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Leseprobe Dath, Dietmar Heute keine Konferenz Texte für die Zeitung © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2501 978-3-518-12501-4 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · Wahn und Taktik, Dreck und Werbung, Politik und Idiotie verminten Bezirke schreiben und schreiben lassen, faßt neues Zutrauen zu der stimmungsvollen Idee, daß

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Leseprobe

Dath, Dietmar

Heute keine Konferenz

Texte für die Zeitung

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2501

978-3-518-12501-4

Suhrkamp Verlag

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edition suhrkamp 2501

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»Ich mache jetzt nur noch Scheiße«, wird Arno Schmidt in einem Tage-bucheintrag seiner Frau zitiert; gemeint sind: journalistische Texte fürZeitungen. Auch Dietmar Dath, Autor von inzwischen acht Romanen,kennt die Arbeit für den Tag. Er hat seit 1990 einen ganzen Haufen – nun:journalistische und literarische, satirische und essayistische Texte veröf-fentlicht und sich damit eine eigene Fangemeinde erschrieben. Wie kaumeinem anderen gelingt es ihm, Buffy und Brecht, Popkultur und Philoso-phie zu verknüpfen. Von Heavy Metal und Drogenpolitik über Wissen-schaftskritik bis hin zu Marx, Madonna und anderen bedeutenden, abervergessenen Gestalten der Geistes- und Kulturgeschichte des zwanzig-sten Jahrhunderts reicht Dietmar Daths Themenspektrum. Heute keineKonferenz versammelt eine Auswahl seiner besten Artikel, eingeleitetvon einem Vorwort des Autors.

Dietmar Dath, geboren 1970, war Chefredakteur der Spex (1998-2000)und Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2001-2007); erlebt als Schriftsteller und Übersetzer in Freiburg und Frankfurt. Zuletzterschienen im Suhrkamp Verlag Die salzweißen Augen (2005) und Dirac(2006).

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Dietmar DathHeute keine Konferenz

Texte für die Zeitung

Suhrkamp

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Für Andreas

edition suhrkamp 2501Erste Auflage 2007

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der

Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in GermanyISBN 978-3-518-12501-4

1 2 3 4 5 6 – 12 11 10 09 08 07

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Inhalt

Vorwort

Heute keine Konferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Sexyzität

Ist denn gar nichts mehr heilig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Zeitvertrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Andrea Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Arschficksong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Weltkrieg

Anschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Was wir umbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Du bist ein geschlagener Hund im Hagel . . . . . . . . . . . . . 61Marszionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Roma Locuta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Altvaterlandsverrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Le Pöp

Der Pop und die Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Eine ganz schlimme Platte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Froh, wie seine Sonnen fliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90Phil Lynott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

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Die wo so singen tun, wie sie der Schnabelgewachst hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Das erste Konzert, auf das ich mit AndreasPlatthaus gehen durfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Destiny’s Child . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110Diederichsen’s Child . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114Der weise Pfau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Redigat

Nervenkostüm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Der lange deutsche Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Horror

Die drei Drogen der drei Damen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Falsches Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141Eat This . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Uralte Sünden in den Senken der Seele . . . . . . . . . . . . . . 157

Madonna

Sie malt die Nacht mit Licht an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

SF

Nullstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Brian Aldiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Stammvater aller Androiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Skiffy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Französische SF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

6 Inhalt

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Jules Verne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215Karl Schroeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222John C. Wright . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Der Mann von morgen war eine Frau . . . . . . . . . . . . . . . 226

Mathematik und Physik

Stephen Hawking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235Die Fields-Medaille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242David Corfield . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Schauspielerinnen

Amber Benson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259Hillary Rodham Clinton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261Dann trete ich eben im Moulin Rouge auf . . . . . . . . . . . 263Nackte, eine Treppe herunterpurzelnd . . . . . . . . . . . . . . 275

Marx

Revolutionsstau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283Der dritte Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289Wer Zukunft zeugt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295Lumpenliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302Über Kaputtmachbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

7Inhalt

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Der arme Teufel lebt noch in dem Wahn,ein Weltblatt zu redigieren. Man vergegenwärtige sich,daß so etwas immerhin wirklich auf einemPariser Boulevard zu kaufen ist.

Karl Kraus, »Titel, Schreie und Anmerkungen der Redaktion«

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Vorwort

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Heute keine KonferenzEin Bildungsromänchen

1. Raus

Es gibt fast keine Schwierigkeiten, die man nicht mittelsDavonlaufen erträglicher machen kann (Probleme löst manso natürlich nicht, aber auf Lösungen kommt es in derPraxis selten an). Als der Verfasser einsah, daß das auchfür seine immer verwickelter werdenden Beziehungen zumApparat galt, kehrte er dem Apparat den Rücken, dankbarund ohne Reue.Wenn man sich einer Institution zur Verfügung stellt, dieRedner oder Schreiber beschäftigt, greift die Regel: »Wer Agesagt hat, darf nicht überrascht tun, falls jemand von ihmverlangt, auch noch B zu sagen.«Man büßt bei jedem derartigen Schritt Freiheiten ein undgewinnt im Tausch Erfahrungen. Das ist keine Frage vonMut oder Tapferkeit, sondern eine Geschicklichkeitsauf-gabe: Erkenne ich mich noch wieder, wenn ich mir dieHände schmutzig gemacht habe, oder sind die Hände daseinzige, was ich bin? Wer es mit der Hygiene hat, soll Arztwerden.

Der Verfasser hatte beim Eintritt in den Apparat zuallererstdie Freiheit eingebüßt, sich selbst zum bevorzugten Me-dium seiner Arbeit zu machen. In Dietmar Daths Romanenund Erzählungen kommt er als »Martin Mahr«, »Robert

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Rolf«, »David Dalek« vor, als ein Brennglas, eine Linse fürdas Mitzuteilende, unterschiedlich geschliffen, je nach denopportunen Spielarten der Selbstbezichtigung, der Selbst-erhöhung oder Selbsterniedrigung, die einen gegebenenZweck erfüllen. Gesagt wird da, wenn auch oft indirektund meistens ziemlich unwahr, immer dasselbe: »ich«.

»Ich« sagen: Das macht man im Apparat kaum; wo es dortdennoch vorkommt, erkennt man es leicht als Ausnahme(zum Glück, denn sonst unterläuft den Facharbeiterinnenund Ingenieuren dieses Beschäftigungszweigs schnell diebeißende Sorte Intimitätsterror und Kumpelkäse, die nichtnur im deutschsprachigen Raum die Boulevardpublizistikder letzten fünfzehn Jahre so unausstehlich gemacht hat).Der Apparat will nämlich keine Kunst produzieren, jeden-falls nicht offen, höchstens als stillvergnügt wahrzuneh-mendes Nebenher. Für Kunst gilt, was der Apparat offiziellnicht gelten lassen darf, »die gegen alles resistente Evidenz:ohne Textich geht es nicht« (Rainald Goetz). Der Apparatfordert: Es muß auch ohne gehen. Nimm dich zurück. Stelldich still. Behaupte, was du willst, aber verzichte darauf,dich zu behaupten.

Henne, Ei?Dank Darwin wissen wir Bescheid: Das erste Huhn istaus einem Ei geschlüpft, welches ein Noch-nicht-so-ganz-Huhn gelegt hatte. Beim Verfasser lief’s ganz ähnlich: DerNoch-nicht-so-ganz-Verfasser, ein Geschichtenerfinder, hatihn hervorgebracht, damit es etwas Neues gebe.Manchmal muß man über den Verfasser lesen, er sei einJournalist, der Schriftsteller geworden ist. Das stimmt nicht:

14 Vorwort

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Bevor ich der Verfasser wurde, war ich längst Erzähler. Dererste 1989 in einer Zeitschrift veröffentlichte, mit meinemNamen gezeichnete Text war eine als Fiktion gekennzeich-nete Phantasie; und bei der Tageszeitung habe ich 2001 miteinem Märchen über Leibniz im Jenseits angefangen.

Das größte Problem mit dem Resonanzraum »Ich« alsSchreibmedium, ob in Rolf-, Dalek- und Mahr-Verklei-dung oder gleich in der ersten Person Singular, schien demProto-Verfasser vor seinem Eintritt in den Apparat das,was bei Hegel »das schlechte Besondere« heißt: die bei sol-chen Texten immer naheliegende Mißdeutungsmöglich-keit, hier stelle jemand auf Unmittelbarkeit ab, wolle aufkruden Subjektivismus hinaus, Individualromantik.Das Spontane und nicht Vermittelte als das Beliebige: Bittenicht.Er wollte vielmehr ja Wahrheit, nicht Geständnisse, erwünschte sich ein Leben unterm Gesetz der Produktivi-tät, nicht unter dem der Authentizität. Also suchte er baldnach Mitteln und Wegen, mit der ganzen Ichsagerei undallen sich daraus ergebenden notwendigen schlechten An-gewohnheiten sichtbar und folgenreich so umzugehen, wiedas Gayatri Chakravorty Spivak allen Intellektuellen vor-sorglich für sämtliche heiklen Aspekte ihres Treibens emp-fohlen hat: »Übe die fortwährende Kritik an allem, was dunicht nicht wollen kannst.«

Was der Noch-nicht-ganz-Verfasser da suchte, waren Er-fahrungen mit gesellschaftlich konzessionierter Objektivi-tätsanmaßung. Die bis dahin vereinzelt vor sich hin spre-chende erzählerische Privatsprache galt es weltadäquaten

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Belastungsproben auszusetzen, sie mit antiprivaten Datenanzureichern und damit einen gesunden Wirklichkeitssogherzustellen – »mit fremden Gehirnen denken« (Brecht),»growing up in public«, »learning by doing«.

Die geeignete Maschine, um die gesuchten Situationen, Zu-stände und Ergebnisse herzustellen, war, so nahm ich an,als ich mich entschloß, nicht mehr einfach ich zu sein, son-dern der Verfasser, der Apparat.Diese Annahme stimmte.

Sechs Jahre lernte der Verfasser also bei der Frankfurter All-gemeinen Zeitung jeden Tag Nützliches: wie man eine Seiteanschauen muß, damit sie verrät, ob sie funktioniert; woherdie kleinen Bilder kommen; was Hingabe und Pflegschaftbei obskursten Meldungen und völlig verqueren Ansichtenbedeutet; wie der kluge Kustos und die umsichtige Kurato-rin ein Ressort zum Denken zwingen, das eigentlich zu-nächst nur aus Nachrichten besteht, nicht aus Gedanken.Das kostbarste Gut der Presse ist die Ressortautonomie;man möchte sie selbst den Myrmidonen bei BILD nichtwegnehmen, obwohl es Überwindung kostet, sich einzu-reden, ein vernünftiger Mensch könnte es nötig haben, imUmfeld der »Post von Wagner« und ähnlicher Abscheu-lichkeiten eine Leidenschaft für den Sport oder die Kritikan der Kanzlerin zu verwirklichen.

Wer einmal Gerhard Stadelmaier, Michael Hanfeld, DieterBartetzko oder Verena Lueken beim Beschießen der Thea-ter-, Film-, Architektur- oder Medienwelt mit Textideenbeobachten durfte; wer gesehen hat, wie sie über diese von

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Wahn und Taktik, Dreck und Werbung, Politik und Idiotieverminten Bezirke schreiben und schreiben lassen, faßtneues Zutrauen zu der stimmungsvollen Idee, daß noch imgeistverlassensten Spätestkapitalismus jeden Tag etwaswirklich Neues passieren kann.Diese Leute machen, sobald sie Zeitungstatsachen überTheater, Medienzirkus, Stadtplanung und Film erzeugen,selber Theater, Medienzirkus, Stadtplanung und Film, je-denfalls für verbohrte Literarizisten wie den Verfasser, denam Text nichts so sehr interessiert wie eben der Text. Mußder Verfasser dazusetzen, daß die Feuilletons der Teufelholen wird, wenn es im Publikum einmal keine Literarizi-sten mehr gibt?

Man findet auch dann, wenn man, wie der Verfasser, demprimär auf Aktualität setzenden Argument als Form grund-sätzlich mißtraut, weil es für natürlich und triftig ausgebenmuß, was gemacht und erdacht ist, sehr gern heraus, wie all-gemeingültig man Selbstgemachtes und Erdachtes ausse-hen lassen kann und wie man gegen den Widerstand dervom Beruf erzwungenen Plötzlichkeit ruhig und gefaßt anlängerfristigen Schreibabsichten festhält.

Nach sechs Jahren aber änderte sich die Lage.Das Experiment war ja unternommen worden, um dasTextich daran zu hindern, im eigenen Saft zu verschmoren.Abgeschafft werden sollte es nicht. Das jedoch drohte ihmplötzlich, aus objektiven Gründen, die eher früher als spä-ter ins Subjektive durchschlagen mußten.

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Ein dem Eintritt ins Apparatgeschäft recht ähnlicher, frü-herer Versuch derartiger Reibungserzeugung, die Arbeitbei der Popzeitschrift Spex, war für den Proto-Verfasserwenig lustig ausgegangen: Im quälend langen zweitenHalbjahr 1999 saß ich mit Kolleginnen und Kollegen, dieich schätzte, immer wieder in Konferenzen zusammen, umdort die Feinjustierung der Vermittlung zwischen denAnforderungen des Zeitschriftenformats einerseits und deneigenen Welterschließungs- und Denkabsichten anderer-seits auszuhandeln. Das wurde schließlich zur Tortur, weildas Heftformat als solches, sein stures Bedientwerdenwol-len, der ganze gigantische Windkanal aus Anzeigen undPlattenveröffentlichungsterminen, plötzlich dem Blick aufDinge im Weg stand, die ich herausfinden, beschreiben underklären wollte (sie waren sämtlich von einer Art, die nichtfür sich geltend machen kann, daß ihre Wichtigkeit demKiosk einleuchtet).Deshalb generierte die Arbeit im Zeitschriftenrahmen plötz-lich keinen produktiven Widerstand mehr, an dem sichirgendwelche Textforschungsverfahren hätten schärfen las-sen, sondern fühlte sich nur noch wie ein endlos abwech-selnd wiederholtes Anhäufen und Abtragen lähmenderHindernisse an.Tagesordnung, das hieß nicht mehr Sammlung und Zuspit-zung, sondern Ablenkung, Verfransung, Verzettelung, Ter-minkonfetti.

Bei der F.A.Z. dauerte es länger, bis dasselbe passierte.Das lag vor allem daran, daß es um mehr ging als einen Aus-schnitt der Interessen, die man haben kann. Die Zeitungführt das Allgemeine nicht umsonst im Namen; die Rubri-

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ken in diesem Buch vermitteln hoffentlich einen Begriffdavon, wie groß das Terrain ist, das man für so ein Feuille-ton beackern darf.Weil aber die spezifische apparatkonforme Abstraktions-leistung, die den jeweiligen Schreibgegenstand ins Allge-meine einbindet, eine wesentlich andere ist als die, auf diedas Erzählen gegründet ist, war auch im Apparat der Au-genblick nicht zu vermeiden, an dem es Zeit wurde, auszu-sprechen, was man bei Trennungen unter solchen Umstän-den sagen muß: Es liegt nicht an Dir, Schatz, Du bleibst dieLesbe meines Liebens, aber ich brauch jetzt mal dringendein bißchen Zeit für mich und meinen hochvernünftigenIrrsinn; bevor das mit uns hier zum ungesunden Automa-tismus wird, zur falschen Routine, vulgo Dummheit.

2. Rein

Der geeignete Nothelfer für Erzähler, die sich nicht einfachmit den Selbstverständlichkeiten ihres Erzählerstatus zu-friedengeben wollen, Charles Dickens, hat als Journalistfast so uneinholbar maßstabsetzend gewirkt wie als genia-ler Comic-Book-Romancier und in drei Titeln zu journa-listischen Gelegenheitsschriften dankenswerterweise allesbenannt, worauf es bei dem Job ankommt, um den es hiergeht: »The Amusements of the People«, »Ignorance andIts Victims« und »Court Ceremonies«. Erstens das Unter-haltsame, zweitens das Wissenswerte (gegen alle von denMächtigen dieser Welt bezahlte und betriebene ständigeStörung des Ringens der Verarschten um Übersicht) unddrittens das Pompöse. Also schön.

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Wer sich für den anstrengenden, spaßigen, odiosen, wichti-gen, albernen und fordernden Job entscheidet, einer infor-mierten, das heißt: von den Stunts ihrer Lieblinge zwischenAusstellungskritik und Präsidenteninterview stündlich neuverwöhnten Öffentlichkeit Interessantes, Unterhaltsamesoder Gescheites einzureden, sollte selbst möglichst nichtsSagbares jemals für völlig unbestreitbar halten.Es tut für die Qualität der Umsetzung gesunden Weltzwei-fels in gute Texte und Bilder nichts zur Sache, ob das, wasman den Leuten am Ende vorführt oder einredet, die blü-tenreine Wahrheit ist oder etwas ganz anderes.Schade um die Moral, aber so sieht’s aus.Die Gründe, die unsereins Vorführer und Einrednerinnendazu bestimmen, unser Herz an möglichst wenig von demzu heften, was wir da so behaupten, sind rein formaler Na-tur. Sie haben mit Aufmerksamkeit als solcher zu tun, unse-rer und der aller anderen; Interesse an Wahrheit wie Lüge,bei Gerechten und Ungerechten.Wer Nachrichten und Meinungen besorgt, muß zwar sinn-lich erfahrbare Gewißheiten in allen Größenordnungen,Farben und Geschmacksrichtungen verteilen können, darfdenen dann aber selbst nicht aufsitzen; sonst geht para-doxerweise sofort die sogenannte Glaubwürdigkeit flöten.Das Publikum glaubt nämlich nur denen, die es auch be-schwindeln können.Wer aus lauter Anstand immer bloß die Wahrheit sagenkann, hat nichts zu sagen.

Davor fürchten sich sämtliche Journalistinnen und Publi-zisten, die ich kenne, besonders die guten – lieber einmalaus Hochstapelei danebengelangt als aus ehrlicher Über-

20 Vorwort