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Leseprobe Meier, Gerhard Land der Winde Roman Mit einem Nachwort von Werner Morlang © Suhrkamp Verlag Bibliothek Suhrkamp 1268 978-3-518-22268-3 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag · zen Schimmel zu reiten – sei Kunst, sagte unsere Enke-lin, als sie fnf, sechs Jahre alt war. ... unter dem Baum des Lebens,alsdieSchlangederEvagebot,vondessenFrc

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Leseprobe

Meier, Gerhard

Land der Winde

Roman

Mit einem Nachwort von Werner Morlang

© Suhrkamp Verlag

Bibliothek Suhrkamp 1268

978-3-518-22268-3

Suhrkamp Verlag

SV

Band 1268 der Bibliothek Suhrkamp

Gerhard MeierLand der Winde

RomanMit einem Nachwortvon Werner Morlang

Suhrkamp Verlag

Das Nachwort wurde der vorliegenden Ausgabe 2007 hinzugef�gt.

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990, 2007Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyErste Auflage 1997

ISBN 978-3-518-22268-3

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Land der Winde

Der Mensch, vom Weibe geboren,lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe.

Hiob

»Viele meiner Kollegen waren Macher. Und Gemachtesist leichter nachzuvollziehen. Ichwar einWesen, das ausderM�digkeit kam.Vielleicht kommt auch dasMaßlieb-chen von dort?W�hrend viele meiner Kollegen Fl�sse ausmaßen, Seen,Tiefebenen, Historienbilder, H�user und Herzen, zuschweigen von den Wegen, die zur�ckzuf�hren h�tten(ins Paradies), schwang ich mich auf den schwarzenSchimmel, um hinter die sieben Berge zu entkommen,ins Sneewittchenland sozusagen; denn auf dem schwar-zen Schimmel zu reiten – sei Kunst, sagte unsere Enke-lin, als sie f�nf, sechs Jahre alt war.Ich hatte Pferden oft zugeschaut, den gewçhnlichen, vorallem wenn ich die Grippe hatte. Es waren die Pferdeunseres Nachbarn, der sich erh�ngte, als er mit ihnennicht mehr zu Rande kam. Vier Wochen sp�ter wurdeauf der großen Matte des Eierh�ndlers ein Fest veran-staltet, nicht ihm, sondern denVerwandten seiner Schw�-gerin zu Ehren. Wobei der Vollmond �ber der von in-nen erleuchteten, rot-weiß gestreiften Festh�tte stand,was dem Ganzen etwas Zirkushaftes gab, untermaltvon Trachten- und Volksliedern.Manchmal stellte ich auf den B�uchen besagter PferdeDrehbewegungen fest, worauf die Pferde emporspran-gen, an der großenMatte des Eierh�ndlers entlanggalop-pierten, die Kçpfe herumwarfen, so daß anzunehmen

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war, die Pferde kçnnten Gl�ck produzieren in ihrenB�uchen, und f�r den Eigenbedarf.Ich ertappte sie auchbeimMeditieren, ausgerichtet nachOsten hin, nach dem Reich Kaiser Franz Josephs also,wo es die Reiterheere gab, wie es im Himmel ein Heerauf weißen Pferden gibt.Kunst ist – auf einem schwarzen Schimmel zu reiten.Das glaubte ich meiner Enkelin. Ich habe Kindern im-mer geglaubt.Beim Reiten auf dem schwarzen Schimmel wurden dieFl�sse ausgelçscht, die Seen, Tiefebenen, Historienbil-der, H�user und Herzen, auch die Inseln mit den Lie-bespaaren darauf und den Seerosen darum herum, auchder Nebel �ber den Tiefebenen, der zuweilen aufstiegund als duftiger Schleier dahinzog, �ber Skabiosen mitKohlweißlingen darauf.Hinter den sieben Bergen dann lag einem eine Welt zuF�ßen, die etwas von Caspar David Friedrichs Bçhmi-scher Landschaft an sich hatte, mit einemKlang dar�ber,der vonWeingl�sern herzur�hren schien, deren R�ndermit feuchten Fingern bestrichen wurden, von Witwenbeim Leichenmahl ihrer M�nner.Reglos, als H�uptling Seattle gleichsam, mit dem Wel-tenwind im Gesicht, ging einem auf, daß die großeMatte des Eierh�ndlers mit dem Festzelt darauf, demrot-weißen, und dem Mond dar�ber, dem vollen, unddem Reich dahinter, in das die Pferde des Nachbarn zustarren beliebten, nur ein Abguß sein konnte der großenMatte des Eierh�ndlers, die einem hier, im Sneewitt-

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chenland, zu F�ßen lag, mit dem Festzelt darauf unddem Reich Kaiser Franz Josephs dahinter, welches denKafka hervorgebracht hatte, den Anton Bruckner, Jo-seph Roth, der seinerzeit den Untergang dieses Reichesmit Noblesse festgehalten hatte, im Radetzkymarsch,einem Werk von kristallenem Klang, gewissermaßen.Mit einer Skabiose im Maul und im Galopp brachte ereinen wieder heim, an den Rand der großen Matte desEierh�ndlers, die eine Zeitlang nur noch Hahnenfußhervorgebracht, was ihr aber einen fernçstlichen Ein-schlag zu geben vermocht hatte.Und man hatte dann wirklich den Eindruck, die Welthier rieche nach Gips . . .Die Welt existiert erst, wenn sie formuliert, in Spra-che gefaßt vorliegt. Darum wurde ihr wohl auch gleichdie Bibel nachgeliefert, worin sogar geschrieben steht:›Im Anfang war das Wort.‹ Und weil die Welt sich lau-fend ver�ndert, muß sie laufend neu formuliert werden,was den �berhang an Formuliertem erkl�ren mag, dernicht eitel Freude bereitet, denn wer mçchte schon allesnachgetragen haben? Zum Beispiel das von der großenMatte des Eierh�ndlers, mit rot-weiß gestreifter Fest-h�tte darauf und dem Vollmond dar�ber und den Pfer-den daneben und dem Reich Kaiser Franz Josephs da-hinter, wobei die Festh�tte, wie gesagt, erleuchtet undvon Volksges�ngen durchdrungen war . . .Amrain war das Zentrum der Welt. Ich hatte es festge-stellt, als ich an einem Morgen und sonntags zur Postging, verh�ltnism�ßig fr�h amTag also,undAnfangNo-

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vember. Auf dem Heimweg kam ich an der Brauereivorbei. Die B�ume ließen die Bl�tter fallen. Der Windwirbelte sie herum.Die Toten, das heißt, der alte Fabrik-schmied, mein Schulkamerad (Kaufmann und Klavier-spieler, Chopinspieler), der massige Wirt der Brauerei,der ChirurgDr. Ramser und der Schuhmacher, der �berviele Jahre seines Lebens Oberturner war, alle dieseDahingegangenen schauten den Bl�ttern nach. Und ichf�hlte, sehr heftig eigentlich, daß das nun das Zentrumder Welt sein mußte: Amrain, insbesondere die Braue-rei zu Amrain, samt den H�usern darum herum, demBoden darumherumund samt denB�umendarauf, auchjenen, die es nicht mehr gab.Noch ehe ich zu Hause war, dachte ich an Jasnaja Pol-jana, und daß ich immer, wenn die Bl�tter fielen, Kriegund Frieden hatte lesen wollen . . .Die Brauerei in mir drin, die noch alle B�ume um sichherum hatte, also auch die zwei feinbl�ttrigen Akazienan derNordseite, in derenKronen sich jeweils das großeGel�chter verfing, das der massige Wirt von sich gab,bei offenen Fenstern und leerer Gaststube eben, dieseBrauerei war wirklicher als die, die gerade umgebautwurde, ohne daß dabei die großen Umrisse ver�ndertworden sind; einzig die zwei Kastanien an derWestseitemußten weichen, unter welchen Anfang der zwanzigerJahre das Turnerfoto gemacht wurde, das dann perlmut-terfarben neben einer Badezimmert�r hing, ennet denBergen, nicht jenen sieben freilich, hinter welchen dasSneewittchenland lag, das Friedrichs Bçhmischer Land-

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schaft glich, mit einem Glasklang dar�ber, das sich ineinem selbst vorfand und in dem die Welt aufgehoben,w�hrend die wirkliche der Verwitterung anheimgegebenwar. Wobei der schwarze Schimmel, jener mit der Ska-biose im Maul, die Verbindung zu gew�hrleisten hattezwischen h�ben und dr�ben.Die Brauerei hinter den sieben Bergen also wurde som-mers immer wieder umsp�lt vonMazurken,welchemeinSchulkamerad dem schwarzen Klavier entlockte in derStube �ber dem Stoffladen, vonwo ich zuschauen konn-te, wie besagter Wirt das Einfahren der Erntewagen indie Scheune �berwachte, die H�nde in die Seiten ge-st�tzt.BeimFestzelt, mit demLicht und denVolkskl�ngen dar-in,welche die rot-weißen Planen durchdrangen, um sich�ber die Matte auszubreiten, mit dem Vollmond dar-�ber, �ber die große Matte des Eierh�ndlers, neben wel-cher sich vierWochen zuvor der Bauer aufgeh�ngt hatte,nachdem er mit den Pferden und anderem nicht mehrzu Rande kam, bei diesem Festzelt also wurde gegenMitternacht auch noch ein Feuerwerk losgelassen, un-ter Bçllersch�ssen sozusagen und bewundernden Rufender Herumstehenden, von denen sich etliche abgelçstund an die St�mme der Apfelb�ume gelehnt hatten, woes fr�her großbl�tige Vergißmeinnicht gab, um nach denSternen zu schauen, �ber welche der Bauer von nebenangewandert sein mußte und weit dar�ber hinaus . . .Unsere Mundart roch wie das Leben. Sie kam auch da-her wie das Leben. Von der Mundart her bekam die

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Schriftsprache etwas B�urisches mit, etwas Schwerf�l-liges. Sie wurde also von den R�ndern her um Versatz-st�cke gebracht, um Brillanz, so daß sie ein klein wenignach Federvieh zu riechen begann, nach Maßliebchen.Und was die Sprache nicht zu schaffen vermochte, dasschaffte die Bildnerei. Und was der Bildnerei nicht ge-lang, blieb der Musik vorbehalten. Vielleicht war dieWelt ein Klang . . .Nie habe ich mich einspannen lassen vor den Karrenjener Herolde, die jeweils Eden auszurufen beliebten,das neue nat�rlich, mit Blut und Tr�nen erkauft. Verfal-len hingegen war ich von jeher der Hinf�lligkeit, demzerbrechlichen Menschen, dem Klang, der die Welt aus-macht.Diese Herolde f�hrten Aufkl�rer mit sich, die angesetztwurden auf die Spuren schwarzer Schimmel vor allem.Worauf diese in die Berge zu entkommen versuchten,hinter welchen das Sneewittchenland lag, jene Gemar-kung, die etwas an sich hatte von Caspar David Fried-richs Bçhmischer Landschaft, mit einem Klang dar�ber,der an einWeinglas denken ließ, dessen Rand mit feuch-tem Finger bestrichen wird.Diese Aufkl�rer machten nebenbei in Aufkl�rung, diebereits mitten in Eden passierte, unter dem Baum desLebens, als die Schlange der Eva gebot, von dessen Fr�ch-ten zu essen, auf daß sie werde wie Gott.Das geschah also im Garten Eden schon, wo allerleiB�ume aufwuchsen, lustig anzusehen, und der wiedererstehenwird, aber nicht durch Herolde und Aufkl�rer,

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sondern durch den, der den großen Klang erzeugt, in-dem er mit trockenem Finger an der Spirale des Nebelsim Sternbild der Jagdhunde entlangstreicht, daß es wi-derhallt bis an die R�nder der Welten . . .Bei uns wurde also auch herumgekarrt, nur knarrtenhier die Karren etwas lauter, so daß sich davonstehlenkonnte, was sich gef�hrdet f�hlte. Wobei der Welten-wind von hinter den sieben Bergen her gelegentlich einWiehern wehte �ber das Knarren hin.So hatten auch wir unsere Ger�usche, wir vom Randedes Raums, des germanischen, vonwo der Gr�ne Hein-rich herstammt und der Jakob von Gunten, die aberbeide um die Zentren gewußt haben, um Berlin zumBeispiel, die Stadt auf dem Sand der Mark Branden-burg, nçrdlich derer Uwe Johnsons Mecklenburg lag,an das sich die Ostsee anschloß, deren kurze Wellen,nach Johnson, kabbelig genannt worden seien.Schçn w�re es gewesen, wenn der Gr�ne Heinrich, derJakob von Gunten und meine Windfiguren sich h�ttenfinden kçnnen, als Wanderer gewissermaßen – Wande-rer vomRande desRaums.UndwennderMarcel Proust,Claude Simon, Samuel Beckett, Leo Tolstoi und die Vir-ginia Woolf dann auf schwarzen Schimmeln, quasi alsDon-Kosaken, in Erscheinung getreten w�ren, h�ttenmeine Windfiguren, Jakob von Gunten und der Gr�neHeinrich gewiß dem Meretlein zugezwinkert – demMeretlein im Bohnenfeld. Und Uwe Johnsons Meck-lenburg h�tte wieder Mecklenburg geheißen. Und dieKohlweißlinge im Kirschgarten w�ren wieder Schnee-

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flocken vor den Fenstern des Instituts Benjamenta ge-wesen. Und die Walzerkl�nge vom Kaiserball zu St. Pe-tersburg h�tten als Staubfahnen der Don-Kosaken figu-riert, wobei diese Kl�nge der Natascha gegolten hatten,demF�rsten Andrej. Und die Chrysanthemen vomBlu-menmarkt auf demB�renplatz zuBernw�ren jene gewe-sen, die Marcel Proust in Odettes Salon plazierte, wosie die Farbkl�nge der untergehenden Sonne zu imitie-ren hatten, wenn der Novemberhimmel �ber Paris er-loschen war (w�hrend nun der Himmel �ber dem Boh-nenfeld zu gl�hen geruht h�tte).AmB�renplatz �brigens lag das F�d�ral,woRobertWal-ser ein und ausgegangen ist, wenn er nicht gerade an sei-nenMikrogrammen schrieb.Von dort aus ist er dann auf-gebrochen ins Glasland – ohne wiederzukehren.« –Gerassel eines Schnellzugs deckte das Gerede zu, dasaus dem Winterasternstrauß gedrungen war. Ostwindbewegte die Bl�ten, die porzellanfarbenen, von den R�n-dern her rosa eingef�rbt. Dar�ber stand geschrieben– Kaspar Baur –, wobei die Buchstaben in den Kalk-stein gehauen waren, in jenes Material, aus welchemder Berg aufgebaut ist, der sich nçrdlich von Amrainhinzieht. Um mich herum waren also nicht die Totenvon Spoon River, hier lagen die Gebeine der ehemali-gen Amrainer, in einer Tiefe von ungef�hr einem Meterf�nfzig und ziemlich geh�uft vermutlich, denn Amrainbesitzt ja kein Beinhaus. Darunter mußten sich Sch�del,Wirbel-, Ober- und Unterschenkelknochen von BaursMutter befinden, seines Vaters, der Julia, der Lina, aber

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auch jene des alten Fabrikschmieds, desWirts der Braue-rei, des Schuhmachers, der �ber viele Jahre seines LebensOberturner war.Wobei die Gebeine von Baurs Vorfah-ren m�tterlicherseits in der Erde der Insel R�gen ruhenmußten, denn Baurs Mutter stammte aus dem nçrd-lichsten Deutschland, woher sie, zusammen mit ihremMann, zu Anfang des Jahrhunderts in die Schweiz her-gereist kam, die Insel R�gen im Herzen behaltend, sodaß Kaspar Baur inmitten von G�nsen, Enten, Trut-und gewçhnlichen H�hnern aufwachsen durfte; einzigdie Schafe fehlten, welche ihr Vater geh�tet hatte, alsObersch�fer und auf Stelzen (umdieHerdebesser �ber-blicken zu kçnnen).Da lagen sie nun, die Toten von Amrain, machten inLitaneien, w�hrend die Winde �bers Land strichen unddas Martinisçmmerchen den Birken gelbe Bl�tter auf-setzte, die im Wind vibrierten, in einem Wind, der ausdemOsten kam,wo’s die Kesselschlachten gegeben hat-te,undwonoch immerTotensch�del herumliegen,Ober-schenkelknochen, mit und ohne Schenkelhals. Und niescheint der Himmel tiefer, nie sein Licht bedr�ngen-der zu sein, als zur Martinisçmmerchenzeit.Wobei wir,Baur und ich, ausgerechnet im Zenit eines Sçmmer-chens, am Martinstag des Jahres 1977, unseren Rund-gang in Olten get�tigt hatten, dabei auf eine historischeLokomotive stoßend vor den Werkst�tten der Schwei-zerischen Bundesbahn. Man schritt �ber die Gçsger-straße ins Industriequartier, dessen Straße von Ahorn-und anderen B�umen ges�umt war, gelangte �ber eine

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große Schlaufe wieder an die Aare zur�ck, folgte diesergegen die Strçmung, �berquerte die Trimbacher Br�cke,umeine Schlaufe durch die Altstadt zu ziehen, dabei dasalte Spital passierend, das einen an die Liegenschaft vonJasnaja Poljana gemahnte, Tolstois Landsitz. Nachdemman die Matte �berquert, auf welcher sich das Tennis-spiel ohneBall abgespielt hatte, standman einwenig sp�-ter vor dem Zoohaus Arakanga an der Unterf�hrungs-straße 18,wo sich der Papagei gerade hinter dem rechtenOhr kratzte (mit zwei Zehen des angeketteten rechtenFußes), wobei das Ohr nat�rlich nicht zu sehen, derStelle nach aber zu vermutenwar. Das rechte Auge hielter gen�ßlich geschlossen, denKopf leicht nach rechts ge-neigt.Worauf man dem Ausgangspunkt zustrebte, w�h-rend derWesthimmel ein Aquarell simulierte, aus Rosa-,Grau-, Blau- und Orangetçnen, ein Aquarell riesigenAusmaßes. Dann begann es zu schneien.Das war nun also der Fleck Erde, wo sich die Urne desKavalleriemajors zu F�ßen des Grabes seiner Gattinbefunden, aus welcher der Wind dann und wann einePrise Asche geweht habe, Richtung Gehçft des Kaval-lerie-Majors, das nicht mehr existiert. An seiner Stellebefindet sich heute das Weberhaus. Und da habe auchder Grabstein mit dem Engel gestanden, der Grabsteinder Mutter von Baurs Schulfreundin Linda. Er hatte,nach Baur, eine Lilie in der Hand, dieser Engel, und Fl�-gel, w�hrend die Frau des Kavallerie-Majors auf ihremStein einen Engel ohne Fl�gel hatte. Daf�r hielt er eineRose in der Hand, eine weiße vermutlich.

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Als wir damals, am Karneval, auf dem Friedhof zu Am-rain eine Deponie von Grabsteinen antrafen, erw�hnteBaur, daß darunter auch jener von Lindas Mutter sei,auch jener der Frau des Kavallerie-Majors, also Grab-steine mit Engeln darauf, mit und ohne Fl�gel, beideaber mit einer Blume in der Hand.So geht die Zeit dahin! Und es ist, als w�rde sie vonWinden verweht, �ber die Meere hin, die sich ihrer be-m�chtigten, so daß die Brandung eigentlich hçrbar ge-wordene Zeit w�re, von Menschen abgestotterte Zeit,abgestottert auch vonMaßliebchen und Schwalben,wo-bei letztere ebenfalls Meere �berqueren, was der Bran-dung einen Unterton mitzugeben h�tte: das Rauschender Fl�gel der Schwalben. Kaspar soll sie �brigens ge-mocht, soll sein Leben in Tage mit und ohne Schwalbeneingeteilt haben.Eigentlich hatte ich vorgehabt, im September auf KasparBaurs Grab zu pilgern. Der September war f�r uns bei-de immer so etwas wie ein Mçrike-Monat, vermutlichMçrikes Septembergedichtes wegen, das man septem-bers jeweils zu lesen beliebte, ohne freilich auf die F�llevon Goldlicht zu stoßen, mit welcher die Erinnerung esangereichert hatte.Nunwar esNovember geworden, Zeit derWinterastern,indes jene auf Kaspar Baurs Grab porzellanfarben wa-ren, wie gesagt, von den R�ndern her rosa eingef�rbt,was einen an Baurs letzte Nacht denken ließ, wo dieEschen vor dem Spital den ersten Schnee entgegenzu-nehmen hatten, auch die D�cher von Amrain. Nun ruh-

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ten einige von jenen hier, die damals unter den D�chernmit demersten Schnee geschlafen hatten, hier, einenMe-ter f�nfzig unter dem Boden, ihre zweihundertzwçlfKnochen schçn geordnet, denn man hatte ihre Gr�bernoch nicht eingeebnet, nicht umgew�hlt. So lagen sie al-so da, seine Cousins, Cousinen, versammelt um Kas-par Baur, Verwandte, mit denen er eigentlich, soviel ichwußte, nicht zu verkehren geruht hatte, obschon er teil-genommen habe, ausDistanz zumindest, an ihren Tagenmit und ohne Schwalben. Und wenn er sich verabschie-det habe von dem einen oder andern seiner Verwandten,am offenen Sarg und anl�ßlich eines Kondolenzbesu-ches, sei er f�r gewçhnlich erleichtert gewesen, obwohlauch deren Leben angereichert gewesen sei mit Martini-sçmmerchen, Schwalben und dem Duft der Steinbr�-che, der sich an warmen Tagen ausgebreitet habe bis andie R�nder der Ebene. –Statt nun, wie es sich gehçrt h�tte, den großen Klangaus dem Sternbild der Jagdhunde zu vernehmen, hçrteich das Klavierspiel des B�ckers, Lindas Vaters, das anSonntagmorgen im Fr�hjahr aus offenen Fenstern �berder Backstube und bis zum Domizil der Klara, einerSchulfreundin Lindas und Kaspars, gedrungen sei, wasdann f�r sie, die Klara, deren Eltern, Geschwister undvermutlich f�r alle, die es gehçrt h�tten, so etwas wieFr�hlings Erwachen bedeutet habe, nach Klara eben.Dieses Klavierspiel mußte also die Schwalben in Aus-sicht gestellt haben, die normalerweise in ihre ange-stammtenNester zur�ckzukehren belieben, umwieder-

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um Junge aufzuziehen, die im Herbst den Weg �ber dieMeere finden.So stand ich lange amGrabKasparBaurs,w�hrenddurchdie porzellanfarbenenWinterastern derWind strich, vonOsten her. DieUlme (die vordere war l�ngst dahin) hattealle ihre Bl�tter verloren, wartete gewissermaßen aufden Rauhreif, der ihre Krone in ein Geweih zu verwan-deln h�tte, einem Wesen zugehçrig, das der Auferwek-kung Ewigschlummernder harrt, um sie dorthin zu ge-leiten, wo kein Schatten ist, kein Winter.Ich schaute nach dem Jura; versuchte mich zu lçsen vonallem um mich herum, was mir immer besser zu gelin-gen schien.

Eswar ein Tag von geradezu entsetzlicher Schçnheit, einTag,wo die Dinge, die H�gel, Berge, B�ume,H�user, dieLeute sich leicht gaben, so daß man den Eindruck hatte,der liebe Gott habe sie f�r einmal, zumindest f�r einenTag, dem Joseph Mallord William Turner �berlassen,demMagier, der dieWelt in Duft undKlang zu verwan-deln vermochte.Am liebsten w�re man Birken z�hlen gegangen, die Bir-ken um einen herum und weit dar�ber hinaus, bis nachRußland hin, dem Birkenland, das in solchen Zeitenein Licht abgibt, das die Erde zu umspannen scheint.Angebiedert h�tteman sich auch gerne, denBirken,wennman zum Beispiel m�de angelangt w�re amRande jenerMatten,wo dieseKesselschlachten stattgefunden hatten,

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und wo noch Totensch�del herumliegen und Becken-knochen. Dort h�tte man sich dann einlassen mçgenmit einer bestandenen Birke, h�tte in ihr sogar so etwaswie aufgehen mçgen, um mit ihr die Nacht zu beste-hen, den kommenden Martinisçmmerchentag, soweit erdiese Bezeichnung noch verdienen w�rde. Und aufge-gangen in dieser Birke, h�tte man das Bed�rfnis, denWind entgegenzunehmen, und mit der Zeit dann denSchnee, die K�lte, um im Fr�hling, wenn die Erde blub-bert, in einem neuen Gr�n zu beginnen, den Fr�hlings-wind entgegenzunehmen, dann den großen Sommer-wind.So ein Tag war es, als ich in Amrain auf dem Friedhofstand, der jenem von Spoon River �hnlich sein mußte,am Grabe Kaspar Baurs, mit dem ich, wie gesagt, denRundgang in Olten gemacht hatte, fast auf den Tag ge-nau vor elf Jahren, und wo jener Papagei anzutreffenwar, der sich gerade hinter dem rechten Ohr kratzte,das rechte Auge gen�ßlich geschlossen.Also, ein Tag war’s, wo die Dinge sich leicht gaben, woman gerne bis nach Rußland die Birken z�hlen gegan-gen w�re, um dann am Rande des Gel�ndes einer dergroßen Kesselschlachten sich mit einer Birke, einer be-standenen, einzulassen, in ihr aufzugehn und als Birkezu �berleben.Und ich dachte an das große, riesige, an dieses schwer-m�tige Land, von dem man kurz zuvor in der Zeitunggelesen hatte, daß dort alles Schwere sei, ohne jedenAn-flug von Leichtigkeit oder gar Heiterkeit. Das System

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