186 ff.)) geht auf das Verhältnis von innewohnender

Güte der Sache und ihren von außen gesetzten Preis zurück; letztend-

lich auf die arete (Tugend, besser Trefflichkeit), die Dingen wie

Menschen zueignet (die "Tugend des Messers ist seine Schneidfähig-

keit").

Damit ist aber nicht die natürliche Qualität der Sache, sondern ihre

Güte im Hinblick auf den Telos, dem sie dient, gemeint. Die Natur

(der Sache) liegt ja in ihrer Vollendung und nicht im Zugrundeliegen-

den (so wie die Materie (hyle) nicht als bloße Möglichkeit Natyr ist,

sondern erst eine Natur in der jeweiligen Ausformung oder Realisa-

tion (eidos, morphe-Aspekt) erhält). Analysieren wir für einen

Moment Immlers Ari Stotel es rezeption, die dem Stagiriten eine Konzep-:

tion des "physisch-begrenzten Gebrauchswertes" (Immler 33) unter-

stellt. "Das aristotelische Nutzen- und Wertdenken ist gründlich

im natürlichen Lebenszusammenhang verankert" (Immler 32). Immler

nimmt die aristotelische Unterscheidung von Gebrauchs- und Tausch-

aspekt an Gütern (Aristoteles Politik I, 9) als eine, wenn auch

unerklärte, "innere Verknüpfung von Gebrauchs- und Tauschwert"

(Immler 33). Von einer Werttheorie spricht Aristoteles aber nicht.

Er stellt sein Konzept der oikonomik§ auf den Unterschied von natür-

lichem und unnatürlichem Erwerb ab. Aristoteles' Grundunterscheidung

findet bei Immler diese Formulierung: "Widerspruch zwischen dem

physisch-begrenzten Gebrauchswert und dem grenzenlosen Tauschwert"

(Immler 33). Imnler verwendet ein Aristoteleszitat aus der Gigon-

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Obersetzung der Politik (Aristoteles Politik 61 f.; bei Immler 33 f.),

worin der Satz steht, daß diejenigen, die ihr ganzes Interesse auf den

Gelderwerb richten, um Genuß in überfülle zu haben, "gegen die Natur"

handelten. Folglich ist nach Immlers Überlegungen die ktetike chrema-

tistike eine natürliche Erwerbskunst im Sinne des "physisch-begrenzten

Gebrauchswertes". Es bleibt ungenau. Die oikonomia kata physin ist zwar

eine natürliche oder naturnahe Ökonomik, die mehr die Landwirtschaft

(georgike) als den Handel ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt, hat

aber nichts zu tun mit natürlicher Ressourcenbegrenzung, sondern mit

einer Telosgerichtheit. Die oikonomike ist eine Kunst, dem guten und

vollendeten Leben den dafür genötigten Reichtum, d.h. die Mittel zur

Verfügung zu stellen. Die natürliche Grenze der Versorgung entsteht

nicht an Naturmaßen, sondern an menschlich-ethischen Maßsetzungen aus

dem Wissen, was man für das gute und vollendete Leben alles braucht.

Die bloß um des Erwerbes willen geschäftige Praxis aber hat jedes Maß

verloren und unterstellt sich dem Zwang, nur noch erwerben zu sollen

statt in politischer und theoretischer Praxis sich zu bilden und zu

vervollkommnen. Die unendliche Praxis des Gelderwerbes erfüllt sich

in keiner endlichen Form. Eine Praxis aber, die ihr Ziel in sich trägt,

aber nicht die Praxis des guten Lebens (eupraxis) verfolgt, verstößt

nicht nur moralisch gegen die guten Sitten der Polis, sondern zerstört

die gemeinsamen Lebensbedingungen, indem sie den Tugendkodex negiert.

Es geht auch hier wieder um die Natur des Menschen, die in der Vervoll-

kommnung des guten Lebens erst zutagetritt.

Immlers Beschreibung des oikonomia-Systems zeigt eine unfertige Aristo-

teles-Rezeption:

"Im Zentrum steht der Begriff des Bedürfnisses. Zur Bewältigung ihres physischen und sozialen Lebens bedürfen die Menschen der Natur. Ihre eigene Natur bestimmt diese Bedürfnisse. Die Bedürf-nisse können sich auch nicht beliebig von der inneren und äuße-ren Natur des Menschen entfernen. Beispielsweise können die Men-schen wohl auf das Bedürfnis verzichten, Gold und Edelsteine zu besitzen, nicht dagegen auf jenes, das das physische Leben si-chert, also etwa auf Nahrungsmittel. Die Entwicklung der Bedürf-nisse und somit die Bestimmung der Gebrauchswerte bleibt daher einerseits immer an das Naturverhältnis der Menschen gebunden, andererseits ändern sich Bedürfnis, Nutzen und Gebrauchswert jeweils abhängig vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand. Aristoteles gibt nicht nur diese in sich stimmige Erklärung für die Entstehung des Gebrauchswertes, er deutet auch an, daß eine Krise des Gebrauchswerts entstehen könne, wenn nämlich der Nut-zen und Gebrauch nicht mehr vom physischen Bedürfnis, sondern vom unbegrenzten Streben nach Gelderwerb bestimmt werde. Wie anders sollte seine Kritik am falschen Geldreichtum innerhalb der Chrematistik verstanden werden?" (Immler 33)

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Natur wird auch hier aufgeteilt in innere und äußere des Menschen

(in Welt und Umwelt). Die physische Notwendigkeit - nämlich zu le-

ben, Lebens-Mittel zu brauchen - wird zu einem Maßstab aufgeschwun-

gen, der bei Aristoteles in dieser "materialistischen Manier" nicht

zu finden ist. Für die höchste Praxis - das theoretische Leben in

Muße - ist Reichtum eine unbedingte Voraussetzung. Reichtum ist po-

tentiell unbegrenzt, wenn er gemäß der Tugendausbildung des Eigners

gebraucht wird. Nirgends werden "Natur und Reichtum an physisch-

naturale Grenzen" (Immler 34) gebunden. Auch ist die "Grenzlosig-

keit des Geldstrebens" keine Gefahr für "die physische Natur", wie

Immler Aristoteles' Ökonomik zu einer "Modernen Abhandlung zum Kon-

flikt zwischen Ökologie und Ökonomie" (Immler 34) stilisieren möchte.

Zugunsten einer naturalökonomisehen Konstruktion verzichtet Immler auf

die Analyse des ktesis-chresis-Topos, der ein Maß nicht an ökologisch

zu definierendem, physisch-begrenzten Gebrauchswert oder an einer

"umfassenden Kategorsie des physischen Werts" (Immler 34) ermittelt,

sondern in der ethischen Analyse des rechten Gebrauches. Die Grenzen

liegen in der Natur des Tugendcharakters der freien Polites. Damit ist

eine zugrundeliegende Bindung der oikonomia an die Landwirtschaft

nicht geleugnet (Rau 13 f. hielt Aristoteles 1821 noch physiokratische

Neigungen vor), Natur aber keine ressourcial begrenzte Macht, sondern

liegt in den Menschen, die ihre arete-Vervollkommnung erst zu gewinnen

haben. Daß die Menschen Bedürfnisse (chreia) haben, die nicht«beliebig

zu erfüllen sind, macht gerade eine Lehre vom ökonomischen (oikonomike)

nötig, aber keine Ökologie. Ober richtige und falsche Bedürfnisse ent-

scheiden die Sitten und die Tugendhaftigkeit der Polites. Ein natürli-

ches Verhältnis zwischen tierhaftem Bedürfnis und tugendgebildeter Ver-

nunftbegrenzung ist kein Natur-, sondern ein Kulturausdruck, der die

Natur des Menschen in ihrer Entfaltung anspricht. Natur ist das zu

Vollendende, nicht der Anfang.

Die Theorie des "physischen Gebrauchswertes" bleibt in einer sehr vagen

Einheitslehre von Verflechtungen zwischen natürlichen Voraussetzungen

und menschlichen Lebensbedürfnissen (Immler 236) stecken. Vermutungen

über unausgesprochene organizistische Anlehnungen lassen sich hier

nicht verfolgen, auch nicht die andere Vermutung, daß der als "physi-

sche Qualität" verstandene Gebrauchswert dem "intrinsic value" ver-

wandt ist, und zwar als Wertsubstanz. Immler scheint eine Umschrift

der Marxschen Arbeitswertverkörperungs- in eine Naturwertverkörperungs-

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theorie vor Augen zu schweben, läßt sie aber nicht deutlich genug

werden.

Die "physische Qualität" des Gebrauchswertes bleibt ein hypotheti-

scher Begriff.

2. R e p r o d u k t i o n d e r P h y s i o k r a t i e

Immler interessiert sich mehr Tür einen anderen Aspekt des Gebrauchs-

wertes - das Entstehen jener hypothetischen "physischen Qualität aus

" p h y s i s c h - n a t u r a l e n Q u e l l e n " (Immler 27;

Sperrung von mir; B.P.). Diese Betrachtung führt ihn zu der physio-

kra tischen Anschauung der R e p r o d u k t i v i t ä t d e r

N a t u r , und damit zu einer Formulierung, die der "ökologischen \

Frage" näherzukommen scheint.

Die Basis der physiokratisehen Ökonomie ist eine naturale Produktions-

theorie, wonach nur die Natur produziert, die menschliche Arbeit nur

Beihilfe leistet. Eine Arbeitswerttheorie ist undenkbar. Die ökonomi-

sche Societät teilt sich in drei Klassen: 1. die Landarbeiter und

Pächter, die produktiv genannt werden, weil sie die Gaben der Natur

ernten. 2. die Besitzer der Böden (der Adel), 3. alle anderen, die

steril oder unfruchtbar sind, da ihre Arbeit lediglich die Naturstoffe

umwandelt, nicht aber deren Wert erhöht.

Immler weist Quesnay, dem Protagonisten der Physiokratie, ein ökono-

misch-ökologisches System nach, dessen Kreislaufmode 11 der jährlichen h Produktion und ihrer Verteilung (der "tableau économique") als Repro-

duktionsmodell zu verstehen ist, in dem soviel der avances (ein früher

Kapital begriff) für die nächstjährige Produktion aufgewendet werden

müssen, daß die Gesamtproduktion der nationalen Ökonomie auf altem

Niveau gewährleistet bleibt.

Quesnay basiert auf einem usus-fructus-Gedanken. Vom Früchteertrag '

darf soviel genommen werden, daß noch Aussaat für die nächste Frucht-

folge übrigbleibt; die Fruktifikationsfähigkeit insgesamt soll erhal-

ten bleiben, d.h. für die Physiokraten: die Reproduktionsbasis der

Gesellschaft (Immler 330). Nur soviel sterile Produktionen wie die

Reproduktionskapazität der produktiven Landwirtschaft erlaubt ist in

der physiokratisehen Ökonomie erlaubt. Damit ist eine "natürliche

Grenze" der ökonomischen Entwicklung durch die Bindung an ein Frukti-

fikationstheorem gegeben.

Diese Idee der ökonomischen Reproduktionsgrenze ist deutlicher noch

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bei David Ricardo ausgeprägt. Immler bleibt dieser "Naturschranken-

theorie" bzw. dem langfristigen Pessimismus bei Ricardo gegenüber

ambivalent, erwähnt ihn (Immler 220) als Differenz von "Wert und

Natur" (Immler 236): "Je mehr Wert produziert wird, desto weniger

Natur bleibt übrig" (Immler 237), hält dieses aber an anderer Stelle

für eine "seltsame Natursicht Ricardos" (Immler 219). Ricardo zieht

aber nur eine Konsequenz aus dem physiokratischen Makromodell (mit

Malthus' bevölkerungspolitischer Hilfe): die Industrie kann sich

(und mit ihr die Arbeiterbevölkerung) nur soweit ausdehnen, bis der

letzte unfruchtbare Boden bebaut ist und bis dessen Kultivation mehr

Früchte verzehrt als für die Industriearbeiterernährung bei Lohnmi-

nimum verteilt werden kann. Die "Grenzen der Produktion" finden sich

als ein frühes, quasi-ökologisches Theorem im modernen Sinne bei dem

schellingianisehen Ökonomen F. Schmitthenner:

"Es ist eine interessante Frage, ob jemals für ein Volk der Zu-stand eintreten könne, wo seine Industrie, im Besondern Produc-tion und Erwerb, keines Fortschrittes mehr fähig wäre? Wäre die Arbeit das alleinige Princip des Tauschwerthes, so könnte diß natürlich nie der Fall sein, indem mit der Zunahme der Arbeits-kräfte auch eine unbedingte Zunahme der tauschwerthen Güter Statt finden würde. - Kann übrigens dieser Zustand in der Wirk-lichkeit nicht absolut Statt finden, so kann derselbe relativ doch sehr wohl eintreten. Wenn nämlich auch die Kapital- und Arbeitskräfte einer unendlichen Erweiterung fähig sind, so ist diß mit den Naturkräften nicht der Fall, da dieselben ein gege-benes Quantum sind, und ebensowenig mit den Vortheilen der Welt-stellung, die zunächst die Bedingungen des Erwerbes im auswärti-gen Handel sind. Es können in einem Lande die Naturfonds so aus-gebeutet, die Naturkräfte so apprgpriirt und benutzt sein, daß es nicht mehr möglich ist, wo locaie Naturkräfte mitwürken müs-sen, weiter Kapitalien und Arbeit anzuwenden. In diesem Falle, wo die Bevölkerung ihr absolut höchstes Maß erreicht hat, werden natürlich die Kapitalrenten und der Arbeitslohn sehr niedrig stehen. Ebenso können die vortheil haften Conjuncturen einer ge-gebenen Weltstellung so ausgebeutet sein, daß auch Kapitalien in dem auswärtigen Handel angelegt, keine bedeutende Rente mehr ge-ben und auch in dieser Hinsicht die Industrie eines Volkes ihr Maximum erreicht hat. Ein Beispiel dieses Zustandes bietet Hol-land vor der französischen Revolution dar, wo dann auch die Kapi-talien theils zu sehr niedrigen Zinsen standen, theils im Aus-lande angelegt waren." (Schmitthenner, 345).

Schmitthenner wiederholt nur Ricardo, macht aber dessen absolute Ver-

knappung natürlicher Ressourcen als "Gränzen der Production" (Schmitt-

henner 344) sichtbar. Wo national oder "local" natürliche Ressourcen

knapp werden, scheint eine Substitution der rohen Materien oder ihre

technische, chemische oder andere Verwandlung von Schmitthenner nicht

einberaumt zu werden. Das "ökologische" Problem absoluter Naturgrenzen

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wird noch nicht mit einer Theorie der Allokation knapper Ressourcen

aufgelöst. Die Sehe!lingsche Naturphilosophie, ihr Blick für die

Verwandlung der Kräfte, hat den schellingianischen Ökonomen nicht

erreicht. Damit repräsentiert Schmitthenner einen ähnlichen Mangel

an Einschätzung der Produktivkraftentwicklung der modernen Ökonomie

wie Immler, der zum einen die Begrenztheit der physiokratischen

Sichtweise kennt (Immler 423), zum anderen aber die ricardianische

Problemdarlegung weder aufnehmen noch überwinden kann, weil er bei

der Dichothomie von Natur und Arbeit verharrt.

"Es kommt aber darauf an, die Einheit von innerer und äußerer Natur der Menschen als gesellschaftlich produzierendes Sub-jekt zu verstehen. Das soll heißen, daß weder die physische Ordnung noch der arbeitende Mensch jeweils allein das gestal-tende Subjekt sein können. In der "produzierenden Natur" müs-sen vielmehr beide Komponenten der gesellschaftlichen mate-riellen Produktion, die äußere Natur und die menschliche Ar-beitskraft, als tätige und bestimmende Einheit gesehen werden." (Immler 425).

Der entscheidende Mangel - sozusagen ein "naturalistischer Fehlschluß"

der Ökonomiekritik - der Immlersehen Konsequenz ist seine reduzierende

Formel, dernach "innerer Wert" gleich "menschliche Arbeitskraft"

(Immler 425) sein solle. Immler kritisiert die Physiokratie (die er

im Prinzip für rechtens hält), weil sie die Produktion in die "äußere

Natur" verlagere; "sie hat die äußere Natur des Menschen von seiner

inneren Natur getrennt" (Immler 424 f).

Immler wiederholt interessanterweise die Physiokratiekritik der deut-

sehen Ökonomie des frühen 19. Jahrhunderts, die die einseitige Zuord-

nung der Produktionsfaktoren - ausschließlich entweder der Natur (bei

den Physiokraten) oder ausschließlich der Arbeit (bei der englischen

"Klassik") - vermeiden und ein "organisches und synkretistisches"

(Schmitthenner § 244) Konzept der Vermittlung beider Produktivkräfte

anstrebten. Die Redeweise von einer "inneren Natur" des Menschen be-

deutet in diesem Zusammenhang den Versuch, der äußeren Natur und ihrer

produktiven Potenz nicht bloß die Arbeitskraft, sondern alle formie-

renden, auch die geistig-sittlichen wie die geistig-intellectuellen,

Kräfte gegenüberzustellen. Zur Theorie der Produktion gehört fortan

auch das Denken und die Culturentwicklung. (Schmitthenner § 1-4).

In diesem Punkt geht Schmitthenner 1839 über Immler 1985 hinaus, da

Immler einen entfalteten Begriff der "inneren Natur" auf das mensch-

liche Arbeitsvermögen reduziert, statt sie auf die Potenzen der pro-

duktiven Einbildungskraft zu beziehen, die die "natürlichen Grenzen"

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nicht als sinnliche Achtung der Materien, sondern als innovative

Erweiterung ihrer Nutzung im "Gebrauch ohne Verbrauch" bedeuten

könnte.

Im "Gebrauch ohne Verbrauch" - einer scholastischen (uti et frui

Thomas von Aquin)) - wird das usüsfructus-Theorem angesprochen,

demnach jemand eine geliehene Sache nur gebrauchen, d.h. Oberschuß

des fructus' davon ziehen darf, ohne aber die Substanz mindern zu

dürfen. Der von den Physiokraten und, wie ich meine, von Immler her-

vorgehobene naturale Reproduktionsaspekt ist der Idee des ususfructus

nachgebildet. Wie überhaupt die Immlersche Idee mit einem Satz sich

zusammenfassen läßt: daß die Menschen in ihrem ökonomischen Handeln

immer die Bedingungen ihrer künftigen Handlungsmöglichkeiten (des-

selben Niveaus?) mitproduzieren müssen. Formuliert aber Immler damit

nur wieder modernes Naturrecht bzw. dessen Selbsterhaltungsidee, die

er bei den Physiokraten als stoische Konzeption der oikeiosis'zu-

grundeliegen sieht (Immler Teil II, Abs. 4)? Die Selbsterhaltung

setzt voraus die Miierhaltung der Erhaltungsbedingungen bei allen

Handlungen.

"Bei der physischen Reproduktion geht es also darum, für den gesellschaftlichen Produktionsprozeß solche Bedingungen zu schaffen, daß der materielle Reichtum der Natur einschließ-lich der menschlichen Arbeit nicht zerstört, sondern erhal-ten und erweitert wird. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein grundsätzlich neues Verständnis von gesellschaft-licher Produktion, weil die herrschenden industriell-kapita-listischen und industriell-sozialistischen Produktionssysteme den produzierten Reichtum der Gesellschaft wesentlich im Ver-zehr der natürlichen Produktivkräfte und nicht in deren Er-haltung und Erweiterung erkennen." (Immler 426).

Ist aber die E r h a 1 t u n g der Natur und ihrer Produktionsagen-

t e n der ökologischen Weisheit letzter Schluß? Wäre nicht vielmehr

das in der ökologischen Frage angesprochene eigentümliche Verhält-

nis von Physik und Ethik (Picht) eher nichtkonservativ zu be-

trachten? Und zwar im Sinne der Entwicklung der Produktivkräfte des

Denkens, die eine Kunst der politischen Ökologie für die Ökonomie

entfalten, die damit wieder auf ältere Dichotomien von "economic

as a science and as an art" zurückgeführt wird. Denn die Kunstlehre

des ökonomischen ist reserviert für die Probleme der erwägenden Ver-

nunft, die nichts endgültig zu lösen vermag. Die "ökologische Frage"

würde den Handlungsbereich der Kunstlehre erweitern, nicht aber ihn

umkehren.

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Literatur:

Friedländer, F.:

Immler, H.:

Picht, G.:

Rau, K.H.:

Schmitthenner, F.

Taeuber, W.:

Trendelenburg, A.

Die Theorie des Werthes, Dorpat 1852

Natur in der ökonomischen Theorie, Opladen 1985

Das philosophische Problem der Ethik, in: der-selbe, Hier und Jetzt, I, Stuttgart 1981

Ansichten der Volkswirthschaft, Leipzig 1821

National-Oekonomik, in: derselbe: Zwölf Bücher vom Staate, Gießen 1839

Geld und Kredit im Mittelalter, Berlin 1933

Notwendigkeit und Freiheit in der griechischen Philosophie, in: derselbe, Beiträge zur Philo-sophie, Berlin 1855, 2. Bd. (112 - 187)

Wagner, F.: Grundlegung der politischen Ökonomie, Leipzig 1892

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OBER DAS VERHÄLTNIS VON WIRTSCHAFT UND ETHIK IN

ÖKOLOGISCHER HINSICHT.

Der Zusammenhang ist zu befragen, nicht zu postulieren.

Ober das Verhältnis von Wirtschaft, Ethik und Ökologie

vermeint man dieses zu wissen: daß die Ökonomie ein

eigengesetzliches Marktallokationssystem sei, dessen

negative externe Effekte der Produktion wie der Konsum-

tion die Verursachung der ökologischen Probleme. Markt-

wirtschaftliche Regulation der Externalitäten, die In-

ternali sierungen, seien Kompromisse, die aus der Natur

der Sache zu partiellen Lösungen neigen und einen Schä-

digungsrest immer einkalkulieren. Auch seien marktwirt-

schaftliche Lösungen reaktiver Art, die die Antizipa-

tion von Folgewirkungen nicht gewährleisteten. Zwar ist

die Zukunft des ökonomischen Handelns ungewiß, aber die

Folgen dieses Handelns an natürlichen Medien wie Wasser,

Luft und Erde seien mit Mitteln der Naturwissenschaften

in ihren zukünftigen Resultaten zu berechnen. Ober die

Ökologie ist der naturwissenschaftlichen Objektivität

ein Einlaß in die Ökonomie gegeben, was zur Folge hat,

daß die Ökonomie, zumindest in diesen Fragen, mit sta-

bilen (negativen) Erwartungen arbeiten müsse. Da sich

zudem die Ökonomie als unfähig erweise, ökologischen

Problemen adäquat zu begegnen, solle nach anderen ge-

sellschaftlichen Regulationssystemen gesucht werden. Die

Gesellschaft müsse ihre Zwecke, die sie mit der "Natur"

verfolgen wolle - und die ihr durch die naturwissen-

schaftlichen Wertvorgaben definiert würden - , bestimmen

und Normen entwickeln, denen das ökonomische System sich

danach anzupassen habe. Das heißt mit anderen Worten,

daß der ethische Diskurs der Gesellschaft normativ die

"Naturfrage" klären müsse, um dann geeignete Institutio-

nen zur Einhaltung der beschlossenen Normen zu kreieren.

Z.e. meint man, daß der Staat bereits die geeignete

Institution sei, der mit Verboten und Sanktionen die

Normen einhalten lassen könne, zum anderen meint man,

daß die gesellschaftlichen Teilsysteme, die nicht das

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Wohl des Ganzen, sondern ihre eigenen Interessen verfol-

gen, die Normen durch Reflexion ihres Handelns und der

Wirkungen auf das Handeln aller anderen gleichsam selbst-

begrenzend realisieren sollten. Der 1. Vorschlag benutzt

die politische Macht des Staates, der 2. entwickelt die

transzendentale Bedingung einer rationalen Verfassung

gesellschaftlichen Handelns.

Beide Vorschläge sind verschiedenen Abstraktionsgrades

und haben verschiedene Verwirklichungschancen; beide

die Handlungsfreiheiten: der 1. machtpoli-

tisch gegen die erwiesene mangelnde Einsicht der Gesell-

schaftsmitglieder (Meritorisierung), der 2. idealtypisch

aufgrund der verlangten vernünftigen Einsicht der Han-

delnden in die Notwendigkeit ihrer partiellen Interessen-

selbstbegrenzung. Beiden Vorschlägen aber entgeht, daß

zur Abwägung der vernünftigen Zwecke im Naturumgang es

nicht ausreicht, seinen Willen zu bekunden und durchzu-

setzen, sondern daß die Unifikation der volonte generale

das größte Problem darstellt, da nicht allgemein defi-

niert ist, was "Natur", "Schädigung", "Rückwirkung der

Naturschädigung auf die Lebensverhältnisse", d.h. was

"ökologische Probleme" heißen kann. Nicht nur die all-

gemeinen Normen, sondern auch die Regulationsformen ihrer

Anerkennung und Durchsetzung müssen bekannt und akzeptiert

sein. Damit verbindet sich ein zweites Problem. Bei jeder

Abwägung der Zwecke im Umgang mit der Natur sind zugleich

die Kosten zu ermitteln, die jede Alternative erfordert.

Das aber wird die Hauptschwierigkeit sein in der Normen-

diskussion. Solange der ethische Diskurs ohne Berück-

sichtigung der Eingriffe in die materielle Lebenssitua-

tion vonstatten geht, ist die Einsicht vermutlich aller

durchaus zu erlangen. Wenn aber aufgerechnet wird, welche

produktiven Anstrengungen oder konsumtiven Einschränkun-

gen zu leisten sind, welche Sozial Institutionen aufzuge-

ben sind, dann zerfällt die ideale Unifikation des nor-

mativen Diskurses, und die verschiedenen ökologischen

Gefährdungen werden relativiert, auf andere Verursacher

verschoben, nicht zur Kenntnis genommen. Am Problem der

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gesellschaftlichen Regulation ökologischer Beeinträchti-

gungen erscheint unhintergehbar die ökonomische Grund-

problematik: welche Güter in welchen Mengen und welchen

Qualitäten zu welchem Preis, d.h. letztlich: zu welchen

Leistungen? Es ergibt daheraus eine These: ob nicht

die ökonomische Regulation bereits das zu leisten im-

stande ist, was der ethische Vorschlag ihr meint unter-

breiten zu sollen: ein System der rationalen Selbstbe-

grenzung des Handelns? Der Unterschied wäre dieser: daß

die ökonomische Regulation nicht auf die moralische In-

stanz der persönlichen Einsichtsfähigkeit 'des Handlungs-

trägers rückgreifen bräuchte. Das Allokationssystem wäre

ein moralisch entlastetes Handlungssystem in Verfolgung

der ethischen Absicht, gesellschaftliche Normen zu er-

stellen und zu r e a l i s i e r e n . Damit ist nur

dieses gesagt: die ökologische Absage an die Kompetenz

der Ökonomie scheitert an der Unmöglichkeit, ein ordi-

nierendes Regulationssystem zu entwerfen, das Ökologi-

sche Wertpriorität und ökonomische Präferenz in einem

Hand!ungsVollzug bewältigt. Zur Erhaltung der Heteroge-

nität der Zwecke gehört eine Abwägung, die nicht schon

vorentschieden sein darf. Die Debatten zur Frage sozia-

listischer Regulationssysteme und ihrer Effekte für die

Lebensformen sind zu Rate zu ziehen.

Diese Argumentation dient der einleitenden Fragestellung

nach dem Verhältnis von Ökonomik, Ethik und ökologik.

Das Verhältnis ist durch den Gang der Argumentation nicht

festgelegt, nur ist eine Skepsis vorgetragen: ob die

ethische Anfrage an die Ökonomie im Prachtgewand der öko-

nomischen Unbeflecktheit wird auftreten können und wie

die An-Maßung der höheren Werte in ein Maßsystem aller

Werte überführt werden kann. Die Frage i s t ungeklärt,

deshalb zu diskutieren. Die Ökonomie aber tritt gleichbe-

rechtigt in den Diskurs und ist in der Lage, die Frage

nach einer ökologischen Ökonomie aufzunehmen, ohne die

Vorleistung der "Schuld", d.h. der Sache nach ungerecht-

fertigter Selbstbegrenzung, auf sich nehmen zu müssen.

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Daß die ökonomische Wissenschaft die ökologische Frage

nach den Maßstäben ihrer Sache bemißt, ist selbstver-

ständlich. Das Problem beginnt, wo sie mit ihren Maß-

stäben die Sache des ökologischen nicht zu fassen ver-

steht. Darin geht sie aber konform mit allen anderen

Wissenschaften.

In diesem Zusammenhang gewönne eine ökologische Ökono-

mie eine Bedeutung, indem sie die Naturbedingungen ihrer

zukünftigen Ökonomiefähigkeit analysiert und prüft, in-

wieweit die Marktverfassung dies gewährleistet. Leistet

sie es nicht, werden neue Institutionen gebildet, und

die ethische Frage, welche Verhaltensnormen diese Insti-

tute verlangen sollen, gewinnt Raum an der Frage, welche

Regulationssysteme hierfür bereitstehen könnten.

Der ethische Diskurs in der Ökonomie aber ist womöglich

nicht unabhängig von der Frage zu führen, welche Lebens-

formen zu welchen Kosten, d.h. zu welchem Verzicht auf

andere Lebensaspekte, gewählt werden k ö n n e n .

Wie gelebt werden s o l l t e , scheint abhängig zu wer-

den von der Frage, wie die Verantwortung für die Folgen

aktueller Entscheidungen heute bereits verteilt wird.

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4. EDITORISCHE NOTIZ

Die vier Aufsätze stehen in wechselseitig erläuterndem Zusammen-

hang. Der erste Aufsatz versucht eien allgemeine Kritik der öko-

logischen Infragestellung , wie sie häufig an der Ökonomie geübt

wird. In seinen historischen Passagen verweist er auf den zweiten

Aufsatz, der in der Entwicklung des theoriegeschichtlichen Problems

genauer zu werden versucht. Der dritte aufsatz bezieht sich auf die

im ersten angesprochene Frage, ob eine "Gebrauchswertökonomie" das

ökologische Fundament der Wirtschaftstheorie werden könnte. Der

vierte Aufsatz verhält sich in systematischer Absicht zur Relation

Ethik/Ökologie/Ökonomie.

Zu den ersten drei Aufsätzen gibt es ihnen korrespondierende andere,

die hier angeziegt werden sollen,

ad 1)

- a) eine ( noch vague ) Vorfassung der Georgescu-Roegen-Kritik siehe in: "Boden als Produktionsfaktor in der ökonomischen Theorie", in: Bodenschutzpolitik und ökologische Wirtschafts-forschung, IÖW-Schriftenreihe Nr.6, 1987;

- b) zu einem anderen und weiter gefaßten Aspekt der Kritik an Georgescu-Roegen siehe: "Natur-Stoff und Wert-Form. Zur Modernisierung der Naturgeschichte der Ökonomie". Ver-öffentlichung Herbst 1988 in: (Hrsg.) R.P.Sieferle, Selbst-verständnisse der Moderne.

- c) in Hinblick auf die allgemeinen Perspektiven siehe: "Natur-oder Modernitätsschutz ?" in: Priddat/Meran/Zundel: ökolog-ische Ethik der Ökonomie ?, IÖW-Schriftenreihe Nr.7,1987;

- d) "Ist die Moral das letzte Refugium der Ökonomiekritik? 11

S. 7 in: IÖW-Informationsdienst Nr.1, April 1987;

ad 2) ad 3)

- a) zum "Gebrauchswertaspekt" der "romantischen Ökonomie" siehe:

"Poesie der Ökonomie, über die poietische oder romantische Ökonomie" in: POIESIS, Nr.2, 1986;

- b) über den Gebrauchswertaspekt in der deutschen Nationalökonomie im Allgemeinen: "Die politische Wissenschaft von Reichtum und Menschen. Aristotelische Aspekte in der deutschen National-ökonomie des 19. Jahrhunderts", erscheint Frühjahr 1989 im Archiv für Sozial- und Rechtsphilosophie.

über die Herkunft der vier Aufsätze folgendes:

ad 1) - Referat auf einem kleinen Symposion ( mit Prof. H. Immler) der "Forschungsgruppe Soziale Ökologie" (Frankfurt a.M.) am 24.6.1987. Hier Erstveröffentlichung.

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ad 2) - eine völlig überarbeitete, ergänzte und in Partien neu konzipierte Fassung des Diskussionspapiers Nr.82 /Jan, 1986 des FB Wirtschaftswissenscahften der Universität Hannover ( Vortrag bei Prof Dr. K.H.Hennings), "Natur und Ökonomie"; hier Erstveröffentlichung der Neufassung;

ad 3) - Der dritte Aufsatz entstammt den "Miszellen" (Diskussions-papier Nr. 17/ 1986 aus dem Institut für Politisceh Wissen-schaft der Universität Hamburg); seine Veröffentlichung dient hier dazu, die Kritik an H. Immlers Konzeption auch einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen;

ad 4) - Der vierte Aufsatz war zuerst veröffentlicht in: "Was ist -was kann ökologische Wirtschaftsforschung leisten?" Material-ien zur Arbeitstagung der VÖW ( 20. - 22.6.1986 in Wuppertal). Da diese Materialien nicht als Diskussionsschrift des IÖW/VÖW erhältlich sind, erfolgt hier der 2. Abdruck mit dem selben Argument wie bei (3).

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Publikationen des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung Das IÖW veröffentlicht die Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit in einer Schriftenreihe, in Diskussi-onspapieren sowie in Broschüren und Büchern. Des Weiteren ist das IÖW Mitherausgeber der Fach-zeitschrift „Ökologisches Wirtschaften“, die allvierteljährlich im oekom-Verlag erscheint, und veröffent-licht den IÖW-Newsletter, der regelmäßig per Email über Neuigkeiten aus dem Institut informiert.

Schriftenreihe/Diskussionspapiere 

Seit 1985, als das IÖW mit seiner ersten Schriftenreihe „Auswege aus dem industriellen Wachstumsdilemma“ suchte, veröffentlicht das Institut im Eigenver-lag seine Forschungstätigkeit in Schriftenreihen. Sie sind direkt beim IÖW zu bestellen und auch online als PDF-Dateien verfügbar. Neben den Schriftenrei-hen veröffentlicht das IÖW seine Forschungsergebnisse in Diskussionspapieren – 1990 wurde im ersten Papier „Die volkswirtschaftliche Theorie der Firma“ diskutiert. Auch die Diskussionspapiere können direkt über das IÖW bezogen werden. Informationen unter www.ioew.de/schriftenreihe_diskussionspapiere.

Fachzeitschrift „Ökologisches Wirtschaften“ 

Das IÖW gibt gemeinsam mit der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsfor-schung (VÖW) das Journal „Ökologisches Wirtschaften“ heraus, das in vier Ausgaben pro Jahr im oekom-Verlag erscheint. Das interdisziplinäre Magazin stellt neue Forschungsansätze in Beziehung zu praktischen Erfahrungen aus Politik und Wirtschaft. Im Spannungsfeld von Ökonomie, Ökologie und Gesell-schaft stellt die Zeitschrift neue Ideen für ein zukunftsfähiges, nachhaltiges Wirtschaften vor. Zusätzlich bietet „Ökologisches Wirtschaften online“ als Open Access Portal Zugang zu allen Fachartikeln seit der Gründung der Zeitschrift 1986. In diesem reichen Wissensfundus können Sie über 1.000 Artikeln durch-suchen und herunterladen. Die Ausgaben der letzten zwei Jahre stehen exklusiv für Abonnent/innen zur Verfügung. Abonnement unter: www.oekom.de.

IÖW-Newsletter

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Ausgabe 2/2010

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