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Leseprobe Systemische Beratung Autorin Mag. Joana Krizanits Ablauf von Beratung Studienbrief SB0210 Fernstudium postgradual

Systemische Beratung - disc.uni-kl.de · gründeter methodischer Ansatz zur Analyse und Lösung sozialer Probleme: ”Ac- tion Research is a comparative research on the conditions

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Systemische Beratung

AutorinMag. Joana Krizanits

Ablauf von BeratungStudienbrief SB0210

Fernstudiumpostgradual

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Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung und des Nach-drucks, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf außerhalb der im Urheberrecht geregelten Erlaubnisse in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmi-gung der Technischen Universität Kaiserslautern, Distance & Independent Studies Cen-ter, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kaiserslautern 2012 (1. Auflage).

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Inhaltsverzeichnis I

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis I

Abbildungsverzeichnis V

Glossar VII

Kurzinfo zur Autorin XV

Literaturverzeichnis XVI

Lernziele XXI

Einleitung 1

1 Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 5

1.1 Die Entwicklungen im Überblick 6

1.2 Die Entwicklung der Systemtheorie 8

1.2.1 Technische Systeme – 1945 bis Ende der 60er Jahre 9

1.2.2 Die Systemtheorie komplexer Systeme – 1970 bis 90er Jahre 10

1.2.3 Konstruktivismus und Autopoiese – bis in die 90er Jahre 13

1.2.4 Luhmanns Theorie sozialer Systeme – 1984 bis 1999 16

2 Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 21

2.1 Methoden und Werkzeuge 21

2.1.1 Die zirkulären bzw. systemischen Fragen 21

2.1.2 Beobachtungen 1. und 2. Ordnung 22

2.1.3 Die systemische Schleife 24

2.1.4 Gestaltungsebenen beraterischer Intervention 26

2.2 Wahrnehmung und Haltung 27

2.2.1 Die systemischen Prämissen – die Lenkung der Aufmerksamkeit des Beobachters 2. Ordnung 28

2.2.2 Haltung und Einstellungen in der systemischen Beratung 29

2.3 Systemische Beratung – ein Ansatz für unterschiedliche Professionsfelder 30

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II Inhaltsverzeichnis

2.3.1 Professionsfeld Therapie – Beratung von psychischen Systemen und Familien 32

2.3.2 Supervision – Beratung von Professionssystemen 33

2.3.3 Professionsfeld Organisationsberatung 34

2.3.4 Professionsfeld Coaching – Beratung des Interaktionssystems von Person und Organisation 37

2.3.5 Professionsfeld Mediation – Beratung von Konfliktsystemen 39

3 Systemische Organisationsberatung 43

3.1 Von der Pferdekutsche zum Ferrari – die Entwicklungen in Organisationen 44

3.1.1 Die atemberaubende Professionalisierung von Organisationen 45

3.2 Die Entwicklungen in der Unternehmensberatung 47

3.2.1 Vom Management Consulting zum Business Consulting 48

3.2.2 Der Siegeszug der Inhouse-Beratung 48

3.3 Organisationsberatung in der Tradition des Action-Research-Ansatzes 50

3.3.1 Der Action-Research-Ansatz 51

3.3.2 Von der Organisationsentwicklung zur Organisationsberatung 53

3.3.3 Organisation – Beratungsbedarf – Beratungsansatz im Zeitgeist 54

3.4 Organisationstheorie aus dem systemischen Beratungsansatz 56

3.4.1. Ableitungen aus dem systemischen Beratungsansatz Mitte der 1980er Jahre für das Verständnis von Organisationen 56

3.4.2 Luhmanns Organisationstheorie 58

4 Der Beratungsprozess 63

4.1 Der Beratungsprozess im Überblick 63

4.1.1 Die Action-Research-Schleife 63

4.1.2 Die Schritte im systemischen Beratungsprozess 65

4.2 Topografie des Beratungssystems 67

4.2.1 Die Abgrenzung des Beratungssystems 68

4.2.2 Klientensystem – Beratungssystem – Beratersystem 69

4.3 Der Kontrakt mit den Auftraggebern 70

4.3.1 Einfache und mehrfache Auftraggebersysteme 71

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Inhaltsverzeichnis III

4.3.2 Das Bermuda-Dreieck: Kontext-Auftrag-Rollen 72

5 Das Auftragsgespräch 75

5.1 Prozessberatung als helfende Beziehung 75

5.1.1 Helping – universelle Psychodynamiken der helfenden Beziehung 76

5.1.2 Vertrauen aufbauen 77

5.1.3 Mögliche Verstrickungen zwischen Berater und Klient 77

5.1.4 Das Gespräch führen 79

5.1.5 Das aktive Zuhören 81

5.1.6 Containment schaffen 83

5.2 Der Verlauf des Beratungsgesprächs 83

5.2.1 Praxisbeispiel: Kulturwandel im Bereich IT 84

5.2.2 Die Exploration des Problemsystems im Auftragsklärungsgespräch 85

5.2.3 Erste Eindrücke und Hypothesen rückspiegeln 86

5.2.4 Die inhaltliche, soziale und zeitliche Abgrenzung des Beratungssystems 87

5.2.5 Kontext-Auftrag-Rollen klären 89

5.2.6 Vorgehensweise und nächste Schritte 90

6 Das Angebot legen 91

6.1 Der systemische Beratungsprozess in der Action-Survey-Schleife 91

6.2 Das Angebot 92

6.2.1 Ausgangslage 92

6.2.2 Zielsetzungen 94

6.2.3 Vorgehensweise 96

6.2.4 Aufwände und Kosten 100

6.2.5 Die Geschäftsbedingungen 102

7 Datensammlung, Diagnose und Rückspiegelung 103

7.1 Die Datensammlung 103

7.1.1 Gruppeninterview oder Einzelinterview – persönlich oder telefonisch? 104

7.1.2 Die Fragebogenerhebung 106

7.1.3 Das qualitative Interview 107

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IV Inhaltsverzeichnis

7.2 Die Datenauswertung 109

7.2.1 Hypothesen bilden, sammeln und grob strukturieren 109

7.3 Die Diagnoseschrift 110

7.3.1 Die Formulierung von Hypothesen für den Klienten 111

7.3.2 Das gezielte Einspielen von Fachwissen 112

7.3.3 Von der Frageliste zum Essay 113

7.4 Der Rückspiegelungsworkshop 114

7.4.1 Der Ablauf des Rückspiegelungsworkshops 114

7.4.2 Wirkungen der Diagnose und des Rückspiegelungsworkshops 116

8 Die Architektur von Beratungsprozessen 119

8.1 Theorie der Beratungsarchitektur 119

8.1.1 Unterschiede zwischen Architektur von Beratungsprozessen und klassischem Projektmanagement 120

8.1.2 Funktionen von Architektur 121

8.1.3 Elemente der Architektur von Beratungsprozessen 122

8.2 Das Praxisbeispiel 125

9 Die Evaluierung des Beratungsprozesses 131

9.1 Evaluierung des Beratungserfolgs durch Vorher-Nachher-Vergleich 132

9.1.1 Bewertung der Zielerreichung durch die Betroffenen 132

9.1.2 Evaluierung durch Systemanalyse z.B. nach den Methoden der Objektiven Hermeneutik von Froschauer und Lueger 135

9.2 Wissenschaftliche Kriterien für gute Organisationsberatung 136

9.2.1 Qualitative Sozialforschung als entdeckende und gestaltende Forschung 136

9.2.2 Gütekriterien qualitativer Sozialforschung 138

9.2.3 Der Nutzen wissenschaftlicher Organisationsberatung für Führung und Organisationen 139

9.3 Der Beratungsprozess in der Norm EN 16114 zur Unternehmensberatung 140

Musterlösungen zu den Übungsaufgaben 144

Stichwortverzeichnis 157

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Abbildungsverzeichnis V

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Beispiel eines Räuber-Beute-Systems 8

Abb. 2: Lebende Systeme und ihr jeweiliger Modus von Autopoiese nach Niklas Luhmann 17

Abb. 3: Die systemische Schleife 25

Abb. 4: Gestaltungsebenen beraterischer Intervention 27

Abb. 5: Professionsfelder von Beratung mit dem systemischen Ansatz 31

Abb. 6: Unterschiede zwischen Familien und Organisationen 36

Abb. 7: Praxis-basierte Theorie und Theorie-basierte Praxis im Action-Research-Ansatz 51

Abb. 8: Kurt Lewin's “Hockeyschläger-Kurve“ über Leistungseinbrüche und -steigerungen in Change Prozessen 52

Abb. 9: Die Action-Survey-Schleife 64

Abb. 10: Das Beratungssystem 69

Abb. 11: Typische Asymmetrien in helfenden Beziehungen 79

Abb. 12: Methode und Tools der Gesprächsgestaltung 80

Abb. 13: Inhaltsparaphrase versus aktives Zuhören 82

Abb. 14: Fragen eines Aufklärungsgesprächs. Quelle J.K. 86

Abb. 15: Das 1. & 2. Angebot und die Phasen der Action-Research-Schleife 91

Abb. 16: Vier Regeln für Feldforscher 104

Abb. 17: Triggerfragen für die Hypothesenbildung 109

Abb. 18: Beispiel für die Formulierung von Hypothesen 112

Abb. 19: Das gezielte Einspielen von Fachexpertise in die Diagnose 113

Abb. 20: Beispiel für Selbstbeschreibung des Systems mit Metaphern 114

Abb. 21: Arbeitsfragen für die erste Bearbeitung der Diagnoseschrift 115

Abb. 22: Fragen für den Beginn des Auseinandersetzungsprozesses im Rückspiegelungsworkshop 116

Abb. 23: Funktionen einer Beratungsarchitektur 122

Abb. 24: Architektur des Beratungsprozesses Bereichsentwicklung “DO IT!“ 126

Abb. 25: Der standardisierte Konfliktmanagement-Mini-Workshop 128

Abb. 26: Einstiegsfragen für einen Review-Workshop 132

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VI Abbildungsverzeichnis

Abb. 27: Beispiel für eine Fieberkurve des Beratungsprozesses 133

Abb. 28: Punktungen auf den operationalisierten Zielen 134

Abb. 29: Phasenmodell der Unternehmensberatung in der EN16114 142

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Glossar VII

Glossar

Action Research

Action Research, im Deutschen: Aktionsforschung, ist ein von Kurt Lewin be-gründeter methodischer Ansatz zur Analyse und Lösung sozialer Probleme: ”Ac-tion Research is a comparative research on the conditions and effects of variousforms of social action and research leading to social action”. Gemeint ist damit: Action Research ist die gezielte Untersuchung der Bedingungen und Auswirkun-gen sozialer Handlungsmuster und die gezielte Suche nach (neuen/erweiterten) Handlungsoptionen in sozialen Systemen).

Cook, Chein und Harding definieren vier Verfahren von Action Research: diag-nostische AR, die – aus einer Expertenhaltung - einen Handlungsplan entwirft und vorschlägt; teilnehmende AR, die die Betroffenen in den Forschungsprozess ein-bezieht; empirische AR, die vergleichbare Phänomene zusammenträgt und expe-rimentelle AR, die verschiedene Techniken von Handlungsplanung auf relative Wirksamkeit untersucht (nach Marrow 1977, S.217). Für Lewin selbst war die ex-perimentelle AR der Zugang der Wahl; so untersuchte er beispielsweise mit Mar-garet Mead unterschiedliche experimentelle Settings, um die Kochgewohnheiten von US-amerikanischen Hausfrauen (Ende des 2. Weltkriegs) so zu verändern, dass sie weniger Fleisch kochten, damit die amerikanischen Soldaten an der Front besser ernährt werden könnten. In der Organisationsberatung hat sich jedoch die teilnehmende Variante der AR durchgesetzt: gemeinsam mit den Betroffenen werden die Handlungsmuster in einem System ergründet und bewertet, um ge-meinsam neue, zweckmäßigere Verhaltensweisen abzuleiten. Die teilnehmende AR-Variante hatte sich auch in Lewins experimenteller AR als das am stärksten verhaltenswirksame experimentelle AR-Setting erwiesen.

Die Methode der Action Research spiegelt Lewin's Wissenschaftsverständnis: Statt im Elfenbeinturm generelle Theorien zu entwickeln, soll sich Forschung der Praxis handelnder Menschen widmen. Umgekehrt ist die Entwicklung von Hand-lungen - d.h. die gezielte Suche von Handlungsoptionen für soziale Systeme - the-oriebasiert durchzuführen. Kurz: keine Theorie ohne Aktion, keine Aktion ohne Theorie.

Action- Survey -Schleife/Action-Research-Schleife

Kurt Lewin hat die Form des Forschungsprozesses im Action-Research Ansatz definiert als Spirale von aufeinanderfolgenden Schleifen, die jeweils aus einer Schrittfolge von Planung und Durchführung von Handlungen mit anschließender Datenerhebung über deren Auswirkungen besteht; das ist die Action-Research-Schleife, die später von French und Bell – zwei Weggefährten Kurt Lewins – Ac-tion-Survey-Schleife genannt und als Grundmodell der frühen Organisationsent-wicklung definiert wurde.

Glossar

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VIII Glossar

Sie beginnt mit der Wahrnehmung von Problemen durch den Klienten, die diesen veranlassen, Berater anzufragen. Diese erheben Daten, erstellen eine Diagnose, die sie an den Auftraggeber zurückspiegeln. Mit dem Feedback des Klienten ent-steht eine gemeinsame Problemdiagnose, die Basis für eine gemeinsame Planung und Durchführung von Aktionen ist. Dann beginnt eine neue Schleife von Daten-erhebung, Diagnoseerstellung durch Berater und Rückspiegelung an den Klienten mit Aktionsplanung usw.

Aktionsforschung siehe Action-Research

Beobachter/Beobachtung 1. und 2. Ordnung

Beobachtungen 1. Ordnung sind alle manifesten Selbstbeschreibungen eines sozi-alen Systems - z.B. Schriften und Fotos in Broschüren, Aussagen der Systemmit-glieder über die Bedeutung von Dingen, beobachtbare Verhaltensweisen wie Ta-buisierungen oder Dramatisierung von Themen, der Umgang miteinander usw. Die Mitglieder eines Systems haben den Status von Beobachtern 1. Ordnung, weil sie in diesem Wirkungsgefüge ihre Wirklichkeit, ihre sozial vereinbarten Bedeu-tungen, konstruieren.

Beobachtungen 2. Ordnung machen Aussagen über die Muster und Zweckmäßig-keiten von Selbstbeschreibungen des Systems. Sie fokussieren z.B. auf Interakti-onsmuster, auf das Wiederkehrende in den Handlungen der Beobachter 1. Ord-nung. Berater haben den Status und die Funktion von Beobachtern 2. Ordnung; siebeobachten, wie das System vorgeht, wenn es Bedeutungszusammenhänge her-stellt; sie beobachten die aus dem Wesen und der Vergangenheit des Systems re-sultierenden typischen Wirklichkeitskonstruktionen.

Beim Anfertigen von Beobachtungen 2. Ordnung sind Berater selbst in einem Be-obachtungsmodus 1. Ordnung, weil sie beim Herstellen von Selektionen und Zu-sammenhängen von den eigenen Kriterien für Bedeutungsgebung ausgehen. In diesem Studienbrief wird deshalb der Begriff der “Beobachtung 3. Ordnung“ ver-wendet (der in der Primärliteratur noch nicht eingeführt ist), um zum Ausdruck zu bringen, dass die Beobachtung der eigenen Beobachtungen durch den Beobachter und die methodisch stringente Ausrichtung der eigenen Wahrnehmungen und Re-flexionen nach den Prämissen, Einstellungen und Haltungen des systemischen Ansatzes eine neue, wissenschaftlich begründete Form der Wirklichkeitskonstruk-tion ist.

Blueprint

Mit Blueprint ist hier die Analyse und Abbildung von Arbeitsprozessen gemeint;die Prozessabbildung kann dann für die Organisation von konkreten Arbeitspro-zessen zugrunde gelegt werden. Die Metapher der “Blaupause“ kommt aus der Zeit vor der Erfindung des Kopierapparats, als man mit ihrer Hilfe Vervielfälti-gungen anfertigte.

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Glossar IX

Change Management

Change Management ist ein Paradigma der Organisationsberatung, das Anfang der 90er Jahre prominent wurde. Damals forderten Umbrüche in Politik, Wirt-schaft, Technologie und Gesellschaft Organisationen eine neue Fähigkeit ab: ihre Verfasstheit in Bezug auf Strategie, Struktur und Kultur radikal, gezielt und turbo-schnell zu re-engineeren. Im Unterschied zur frühen Organisationsentwicklung, die mit den Betroffenen in ergebnisoffenen, partizipativen Prozessen eine Steige-rung der Anpassungs- und Überlebensfähigkeit der Organisation erzielen wollte, geht es im Change Management darum, im Rahmen vorgegebener Zielkorridore und in möglichst kurzer Zeit in der Organisation “den Schalter umzulegen“, d.h. neue Funktionsmuster zu entwickeln. Diese Umstellung geschieht in einer zeitlich begrenzten Parallelstruktur zum Business mit ausgetüftelten Prozessarchitekturen, die eine Fülle projektmanagementmäßiger Problemlösungen konzertieren mit neuen Beteiligungs- und Kommunikationsprozessen, neuen Rollenskripten und einem Steuerungsmodell rollierender Planung.

Coaching

Coaching ist eine Form von Beratung, die – wie die Organisationsberatung – den Aufgabenvollzug zum Gegenstand hat und spezifisch auf die Interaktion von Per-son und Rolle bzw. Person und Aufgabengebiet in der Organisation abstellt. Aus theoretischer Sicht geht es dabei um die strukturelle Kopplung von Person und Organisation.

Containment

Im Verständnis William Isaacs – einem der Forscher zur lernenden Organisation um Peter Senge – ist der Container das Dialogumfeld, das eine Gruppe benötigt, bevor sie sich auf einen schwierigen, kollektiven Erkundungsprozess einlassen kann. Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich um den gemeinsamen Auf-merksamkeitsfokus, der für effektive Kommunikationsanschlüsse sorgen kann, insbesondere dann, wenn der Gesprächsgegenstand – z.B. ein unbekanntes, kom-plexes Thema – begrifflich und emotional vielschichtig bzw. hochkontingent ist. Containment entsteht auf der Metaebene, dadurch, dass die Personen ihre “Rele-vanzen“ vergemeinschaften, d.h. das, was für sie jeweils Kriterien für sinnvolle Erfahrungsverarbeitung sind.

Dazu tauschen die Gruppenmitglieder ihre wesentlichen Überzeugungen, Annah-men, Wünsche und Absichten aus und schaffen ein geteiltes Verständnis des Kon-textes und seiner Bedeutung für eine gemeinsame Zukunft. Sie entwickeln ein Bild davon, wofür sie als Kollektiv stehen und was der Sinn des Unterfangens ist. Diese “Ummantelung“ schafft die mentale Stabilität (die Erdung), um sich auf den einen schwierigen Auseinandersetzungsprozess einzulassen. In diesem Prozess werden viele bisher gültige mentale Modelle und implizite Annahmen erschüttert und revidiert; der Container – die gesammelte Aufmerksamkeit für die eigenen kollektiven Absichten, Annahmen und Überzeugungen – bleibt bestehen.

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X Glossar

Containment entsteht durch die Methode des aktiven Zuhörens, aber auch ganz allgemein durch die “Präsenz“, die konzentrierte, frei schwebende Aufmerksam-keit für einander.

credible activist

Dave Ulrich hat in seinen empirischen Erhebungen die wichtigste Kernkompetenz für erfolgreiche HR-Vertreter “Credible Activist“ genannt. Gemeint ist damit ein proaktiver Gestalter mit hoher Glaubwürdigkeit, der Themen mit organisations-weiter Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Organisation eigeninitiativ früh aufnimmt und mutig an die Führung heranträgt (statt auf klare Aufträge von oben zu warten).

“Glaubwürdigkeit“ ist faktorenanalytisch unterlegt mit “Resultate mit Integrität erreichen“, “Teilen von Information“, “Aufbau vertrauensvoller Beziehungen“, “HR mit einer inneren Haltung tun“; der letzte Faktor erklärt über 30 % der Vari-anz und lässt sich nochmals herunterbrechen in: “Eingehen angemessener Risi-ken“, “Liefern von aufrichtigen Beobachtungen und Feedback“, “Andere Beein-flussen“ und “Probleme antizipieren“ (Ulrich et al. 2008, S. 59, 62, 63).

evolutionäre Drift

Die evolutionäre Drift ist der gemeinsame Entwicklungspfad von System und Umwelt, im Zuge dessen die strukturelle Kopplung zwischen System und Umwelt immer weiter emergiert. So haben beispielsweise seit Einführung der Organisati-onsform der Strategischen Geschäftsfelder, die Geschäftsfelder eines Konzerns in den vergangenen 25 Jahren mit ihren jeweiligen Produkt- und Marktumwelten sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe genommen.

Intervention

Eine Intervention ist eine Beobachtung 2. Ordnung, die im System zu einer Ver-störung von Mustern führt. Interventionen sollten von Beratern theoriegeleitet entwickelt und gesetzt werden, auch wenn davon auszugehen ist, dass die Wir-kung einer Intervention nicht “berechenbar“ oder erwartbar ist; sie tritt nur ein, wenn das System dies zulässt (nach Helmut Willke). Umgekehrt kann die Wir-kung einer Intervention im System ohne Interventionsabsicht von Beratern eintre-ten.

Kommunikationsmedien

Da nach Luhmann Kommunikation grundsätzlich hoch kontingent ist, benötigt es wahrscheinlichkeitslenkende Kommunikationsmedien, damit – über Mitteilungs-verstehen oder Sinnverstehen – Kommunikationsanschlüsse zwischen Personen entstehen können. Die wichtigsten Kommunikationsmedien sind nach Luhmann Sinn (der auch die starke strukturelle Kopplung zwischen psychischen und sozia-len Systemen begründet), Sprache und Massenmedien; Willke hat die “symbo-lisch generalisierten Kommunikationsmedien“ Macht, Liebe, Geld oder Eigentum

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Glossar XI

um wissenschaftliche Wahrheit ergänzt. In Organisationen wirken darüber hinaus Aufbau- und Ablaufstruktur, Systeme, Policies, Strategien, die Unternehmenskul-tur mit ihren Artefakten, Werten und mentalen Modellen usw. als wahrscheinlich-keitslenkende Kommunikationsmedien.

komplexe Systeme

Komplexe Systeme sind Wirkungsgefüge, die auf sich selbst zurückwirken. An-ders als bei “technischen Systemen“ bzw. “trivialen Maschinen“ geht es bei die-sen Rückkopplungsprozessen aber nicht um hochrechenbare Mechaniken. Viel-mehr verändern komplexe Systeme immer wieder ihre inneren Zustände und zei-gen – nach Phasen stetiger Verhaltensmuster, in denen rekursive Prozesse jeweils auf den Ergebnissen der vorangegangenen Operation aufsetzen und sich kleine Ef-fekte “hochschaukeln“ – plötzlich Turbulenzen und chaotische Phasen, bevor sie sich auf neue Verhaltensmuster einschwingen. Das Verhalten komplexer Systeme ist pfadabhängig; daher der Primat des Kontextbezugs im Umgang mit komplexen Systemen.

Lebende Systeme

Lebende Systeme sind Wirkungsgefüge, die ihre Existenz über spezifische Pro-zesse der Autopoiese realisieren und fortschreiben. Der Begriff der Autopoiese verweist darauf, dass die Re-/Produktion der Elemente lebender Systeme durch die Elemente dieser Systeme passiert; anders gesagt, es gibt keinen Unterschied zwischen Erzeuger und Erzeugnis, sondern nur einen Kreislauf zwischen “Henne und Ei“, den der Beobachter beliebig interpunktieren kann.

Luhmann hat den Begriff der lebenden Systeme von den biologischen Systeme auf psychische Systeme – das Wirkungsgefüge, das unser Denken und Fühlen ausmacht – und soziale Systeme – die Welt/Gesellschaft, Organisationen und In-teraktionsgefüge – übertragen. Biologische Systeme erhalten sich durch Autopoie-seprozesse des Lebens – wie Wachstum, Entwicklung, Stoffwechsel, Altern usw. Psychische Systeme schreiben sich selbst durch Autopoieseprozesse des Denkens und Fühlens fort, z.B. durch Reflexion, Emotionen und Affekte, Sinneswahrneh-mungen, Assoziationen, Gedankengänge usw. Soziale Systeme erhalten ihre Exis-tenz über Autopoieseprozesse der Kommunikation: über das Auswählen von Bot-schaften, das Senden und Verstehen von Mitteilungen und das Verstehen von Sinn.

Lebende Systeme weisen neben dem typischen Merkmal der Autopoiese auch Merkmale komplexer Systeme auf; sie sind keine technischen Systeme.

psychische Systeme siehe lebende Systeme

qualitatives Interview

Das qualitative Interview ist ein Instrument der qualitativen Sozialforschung. Es besteht aus drei Phasen: dem narrativen Teil, in dem der Interviewpartner nach ei-

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XII Glossar

nem Einführungsstatement des Interviewers zum Kontext, seinen Narrativ frei strukturiert, einer Phase des Vertiefens durch den Interviewer und einer Phase des Nachfragens nicht durch den Interviewten angesprochener Aspekte, die den For-scher interessieren. Ziel des narrativen Interviews ist es, die Wirklichkeitskon-struktionen und Selbstbeschreibungen und die kollektiven Deutungs- und Sinnge-bungsmuster eines Systems zu Tage zu fördern.

Organisational Capabilities

Organisational Capabilities sind nach Dave Ulrich wettbewerbsrelevante, kollek-tive Kompetenzen einer Organisation. Der Begriff “Kompetenz“ wiederum meint für den Aufgabenvollzug relevante Fertigkeiten und Verhaltensweisen. Innovati-onsfähigkeit, Reagibilität, die Fähigkeit, ein gemeinsames Mindset zu kreieren usw. sind Beispiele für Organisational Capabilities.

Organisationsberatung

Organisationsberatung ist ein Spezialfeld der Unternehmensberatung, das die Or-ganisation insgesamt adressiert und deren Lebensfähigkeit steigern will. Der Be-griff wurde Mitte der 80er Jahre geprägt als Dachmarke für unterschiedliche Bera-tungszugänge wie die Organisationsentwicklung, die Prozessberatung, das Chan-ge Management und die systemische Beratung. Wimmer definiert den Begriff der Organisationsberatung so (2008, S. 4): „Der Begriff Organisationsberatung be-zeichnet eine ganz bestimmte beraterische Herangehensweise in der Behandlung komplexer Problemstellungen von Organisationen jedweden Typs (Unternehmen, Krankenhäuser, Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, Schulen, Universitä-ten, etc.) […]. Dieser Begriff zieht im professionellen Selbstverständnis damit ei-ne dezidierte Grenze gegenüber den traditionellen Formen der Unternehmensbera-tung, wie sie speziell von den großen […] Beratungsfirmen seit jeher praktiziert werden […]. Die Organisationsberatung orientiert ihr Interventionsrepertoire nicht nur an der möglichst effizienten Zurichtung der Organisation hin auf das ökono-mische Kalkül. Es umfasst vielmehr alle organisationsbezogenen Beratungsan-strengungen, die das Selbstentwicklungspotenzial von Organisationen mit Blick auf ihre je spezifischen Leistungsanforderungen erhöhen.“

Organisationsentwicklung

Douglas McGregor und Richard Beckhard – zwei Weggefährten Kurt Lewins –definieren in den 50er Jahren den Ansatz der Organisationsentwicklung als orga-nisationsweiten partizipativen Prozess, in dem die Betroffenen ihre Arbeitswelt humaner gestalten und gleichzeitig die Effektivität und Lebensfähigkeit der Orga-nisation stärken. Sie orientieren sich dabei an normativen Zielsetzungen wie “Ge-sundheit“ oder “gute Kultur eines Wissenschaftsbetriebs“, in der nicht Hierarchie, sondern das Wissen der Betroffenen relevant für Entscheidungen sein soll. Die Zielsetzungen und Annahmen der Organisationsentwicklung sind vor dem dama-ligen zeitgeistigen Hintergrund zu sehen: Die überbürokratisierten, großen US-

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Glossar XIII

Konzernen der 60er und 70er Jahre mit ihren schwerfälligen Entscheidungspro-zessen und ihrer – durch tayloristische Aufteilung in kleinste Verrichtungsvorgän-ge – sinnentfremdeten Arbeitswelt, gerieten unter Druck der wendigen Konkur-renz aus den “asiatischen Tigerstaaten“. Die Stoßrichtung der Organisationsent-wicklung war die Integration der Arbeitsprozesse und Sinnbildung durch die Be-troffenen aus verschiedenen “Silos“. Die Organisationsentwicklung als Bera-tungsansatz modelliert ihre Vorgehen an der Action-Research-Schleife bzw. am Action-Research-Ansatz Kurt Lewins.

Prozessberatung

Edgar Schein, ein Mitglied aus dem engen Kreis der Gruppendynamiker um Kurt Lewin prägte den Begriff Prozessberatung: „Prozessberatung ist der Aufbau einer Beziehung mit dem Klienten, die es diesem erlaubt, die in seinem internen und ex-ternen Umfeld auftretenden Prozessereignisse wahrzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren, um die Situation, so wie er sie wahrnimmt, zu verbessern“(Schein 2000, S.39). Schein sah den Hebelpunkt für das Gelingen des Action-Research-Ansatzes in der methodischen Gestaltung der Beziehung zwischen Bera-ter und Klient: Dabei geht es um den Aufbau einer “helfende Beziehung“. Schein definiert die universellen Prinzipien der helfenden Beziehung und die Dynamiken, die sich in Beratungsbeziehungen daraus ergeben können und beschreibt das Rol-len- und Interventionsverständnis des Prozessberaters.

Heute wird der Begriff “Prozessberatung“ im professionalen Diskurs der Organi-sationsberater als Genrebezeichnung verwendet, um das Vorgehen der Organisati-onsberatung gegenüber reinen Expertenberatungen abzugrenzen – was eigentlich Inhalt und Funktion des Begriffes der Organisationsberatung ist. Durch diese Kontextualisierung hat sich in der praktischen Verwendung der Bedeutungshof des Begriffes Prozessberatung erweitert. So versteht man heute unter Prozessbera-tung z. B. eine spezifische Expertise für partizipative Designs und die Gestaltung von Beratungsprozessen.

Scientific Management

Frederic Winslow Taylor erfand das erste Management System zur professionel-len Organisation von Arbeit, mit dem Ziel, Organisationen unabhängiger von Füh-rungspersonen, den “Captains of Industry“, zu machen. Später – im Zuge eines Gerichtsverfahrens gegen Taylor entstand im Rahmen einer Verteidigungslinie der Begriff “Scientific Management“. Wesentliche Säulen dieses Scientific Ma-nagement sind: die systematische Untersuchung von Arbeitsprozessen zur Be-stimmung von “Best Practices“, die Aufteilung des Arbeitsprozesses in Sequen-zen, die gleiche Anforderungen und Qualifikation erfordern und die gezielte Per-sonalauswahl dafür sowie die Definition eines Pensums – d.h. einer auf Dauer leistbaren Mengenvorgabe pro Zeiteinheit. Eine wesentliche Folge der gezielten Zergliederung von Arbeitsprozessen war die Trennung von “Kopfarbeit und

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XIV Glossar

Handarbeit“, d.h. die Trennung von arbeitsorganisierenden, planenden und kon-trollierenden Tätigkeiten von ausführenden Tätigkeiten.

soziale Systeme siehe lebende Systeme

Supervision

Supervision ist ursprünglich die Beratung helfender Berufe in ihrer und für ihre Alltagspraxis; generelles Ziel der Supervision ist die Verbesserung der professio-nalen Wirkung durch die gezielte Reflexion von typischen Erfahrungen in der Be-rufstätigkeit und Best Practices im Rahmen von Fallarbeiten. Supervision als Be-ratungsmethode hat im medizinischen Bereich (z.B. Pflegepersonal) und im psy-chosozialen Bereich (z.B. Sozialarbeiter) begonnen und hat sich heute auf viele Berufsgruppen – auch innerhalb von Organisationen – ausgeweitet, die gezielt an ihrer Professionalisierung arbeiten. Nachdem heute Führung zunehmend auch als eigene Profession verstanden wird, spricht man auch von Supervision von Füh-rungsteams.

symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien siehe Kommunikationsme-dien

symbolischer Interaktionismus

Der “symbolische Interaktionismus“ ist eine Richtung in der Chicagoer Schule der Soziologie, die von Charles Blumer geprägt wurde. Sie besagt, dass Menschen Dingen gegenüber nicht auf der Grundlage des Wesens der Dinge handeln, son-dern auf der Grundlage der Bedeutungen, die sie den Dingen zuschreiben. Diese Bedeutungsgebungen entstehen im Zuge komplexer, interaktiver sozialer Prozes-se. Die Organisationsberatung nach dem Action-Research Ansatz setzt Blumers Theorieansatz im Umkehrschluss ein: Will man soziale Handlungsmuster geplant und gezielt verändern, muss man dazu entsprechende interaktive Sinngebungs-Prozesse zwischen den Betroffenen organisieren.

Einen dem symbolischen Interaktionismus vergleichbaren Ansatz vertritt der im Rahmen der Sozialpsychologie entstandene “Konstruktionismus“ von Kenneth J. und Mary Gergen (s. SB 420).

systemische Beratung

Systemische Beratung ist die Beratung unterschiedlicher Professionsfelder nach den Prämissen, Methoden und Instrumenten des systemischen Beratungsansatzes. Systemische Beratung findet sich in Familientherapie, Supervision, Organisati-onsberatung, Coaching und neuerdings Mediation. Die systemische Organisati-onsberatung ist heute - neben der Therapie - vielleicht das prominenteste Anwen-dungsfeld systemischer Beratung, weshalb die Begriffe auch häufig synonym ge-setzt werden.

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Kurzinfo zur Autorin XV

Kurzinfo zur Autorin

Joana Krizanits, Mag. phil.,

Studium der Psychologie in Strasbourg, Liverpool und Wien; Ausbildung: Ge-sprächspsychotherapie, systemische Beratung, Coaching, Controlling, Qualitäts-management, Personalmanagement; 18 Jahre Tätigkeit in verschiedenen Fach- und Führungsrollen in unterschiedlichen Organisationen; langjährige Kooperati-onspartnerin der Beratergruppe Neuwaldegg, u.a. gemeinsame Durchführung des Ausbildungsprogramms "neuwaldegger curriculum für systemische Unterneh-mensentwicklung". Selbstständige Unternehmensberaterin und Trainerin in Wien, mit den Schwerpunkten Organisationsberatung, Unternehmensentwicklung, Ma-nagement Development, Beraterausbildung, Coaching, Supervision; Lehrbeauf-tragte an Fachhochschulen und Mitherausgeberin der Zeitschrift Profile.

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XVI Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

A. Einführende Literatur

KRIZANITS, J. (2009): Die systemische Organisationsberatung - wie sie wurde was sie wird. Wien (Facultas).

KRIZANITS, J. (2013): Einführung in die Methoden der systemischen Organisa-tionsberatung, Carl-Auer compact, Heidelberg; erscheint Frühjahr 2013.

SIMON, F.B. (2006): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Hei-delberg (Carl-Auer-Compact).

B. Weiterführende Literatur

BAECKER, D. (2000, 2001): Wozu Kultur? Berlin (Kulturverlag Kadmos).

BEERGAME: http://beergame.org/ (Zugriff am 30.08.2012).

BERTANLANFFY, L.v. (1969): General System Theory: Foundations, Devel-opment, Applications. New York (Braziller).

BERGHAUS, M. (2003): Luhmann leicht gemacht. 2. Aufl. Köln (Böhlau-Verlag).

BRIGGS, J./PEAT, F.D. (1990): Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos Theorie. München, Wien (Carl Hanser Verlag).

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Lernziele XXI

Lernziele

Inhalte:

Die 5 Phasen von Beratung (1) Beziehung aufbauen, (2) Anliegen konkretisieren, (3) Bearbeitungs- und Lösungsebene finden, (4) Impulse geben, (5) Gespräche ab-schließen. Dieser Studienbrief soll als Grundlage für die Ende des Semesters statt-findende Präsenzveranstaltung dienen, in der sich die Studierenden gemeinsam in Beratungsgesprächen (sowohl in der Rolle des Beraters als auch in der Rolle des Klienten) üben können.

Lernziele/Kompetenzziele:

Kenntnisse erlangen über den Ablauf und die einzelnen Phasen des Bera-tungsgesprächs,

die theoretischen Grundlagen gelingender Beratungsgespräche kennen und praktisch anwenden können,

sich kritisch mit unterschiedlichen Beratungsansätzen auseinandersetzen und die Vor- und Nachteile systemischer Beratung aufzeigen können,

Ressourcen- und Personenorientierte Elemente in einen Beratungsprozess ein-bringen können,

den Auftrag mit dem Klienten klären,

Beratungsziele definieren,

eine Beziehung aufbauen,

eine angenehme Atmosphäre aufbauen,

den Prozess kontinuierlich bewerten,

wissenschaftlich schreiben können,

die bearbeiteten Inhalte im Rahmen des Portfolios reflektieren können.

Anmerkung: Dem deutschen Sprachgebrauch folgend und wegen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Studienbrief i.d.R. von "Weiterbildner", "Bildungsma-nager", "Teilnehmer" etc. gesprochen.

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XXII Lernziele

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Einleitung 1

Einleitung

Thomas S. Kuhn hat in seinem Buch “The Structure of Scientific Revolutions“(Kuhn 2002) beschrieben, wie sich im Wissenschaftsbetrieb evolutionäre und re-volutionäre Phasen abwechseln. Wenn in einer Wissenschaft immer wieder und nachhaltig Entdeckungen gemacht werden bzw. Phänomene und Problemstellun-gen auftauchen, die mit den bislang gültigen Theorien und Modellen nicht zu er-klären sind, kommt es zu einer revolutionären Phase, in der über die Grundlagen und Annahmen der bestehenden Erklärungszugänge diskutiert wird. Die Wissen-schaftler verändern ihre eigene Wahrnehmung, ihr Weltbild und ihre Sicht der wissenschaftlichen Praxis – ein neues Paradigma, ein neues Welterklärungsmo-dell, emergiert. In dem Maß wie das neue Paradigma durch seine Fähigkeit, Prob-leme zu lösen, überzeugt, festigt und verbreitet es sich in der wissenschaftlichen Community. Der Einzug in die Hochschullehre, das Erscheinen von Handbüchern, in denen die revolutionäre Primärliteratur kanonisiert und integriert wird, gelten als Indikatoren für den Abschluss der revolutionären Phase und den Beginn der Normalwissenschaft.

Der systemische Ansatz lässt sich als ein neues wissenschaftliches Paradigma be-schreiben: Seinen Beginn kann man in die Zeit der interdisziplinären Macy Kon-ferenzen Mitte der 40er Jahre legen; nach einem Gärungsprozess in verschiedenen Disziplinen – vor allem in der Physik, der Philosophie, Neurobiologie, Psychothe-rapie und Kommunikationswissenschaft und später der Soziologie – kam es zu Beginn der 80er Jahre wieder zu einem disziplinenübergreifenden Austausch. Auf breiter Front wurden das duale Modell, das zwischen Subjekt und Objekt trennte, die Ideologie des Positivismus und der methodische Ansatz der experimentellen Falsifikation als alleinige wissenschaftliche Erklärungszugänge aufgegeben; Kon-struktivismus, Kontingenz, Emergenz, die Selbstreferentialität und Rekursivität komplexer Systeme wurden zu den Säulen des systemischen Paradigmas.

Im deutschsprachigen Raum kamen die Impulse zum disziplinenübergreifenden Austausch und zur Explizierung des Paradigmas aus den Kreisen der Heidelberger Familientherapeuten um Helm Stierlin einerseits und den Organisationsberatern aus der ÖGGO1 andererseits; als Folge wurde der systemische Ansatz hauptsäch-lich in das Anwendungsgebiet der Beratung sozialer Systeme – Familien wie Or-ganisationen – integriert. Ab Mitte der 80er Jahre setzte ein bis heute boomender Ausbildungsmarkt für systemische Beratung ein. Mit Beginn des neuen Jahrtau-sends finden erste solche Ausbildungen Eingang in den Hochschulbereich. Seit dieser Zeit findet das systemische Paradigma, insbesondere seine Säulen des Kon-struktivismus und die Charakteristika komplexer Systeme, Eingang in den gesell-schaftlichen Dialog: unzählige Fachartikel in Magazinen und Wochenendbeilagen

1 Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsentwicklung

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2 Einleitung

von Tageszeitungen verbreiten die Kriterien, mit denen sich die “Postmoderne“selbst beobachtet.

Kurz: An den Universitäten und Fachhochschulen hat die Phase der Normalwis-senschaft begonnen und dieser Studienbrief ist ein kleiner Baustein dazu. Dies ist einerseits zu begrüßen – zumal mir noch deutlich vor Augen steht welche Irritati-onen noch vor 15 Jahren allein der Begriff “systemisch“ ausgelöst hat, wie wir verzweifelt versuchten, ihn für Kunden und Kollegen zu definieren, zu “überset-zen“ – nicht bedenkend, dass man etwas Neues nicht in alte Sprache übersetzen kann, dass sich Verstehen ganz andere Wege bahnen muss als lexikalische Defini-tionen.

Und genau hier liegt auch das “andererseits“: Systemische Beratung ist nicht nur ein Methoden- und Skillset, das sich in Lehrmaterialien explizieren lässt. Systemi-sche Beratung ist in Professionsfelder eingebettet: in Therapie, Supervision, Or-ganisationsberatung, Coaching und neuerdings auch Mediation. Nach dem Motto “Beruf ist Berufung“ sind Zugehörigkeit und Wirksamkeit in einem Professions-feld nicht nur von explizierbarem Wissen, sondern vielmehr von Werten, Haltun-gen und implizitem Wissen abhängig, die in langen Sozialisationsprozessen, oft in einer Meister-Lehrlings-Beziehung und Jahren der Walz erworben werden. Sys-temische Berater beschreiben ihre Tätigkeit als angesiedelt zwischen Handwerk und Kunst; der Besitz von Werkzeugen macht noch nicht den Profi im Handwerk.

So sind einer Qualifizierung als systemischer Beratern über schriftliche Lehrmate-rialien klare Grenzen gesetzt, egal wie viele ECTS sich damit sammeln lassen. Grenzen, die Sie erweitern können, wenn Sie Ihr Lernen eigenverantwortlich ge-stalten und die schriftlichen Materialien nur als einen wichtigen Pfad für die eige-ne Professionalisierung nutzen. Kernelemente der oft mehrfachen und mehrjähri-gen Qualifizierung von systemischen Beratern sind:

Erfahrungslernen mit enger Verknüpfung von Erfahrungen mit Theorie –entweder durch Reflexion der Erfahrungen und Ableitung von Theorie oder durch kompromisslose Präsenz der Theorie im Handlungsalltag, wo die Theorie immer wieder über die Schulter schaut, Fragen stellt und Antworten einflüstert;

Sozialisation in einer Professions-Wertegemeinschaft, um über Gruppenzuge-hörigkeit und Feedback, die eigenen Haltungen und Einstellungen “einzu-ordnen“;

und schließlich - und am wenigsten verzichtbar – die wiederholte und unab-lässige Erfahrung der Kontingenz der eigenen Wirklichkeitszugänge; Kon-tingenzerfahrung ist möglich durch neugierige, fragende Begegnung mit dem Andersartigen, durch den liebevollen, im eigenen Selbstwertgefühl begrün-deten Umgang mit Erschütterungen, die mitunter erst den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheinen, bevor wir sie integrieren können zu mehr Wis-sen und Autonomie im Handeln.

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Einleitung 3

Was bedeutet das für Ihr Lernen?

Suchen Sie sich aktiv Transferprojekte, integrieren Sie die Theorie wo es geht in Ihren beruflichen Alltag.

Schließen Sie sich beim Lernen zu Peergroups zusammen; Zeitmangel ist kei-ne Ausrede. Nutzen Sie diese Peergroups für Ambition, Erfahrungsaustausch, Feedback, Selbsterfahrung und Reflexion – nicht nur als höflichen Stammtisch, der bald versandet.

Üben Sie sich in der Unterscheidung zwischen Beobachtungen 1. und 2. Ord-nung. Schreiben Sie ein Lerntagebuch, in dem Sie Ihre Fragen und Über-raschungsmomente, Ihre blitzartigen Einsichten festhalten.

Suchen Sie sich aktiv Vorbilder, die Sie in Ihrem Lernen weiterbringen, Men-schen, die Sie bewundern, zu denen Sie sich hingezogen fühlen, die Sie einfach “professionell“ finden. Beobachten Sie diese Vorbilder und was Sie an deren Verhalten inspiriert. Fragen Sie sie nach Meinungen, Urteilen, Begründungen, nach ihren prägenden Erfahrungen und um Rat. Ahmen sie Ihre Vorbilder nach und sehen Sie, welche Erfahrungen und Lernerkenntnisse Sie dabei machen und füllen Sie Ihr Lerntagebuch.

Es ist Ihre eigene Haltung Ihrem Lernen gegenüber, die sie beim Lernen weiter-bringt – die Studienbriefe und die ECTS Punkte sind nur Stepping Stones im Wasser; sie bringen Sie auf die andere Seite des Flusses, lehren Sie aber nicht das Schwimmen.

Nun noch einige Worte zur Struktur der Studienbriefe. Sie werden immer wieder - schon bei einem Blick ins Glossar – feststellen, dass sich bestimmte Themen in den Studienbriefen wiederholen – z.B. das Verständnis komplexer Systeme, die Fragetechniken, Haltung, Prämissen systemischer Intervention usw. Das ist einer-seits der Tatsache geschuldet, dass jeder Studienbrief mit seinem Thema einen begrifflichen “Anlauf“ braucht. Andererseits zeigt sich, dass wir unter Kriterien der Wissenschaftlichkeit quasi noch im Übergang zum wissenschaftlichen Nor-malbetrieb sind: durch das Zusammentragen - Kanonisieren - bestehender grund-legender Schriften von verschiedenen “Gründervätern“ wird sichtbar, dass jeder mit anderem Gepäck startet und mitunter andere Aspekte ausleuchtet, dass Begrif-fe unterschiedlich definiert werden, dass man untereinander nicht stringent oder gar aufeinander aufbauend anschließt. Das hat sein Gutes: es wird Ihnen einiges an - sehr fruchtbarer - Integrationsarbeit abfordern und Ihr Lernen irritieren, Wie-derholung ist die Mutter der Pädagogik und schließlich kann man als echter Kon-struktivist sowieso nicht davon ausgehen, dass zwei oder mehr Lehrende dasselbe Weltbild bzw. Wissen haben.

Dieser Studienbrief als einer der ersten des Lehrgangs tritt auch an, den begriffli-chen Bogen über das Ganze zu spannen und Grundzusammenhänge aufzeigen. Er nimmt deshalb für das eigentliche Thema “Der Beratungsprozess“ einen ziemlich

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4 Einleitung

langen Anlauf, der Sie aber bei Ihrer späteren Integrationsarbeit unterstützen soll; deshalb werden Sie immer wieder Hinweise und Bezüge auf andere Studienbriefe finden. Diese Unterstützung beim Integrieren können Sie natürlich nur spüren, wenn Sie ihn mehrfach zur Hand nehmen, was Sie auch mit den anderen Studien-briefen tun sollten. Denn schon die Hermeneutik geht davon aus, dass sich Ver-stehen schleifen- bzw. spiralförmig vollzieht, indem die Erkennende immer wie-der durch dieselbe Materie geht und in einem Wechselspiel von Vorverstehen und Erkenntnis Neues mit Bekanntem vernetzt, bis die Materie durchdrungen ist.

Dieses Vorgehen ist das einzig Praktikable, wenn es sich um ein neues Paradigmahandelt, um ein Theoriegebäude, in dem die einzelnen Begriffe aufeinander ver-weisen und sich gegenseitig Gehalt geben. Das zeigt sich generell im systemi-schen Ansatz – wiewohl hier mittlerweile schon viele Begriffe im Alltagsverste-hen kontextualisiert und deshalb leichter zugänglich sind. Es zeigt sich im Beson-deren, wenn Sie neue Theoriegebäude wie die Luhmannsche Systemtheorie ver-stehen wollen. Seien Sie deshalb nicht entmutigt, wenn Sie anfangs nur Bahnhof verstehen; es geht gar nicht anders. Erst beim zweiten, dritten, vierten Durchlesen gehen Ihnen die Lichter auf – jedenfalls war es bei mir so.

Gerade wenn man eine neue Materie lernt, weiß man oft nicht, worauf man über-haupt achten soll, wie sich die Gemengelage strukturiert. Ein fremder Text ist we-sentlich leichter assimilierbar, wenn er mit Fragen "im Kopf" gelesen wird. Das gibt dem Text-Rezipieren ein wenig vom Charakter einer Interaktion - und in so-zialer Interaktion können wir ja spielend auch die abstraktesten Bedeutungsinhalte konstruieren. Jedes Kapitel beginnt deshalb mit einer Reihe von Fragen; ich emp-fehle Ihnen, zu Beginn Ihrer Auseinandersetzung mit diesem Studienbrief erst einmal alle Fragen zu Beginn aller Kapitel - aber noch nicht die Kapitel zu lesen. Sie legen sich damit selbst Fährten für Ihr Lernen und erleichtern sich die Vernet-zung der Materie.

Am Ende jedes Kapitels finden Sie Fragen, mit denen Sie Ihren Lernfortschritt überprüfen können. Für einige dieser Fragen können Sie die Musterlösungen nachschlagen. Andere – vor allem diejenigen, in denen es um die Anwendung des Stoffs auf eigene Fälle geht – laden Sie ein, sich darüber im Kollegenkreis auszu-tauschen; Sie können dazu die Service Seite des DISC verwenden.

In diesem Sinn: viel Erfolg und Inspiration, Joana Krizanits.

Anmerkung:

Im nachfolgenden Studienbrief wird sowohl die männliche als auch weibliche Schreibweise genutzt. Ich habe mich orientiert an der zunehmenden Sitte, auch im akademischen Sprachgebrauch, die Gender zu wechseln.

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 5

1 Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

Fragen zum 1. Kapitel:

Was ist systemische Beratung? Wie hat sich der systemische Beratungsansatz entwickelt? Was besagt die Systemtheorie? Welche Kernbegriffe gehören dazu, was bedeuten sie? Vor welchem Hintergrund sind diese Begriffe entstanden? Was unterscheidet technische, komplexe und lebende Systeme? Und was sind soziale Systeme? Wie wurde aus der Systemtheorie in ihren unterschiedlichen Entwick-lungsstufen ein Beratungsansatz?

Welche Fragen stellen Sie sich zu Beginn dieses Kapitels?

Die systemische Beratung ist ein Ansatz zur Beratung sozialer Systeme, der Mitte der 80er Jahre im deutschsprachigen Europa ausdifferenziert wurde. Zwei Gruppen haben maßgeblich dazu beigetragen: der Kreis der Familientherapeuten um Helm Stierlin in Heidelberg und die Trainer und Organisationsberatern in der ÖGGO in Österreich.

Vor dem Hintergrund des damaligen Verständnisses von Systemtheorie - der The-orie komplexer Systeme, gefolgt von der Theorie lebender, autopoietischer Sys-teme verbunden mit dem Ansatz des radikalen Konstruktivismus – wurden Kon-zepte und Methoden aus verschiedenen Disziplinen wie Kommunikationswissen-schaft, Familientherapie, Physik, Biologie, Philosophie/Konstruktivismus usw. zusammengetragen. Daraus entstand einerseits ein Bündel von Interventionstech-niken, andererseits eine grundsätzliche Modellierung von Familien und Organisa-tionen als soziale, komplexe, (später) autopoietische Systeme und letztlich eine Theorie der Intervention in komplexe autopoietische Systeme.

Das erste Kapitel zeichnet diese Entwicklungen nach: die Ausdifferenzierung des Ansatzes in den Gruppen der Familientherapeuten um Helm Stierlin in Heidelberg einerseits und in der ÖGGO bzw. den damit affiliierten Beratergruppen in Wien und Klagenfurt andererseits. Es folgt ein Abriss der Geschichte der Systemtheorie mit ihren unterschiedlichen paradigmatischen Fragestellungen und Begriffsbil-dungen.

Nach diesen Grundlagen wird im zweiten Kapitel dann der systemische Bera-tungsansatz mit seinen Stellgrößen skizziert und schließlich auf unterschiedliche Professionsfelder wie Therapie, Supervision, Organisationsberatung, Coaching und Mediation übertragen.

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6 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

1.1 Die Entwicklungen im Überblick

Zwei Herkunftsdisziplinen haben im deutschsprachigen Raum den systemischen Beratungsansatz entwickelt: die Familientherapie unter Helm Stierlin in Heidel-berg und die Gruppendynamik, wie sie im Netzwerk der Österreichischen Gesell-schaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO) in Wien weiter-geführt wurde.

Ein kurzer Abriss der Geschichte zeigt folgende Entwicklungsphasen in der Ent-stehung des systemischen Beratungsansatzes (s. Krizanits 2009, S.18-42):

Der Heidelberger Kreis2 um Helm Stierlin und dessen “Abteilung für psychoana-lytische Grundlagenforschung und Familientherapie“ an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg lädt in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren namhafte Vertreter aus Kommunikationswissenschaften, Familientherapie, Ky-bernetik, Konstruktivismus, Erkenntnisbiologie, Hirnforschung, Physik und Sozio-logie zum Gedankenaustausch ein. Paul Watzlawick, Heinz von Foerster, Hum-berto Maturana, die Begründer der Mailänder Schule der Familientherapie Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin sowie Steve de Shazer, der Vertreter der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, stellen sich ein; prägende Kontakte gibt es außerdem zu Virginia Satir und Milton Erickson. Auch der Phy-siker und Erfinder der Synergetik Hermann Haken und der Mathematiker Spencer Brown befruchten den Heidelberger Kreis nachhaltig.

Zeitgleich setzen sich in der ÖGGO - zu dieser Zeit das wesentliche Netzwerk für die Professionalisierung von Trainern und Organisationsberatern3 in Österreich - Kreise um Rudolf Wimmer und um Mitglieder der Beratergruppen Conecta und Neuwaldegg mit Konstruktivismus, Erkenntnisbiologie, den neuen Konzepten der Familientherapie und der Soziologie Luhmanns auseinander.

Mitte der 80er-Jahre unterscheidet man noch nicht grundsätzlich zwischen den sozialen Systemen Familie und Organisation; für die Entwicklung von Organisa-tionen kommen ähnliche Konstrukte und Zielbündel zur Anwendung wie für die Entwicklung von Familien: Gesundheit, wechselseitige Loyalität, Bewusstheit bzw. Bewusst-Sein, die Werte und Einstellungen des Human-Relation-Ansatzes, verantwortungsvolle Beziehungen zwischen Management und Mitarbeitern usw. Erst später wird der Begriff “systemische Organisationsberatung“ (s. S. 53) ge-prägt als eine Klammer für den nicht-therapeutischen Anwendungsbereich des systemischen Beratungsansatzes.

2 Gunther Schmidt gehört (wie Gunthard Weber, Ingeborg Rücker-Embden) von Anfang an dazu, 1982 kommt Fritz Simon dazu, 1987 Arnold Retzer, 1989 Jochen Schweitzer. 3 Rudolf Wimmer ist ebenso wie Alfred Janes, langjähriger Vorstand der ÖGGO; Roswita Kö-nigswieser, Wolfgang Looss und viele andere namhafte Organisationsberater machen dort ihre prägenden Lernerfahrungen.

Vgl. Kapitel 3

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 7

In den 90er Jahren konsolidieren Therapeuten wie Organisationsberater ihr jewei-liges Interventionsverständnis und bauen es weiter aus. Die Heidelberger arbeiten mit dem sozialen System Familie und behalten die Person, das psychische Sys-tem, im Blick. Sie integrieren Erkenntnisse der Hirnforschung und der lösungsfo-kussierenden Therapieansätze und beschäftigen sich später teilweise mit Famili-enaufstellungen. Die Wiener arbeiten mit dem sozialen System Organisation. Sie integrieren Ansätze aus der Unternehmensberatung und der Soziologie Niklas Luhmanns; dessen Theorie sozialer Systeme wird neben der Gruppendynamik zu einem zentralen Bezugsrahmen für das eigene Selbstverständnis.

Ab Mitte der 80er Jahre gewinnt der systemische Beratungsansatz Momentum. 1987 erscheint ein erster Artikel (Exner, Königswieser, Titscher 1987), der den Ansatz grundsätzlich beschreibt. Anfang der 90er-Jahre beginnt ein Reigen von Kongressen4 und Symposien, die von den Heidelbergern bzw. von der ÖGGO veranstaltet werden. Die zahlreichen Besucher dieser Veranstaltungen verweisen auf eine wachsende Community von systemischen Therapeuten und Beratern. 1989 gründen Fritz Simon, Gunthard Weber und weitere Wissenschafter den Carl-Auer-Verlag, der sich mittlerweile zu einem der größten Fachverlage Deutsch-lands entwickelt hat. Eine Fülle von Publikationen entsteht.

Als Folge des gestiegenen Veränderungsbedarfs in Organisationen – Stichwort Change Management – richten ab Mitte der 90er Jahre immer mehr Organisatio-nen interne Stellen für Organisationsberatung ein bzw. differenzieren ihre beste-hende Funktion der Organisationsentwicklung mit einem neuen Selbstverständnis aus. Das Aufgabengebiet verlagert und schärft sich: Organisationen professionali-sieren ihr Organisiert-Sein.

Seit Mitte der 80er Jahre hat sich der systemische Beratungsansatz als quasi uni-verseller methodischer Zugang zur Beratung sozialer Systeme etabliert.

Er hat Eingang gefunden in die Beratungstraditionen unterschiedlicher Pro-fessionsfelder wie Familien- und Individualtherapie, Supervision, Organisa-tionsberatung, Coaching, Mediation (s. S. 79).

Im Professionsfeld der Organisationsberatung ist er branchenunabhängig anwendbar auf Organisationen aller gesellschaftlichen Funktionssysteme, d.h. auf Unternehmen (Funktionssystem Wirtschaft) wie auf Krankenhäuser (Ge-sundheitswesen), Schulen (Erziehungswesen), die öffentliche Verwaltung, Or-ganisationen des Wissenschaftsbetriebs oder aus dem Bereich von Justiz, Kunst, Sport usw. (s. S. 53).

4 Der erste Heidelberger Kongress zur “Wirklichkeit des Konstruktivismus“ bringt 1992 über 2000 Besucher nach Heidelberg; 1994 folgt das Symposium “Konstruktivismus und Management“ und 1998 “Die Wirklichkeit des Konstruktivismus II“. Die ÖGGO veranstaltet zwischen 1991 und 2001 fünf große Symposien, denen Publikationen folgen.

Vgl. Kapitel 1.1.2Kapitel 3

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8 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

Die folgenden Ausführungen beleuchten die begrifflichen Entwicklungen in der Systemtheorie und verorten das Paradigma der systemischen Beratung in der Theoriegeneration komplexer, lebender (autopoietischer) Systeme.

1.2 Die Entwicklung der Systemtheorie

Fritz Simon weist darauf hin (Simon 2006, S. 17 ff.), dass sich Forscher, Thera-peuten und Berater zwar immer wieder auf die Systemtheorie beziehen. Tatsäch-lich kann man die Systemtheorie aber als Work-in-Progress verstehen. Zu ver-schiedenen Zeitpunkten haben unterschiedliche Disziplinen,Leitideen beigetragen und der Theorie jeweils neuen Fokus und Brennschärfe gegeben. Simon unter-scheidet drei Generationen von Systemtheorie, die jeweils andere Forschungsfra-gen stellen: technische Systeme, komplexe Systeme und autopoietische Systeme. Die Luhmannsche Theorie sozialer Systeme ist hier als eine vierte Theoriegenera-tion dazugestellt.

Bevor wir starten, wollen wir den Begriff “System“ mit einer Definition versehen, die sich durch alle Generationen bzw. Paradigmen der Systemtheorie trägt und sich auch eignet für das Gespräch mit Nicht-Fachleuten: Ein System ist ein Wir-kungsgefüge, das von seiner Umwelt abgegrenzt ist und typische Funktions-muster aufweist. – “You cannot kiss a system“ (Gunther Schmidt), denn es ist immateriell, eine Wahrnehmungsleistung des Beobachters.

Nehmen wir beispielsweise an wir beobachten, dass die Population von Kanin-chen in einem Wald auf und ab geht und einer Sinuskurve folgt: die Bevölkerung der Kaninchen wächst über lange Phasen stetig bis zu einem Höhepunkt an, kippt dann und dezimiert sich in der Folge stetig bis sie ein Minimum erreicht, um dann wieder stetig anzuwachsen. Dieses Muster ist für sich genommen noch kein Sys-tem. Ein System erkennt der Beobachter erst, wenn er die Populationsentwicklung der Füchse in diesem Wald dazustellt: auch diese folgt - zeitversetzt - einer Sinus-kurve. Wir haben es mit einem Räuber-Beute-System zu tun, das sich grundsätz-lich übertragen ließe auf Katzen und Vögel, Löwen und Antilopen usw.

Abb. 1: Beispiel eines Räuber-Beute-Systems, Quelle: nach Fritz Simon, Seminarinput

Populationsentwicklung der Kaninchen Populationsentwicklung der Füchse

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 9

1.2.1 Technische Systeme – 1945 bis Ende der 60er Jahre

Von 1946 bis 1953 sponsert die Kaufhauskette Macy eine Reihe wissenschaftli-cher Konferenzen, die zum Ziel haben, ausgehend von Bertalanffy’s “General Systems Theory“ (Bertalanffy 1969) die Grundlagen für eine allgemeine Wissen-schaft über die Funktionsweisen des menschlichen Geistes zu legen. Unter dem Vorsitz des Neurophysiologen und Psychiaters Warren McCulloch kommen nam-hafte Vertreter aus Anthropologie (Gregory Bateson und Margaret Mead), Bio-physik (Heinz von Foerster), Physiologie (Arturo Rosenblueth), Soziologie (Paul Lazarsfeld), Psychologie (Kurt Lewin), Psychiatrie (Ross Ashby), Mathematik (John von Neumann, Norbert Wiener), Informationstheorie (Claude Shannon) und anderen Disziplinen zusammen.

Sie entwickeln anfangs eine erste Generation der Systemtheorie technischer Sys-teme. Damals versteht man unter System eine Anzahl von Elementen, die über geschlossene, lineare Rückkopplungsschleifen in Regelkreisen verbunden sind. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie gelingt es in Systemen, stabile Verhal-tensmuster aufrecht zu erhalten trotz variabler Umweltbedingungen? Anders aus-gedrückt: Wie muss sich ein System verändern, um gleich, d. h. in einem homöo-statischen Gleichgewicht, zu bleiben? Welche Kommunikationsprozesse liegen der Fähigkeit von Systemen zugrunde, sich selbst zu regulieren? Ein typisches Beispiel für diese Art von System ist eine Heizungsanlage mit Thermostat.

Diese Fragen begründen eine neue Wissenschaft von der Kommunikation und Steuerung in selbstregulierenden Systemen, die ihr Begründer Norbert Wiener Kybernetik nennt. Die Fragestellungen und Methoden der Kybernetik werden gleichermaßen auf die Forschungsgegenstände Maschinen und lebende Systeme angewandt: “Cybernetics is the study of communication and control in the anmial and the machine“ (Norbert Wiener).

Der britische Consultant und Universitätsprofessor Stafford Beer überträgt ab En-de 1959 die Fragestellungen, Methoden und Erkenntnisse der Kybernetik auf Or-ganisationen. Er versteht Organisationen als “viable systems“, die – in stetigen Regelkreisen geschlossen – funktionieren, um trotz wechselnden Inputs stabile Verhaltensmuster und verlässlichen Output zu produzieren. Beer verspricht: “Cy-bernetics is the science of effective organization“ und prägt in Folge den Begriff “Management Cybernetics“ als Anwendung der Kybernetik für Fragen des Mana-gements. Er entwickelt einen stringenten, methodischen Leitplan zur Systemdiag-nose von Organisationen (Beer 1969). Sein “Viable Systems ModeL“ wird heute fallweise in der systemischen Organisationsberatung (z.B. Haefele 2007) einge-setzt. F. Malik hat es 1984 seinem Buch “Strategie des Managements komplexer Systeme“ (Malik 1984) zugrunde gelegt und arbeitet noch heute damit. In der Community für Organisational Development (OD) im angelsächsischen Raum ist das Verständnis von Organisationen bis heute stark geprägt von dieser ersten Ge-neration der Systemtheorie, der Theorie technischer Systeme.

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10 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

Die meisten klassischen Managementsysteme beruhen auf der Idee stetiger Opti-mierung durch Rückkopplungsprozesse, in denen Abweichungen durch korrigie-rende Steuerungseingriffe beseitigt werden. Ein Beispiel ist das EFQM Modell, das gar nicht aus der systemischen Ecke kommt. Von 14 europäischen Konzernen 1989 entwickelt, beruht es auf der Prämisse TQM TMQ (Total Quality Ma-nagement Total Management Quality): Durchgehende Qualität einer Organisa-tion wird erzielt durch durchgehende Managementqualität.

Das EFQM-Modell definiert Qualitätskriterien für das Management auf fünf Ge-staltungsfeldern: Führung, Politik und Strategie, Mitarbeiter, Prozesse, Partner-schaften und Ressourcen, die nach definierten Prozesskriterien zu “bewirtschaf-ten“ sind. Die Ergebnisse von Managementmaßnahmen auf diesen “Befähigerva-riablen“ schlagen sich in vier so genannten Ergebnisfeldern nieder: Schlüsseler-gebnisse, mitarbeiterbezogene Ergebnisse, kundenbezogene Ergebnisse und ge-sellschaftsbezogene Ergebnisse. Wie alle kybernetischen Managementmodelle stellt auch das EFQM Modell einen eigenen Prozess zur Selbstbeobachtung bereit, den Selbstbewertungsprozess. Hier kommen Führungskräfte aus verschiedenen Bereichen der Organisation zusammen und bewerten über mehrere Jahre, Güte und Implementierungsgrad von Managementmaßnahmen nach einem allgemeinen Punktesystem. Diese Informationen dienen dem Management als Feedback, um mit der Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen auf den Gestaltungsfeldern wieder einen neuen Kreislauf von Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten.

1.2.2 Die Systemtheorie komplexer Systeme – 1970 bis 90er Jahre

Die zweite Generation der Systemtheorie (1970 – 1990 und danach) stellt kom-plexe Systeme in den Mittelpunkt; Fritz Simon verortet diese Systeme „irgendwo in der Grauzone zwischen Leben und Nichtleben“ (Simon 2006, S. 19). Ein Bei-spiel für diesen Systemtypus ist das Wetter. Die Physik und insbesondere die Chaostheorie liefern die Fragestellungen, Methoden und Erkenntnisse für diese Variante von Systemtheorie (Briggs u. Peat 1990).

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass komplexe Systeme auf zwei Arten auf Veränderungen in der Umwelt reagieren: Sie halten in ihren inneren Strukturen entweder eine bestehende stabile Ordnung aufrecht oder sie stellen eine neue stabile Ordnung her. Umwelt-offene Systeme passen sich – unter Verbrauch von Energie – an Veränderungen in ihren Umwelten an. Das wird möglich, indem sie ihre Strukturen verändern bzw. neue Strukturen ausdifferenzieren – meist im Sinn eines Zugewinns von Komplexität – dabei aber ihre Identität aufrechterhalten.

Diese Prozesse der Strukturanpassung laufen selbstorganisierend ab. Dabei ist ei-ne bestimmte Mechanik “rekursiver Funktionen“ beobachtbar: Das System führt immer wieder dieselbe Operation durch, die auf den Ergebnissen der jeweils vor-her stattgefundenen Operation aufsetzt. Nach langen Perioden stetigen, stabilen

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 11

Verhaltens zeigt sich mit Regelmäßigkeit plötzlich ein Bruch im Verhaltensmus-ter.

Die Chaostheorie erklärt den Übergang von Ordnung ins (für den Beobachter un-erwartete) Chaos so: In wiederholten selbstbezüglichen Operationen werden im-mer wieder dieselben Einwirkungen auf das Ergebnis einer früheren Einwirkung angewandt. Dabei werden selbst kleinste Abweichungen im Ergebnis hochge-schaukelt. Schließlich “kippt“ das System in einen neuen Ordnungszustand; die Chaostheorie hat dafür den Begriff des Attraktors geprägt.

Ein Beispiel mag der Topf mit Milch auf dem Herd sein, der irgendwann plötzlich überkocht. Im Milchtopf sind die rekursiven Operationen die Bewegungen der Moleküle, die durch die Zufuhr von Wärme der Herdplatte ausgelöst werden. Die-selbe stetig zugeführte Energie hat lange Zeit (für den Beobachter) stetige Aus-wirkungen: Die Milch wird immer wärmer. Angewandt auf bereits hoch erhitzte Milch, in der die Moleküle bereits sehr schnell unterwegs sind, führt bei stetiger Energiezufuhr dieselbe stetige Operation der Auslösung von Molekülbewegungen plötzlich zu einem neuen koordinierten Muster: Die Milch hebt sich gleichmäßig über den Topfrand, bildet für einen kurzen Moment eine Art Deckel und strömt dann überall über den Topfrand, um auf der Herdplatte zu verschmoren.

Es ist diese Generation von Systemtheorie komplexer Systeme, die Peter Senge meint, wenn er in seinem Buch “Die fünfte Disziplin“ (Senge 1996) auf die “Sys-tems Theory“ referenziert. Am Beispiel von Angebots- und Nachfragerückkopp-lungen für eine neue, von einer Nische von Konsumenten bevorzugten Biersorte beschreibt er genau diesen Prozess rekursiver selbstbezüglicher Operationen, die –für die Bierproduzenten und -händler unerwartet – ins Chaos führen (www.beergame.org). Das Funktionsmuster, das hier beschrieben wird, liegt vie-len "Blasen" zugrunde (z.B. bei Finanzmarkt- oder Immobilienprodukten); viele komplexe Systeme funktionieren wie Blasen.

Das Bierspiel beginnt in einem kleinen Lebensmittelladen: Mehrfach hintereinan-der kaufen Jugendliche innerhalb weniger Tage den gesamten Lagerbestand einer bislang unbedeutenden Biersorte auf. Die Inhaberin des Ladens bestellt daraufhin eine größere Menge bei ihrem Händler. Da in mehreren Lebensmittelläden die Nachfrage nach der Biersorte gestiegen ist, kann der Bierhändler die gestiegenen Bestellungen nicht ausliefern. Die Inhaberin des Lebensmittelladens bekommt auf ihre Bestellungen wiederholt eine Unterlieferung. Daraufhin bestellt sie eine we-sentlich größere Menge, um trotz Unterlieferung den richtigen Vorrat für ihre Kundennachfrage zu haben. Beim Bierhändler laufen aus vielen Lebensmittellä-den ständig steigende Order ein; er macht dieselben Erfahrungen – Unterlieferung der Bestellmenge durch seinen Großhändler – so dass auch er bald wesentlich hö-here Bestellungen bei seinem Großhändler aufgibt. Beim Großhändler summieren sich hohe Bestellungen seiner Händler, die er nicht bedienen kann, weil er von der Bierfabrik unterbeliefert wird; als Folge schraubt auch er seine Bestellungen hoch,

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12 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

um möglichst hohe Zulieferungen zu bekommen. In der Bierfabrik verzeichnet man eine sich überschlagende Nachfrage nach dieser Biersorte; um mit der Pro-duktion nachzukommen, investiert man in eine neue Anlage. In dem Moment, wo die georderten Mengen tatsächlich ausgeliefert werden, sitzen alle Abnehmer auf riesigen Lagerbeständen; die Bestellungen versiegen. Aus Sicht des Werkes bricht die Nachfrage zusammen. (Sie können das Bierspiel nachspielen unter www.beergame.org).

Im Allgemeinen referenzieren die US-amerikanischen Kreise in Wissenschaft und Beratung auf diese Generation der Systemtheorie komplexer Systeme, wenn sie von Systemen bzw. von Systemtheorie sprechen; das Konzept der Autopoiese und Luhmanns Konzept der sozialen Systeme sind dort nur wenig bekannt.

Typisch für komplexe Systeme ist, dass wir nicht genau wissen, wann ein System von einem Ordnungszustand ins Chaos bzw. in einen neuen Ordnungszustand kippt. Meist wissen wir auch nicht, welchen neuen Ordnungszustand ein System einnehmen wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von “offenen“ Systemen und meint damit die Freiheitsgrade des Systems für neue Ordnungsmuster. Diese Eigenschaft der Offenheit komplexer Systeme macht es so schwierig, z.B. ein Erdbeben oder einen Tsunami vorherzusagen.

Das hat Heinz von Foerster schon früh mit der Metapher der “nichttrivialen Ma-schine“ veranschaulicht. Sie illustriert, dass die Verhaltensmöglichkeiten eines Systems “transcomputional“ bzw. unbestimmbar sind (von Foerster 1993, S. 153 ff.), weil jeder Input den inneren Zustand des Systems verändern kann. Eine glei-che Inputoperation kann zu verschiedenen Zeitpunkten – auf einen geänderten in-neren Zustand treffend – zu einem anderen Output führen sowie zu einer weiteren Änderung des inneren Zustands. Ein gleicher Input kann so zu verschiedenen Outputs führen; gleiche Outputs können auf verschiedene Inputs folgen. Welcher Output einem Input folgt, hängt von der Vergangenheit des Systems ab.

Ein starker Regenfalls im Gebirge durchfeuchtet den Boden und führt z. B. zur Stärkung der Graswurzeln. Regnet es in den nächsten Tagen wieder so stark, bil-den sich bald kleine Rinnen, in denen das Wasser zu Tal fließt. Regnet es weiter-hin so stark, vertiefen sich diese Rinnen; der Boden wird stellenweise unterspült, er kann ins Rutschen kommen, ein Mure geht ab.

Die Tatsache, dass komplexe Systeme ihre inneren Zustände verändern, d. h. ihre Algorithmen, mit denen sie auf Inputs reagieren und Outputs produzieren, ver-weist auf ein weiteres konstitutives Merkmal komplexer Systeme: sie sind pfad-abhängig. Wie das System zu einem gegebenen Zeitpunkt reagiert, hängt von sei-ner Vorgeschichte ab. Das System kann nicht wieder in einem früheren Funkti-onsmodus operieren oder auf diesen einfach zurückgeführt werden. Die Lawine kann nie wieder der Berg hinaufrollen und zum Schneebrett werden.

Vgl. SB0420

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 13

Steigert man z.B. die Auslastung in einer Abteilung in Spitzenzeiten, kann dies eine Weile zu immer höherer Produktivität führen. Fügt man aber immer wieder Belastungen hinzu, werden irgendwann die ersten Mitarbeiter wegen Krankheit ausfallen. Die Verbleibenden müssen noch mehr Arbeit leisten, so dass auch sie irgendwann ausfallen. Die aus dem Krankenstand zurückkehren, müssen so viel arbeiten, dass sie bald wieder krank sind. Das System hat sich auf ein neues, stabi-les Funktionsmuster “Krankenstand“ eingespielt – auch wenn man jetzt die Work-load wieder auf das Ausgangsniveau senken würde.

Aus der Pfadabhängigkeit der Funktionsmuster in komplexen Systemen leitet sich der Primat der Kontextbezogenheit ab: komplexe Systeme können jeweils nur in einem Kontext ergründet und interpretiert werden. Verallgemeinerungen und Generalisierungen des Systemverhaltens sind nicht hilfreich; ja sie können – z.B. bei Funktionsmustern wie Blasen (s.o.) – gefährlich in die Irre führen. Umgekehrt lässt sich ein komplexes System in seinen Funktionsmustern umso besser erken-nen, je genauer man den jeweiligen Kontext differenziert.

1.2.3 Konstruktivismus und Autopoiese – bis in die 90er Jahre

Wie sich am Beispiel des Milchtopfes zeigt, ist die Definition von Ordnung bzw. Chaos eher eine Leistung des Beobachters als eine Eigenschaft des Systems der Milcherhitzung. Für uns ist Ordnung, wenn die Milch im Topf ist; das Chaos setzt ein, wenn sie auf der heißen Herdplatte verschmort. Ein neugieriges Kind fände den Prozess wahrscheinlich bis zum Schluss ganz in Ordnung. Aus der Perspekti-ve einer nichttrivialen Maschine betrachtet, kann grundsätzlich jegliche Verände-rung des inneren Systemzustands einen Musterbruch und eine Ausrichtung auf ei-nen neuen Attraktor bedeuten. Im Milchtopf auf der Herdplatte könnten z.B. das Geräusch des Simmerns oder die Hautbildung darauf hinweisen, dass das System neue Attraktoren gefunden hat. Was wir als stabiles Verhaltensmuster des Sys-tems beobachten, ist immer auch Artefakt stabiler, ja unbeirrbarer Beobachtungs-kriterien unsererseits, die sich irgendwann – unerwartet – dem faktischen Wider-spruch beugen müssen.

Das Phänomen, das der Beobachter mit seinen Beobachtungskriterien selektiv be-obachtet, wird noch schärfer gestellt in der Aussage von Heinz von Foerster: „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (von Foerster 1999, S. 25). Hier verbindet sich die Systemtheorie mit dem Konstruktivismus – einer Richtung der Philosophie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie der Mensch zu Erkenntnis kommt. Der Konstruktivismus postuliert, dass unsere Wahrnehmun-gen der Welt nie die Wahrheit, sondern nur selbst angefertigte Konstruktionen von Wirklichkeit sein können.

Aus der Quantenphysik kennt man das Phänomen, dass wir Elektronen als Teil-chen oder als Wellen wahrnehmen können – je nachdem, welche Beobachtungs-

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14 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

methode eingesetzt wird. Diese Tatsache ist folgenschwer: Wir müssen uns von unserem dualen Weltbild verabschieden, das die Welt in erkennende Subjekte und in zu erkennende Objekte teilt. Der Zugang zur Wahrheit ist uns verschlossen; wir können nur subjektive Wirklichkeiten konstruieren. Dieser Prozess folgt zwar all-gemeingültigen Konstruktionsprinzipien (Treffen von Unterscheidungen auf Basis von Unterscheidungskriterien), das Ergebnis sind aber vielfältigste, unterschiedli-che Wirklichkeitsbeschreibungen.

Wie einzelne Menschen ihre Wirklichkeit konkret konstruieren, wird beeinflusst von ihrem Wahrnehmungsapparat, ihren Erfahrungen, ihren kognitiven Prägungen und sozialen Konventionen. “Der Beobachter macht die Beobachtung“ ist ein geflügeltes Wort von Systemikern.

Dieselbe Landschaft sieht jeweils anders aus, wenn man sie durch eine Sonnen-brille, eine 17 Dioptrien-Brille, eine Röntgenbrille oder ein Infrarotgerät betrach-tet.

Es ist davon auszugehen, dass wir nie die Landschaft sehen, sondern nur unsere eigenen Vorstellungen davon. Heinz von Foerster prägte den Terminus “Kyberne-tik der Kybernetik“ bzw. “Kybernetik 2. Ordnung“, um auszudrücken, dass die Beschreibung eines Systems auch die Beschreibung des Beobachters und seiner Beobachtungskriterien einschließen muss, wenn sie nützlich sein soll. Während der Beobachter 1. Ordnung die Landschaft beobachtet, beobachtet der Beobach-ter 2. Ordnung, wie der Beobachter 1. Ordnung beobachtet und welche Brille dieser dabei trägt.

Die Beschreibung einer Landschaft mit roten Flecken und grün-blauen Konturen verweist auf den Träger einer Infrarot-Brille. Einem Jäger wird diese nachts nütz-licher sein als eine Sonnenbrille.

Heinz von Foerster schlug bereits Anfang der 70er Jahre vor, menschliche Kogni-tion zu definieren als nie endende, rekursive Prozesse des Errechnens von Wirk-lichkeit (von Foerster 1999, S. 25ff.). Er war in engem Austausch mit den beiden Neurobiologen Humberto Maturana und Franzisco Varela, die untersuchten, wie Erkenntnis bzw. Wirklichkeitskonstruktion mit neuronalen Prozessen zusammen-hängen (Maturana/Varela 1984). Ihre und von Foersters damals vergleichsweise einfachen neurophysiologischen Experimente sind heute von den bildgebenden Verfahren der modernen Hirnforschung bestätigt: Es gibt keine 1:1 Abbildung von Stimuli in Regionen oder Feuerungsmustern von Hirnzellen. Das Gehirn rea-giert unspezifisch auf externe Reize und auch nur mit einem vergleichsweise ge-ringen Anteil seiner neuronalen Gesamtaktivität. Die meiste Zeit ist es mit sich selbst beschäftigt: Einer einzigen Reaktion auf einen Außenreiz – z.B. der Wahr-nehmung eines optischen Reizes – stehen fünf Millionen Reaktionen auf Innenrei-ze, d.h. auf gerade laufende neuronale Prozesse, gegenüber. Wenn wir das Gehirn als nicht-triviale Maschine (s.o.) sehen, liegt also nicht nur irgendein interner Zu-

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 15

stand zwischen einem Input und einem Output; das Gehirn ist vielmehr im We-sentlichen damit beschäftigt, eigenweltliche, innere Zustände zu produzieren.

Ihre wissenschaftliche Arbeit führte Maturana und Varela von ihrer Kognitions-theorie zu einer generellen Theorie lebender Systeme. Das Verallgemeinerbare zwischen Kognition und jedem anderen lebenden System ist ein bestimmtes zent-rales Organisationsmuster, das nicht-lebende (z.B. technische) Systeme nicht auf-weisen. Sie nannten dieses – für den Typus der lebenden Systeme universale, kon-stante – Organisationsprinzip “Autopoiese“.

Das Organisationsprinzip der Autopoiese besteht darin, dass lebende Systeme sich in selbstorganisierenden Prozessen selbst erzeugen und am Leben erhal-ten. Sie bestimmen ihre eigenen Grenzen, sie erzeugen ihre Elemente und diese verbindenden inneren Strukturen selbst – und zwar mittels ihrer bestehenden Elemente und Strukturen. Die Antwort auf die Frage, was zuerst da war, Henne oder Ei, wird so zum Artefakt des Beobachtungsfokus – ähnlich wie die quanten-physikalische Frage: Welle oder Teilchen? Strukturgebend und konstitutiv für le-bende Systeme sind die selbstorganisierenden Prozesse, die unter anderem von der Henne zum Ei und vom Ei zur Henne führen. Autopoietische Systeme kennen kei-nen Unterschied zwischen Erzeuger und zwischen Sein und Tun (Simon 2006).

Autopoietische Systeme sind operational geschlossen, d.h. was immer darin ge-schieht bezieht sich rekursiv auf das, was gerade vorher passiert ist, bis in Selbst-organisation nach vielen rekursiven Reaktionen ein neuer Attraktor und ein neues Muster erreicht sind.

Allerdings sind lebende Systeme strukturell mit ihren Umwelten gekoppelt; Um-weltereignisse können im Rahmen dieser strukturellen Koppelung ein System bei seinen Operationen “verstören“ (im Spanischen: perturbieren). Grundsätzlich kann eine solche Verstörung bzw. Beeinflussung des Systems durch die Umwelt jedoch nur stattfinden, wenn das System dies strukturell zulässt; das ist gemeint mit dem Begriff der strukturellen Kopplung.

Nehmen wir als Beispiel den Genesungsprozess von einer Grippe: Schüttelfrost, Fieber, Schweißausbrüche ringen Schnupfen und Husten nieder; ob draußen die Sonne scheint, ein wichtiger Termin im Kalender steht, ist – wie andere Außen-reize auch – für den Prozess bedeutungslos; es schließen keine internen Operatio-nen daran an.

Die Tatsache, dass sich lebende Systeme bei Erhalt und Reproduktion ihrer selbst auf ganz bestimmte, ihre Autopoiese begründende, Organisationsprinzipien und Prozesse beziehen, wird operationale Schließung genannt; die Menge der dem System zur Verfügung stehenden Operationen ist begrenzt/geschlossen in Bezug auf diese Organisationsprinzipien.

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16 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

System und Umwelt sind für einander Restriktionen; sie setzen einander den Rah-men der jeweils möglichen eigenen Operationen. Systeme, die strukturell mitei-nander gekoppelt sind, sind füreinander jeweils System und Umwelt.

Wenn die Temperatur fällt, keine Heizung da ist, das Wasser Typhusbakterien enthält usw. verändert dies das Ergebnis, das durch die Genesungsoperationen be-reits erzielt wurde. Die Heilungsoperationen setzen plötzlich wieder bei 42 Grad Fieber an, ein fast genesener Mensch erleidet einen Rückfall. Für eine Schildkröte beispielsweise ist ein Temperaturabfall auf 5 Grad Celsius weitgehend bedeu-tungslos, da sie sowieso keine Grippe entwickeln kann.

Man kann autopoietische Systeme nicht instruieren, andere Elemente hervorzu-bringen als diejenigen, aus denen sie bestehen bzw. die strukturell angelegt sind. Selbst, wenn die Gentechnik antritt, das Programm zur Ausprägung von einzelnen Elementen zu ändern, bleiben die konstitutiven Prozesse der Autopoiese (Simon 2006, S. 32) bei allen biologischen Systemen gleich.

Nur das Leben eines Huhns kann das Leben eines Huhns hervorbringen (Berghaus 2003, S. 57). Kein Huhn kann sich Hufe wachsen lassen oder einen Euter. Der Mensch kann nicht als Greis auf die Welt kommen und immer jünger werden, er kann keinen monatelangen Winterschlaf halten. Das Leben eines Huhns funktio-niert aber nach denselben selbstorganisierenden autopoietischen Organisations-prinzipien wie das Leben eines Nilpferds oder des Menschen.

System und Umwelten durchlaufen eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte, ei-ne nicht gerichtete Co-Evolution, die Maturana und Varela “natürliches Driften“bzw. evolutionäre Drift nennen. Es geht dabei nicht um das Survival of the Fittest, sondern ausschließlich um den Fit: den Erhalt von struktureller Kopplung (deren konkrete Ausprägung sich ändern kann) und von Autopoiese (Maturana/Varela 1984, S. 129).

1.2.4 Luhmanns Theorie sozialer Systeme – 1984 bis 1999

Luhmanns Ausprägung der Systemtheorie verbindet die Ansätze des US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons und die damals aktuellen Entwick-lungen der Systemtheorie und entwickelt auf dieser Grundlage eine neue große Theorie – ursprünglich mit dem Ziel, der Soziologie eine eigene Basistheorie zu geben. Sein grundlegendes Werk “Soziale Systeme“ erscheint 1984; die Bedeu-tung seiner Konzepte für die systemische Organisationsberatung erschließt sich einer Öffentlichkeit (an Hochschulen und in Beraterkreisen) erst ab Ende der 90er-Jahre.

Niklas Luhmann hat das Konzept der Autopoiese lebender Systeme vom Gel-tungsbereich der biologischen Systeme auf andere für die Soziologie relevante Erkenntnisgegenstände ausgeweitet. Er unterscheidet neben biologischen Syste-

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 17

men zwei weitere Typen von lebenden Systemen: soziale Systeme und psychische Systeme. Jeder dieser drei Typen lebender Systeme hat jeweils einen spezifischen Operationsmodus, mit dem er seine Autopoiese betreibt:

Biologische Systeme operieren mit Lebensprozessen (wie Wachstum, Fort-pflanzung, Heilung, Degeneration usw.).

Psychische Systeme operieren mit Bewusstsein; Prozesse sind Denkakte, Wahr-nehmungen, Gefühle usw.

Soziale Systeme operieren mit Kommunikation.

Abb. 2: Lebende Systeme und ihr jeweiliger Modus von Autopoiese nach Niklas Luhmann

Jedes lebende System kann nur in seinem jeweiligen typischen Operationsmodus seine Autopoiese bestreiten, nicht im Modus eines anderen Systemtypus. Jeder Systemtypus ist also operational geschlossen, d. h. in seiner Autopoiese auf spezi-fische, Existenz erhaltende und fortschreibende Prozesse begrenzt.

Ein Gedanke kann keinen Krebs verursachen oder heilen, wir können nicht spü-ren, wie unsere Zellen sich teilen.

Das Konzept der strukturellen Kopplung, das die strukturell bedingte Verbunden-heit zwischen einem System und seiner Umwelt beschreibt, lässt sich erweitern: Lebende Systeme können zueinander System und Umwelt sein, d.h. sie können in struktureller Kopplung zueinander sein.

Jogging kann den Körper fitmachen und die Gedanken aufhellen. Die strukturelle Kopplung besteht in diesem Fall aus körpereigenen Opiaten, die beide Seiten in Schwingung bringen.

Wertschätzende Kommunikation, die einem Menschen Ansehen gibt, löst einen biochemischen Cocktail aus, der den Menschen gesund hält. Kommunikationsab-bruch führt beim Gemobbten nicht nur zu Verzweiflung und schwarzen Gedan-ken; die chronische Abwesenheit notwendiger (als Folge von Ansehen und Wert-

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18 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

schätzung ausgeschütteter) Endorphine setzt auch den Zellstrukturen Restriktio-nen: Sie werden geschädigt; der Mensch kann krank werden. Aber nicht die Krän-kung macht ihn unentrinnbar krank, sondern die strukturelle Kopplung zwischen Psyche und Körper erzeugt Anschlussmuster im Körper, die Krankheit auslösen können, aber nicht müssen.

Die Kategorie der sozialen Systeme unterteilt Luhmann nochmals in drei Aggre-gierungen: in die (Welt-)Gesellschaft, in Organisationen und in soziale Interakti-onssequenzen5. Die drei Typen sozialer Systeme nach Luhmann hängen folgen-dermaßen zusammen:

Das umfassendste soziale System, unsere moderne (Welt-)Gesellschaft, hat verschiedene Funktionssysteme ausdifferenziert, die die Ereignisse in der Gesellschaft selektiv beobachten. Solche Funktionssysteme sind z.B. Recht, Wissenschaft, Sport, Kultur, Wirtschaft, Erziehungswesen usw.

Um ihre Beobachtungsaufgaben zu erfüllen, sind sie auf Organisationen ange-wiesen. Organisationen sind quasi das Rückgrat unserer modernen Gesell-schaft. Sie ermöglichen es ihrem jeweiligen Funktionssystem zu operieren, d.h. Beobachtungen anzufertigen, zu bündeln, Expertise zu erwerben, Entschei-dungen zu treffen usw.

Interaktionen sind Kommunikationssysteme, die sich als eigene Wirkungs-gefüge mit eigenen Funktionsmustern etablieren und perpetuieren. Nehmen Sie als Beispiel ein Konfliktsystem, etwa die jährlichen Tarifverhandlungen zwi-schen Belegschaftsvertretern und Unternehmensleitung.

Einem gesellschaftlichen Funktionssystem lassen sich jeweils eine Reihe unter-schiedlicher Organisationen zuordnen, die sich mit derselben identitätsbildenden Leitdifferenz ihres Funktionssystems jeweils von ihrer Umwelt abgrenzen und auf selektive Kommunikationsanschlüsse spezialisieren.

Dem Funktionssystem Mode lassen sich beispielsweise Organisationen zuordnen wie Designerlabels, Veranstalter von Modeschauen, spezielle Illustrierte, Modell-Agenturen, Boutiquen usw. Das Funktionssystem Verkehr operiert über Straßen-bauunternehmen, Airlines, Buslinien, die Bahn, den Schwerlastverkehr, die Auto-fahrerclubs, die Automobilbauer mit ihrer Zulieferindustrie etc. Das Funktionssys-tem Musik konstituiert sich über Orchester, Opernhäuser, Musikschulen, CD-Labels, Konservatorien, Festspiele, Radiosender, Rockbands usw.

Nur über Organisationen können Funktionssysteme Geschehnisse auf ihrem Radar erfassen und gesellschaftliche Wirkungen auslösen. Es ist die Vielfalt der Organi-sationen und die Vielfalt der Funktionssysteme, die unsere pluralistische, demo- 5 Das System Familie kommt in dieser Gliederung nicht vor; Luhmann hat es logisch auf einer an-deren Ebene eingehängt.

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Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat 19

kratische Gesellschaft möglich machen. Daher die Aussage: Organisationen sind das Rückgrat unserer entwickelten Gesellschaft, die – anders als beispielsweise eine Gesellschaft, die auf Clans beruht – vielfältige und hochkomplexe Themen prozessieren kann.

Kommunikation ist nach Luhmann der Modus für die Autopoiese sozialer Syste-me. Er beschreibt Kommunikation als Prozess, der drei Auswahlentscheidungen umfasst: die Selektion einer Information aus der unendlichen Menge aller mögli-chen Reize, die Selektion einer Mitteilung, bzw. eines Mitteilungsmediums (z.B. schriftlich, verbal, nonverbal) und die Selektion der Mitteilung aus der unendliche Menge aller möglichen Reize, die beim Empfänger aufschlagen. Kommunikation beginnt nach Luhmann mit dieser dritten Selektion, d.h. mit dem Mitteilungsver-stehen: ein Ego “versteht“, dass ein Alter ihm eine Mitteilung macht. Ego macht den Versuch des Sinnverstehens, d.h. er wählt aus der Fülle möglicher Daten eine Information aus. Dieser vierte Schritt ist wieder identisch mit dem ersten Schritt einer Kommunikationssequenz. Entschließt sich nun seinerseits Ego, dem Alter, darüber eine Mitteilung zu machen, so hat Anschlusskommunikation stattgefun-den. Ob Ego und Alter inhaltlich, d.h. in ihrem Sinnverstehen, aneinander an-schließen, ist für den Erfolg von Kommunikation bedeutungslos; dieser besteht vielmehr darin, dass Kommunikationsanschlüsse bzw. Anschlusskommunikationproduziert werden; dafür ist Mitteilungsverstehen hinreichend.

Die Menge möglicher Informationen und Mitteilungen, auf die Ego nicht reagiert, ist unendlich groß; d.h. Anschlusskommunikation ist sehr unwahrscheinlich. Es braucht also gute Gründe, dass Anschlusskommunikation zu Stande kommt – gute Gründe oder Wahrscheinlichkeiten, die die Erwartungen von Alter und Ego, eine Mitteilung zu bekommen, kanalisieren und im besten aller Fälle sogar das Sinn-verstehen der beiden Seiten synchronisieren. Es braucht Medien, die Wahrschein-lichkeiten und Erwartungen lenken und Kommunikation vermitteln.

Die wichtigsten Kommunikationsmedien sind nach Luhmann Sinn und Sprache.Ein Sinnzusammenhang, ein Begriff, eine Sprachwendung erhöhen die Wahr-scheinlichkeit, dass Ego merkt, dass Alter ihm eine Mitteilung gemacht hat und umgekehrt.

Ein Controller, der den Terminus “Balanced Score Card“ im Betriebsrestaurant hört, wird es grundsätzlich für wahrscheinlich halten, dass er eine Mitteilung be-kommt; bei einer Beraterin mag der Terminus "Intervention" ähnliche Effekte ha-ben. Beide melden sich dann mitunter schnell zu Wort; sie haben da auch etwas mitzuteilen.

Auch die Massenmedien spielen eine wichtige Rolle, um die Wahrscheinlichkeit für aneinander anschließende Kommunikation zu erhöhen: Was abends im Fern-sehen war oder morgens in der Zeitung steht, bildet z.B. den Kern für die früh-morgendlichen Interaktionssequenzen in der Kaffeeküche und am Schreibtisch.

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20 Kapitel 1: Wie sich der systemische Beratungsansatz entwickelt hat

Massenmedien grenzen sich als System über die Leitdifferenz “alte versus neue Informationen“ ab. Anders gesagt: Sie haben das Problem, immer Neuigkeiten bringen zu müssen. Neuigkeiten bringen den eigentlichen Kommunikationsan-schluss nach dem Motto: “Hast du schon gehört…“ über den man sinnmäßig völ-lig unzusammenhängende Inhalte aneinander koppeln kann.

Anschlusskommunikation wird auch durch die “symbolisch generalisierten Kom-munikationsmedien“ wahrscheinlich: Macht, Geld oder Eigentum, wissenschaftli-che Wahrheit, Liebe – all das kann in einem gegebenen Kontext Anschlusskom-munikation wahrscheinlicher machen und einem Ego helfen, zu verstehen, dass ein Alter ihm gerade eine Mitteilung gemacht hat.

Angesichts der Macht einer Vorgesetzten erwartet die Mitarbeiterin höchstwahr-scheinlich, Mitteilungen von ihr zu bekommen. In einer Liebesbeziehung kann ein Stirnrunzeln als Mitteilung verstanden werden, die Anschlusskommunikation aus-löst.

Übungsaufgabe 1:

Was sind die Unterschiede zwischen einem technischen System wie z.B. einem Autopiloten und einem lebenden System wie z.B. einem biologischen System?

Übungsaufgabe 2:

Was sind die Besonderheiten, d.h. die besonderen Funktionsmuster komplexer Systeme? - Was folgt daraus für Steuerung und Lenkungseingriffe in komplexe Systeme?

Übungsaufgabe

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 21

2 Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Fragen zum 2. Kapitel:

Was macht inhaltlich den systemischen Beratungsansatz aus – welche Methoden und Techniken? Welche Grundannahmen und Haltungen? Was sind zirkuläre Fra-gen? Was ist gemeint mit Beobachtungen 1. und Beobachtungen 2. Ordnung? Wie macht man Beobachtungen 2. Ordnung? Worauf achtet man dabei bzw. mit wel-chen Beobachtungskriterien geht man vor? Was ist eine Intervention und was ist mit dem Begriff Hypothese im systemischen Ansatz gemeint? Systemische Schleife und systemische Zwiebel? Wenn doch immer von der “Haltung“ im sys-temischen gesprochen wird, was ist damit gemeint? welche Einstellungen und Werthaltungen soll man als systemischer Berater/systemische Beraterin aktiv ein-nehmen? Und Warum? Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Coaching und Organisationsberatung? Wo setzen die Professionsfelder Supervisi-on und Mediation an?

Welche Fragen stellen Sie sich zu Beginn dieses Kapitels?

Was macht den systemischen Beratungsansatz aus? Drei Stränge werden in die-sem Kapitel zusammengetragen:

Methoden und Werkzeuge

Fertigkeiten des Beobachters 2. Ordnung: die Lenkung der eigenen Wahrneh-mung

Haltung und Einstellungen in der Beratung

2.1 Methoden und Werkzeuge

Die Grundlagen für den systemischen Beratungsansatz wurden von der Mailänder Schule der Familientherapie (Selvini-Palazzoli et al., 1978, 1984) gelegt. Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Giuliana Prata und Gianfranco Cecchin entwi-ckelten die Techniken des zirkulären Fragens, des Hypothetisierens und definier-ten Richtlinien für die Haltung, z.B. die Kriterien der Neutralität und der Neugier-de.

2.1.1 Die zirkulären bzw. systemischen Fragen

Das wichtigste Werkzeug der systemischen Beratung sind die zirkulären Fragen,die helfen, ein System zu erkunden. Der Begriff “zirkuläres Fragen“ meint im en-gen Sinn “ums Eck“ zu fragen, also z.B. statt: “Wie geht es dir?“ zu fragen: “Was würde deine Freundin sagen, wie es dir geht?“ Im weiteren Sinn ist generell das

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22 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Einholen anderer Perspektiven gemeint, z.B. die Sichtweisen relevanter Um-welten eines Problems, die Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft oder die Perspektive, ob es sich um ein Problem oder um eine Lösung handelt.

Statt den Verkauf zu fragen: “Warum ist der Absatz zurückgegangen?“ fragt man z.B.: “Was würden Ihre Mitbewerber sagen, was geschehen muss, damit Ihre Kunden heute in einem Jahr 20% mehr von Ihren Produkten gekauft haben wer-den?“

Multiperspektivität lässt sich auch dadurch herstellen, dass man das Gute im Schlechten sieht bzw. das Schlechte im Guten, d.h. durch Umkonnotierung. Oder dadurch, dass man mit der eigenen Aufmerksamkeit bewusst zwischen Pol und Gegenpol oszilliert.

Zirkuläre Fragen bringen Informationen über die Relationen und Interaktionen im System. Sie tasten damit unmittelbar die inneren Strukturen des sozialen Systems ab, die ihrerseits Vorlaufgröße sind für Unterschiede in den jeweili-gen Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsmustern. So fördern zirkulä-re Fragen Selbstbeschreibungen des Systems aus verschiedenen Perspektiven.Es ist quasi, als frage man die unterschiedlichen Brillenträger, nach ihren jeweili-gen Landschaftsbeschreibungen, bzw. als lade man eine Person X ein, sich einmal kurz die Brille von Y aufzusetzen. Eine anschauliche Einführung in therapeutische Anwendungszusammenhänge und Wirkungen von zirkulären Fragen findet sich bei Simon, Rech-Simon, 1999.

Systemische Beratung will sich über die Erstellung vielfältiger Wirklichkeitsbe-schreibungen der Viabilität, d.h. den im Alltag brauchbaren Wirklichkeitskon-struktionen nähern; Multiperspektivität ist angesagt. Da es keine objektive oder normative Zweckmäßigkeit gibt, kein “richtig“ oder “falsch“, versucht systemi-sche Beratung zu ergründen, was in einem gegebenen Kontext hilfreich oder nütz-lich, eben “lebbar“ ist.

2.1.2 Beobachtungen 1. und 2. Ordnung

Eine weitere zentrale Intervention der systemischen Beratung ist es, Beobachtun-gen 2. Ordnung zu machen und ins System zurückmelden. Beobachtungen 1. Ordnung sind alle manifesten Selbstbeschreibungen des Systems - z.B. Schrif-ten und Fotos in Borschüren, Aussagen der Systemmitglieder über die Bedeutung von Dingen, beobachtbare Verhaltensweisen wie Tabuisierungen oder Dramatisie-rung von Themen, der Umgang miteinander usw. Die Mitglieder eines Systemshaben den Status von Beobachtern 1. Ordnung, weil sie in diesem Wirkungsge-füge ihre Wirklichkeit, ihre sozial vereinbarten Bedeutungen konstruieren.

Beobachtungen 2. Ordnung machen Aussagen über die Muster und Zweck-mäßigkeiten von Selbstbeschreibungen des Systems. Sie fokussieren z.B. auf

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 23

Interaktionsmuster, auf das Wiederkehrende in den Handlungen der Beobachter 1. Ordnung. Berater heißen Beobachter 2. Ordnung, weil sie beobachten, wie das System vorgeht, wenn es Bedeutungszusammenhänge herstellt; sie beobachten die aus dem Wesen und der Vergangenheit des Systems resultierenden typischen Wirklichkeitskonstruktionen. Eine Annahme ist dabei, dass für Beobachtungen 2. Ordnung eine Außenperspektive hilfreich ist. Wer im System, im Wirkungsgefü-ge, ist, ist möglicherweise im blinden Fleck.

Der Unternehmer beobachtet, dass seine Führungskräfte selten das Wort ergreifen oder mit eigenen Initiativen in Vorlage gehen. Die Führungskräfte beobachten, dass der Unternehmer immer redet und schon gleich eine Lösung parat hat. Alle sind als Beteiligte in einem sozialen Interaktionssystem Beobachter 1. Ordnung. Die Beraterin, die bezüglich dieses Führungssystems außen steht, beobachtet das stabile Muster der Interaktionen zwischen Unternehmer und Führungskräften. Ihre Rückmeldung an die Beteiligten kann lauten: “Immer wenn Sie als Unternehmer reden und Initiativen vorschlagen, sind Sie als Führungskräfte stumm; immer wenn Sie als Führungskräfte stumm sind, reden Sie als Unternehmer und schlagen Initiativen vor.“

Die Rückmeldung einer Beobachtung 2. Ordnung kann das System verstören und eine Musterunterbrechung auslösen. Ein Musterbruch findet streng genommen be-reits in dem Moment statt, wenn die Kontingenz (die Beliebigkeit) der spezifi-schen Konstruktion eines Musters sichtbar wird. Damit rückt die Möglichkeit ins Blickfeld, es einfach mal anders zu machen, der Möglichkeitsraum wird vergrö-ßert. Muster werden z.B. beobachtbar durch gemeinsame Reflexion von Zusam-menhängen, durch Rückspiegelung von Beobachtungen aus der Außensicht oder durch Beobachtung von anderen Interaktionsmustern in ähnlichen Kontexten. Ei-ne weitere Möglichkeit, die in der Familientherapie entwickelt wurde, ist die pa-radoxe Verschreibung. Dabei sollen beide Seiten "mehr vom Selben" tun.

Wenn der Unternehmer nur mehr redet und die Führungskräfte immer schweigen, wird das komplementäre Interaktionsmuster in purer Form als absurder Automa-tismus sichtbar.

Eine Beobachtung 2. Ordnung, die zu einer Verstörung von Mustern führt, ist eine Intervention. Anders ausgedrückt: Eine Intervention ist eine Kommuni-kation ins System die dort Muster verstört – allerdings nur, wenn das System dies zulässt (nach Helmut Willke). Es kann sein, dass die Rückmeldung einer Be-obachtung 2. Ordnung ins System keinen Musterbruch auslöst, weil das System sich eben nicht verstören lässt.

Wenn die Beraterin dem Unternehmer rückmeldet: “Ich sehe, dass Sie viel reden, die Initiative ergreifen und immer wieder Vorschläge machen, während Ihre Füh-rungskräfte eher zurückhaltend sind und wenig Vorschläge machen, worauf Sie wieder in Vorlage gehen“ kann die Antwort des Unternehmers z.B. sein: “Genau, das sag ich ja, ich muss meinen Führungskräften alles kleinweise vorgeben.“

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24 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Umgekehrt kann die Wirkung einer Intervention ohne Interventionsabsicht von Beratern eintreten.

Allein, dass Berater den Aufzug nehmen, durch die Gänge gehen und im Vor-zimmer zur Direktion warten, kann das Verhalten der Akteure im Unternehmen schlagartig verändern.

Auch ein dritter Fall ist möglich: Dass Beraterinnen aufgrund der Reaktionswei-sen des Systems überzeugt sind, dass sie Wahrnehmung im System verändern; und diese Reaktionen ihren Interventionen zuschreiben, dass diese Reaktionen des Systems aber zu seinen eingespielten Mustern gehören und keinen Musterbruch darstellen.

Wenn z.B. als Reaktion auf Fragen der Berater bei den Gesprächspartnern Nach-denklichkeit aufkommt, die Gesprächspartner Pausen machen, sich überrascht und interessiert zeigen deuten die Berater diese vielleicht als Indikatoren eines Mus-terbruches in der Wahrnehmung der Personen. Tatsächlich sind die Beraterfragen für die Beteiligten “weißer Lärm“. Aber beim letzten Downsizing hat es sich her-umgesprochen, wie man am besten auf Beraterfragen im Einzelgespräch reagiert, wenn man überleben will.

2.1.3 Die systemische Schleife

Obwohl die Wirkung einer Intervention im Vorhinein nicht berechenbar ist, son-dern nur eintritt, wenn das System dies zulässt, sollen Interventionen von Berate-rinnen nicht ungeplant, quasi als Versuchsballons gestartet werden. Kurt LewinsSpruch: “Es gibt nichts, das so praktisch wäre wie eine gute Theorie“ ist ver-bunden mit seiner Forderung, dass jegliche Arbeit “im Feld“ theoriegeleitet sein soll, und zwar in Form einer aus der Praxis abzuleitenden Theorie. Die frühe Or-ganisationsentwicklung hat darauf aufbauend das Rollenbild des sozialwissen-schaftlichen Forschers für den Organisationsberater und den Prozess des Survey-Feedbacks (s.u.) abgeleitet.

Eine Intervention soll also überlegt sein und sich aus einer Schrittfolge ableiten, die in der systemischen Schleife, einem zentralen Werkzeug der systemischen Be-ratung, beschrieben wird. Die systemische Schleife versucht das, was in Sekun-denbruchteilen in unserem Gehirn abläuft, wenn wir handeln müssen, künstlich in vier getrennte Schritte zu unterteilen:

Das reine Beobachten, das Sammeln von Informationen; dies geschieht z.B. durch das zirkuläre Fragen, aber auch durch die Auswertung von Unterlagen, Ereignissen, Erfahrungen usw.

Das reine Interpretieren bis zur “Sättigung“. Hierzu hat die Mailänder Famili-entherapie ein zentrales Werkzeug beigesteuert: das Hypothesen-Bilden. Nachdem Wirklichkeit ohnedies konstruiert ist, erhebt man die Wirklichkeits-

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 25

konstruktion zur Kunst und versucht sich in der Behauptung von vielfältigsten Wirklichkeitszusammenhängen.

Die Generierung verschiedener Handlungsoptionen im Brennglas eines Anlie-gens, das für einen Handlungskontext relevant ist. Ganz allgemein geht es da-bei um nützliche, hilfreiche Optionen, die den Möglichkeitsraum des Systems und damit dessen Autonomiegrad vergrößern.

Das Bewerten und Auswählen bestimmter Handlungsoptionen und das Han-deln, d.h. das Setzen von Interventionen, die diese Handlungsoptionen erschlie-ßen können.

Abb. 3: Die systemische Schleife, Quelle: nach Exner u. Königswieser 1998, S. 24

Wesentlich für die Qualität beraterischer Intervention ist es, die unterschied-lichen Ebenen des Denkens – das Beobachten, Interpretieren, Bewerten – mög-lichst strikt einzuhalten. Genauso wichtig ist es, für jeden der Schritte in der sys-temischen Schleife viele und vielfältige Ergebnisse zu produzieren. In unserem Alltagsvorgehen handeln wir aufgrund von schnellen Bewertungen, die auf weni-gen, selektiven Informationen aufsetzen. Wir halten uns an das Trial-and-Error Prinzip: Wenn unsere erste Handlung nicht in kritische Widersprüche führt, wenn sie nur halbwegs hinreicht, bleiben wir dabei. So pendeln sich auch Organisatio-nen auf suboptimierte Möglichkeitsräume ein. Indem sie diesen Automatismus des "gut ist gut genug" außer Kraft setzt, macht die systemische Schleife den Weg frei für neue Möglichkeitsräume und Autonomiegrade des Systems.

Reines Beobachten – d.h. Ereignisse und Prozesse so zu registrieren wie eine Kamera oder wie ein Aufnahmegerät – ist voraussetzungsvoll. Schließlich ist je-der Mensch aus konstruktivistischer Sicht Brillenträger. Das Beobachten wird zwar erleichtert durch bestimmte Kriterien für die Lenkung der eigenen Aufmerk-samkeit und durch bestimmte professionale Einstellungen und Haltungen (s.u.). Das sind aber nur Lesehilfen. Letztlich ist die Wahrnehmungsfähigkeit des Bera-ters die Vorlaufgröße für alle weiteren Schritte. Wenn er oder sie kein Arabisch versteht, nützt die beste Lesebrille nichts. Als Beraterin ist man gefordert, nicht nur ein gegebenes soziales System als Beobachter 2. Ordnung zu sehen, sondern auch die eigene Wahrnehmung in ihrem Operieren 1. Ordnung: Nach welchen

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26 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Kriterien konstruiert die Beraterin ihre Wirklichkeit? Was sind ihre Unterschei-dungen, die den eigenen Strom der Ereignisse interpunktieren?

Die Hypothesenbildung kann als eine Art auf die Spitze getriebene Reflexion verstanden werden. Es geht in dieser Phase darum, möglichst vielfältige Hypothe-sen aufzustellen. Hypothesen sind grundsätzlich alle Annahmen über Wirkungs-zusammenhänge zwischen Einflussgrößen im System – egal wie konkret an Er-eignissen oder wie verallgemeinernd, wie naheliegend oder unwahrscheinlich die-se sind. Alle Sinnzusammenhänge, die substanziell oder interessant erscheinen, neugierig machen, werden zu Thesen ausformuliert. Das geschieht im Brainstor-mingmodus, d.h. alle Ideen sind zugelassen. Meist tritt nach einer schnellen Brainstormingphase eine Pause ein, bevor neue, nicht so vordergründige Hypo-thesen aufkommen. Es hat sich bewährt, die gewonnenen Hypothesen in einem zweiten Durchgang zu clustern nach Hypothesen, die den Kontext beleuchten,Hypothesen, die auf Interaktionsmuster und regelhafte Ereignisketten fokussieren und Hypothesen, die Aussagen machen über Auswirkungen auf ein bestimmtes Handlungsanliegen, einen Entscheidungskontext.

Der dritte Schritt in der systemischen Schleife betrifft das Generieren von Hand-lungsoptionen. Ausgehend von einem bestimmten Handlungskontext bzw. –anliegen des Systems einerseits und den gewonnenen Hypothesen über das Sys-tem andererseits werden – wiederum im Brainstromingmodus – Möglichkeiten für die weitere Entwicklung gesucht. Auch in diesem Schritt geht es um Vielfalt.

Erst danach werden die gewonnenen Handlungsoptionen gewichtet – z.B. unter dem Kriterium der Nützlichkeit für ein bestimmtes Handlungsanliegen in einem bestimmten Entscheidungskontext. Der vierte Schritt in der systemischen Schleife betrifft die Auswahl geeigneter Interventionen, die die gewählten Optionen prak-tisch umsetzen.

Das Bild der hintereinander geschalteten Schleifen soll das rekursive Vorgehen in der Beratung vermitteln: Die Ergebnisse der Interventionen werden erneut als Da-ten beobachtet, sie werden interpretiert, dann werden für ein bestimmtes Hand-lungsanliegen Optionen gesucht und bewertet, um den Zyklus von Informationen-Sammeln, Hypothesen-Bilden, Optionen-Suchen und Interventionen-Setzen er-neut zu starten.

2.1.4 Gestaltungsebenen beraterischer Intervention

Es lassen sich drei Gestaltungsebenen beraterischer Intervention unterscheiden, die auch als Makroebene, Mesoebene und Mikroebene bezeichnet werden. Kö-nigswieser und Exner (1998) schlagen das Modell der “Zwiebel“ vor.

Es unterscheidet vom Kern zur Außenschale drei Interventionsebenen:

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 27

Interventionstechniken – die Gestaltung des unmittelbaren Interaktionskon-textes; zirkuläre Fragen sind z.B. eine Interventionstechnik.

Interventionsdesigns – die Gestaltung sozialer Räume (z.B. das Design eines Workshops); sie verwenden dafür die Metapher der Innenarchitektur (dieses Thema wird im Studienbrief SB 0410 näher beschrieben).

Interventionsarchitekturen – die Gestaltung von gesamthaften Prozessstruk-turen; sie verwenden dafür die Metapher der Architektur, die Räume schafft (s. Kapitel 9).

Abb. 4: Gestaltungsebenen beraterischer Intervention, Quelle: Exner, Königswieser 1998, S. 145.

Ein Beratungsprozess umfasst in konzertierter Form alle drei Gestaltungsebenen. Ein Workshop ist keine beliebige Kette von Interaktionen; vielmehr geht es da-rum, in einem smarten Design inhaltliche Bearbeitungsschritte und soziale Pro-zesse in geeigneter Zeitabfolge so zu verbinden, dass nachhaltige Ergebnisse mit Lösungstiefe produziert werden können. Ein Workshop steht nicht allein; er ist einzubetten in eine Architektur von vor- und nachbereitenden Prozessen, wenn diedort getroffenen Entscheidungen gelebt werden sollen.

2.2 Wahrnehmung und Haltung

Wenn Berater Beobachtungen 2. Ordnung über ein System machen, ist ihr eigenes psychisches System die Vorlaufgröße für das, was sie sehen können. Das bedeu-tet: die Art und Weise, wie Berater wahrnehmen, ihre Beobachtungskriterien, ha-ben eigentlich den Stellenwert von Methoden. Wie beobachtet man als Berater methodisch richtig? Wie lenkt man die eigene Aufmerksamkeit?

Hier geben die systemischen Prämissen und die systemischen Einstellungen und Haltungen Beraterinnen zweckmäßige Beobachtungskriterien vor, wie sie ihre Aufmerksamkeit, beim Anfertigen von Beobachtungen 2. Ordnung, gezieltlenken können.

Operation:Bewusstsein

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28 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

2.2.1 Die systemischen Prämissen – die Lenkung der Aufmerksamkeit des Beobachters 2. Ordnung

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe haben die “systemischen Prämissen“formuliert (von Schlippe/Schweitzer 1996), jene Kriterien, nach denen in der sys-temischen Beratung interveniert wird. Es ist hilfreich, entlang der systemischen Schleife immer die eigene Aufmerksamkeit nach diesen Kriterien zu lenken –beim Beobachten – beim Bilden von Hypothesen und beim Ableiten und Setzen von Interventionen.

Hier eine kurze Zusammenfassung und Ergänzung:

Den Fokus auf Interaktionen legen, auf das, was zwischen Personen an Hand-lungen und Anschlusshandlungen läuft; Verhaltensweisen nicht auf vermeint-liche Eigenschaften von Personen zurückführen; Personen lassen sich nicht än-dern, Interaktionsmuster möglicherweise.

Die eigene Aufmerksamkeit auf Handlungs- und Lösungsorientierung lenken, statt in die Problemtrance zu fallen; nur so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich vom Problem ergründen.

Auf Ressourcen achten, auf die Gegebenheiten, die Dinge möglich machen, statt sich von Defiziten und Mängeln faszinieren zu lassen.

Die Funktionalität, d.h. Auswirkungen und Zweckmäßigkeit der Verhältnisse ergründen, statt nur die Dysfunktionalitäten in den Blick zu nehmen.

Primat des Kontextes: Das Loslassen von Verallgemeinerungen und Stereo-typen, stattdessen Ereignisse und Interaktionsmuster in ihrer Funktionalität für bestimmte Kontexte sehen; für einen gegebenen Kontext Vieldeutigkeit und viele Optionen herstellen.

Das Mobile-Prinzip, d.h. das Verständnis, dass jede Art von Intervention ganz-heitlich ist, d.h. im ganzen System Wellen schlagen kann, wenn nur an einem Ende gezupft wird.

Das Prinzip der Multiperspektivität: Die gezielte Erkundung möglichst vielfäl-tiger, strukturell bedingter System- und Umweltperspektiven sowie der Pers-pektiven von Vergangenheit und Zukunft, Problem und Lösung, Gelungenem und Missglücktem usw.

Das bewusste Oszillieren zwischen Perspektiven; besonders dann, wenn die Aufmerksamkeit auf eine Seite polarisiert, bewusst auf den Gegenpol fokus-sieren.

Ganz generell auf die Seite des Unwissens bzw. Wenig-Wissens gehen, so ent-steht Unbefangenheit und Neugierde.

Die hohe Kunst der Beobachtung und der Hypothesenbildung ist letztlich, wenn der Beobachter zum Beobachter 2. Ordnung auch seiner eigenen Beobachtungen

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 29

wird. Das heißt, wenn der Beobachter die eigene Aufmerksamkeit auch auf die ei-genen Beobachtungspräferenzen und -muster richtet. Das wäre dann logisch gese-hen eine Beobachtung 3. Ordnung. Es geht darum, die Selbstreferentialität und Rekursivität des eigenen psychischen Apparats zu überlisten. Man und Frau kann Vorkehrungen treffen, die eigene Wahrnehmung so zu lenken, dass Perspektiven-vielfalt entsteht, die neue Unterscheidungskriterien produziert und die üblichen eigenen Wahrnehmungsmuster wieder kontingent setzt.

Durch Beobachtung und Selbstreflexion kann man manche Muster selbst erken-nen. Perspektivenvielfalt beim Anfertigen von Beobachtungen 2. Ordnung heißt konkret auch Teamarbeit: Datenerhebung und Auswertungen zu mehreren, Staffa-rbeit unter Beratern, bei der man sich mit den eigenen Wahrnehmungskriterien auseinandersetzt. Die Aufmerksamkeit auf die eigenen Wahrnehmungsmuster zu lenken, kann zusätzliche Informationsquellen erschließen. So werden in der Staff-arbeit z.B. Resonanzphänomene (s. S.69) beobachtbar, plötzliche Heiterkeitsaus-brüche, Hyperaktivität, bleierne Müdigkeit, Konflikte, kurz: Bestimmte Stim-mungslagen im Staff können auf Affektlagen und Kommunikationsmuster im Kli-entensystem hinweisen.

2.2.2 Haltung und Einstellungen in der systemischen Beratung

Die eigenen Einstellungen und inneren Haltungen beeinflussen, was in den Blick des Beobachters geraten kann. Eine Haltung der Neugierde, der Empathie, des Zugeneigtseins ist anerkanntermaßen Voraussetzung für eine “theoretische Sensi-bilität“, wie sie auch als Forschungshaltung in der Methode der Grounded Theorygefordert wird (Strauss/Corbin, 1996, Kap.3). Ironie, Killerphrasen, übermäßige Kritik, lange Mängellisten – all das weist auf eine defensive Haltung des Be-obachters hin und führt dazu, dass er höchstwahrscheinlich wieder nur Wahrneh-mungen und Gedanken produzieren wird, die diese defensive Haltung bestätigen,denn unser Bewusstsein – das psychische System – ist ja ein selbstreferentiell und rekursiv arbeitendes, weitgehend mit sich selbst beschäftigtes, System (s. S. 17).

Zum professionellen Rüstzeug der systemischen Beratung gehört deshalb nicht von ungefähr ein bestimmtes Set von Einstellungen und Haltungen. Die meisten wurden von der Mailänder Gruppe der Familientherapie erstmals genannt (z.B. die Neutralität, die Neugierde) und dann von den Heidelberger Familientherapeu-ten weiter geschärft (z.B. die Allparteilichkeit, die “Respektlosigkeit“).

Diese Einstellungen und Haltungen sind eine methodische Voraussetzung für die Wirkung systemischer Beratung. Dies aus zwei Gründen: Erstens erweitern und stärken sie die Wahrnehmungsfähigkeit von Beratern und zweitens gehören sie zu den förderlichen strukturellen Bedingungen im Beratungssystem, die Vertrauen und Kooperation erst möglich machen. Hier eine Zusammenfassung dieser, für die Wirkungen systemischer Beratung konstitutiven, Haltungen und Einstellungen:

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30 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Wertsschätzung von Systemen, dessen, was ist und der Leistungen, die dazu geführt haben.

Zuversicht, Optimismus, Glaube an die Selbstorganisationsfähigkeit des Sys-tems.

Allseits gerichtete Parteilichkeit oder Allparteilichkeit oder Neutralität. Ge-meint ist: Nicht in eine spezifische Interessenlage oder in eine wertende Hal-tung zu gehen, was bestimmte Beziehungen (z.B. hierarchisch höheren Perso-nen mehr Aufmerksamkeit zu geben), bestimmte Problemlösungen (z.B. es ist höchste Zeit, dass hier was geschieht) oder bestimmte Wirklichkeitskonstruk-tionen (z.B. wie “effizient“ oder “rational“ “normale“ Manager bei bestimmten Entscheidungen vorgehen) betrifft. Das ganze System ist der Auftraggeber; es hat seine eigene, geschichtlich gewachsene Art, Wirklichkeit zu konstruieren.

Eng mit dem Thema Allparteilichkeit verbunden ist das Thema von Nähe und Distanz: Es braucht Distanz für eine wirksame Außenperspektive, die Be-obachtungen 2. Ordnung ermöglicht; es braucht Nähe, um sich an das System anzukoppeln.

Die Haltung einer helfenden Beziehung: Empathie und Präsenz gegenüber dem System und seinen handelnden Personen. Nur so wird man als Berater-menschlich greifbar und vertrauenswürdig; nur so kann man selbst Informa-tionen aufnehmen und bekommt sie von anderen zugetragen.

Unabhängigkeit im Denken und eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber gel-tenden Normen, Denkmodellen und Hierarchien.

Es geht um die nachhaltige Stärkung des Systems, nicht um kurzfristige Effekte oder um die Suboptimierung auf Einzelinteressen bzw. Subsysteme.

Neugierde, Forscher- und Erkenntnisdrang; der Wunsch, zu beobachten, zu verstehen, ohne selbst prägen und Richtung geben zu wollen.

Die Fähigkeit, Unwissen, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten.

Eine gewisse Demut, der Verzicht auf Allmachtfantasien.

Ein reflektierter Umgang mit eigenen Emotionen und Konflikten. Eine liebe-volle und wohlwollende Einstellung zu sich selbst.

Vertrauen und eine gewisse Gelassenheit. Ein Schuss Humor.

2.3 Systemische Beratung – ein Ansatz für unterschiedliche Professionsfelder

Der systemische Beratungsansatz ist eigentlich eine Integration von Theorie-ansätzen, Methoden und Werkzeugen aus verschiedensten Disziplinen, die hilft komplexe, lebende (autopoietische) Systeme – biologische, psychische und so-ziale – zu durchdringen, zu deuten und Interventionen abzuleiten, die die Funktionsmuster dieser Wirkungsgefüge verstören können.

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 31

Thema dieses Studienbriefes ist der Prozess der Beratung. Der Beratungsprozess hat in den einzelnen Professionsfeldern von Beratung – Individual- und Familien-therapie, Supervision, Organisationsberatung, Coaching und in jüngster Zeit Me-diation – einen gemeinsamen Kern – eben den systemischen Beratungsansatz. Dieser gemeinsame theoretische und methodische Kern bringt einen Vorteil mitsich: wer sich in einem Beratungsfeld – z. B. Organisationsberatung – ausbildet, erwirbt auf einer Meta-Ebene auch Kernqualifikationen für ein anderes Beratungs-feld – z. B. Mediation oder Coaching.

Abb. 5: Professionsfelder von Beratung mit dem systemischen Ansatz, Quelle: Autorin J.A.

Der Beratungsansatz ist also – wie die Systemtheorie – eine Art universelle Quer-schnittsmaterie für diverse Beratungsfelder, die in den Kanon der dort praktizier-ten Beratungsmethoden eingegliedert wird; der systemische Ansatz schließt dann mehr oder weniger eng an die Prämissen und Traditionen des jeweiligen Professi-

Professionsfelder mit dem systemischen BeratungsansatzBeratungs- /Professionsfeld Ziele Systemkern/Systemgrenze Kommunikationsanschlüsse Einzel-Psychotherapie Störungen bzw. "Krankheit" heilen Wahrnehmung und Erfah-rungsverarbeitung Prägende Wachstums- und Entwicklungsprozesse, Sozia-lisationsprozesse vorwiegend im familiären Herkunftsystem Paar- oder Fami-lientherapie Störungen in Kom-munikations- und Beziehungsmustern heilen

Beziehungen von Liebe und Ordnung Kommunikationsprozesse zwischen Familienmitgliedern, Fragen von Bindung, Verstri-ckung und Lösung Supervision Professionalität des Helfens verbessern, schärfen Professionales Rollenre-pertoire Praxiserfahrungen, Best Prac-tices, Methoden und Instru-mente, Werte, Ziele, Selbstver-ständnis, professionale Identi-tät Organisations-beratung Verbesserung des Aufgabenvollzugs Interaktionen in kol-lektiven Deutungs- und Sinngebungsprozessen Kommunikationsmuster und Entscheidungen, Rollen, Ziele, Strategien, Aufbau- und Ab-laufstrukturen, Organisations-kultur, mentale Modelle, Um-weltdynamiken Coaching strukturelle Kopp-lung von Schlüssel-person und Organisation ver-bessern Die Interaktionen von Per-son und Rolle / Platz in der Organisation Wahrnehmungen, Kommuni-kationen, Entscheidungen in der Schnittmenge Person und Organisation, Sinn als Grund-lage der Interpenetration von Person und Organisation Mediation außergerichtlicher Interessensausgleich im Konfliktfall Konfliktsysteme = Interak-tionssysteme, die sich um unterschiedliche Interes-senlagen bilden

Vertrauen - Misstrauen, Inte-ressen, Muster des Interes-senausgleichs, Bedürfnisse, Lösungen, ...

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32 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

onsfeldes an und schärft das beraterische Vorgehen oder begründet einen neuen, systemischen “Zweig“ im Professionsfeld.8

Die folgenden Ausführungen skizzieren kurz, worum es sich bei diesen Bera-tungsfeldern handelt, d.h. was der Kern des jeweiligen Interaktionssystems ist und woran die Kommunikation dort anschließt. Außerdem gibt es kurze Hinweise auf die Gestaltung des Beratungsprozesses in den jeweiligen Beratungsfeldern. Denn wiewohl viele Stellgrößen des Beratungsprozesses in allen Beratungsfeldern über-einstimmen – z.B. die Gestaltung einer vertrauensvollen Beziehung, die Kontext-,Rollen- und Auftragsklärung, die Gestaltung des Kontraktes und der symmetri-schen Arbeitsbeziehung usw. – gibt es doch in den verschiedenen Beratungsfel-dern große methodische Unterschiede, wie der Beratungsprozess angelegt wird.

2.3.1 Professionsfeld Therapie – Beratung von psychischen Systemen und Familien

Die systemische Therapie ist ein Zweig der Psychotherapie, der sich in den 60er bis 80er Jahren herausbildete. Die Entwicklungen gingen von der Palo-Alto-Gruppe aus, die aus Gregory Bateson, Jay Haley, Don Jackson und John Weak-land bestand; später stießen Virginia Satir und Paul Watzlawick dazu. Die Kom-munikationsforscher und Psychiater konzentrierten sich in der Beobachtung und Behandlung ihrer Klienten – anders als im psychoanalytischen Zugang nicht auf innerpsychische Probleme von Einzelpersonen, sondern – auf Muster der Bezie-hungen, Sprachspiele und Kommunikationsprobleme in den Familiensystemen der “Indexpatienten“. Hintergrund dieser Entwicklungen waren gesellschaftliche Entwicklungen zu mehr Demokratie und Pluralismus, die in der antiautoritären Bewegung in Europa und in der Hippybewegung in den USA ihren Ausgang nahmen und einen generellen Diskurs über (Ab)-Normalität nach sich zogen. Der Psychiater Ronald Laing begründete die “Antipsychiatrie“, die psychische und psychiatrische Symptombilder zu gesellschaftlich bzw. sozial vereinbarten Kon-struktionen erklärte.

Während seiner mehrjährigen Tätigkeit in den USA lernte der deutsche Psycho-analytiker Helm Stierlin dort, neben den Mitgliedern der Palo-Alto-Gruppe, viele andere Pioniere der Familientherapie persönlich kennen: Salvador Minuchin, Ronald Laing, Mara Selvini-Palazzoli u.a.m. kennen. Als Leiter des Lehrstuhls für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg (von 1974 bis 1991), begründete er die Heidelberger Schule der sys-temischen Familientherapie. Zu seinen Mitarbeitern im Heidelberger Kreis ge-hörten Arnold Retzer, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Gunthard Weber, Jochen Schweitzer, Arist von Schlippe u.a.m. In Heidelberg kamen ab Anfang der

8 So unterscheidet man in der Psychotherapie z.B. zwischen psychoanalytischen, verhaltenthera-peutischen, systemischen und in jüngster Zeit neurobiologischen Ansätzen.

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1980er- Jahre namhafte internationale Vertreter der Familientherapie und Vertre-ter aus anderen Disziplinen zusammen; auch mit Niklas Luhmann gab es immer wieder informellen Austausch.

Die Ergebnisse dieses Austausches und eine reichhaltige eigene Theoriebildung der Heidelberger begründeten letztlich den Ansatz der systemischen Familienthe-rapie. Er integriert die Strukturelle Familientherapie Salvador Minuchins mit den kommunikationstherapeutischen Ansätzen der Palo-Alto-Gruppe, der Skulpturar-beit Virginia Satirs, der sich weiter schärfenden Familientherapie der Mailänder Gruppe, den lösungsfokussierenden Ansätzen Steve de Shazers, den Methoden der Familien- und Organisationsaufstellungen und den eigenen Forschungsschwer-punkten, insbesondere zu intrafamiliären und generationsübergreifenden Dynami-ken. Der Heidelberger Kreis entwickelte und schärfte Begriffe, die durch das von Simon und Stierlin herausgegebene Buch “Die Sprache der Familientherapie“ der Fachwelt zugänglich wurden.

Die systemische Therapie versteht sich als Beratung von Familien, Paaren oder Individuen. Sie geht aus von der Einbettung des Individuums in die Kommunika-tions- und Beziehungsstrukturen der Familie; sie geht nicht von einem Krank-heitsbegriff aus. Der systemische Beratungsansatz ist im Professionsfeld der The-rapie entstanden und hat sich dort seit seiner Explizierung als Therapie-Paradigma neben der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie und neuerdings den neurobiologischen Therapieansätzen etabliert.

2.3.2 Supervision – Beratung von Professionssystemen

Supervision ist ursprünglich die Beratung helfender Berufe in ihrer und für ihre Alltagspraxis; generelles Ziel der Supervision ist die Verbesserung der professionalen Wirkung durch die gezielte Reflexion von typischen Erfahrungen in der Berufstätigkeit und Best Practices im Rahmen von Fallarbeiten. Supervisi-on als Beratungsmethode hat im medizinischen Bereich (z.B. Pflegepersonal) und im psychosozialen Bereich (z.B. Sozialarbeiter) begonnen und hat sich heute auf viele Berufsgruppen – auch innerhalb von Organisationen – ausgeweitet, die ge-zielt an ihrer Professionalisierung arbeiten.

Anlässe für Supervision sind z.B.

eine neue Funktion/ein neues Aufgabengebiet – z.B. eine interne Beratungs-einheit – wird eingerichtet, Supervision sorgt für synchrones, intensives Lernen aller,

Veränderungen in den Anforderungen im Aufgabengebiet z.B. die Integration neuer Medien in die Gestaltung des Schulunterrichts bei Lehrern,

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34 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

bzw. neue Entwicklungen in der eigenen Profession, die aufgenommen werden sollen, z.B. methodische Ansätze der Validierung in der Betreuung von De-menzkranken,

die Entwicklung und Sicherung von Standards bei wenig strukturierten Auf-gabengebieten, z.B. in der Pflege behinderter Menschen,

emotionale Entlastung und Unterstützung in emotional sehr fordernden Auf-gabengebieten, z.B. die Betreuung Schwerkranker, die Arbeit in sozialen Brennpunkten oder Einrichtungen der Krisenintervention,

Teamsupervision: die gezielte Entwicklung der sozialen Strukturen (Rollen, Normen, Zusammenhalt, Kooperation-Konkurrenz, Vertrauen, Fehler- und Konfliktkultur, Entscheidungsverhalten, Kommunikationsgüte...) in einem Team,

Lehrsupervision ist die Reflexion von Lerninhalten anhand von Praxiserfahr-ungen in längeren Ausbildungen zu einem Professionsträger,

usw.

Supervision ist eines der älteren Beratungsfelder; hier hat sich der systemische Beratungsansatz mit schon früher praktizierten Methoden aus Gestalttherapie, Psychodrama und Rollenspiel, Gruppendynamik, Themenzentrierter Interaktion, NLP, Erlebnispädagogik usw. verbunden.

Supervision findet, meist über einen bestimmten Zeitraum, regelmäßig in relativ fixen Gruppen statt; diese geben (wie Peergroups) einen Rahmen für die gegensei-tige Sozialisation auf Verhaltensstandards, Einstellungen, Werte, Identität im Be-ruf usw. Es gibt auch Einzelsupervision; hier wird die Grenze zum Coaching flie-ßend.

Der Beratungsprozess sieht so aus, dass – nach einer Klärung von Ausgangslage und Zielen und nach der Beauftragung durch einen Vertreter der Institution – fixe Gruppentermine für Supervision ausgemacht werden, z.B. ein halber Tag im Ab-stand von 4-8 Wochen für den Zeitraum von ein bis zwei Jahren oder im Rahmen einer Ausbildung 2-3 Lehrsupervisionen. Die Arbeitszeiten sind fix, die Themen und Fallarbeiten werden aktuell ausgewählt; es ist Aufgabe des Supervisors, je-weils geeignete Bearbeitungsmethoden bereitzustellen. Zwischen Auftraggeber und Supervisor laufen nur Informationen, welche den Prozess der Zielerreichung und den Kontrakt betreffen; alle Informationen über die bearbeiteten Fälle und die involvierten Personen sind vertraulich und bleiben im Kreis der Supervisan-den.

2.3.3 Professionsfeld Organisationsberatung

Die Beratung von Organisationen – genauer gesagt von Interaktionssystemen in Organisationen – ist das prominenteste Beratungsfeld, in dem der systemische

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 35

Ansatz Fuß gefasst hat; das geht soweit, dass der Begriff “systemische Beratung“oft synonym mit dem Begriff “systemische Organisationsberatung“ verwendet wird.

Dazu lassen sich folgende Erklärungen finden:

Mitte der 80er Jahre, als sich der systemische Beratungsansatz ausgeprägt hatte, waren viele Organisationen bereits seit einigen Jahren unter Veränder-ungsdruck, ihre Verfasstheit immer wieder anzupassen (s. S. 45). Eine Fülle neuer Organisationskonzepte und Best Practices wurde auf dem Seminar- und Beratungsmarkt gehandelt.

Seit Ende der 60er- Jahre hatte sich die neue Profession der Unternehmens-beratung in Europa verbreitet und selbst einen Wandel in den angebotenen Dienstleistungen absolviert; vom fachspezifischen – z.B. für Produktion, Ver-trieb, Controlling usw. – “Management Consulting“ zum “Business Consul-ting“ mit unternehmensumfassenden Beratungsleistungen wie Strategiebera-tung, Qualitätsmanagement, Kulturverbesserung usw. (s. S. 48).

Der systemische Ansatz wurde von Personen in Netzwerken wie der ÖGGO entwickelt, die in der Tradition der Gruppendynamik, der frühen Organi-sationsentwicklung und der Prozessberatung nach Edgar Schein standen. Später wurde er auch von Personen aufgenommen, die damals Beratung (z.B. als Supervision) oder Beraterausbildung anboten und in der Tradition von Transaktionsanalyse, Gestalttherapie oder der klientenzentrierten Therapie nach Carl Rogers standen. Das begünstigte eine Integration des systemischen Ansatzes in bestehende praktizierte Beratungszugänge und ebnete die Wege in das Beratungsfeld Organisationsberatung.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre entsteht auch der Begriff der Organisations-beratung selbst, den Rudolf Wimmer als Dachmarke für unterschiedliche profes-sionale Orientierungen bzw. Beratungszugänge wie Organisationsentwicklung, Prozessberatung, Change Management, u.a.m. vorgeschlagen hat (s. S. 53).

Mitte der 1980er- Jahre, als der systemische Beratungsansatz sich konsolidierte, unterschied man begrifflich und in der Theoriebildung nicht wirklich zwischen Familien und Organisationen. Der systemische Beratungsansatz bestand – ähn-lich wie damals beim NLP – eigentlich aus einer Sammlung an Methoden und In-strumenten für Personen in beratender Tätigkeit, ohne dass dem Gegenstand der Beratung – nämlich Organisationen – besondere Theoriebildung zugekommen wä-re. Man übernahm bestehende Organisationsbilder und bettete den systemischen Beratungsansatz hinein. Mitte der 1980er- Jahre lehnte man sich dabei meist an die Tradition des Kulturentwicklungsansatzes an, der das Organisationsverständ-nis und die Entwicklungsziele der frühen Organisationsentwicklung zugrunde leg-te.

Vgl. nachfolgend Kapitel 3

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36 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Es gibt allerdings strukturelle Unterschiede zwischen Familien und Organisatio-nen, die für beraterische Intervention und auch für die Gestaltung des Beratungs-prozesses wesentlich sind. So sind Organisationen aufgabenbasierte, Familien hingegen beziehungsbasierte soziale Systeme; Zugehörigkeit in Organisationen ist bedingt und vertraglich geregelt, in Familien ist sie unbedingt; während in Fami-lien die Personen bleiben und ihre Rollen im Laufe ihres Lebens wechseln, blei-ben in Organisationen die Rollen fix und die Personen, die sie ausüben, wechseln. Abb. 6 fasst einige Unterscheidungen zwischen Familien und Organisationen zu-sammen, die Gunthart Weber (ein guter Überblick ist in Weber 2000, S. 11 – 33) und Mathias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (Varga von Kibéd u. Sparrer 2000, S. 165-170) zu verdanken sind.

Familie Vergleichskriterium Organisation

unbedingt und auf im-mer (außer Kapital-verbrechen) Recht auf Zugehörig-keit

bedingt: durch Regeln und auf Zeit Folgenschwer Ausschluss abgemildert folgenschwer: rati-onal begründbar Person = fix, Rollen än-dern sich Verhältnis von Person

und Rolle Rolle = fix, Personen ändern sich

beziehungsbasiert zeitlich: wer früher da war, hat Vorrang das neue Familiensys-tem hat Vorrang gegen-über den Herkunfstfami-lien

Systemtyp Rangfolgen und infor-melle Ordnung

aufgabenbasiert Komplexe Rangfolgen nach den Paradigmen der systemischen Hierarchie wer früher da war wer neu anfängt wer mehr Einsatz zeigt wer mehr Leistung und Kön-nen bringt Familie bleibt auf Dauer-gestellt-sein Soziale Struktur folgt der Aufga-benstruktur; Vergänglichkeit: wenn die Aufgabe beendet ist löst sich die soziale Struktur auf Abb. 6: Unterschiede zwischen Familien und Organisationen, Quelle: Autorin J.K. nach G. We-

ber, M. Varga von Kibéd und I. Sparrer 2000

Mit Luhmanns Theorie sozialer Systeme lassen sich Organisationen erstmals an-ders denken als in den Traditionen der Gruppendynamik, Organisationsentwick-lung und der Familientherapie. Es beginnt damit, dass sich das Augenmerk von einer beziehungsmäßigen Beschaffenheit weg und auf das Operieren von Organi-sationen hin verlegt, auf das, was sie tun und produzieren, auf die Muster und Prozesse, mit denen sie dies bewerkstelligen. siehe SB0110

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 37

Dabei ist der Begriff “soziale Systeme“, angesichts von Konnotation und Reze-piergewohnheiten, eigentlich irreführend. Organisationen haben nicht das Sozi-ale zum Kern, sondern ihren Aufgabenvollzug. Sie konstituieren sich ledig-lich über das Soziale – anders könnten weder ein kooperativer Organisationsvor-teil noch Kommunikation überhaupt stattfinden. Die Kommunikation schließt aber nicht am Sozialen an, sondern an der gesellschaftlichen Aufgabe des einbettenden Funktionssystems, an den Sachzwecken, an der eigenen Systemrationalität, am jeweiligen Entscheidungskontext oder an beliebiger Kontingenz.

Der Beratungsprozess in der Organisationsberatung modelliert sich metho-disch am Action-Research-Ansatz Kurt Lewins mit seinem zentralen Modell der Action-Survey-Schleife. Dieser Beratungsprozess ist Hauptgegenstand dieses Studienbriefes; er wird ab dem 4. Kapitel detailliert ausgefaltet.

2.3.4 Professionsfeld Coaching – Beratung des Interaktionssystems von Person und Organisation

Coaching hat Einzug in die Organisation gehalten – es ist inzwischen mitunter prominenter und weiter verbreitet als die Organisationsberatung (Krizanits 2007). Immer mehr Führungskräfte machen selbst lange Coaching-Ausbildungen, oft ge-nug auf eigene Initiative, in Privatzeit und selbst bezahlt. Sie eignen sich die dort vermittelten systemischen Interventionsmethoden an, um sich für ihre Aufgaben der Selbstführung und der Mitarbeiterführung besser zu rüsten.

Coaching und Organisationsberatung nehmen jeweils den Aufgabenvollzug in den Blick. Dabei ergänzen sie einander: Während Organisationsberatung sich den Kommunikationsstrukturen widmet, stellt Coaching auf die Kopplung des psy-chischen Systems mit der Organisation ab (s. S.69). Dabei geht es speziell um die Kopplung von Person und dem Aufgabengebiet, der Rolle, dem Platz, die/den der Coachee einnimmt bzw. einnehmen soll.

Dass sich Coaching in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren in Organisatio-nen aus dem Nichts zu einer weit verbreiteten Beratungsform entwickelt, in die Personen wie Organisationen heute in nie dagewesenem Ausmaß Ressourcen in-vestieren, mag auf zweierlei verweisen: Zum einen, dass in den letzten Jahren die Kopplung Person: Organisation für beide Seiten höhere Bedeutung gewonnen hat und zum anderen, dass sich diese Kopplung selbst verändert hat.

Die Kopplung Person: Organisation ist loser geworden, das zeigt sich im Kleinen in unschärferen Rollen, im Großen in den Mustern prekärer werdender Zugehö-rigkeit. Eine Funktion dieser Lockerung ist es, mehr Kontingenz und Verhaltens-vielfalt zu ermöglichen. Als Folge von höherer Verhaltensvarietät ihrer Mit-arbeiter kann die Organisation mehr Umweltkomplexität abbilden.

Vgl. Kapitel 4

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38 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

Üblicherweise bilden Organisationen Umweltkomplexität in ihren Kommunikation leitenden internen Strukturen ab – in Aufbau- und Ablauforganisation, Entschei-dungsprogrammen, Systemen, Produkten, Technologien. Hier scheint nach Mat-rixorganisation, Strategischer Geschäftsfeldgliederung, Netzwerkorganisation, Globalisierung usw. ein Kapazitätslimit erreicht zu sein: Explizite, ausdifferen-zierte Strukturen können die steigende Komplexität nicht mehr aufnehmen; im Gegenteil, sie werden selbst zunehmend zu einem Komplexitätstreiber.

Hier kommen die Personen ins Spiel: Die Vielfalt dessen, was sie als Sinn in ihren Gedanken, ihrem Bewusstsein prozessieren, soll vermehrt Anschluss für Kommu-nikation in der Organisation werden. Organisationen wollen den autonomen, ei-geninitiativen, kreativen, innovativen Mitarbeiter; statt einiger weniger Potenzial-träger im Goldfischteich, brauchen sie heute “Talent“ – die in der breiten Fläche angelegte Fähigkeit zum problemlösenden Handeln vor Ort. Mit dem Luhmann-schen Blick könnte man interpretieren, dass Organisationen heute zunehmend auf Personen als Entscheidungsprämissen setzen, um Gelegenheiten wahrnehmen zu können und, dass sie dafür die Festschreibung von Kommunikationsstrukturen (in ihrer Aufbau- und Ablauforganisation und in ihren Rollengefäßen) als Entschei-dungsprämissen (s. S. 62) zurücknehmen.

Konkret geht es um folgende Anlässe, wenn Personen ins Coaching kommen:

Orientierung und Gestaltungsräume in Phasen großer beruflicher Veränderung-en (neues Aufgabengebiet oder neue Rahmenbedingungen z.B. nach Fusion) und um damit zusammenhängende Verhaltensdilemmata,

Fragen der Steuerung bzw. der Kontext-Steuerung, um in komplexen Situatio-nen beabsichtigte Führungswirkungen zu erzielen,

schwierige Entscheidungen mit weitreichenden Folgen, z.B. die Wahl zwisch-en verschiedenen strategischen Optionen,

die Gestaltung und das Management von tiefgreifendem Wandel der Organisa-tion,

Ordnungsfragen, wo dem Geben und Nehmen zwischen Organisation und Per-son der Ausgleich fehlt und Störungen bezüglich Motivation und Zugehörig-keit entstehen,

Fragen der Work-Life Balance, um – meist nach einer Entgrenzung, die in den Burnout oder andere ernste gesundheitliche Probleme führt bzw. zu führen droht – wieder Grenzen zu ziehen zwischen Person und Beruf,

den angemessenen Platz im sozialen System bzw. im Beruf und dann häufig um die Frage Gehen oder Bleiben?

Nachdem Coaching ein relativ junges Beratungsfeld ist, bildet der systemische Beratungsansatz dort quasi den methodischen Kern und Ausgangspunkt. Methodi-sche Weiterentwicklungen, die in den letzten Jahren ins Coaching eingepflegt

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 39

wurden, betreffen Interventionen zur Veränderung von Wahrnehmung und Be-wusstseinsprozessen, wie sie z.B. aus hypnosystemischen Ansätzen kommen (Schmidt 2004), ressourcen- und lösungsfokussierende Ansätze, wie z.B. das Zür-cher Ressourcenmodell von Maja Storch und Frank Krause (2007) oder Aufstel-lungsarbeit (im Rahmen von Coachings mit dem systemischen Brett).

2.3.5 Professionsfeld Mediation – Beratung von Konfliktsystemen

Die Mediation ist ein junges Professionsfeld, ursprünglich als “außergerichtliche Streitbeilegung“ aus den USA in den europäischen Raum gekommen. Der Hinter-grund ihrer Verbreitung in den USA ist im dortigen Rechtssystem zu finden, das die Gesetzgebung auf der Rechtsprechung aufbaut. Dadurch haben Bürger grund-sätzlich meist weniger Rechtssicherheit als in unserem Rechtswesen, das die Rechtsprechung der Gesetzgebung folgen lässt (und diese allenfalls durch Novel-lierungen als Folge der Judikatur nachschärft).

Im Gegensatz zu den anderen hier angeführten Beratungsfeldern hat der Geset-zesgeber hierzulande früh Richtlinien für Mediationsausbildungen und Akkredi-tierungen von Ausbildungsinstituten gemacht; er hält Evidenzen über “eingetra-gene“, d.h. zertifizierte Mediatorinnen und Mediatoren und spezifiziert Anlassfäl-le, z.B. im Zuge von Scheidungs- und Obsorgeprozesssen oder bei Bürgerbeteili-gungsverfahren, in denen Mediation den potenziellen Konfliktparteien angeraten oder vorgeschrieben wird.

Auch wenn sich bislang kein freier Markt mit Angebot und Nachfrage von Media-tionsleistungen zu entwickeln scheint, lässt sich doch ein gesellschaftliches Inte-resse an diesem Professionsfeld erkennen. Das mag man damit erklären, dass prä-ventiv oder frühzeitig eingesetzte Verfahren des Interessenausgleichs zwischen Konfliktparteien immer irgendwo Konfliktkosten – ökonomische, emotionale, so-ziale, politische, gesellschaftliche usw. – sparen helfen.

Dazu mag kommen, dass sich Interessenausgleiche mittels gesetzlicher Fest-schreibungen von Rechten und Pflichten in unserer immer pluralistisch und diffe-renzierter werdenden Gesellschaft zunehmend nur mehr zum Preis unüberschau-barer Gesetzesflut erzielen lassen. Die Bereitstellung von Methoden und Pro-zessen, die solche Interessenausgleiche kontextbezogen zwischen den vielfäl-tigsten konkreten Konfliktpartnern organisieren können, kann man als eine gesellschaftliche Innovation interpretieren.

Folgende Anwendungsfelder von Mediation haben sich in den letzten 15 Jahren im deutschsprachigen Europa etabliert:

Die Scheidungsmediation, wenn es um die Auflösung der bisherigen Lebens-gemeinschaft geht, insbesondere um Fragen der Kinderbetreuung, Besuchs-rechte oder auch der Güteraufteilung und der zukünftigen finanziellen Ver-

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40 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

flechtung der Partner. Steigende Scheidungsraten und die Tatsache, dass Kon-flikte im Zuge von Trennungen zu den am stärksten eskalierenden Konflikten gehören (und einem Großteil der verübten Kapitalverbrechen zu Grunde liegen), machen den Einsatz von Mediation hier unmittelbar plausibel.

Ähnlich verhält es sich bei öffentlichen oder privaten Bauvorhaben oder Infrastrukturmaßnahmen, bei denen Umweltverträglichkeitsprüfungen und Bürgerbeteiligungsverfahren heute an der Tagesordnung sind. Die möglichen politischen Kosten durch Vertrauensverlust von Wählern und die gesell-schaftlichen Kosten durch Beeinträchtigung des sozialen Friedens liegen auf der Hand.

Wie weit in Organisationen Mediation tatsächlich eingesetzt wird – darüber gibt es wenig Transparenz. Hocheskalierte Konflikte sind imageschädigend für eine Organisation; fast alle Organisationen spielen diesen Ball flach.

Mediation wird erst eingesetzt, wenn aufgrund der hohen Eskalationsstufe eines Konfliktes eine Intervention von Vorgesetzten oder internen Profis – z.B. aus Human Relations – nicht mehr greifen kann. Solche Konflikte können um arbeitsrechtliche Themen – z.B. Kündigung oder Entlassung – kreisen oder um strukturell bedingte Konflikte – z.B. zwischen Belegschaftsvertretung und Management-, wenn es um Tarifverhandlungen oder Personalabbau geht. Nicht selten geht es aber auch um Grauzonen wie sexuelle Übergriffe, Mobbing, Sabotage oder kriminelle Tätigkeiten, die hoch sensibel für die Öffentlich-keitswirkung sind und bei denen die Organisation ein Interesse an einer außergerichtlichen Konfliktlösung hat.

Das Beratungsfeld Mediation hat spezifische und – je nach Anlass – hochdifferen-zierte Beratungsprozesse. Es beginnt damit, dass es nicht nur einen Kontrakt gibt, sondern einen mit jeder Konfliktpartei; in komplexen Mediationsprozessen kann es auch ein Dutzend Konfliktparteien geben. In hohen Eskalationsstufen sind die Konfliktpartner häufig nicht bereit, in einem Raum zu sitzen und miteinander zu kommunizieren; dann ist "Pendelmediation" angesagt. Wenn es um öffentliche Verfahren geht, sind die Partner, die in die Konfliktmediation einbezogen sind, eigentlich “Mandatare“; der Mediationsprozess muss organisieren, dass sie immer wieder Verhandlungsoptionen rücksprechen und sich ein Mandat für die nächsten Schritte holen können. Dazu kommt, dass der Mikroprozess der Kommunikati-onsgestaltung mit hoch eskalierten Konfliktpartnern anforderungsreich ist und gu-tes Containment (s. S.83) u.a. durch empathische Gesprächsführung und Visuali-sierung benötigt.

Das Beratungsfeld Mediation setzt zudem Fachkenntnisse voraus über die spezifi-schen Funktionsmuster von Konfliktsystemen: Kenntnisse über unterschiedliche Konflikttypen – wie Ressourcen-, Struktur- und Rollenkonflikte, Beziehungskon-flikte, Ordnungskonflikte, Wertekonflikte, Migrationspfade und Eskalationsmus-ter Konflikten – z.B. die “9 Stufen in den Abgrund“ von F. Glasl (Glasl, 2011) im

Vgl. Kapitel 5

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Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes 41

Modus der “heißen“ oder der “kalten“ Eskalation sowie über die unterschiedli-chen prototypischen Lösungsräume für Konflikte9.

Übungsaufgabe 3:

Nennen Sie den Unterschied zwischen Beschreibungen 1. und 2. Ordnung und führen Sie Beispiele an.

Übungsaufgabe 4:

Was ist die Kernidee der systemischen Schleife? Welcher ihrer Schritte bildet das Beobachten 2. Ordnung ab?

Übungsaufgabe 5:

Was ist das Gemeinsame zwischen den verschiedenen Professionsfeldern, in denen sich der systemische Beratungsansatz etabliert hat?

Übungsaufgabe für Ihre Arbeit in Peergruppen:

Welche systemtheoretischen Annahmen über das Wesen und Funktionieren von Organisationen finden Sie in Ihrer Praxis “bestätigt“ bzw. wieder?

9 So müssen Strukturkonflikte z.B. aufrecht erhalten werden, Ordnungskonflikte angesprochen und gewürdigt, Beziehungskonflikte nachgezeichnet und mit Vereinbarungen unterlegt werden usw.

Übungsaufgabe

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42 Kapitel 2: Die Eckpfeiler des systemischen Beratungsansatzes

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 43

3 Systemische Organisationsberatung

Fragen zum 3. Kapitel:

Welche Begriffe und Grundideen aus den vorangegangenen zwei Kapiteln wie-derholen sich im 3. Kapitel? Was wird Ihnen dadurch klarer oder unklarer? Wel-che neuen Begriffe kommen dazu? Welche Begriffe können Sie mit den Begriffen in den Studienbriefen SB0110 und SB0120 in Verbindung bringen? Professionelle Organisationen, wie sie für uns heute normal sind, haben sich in den letzten 50 Jahren herausgebildet; wie ist das vor sich gegangen? Wie sahen Organisationen vor 40, 30, 20 Jahren aus und was hat sie bzw. ihre Führungskräfte da jeweils be-schäftigt? Wie hat sich die Unternehmensberatung als Profession in den vergan-genen 50 Jahren in Europa entwickelt? Was ist die Kernidee der Organisationsbe-ratung und des Beratungsprozesses? Wie hängen Organisationsberatung, Organi-sationsentwicklung, Change Management und systemische Beratung zusammen? Welche Annahmen und Theorien über Organisationen ergeben sich aus dem sys-temischen Ansatz? Was sind die Kernaussagen der Luhmannschen Soziologie über Organisationen?

Welche Fragen stellen Sie sich zu Beginn dieses Kapitels?

Das 3. Kapitel spannt den Rahmen auf für die systemische Organisationsberatung.

Es beginnt mit einem Abriss der Entwicklungen in Organisationen in den vergan-genen 50 Jahren; in diesem Zeitraum haben Organisationen ihre Verfasstheit in beeindruckender Weise professionalisiert, sodass Ulrich heute von der Organisati-on als der “DNA der Wettbewerbsfähigkeit“ (Ulrich 1997, S.65) spricht. Trans-missionsriemen für diese Professionalisierung war die Unternehmensberatung, die über 20-30 Jahre zweistellige und heute noch immer überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten aufweist. „Es kann zu Recht behauptet werden, dass Beratung mittlerweile zu einer ´Selbstverständlichkeit` geworden ist. Einige Autoren spre-chen bereits von einer Beratungsgesellschaft“, schreibt Kolbeck (2001, S.16). Dieses Kapitel zeichnet die Entwicklungen nach, die

in Organisationen

in der Profession der Unternehmensberatung

zu dieser “Selbstverständlichkeit“ geführt haben.

Organisationsberatung ist ein Spezialfeld der Unternehmensberatung, das die Organisation gesamt adressiert und deren Lebensfähigkeit steigern will. Die Grundidee der Organisationsberatung liegt im Action-Research-Ansatz, den Kurt Lewin definierte als gezielte Erkundung der Handlungsmuster in einem System und als Suche nach neuen Handlungsoptionen. Die Action-Survey-Schleife oder Action-Research-Schleife modelliert das methodische Vorgehen, d.h. den Ver-

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44 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

lauf des Beratungsprozesses in der Organisationsberatung. Dieses Kapitel führt Sie in die Philosophie der Organisationsberatung nach dem Action-Research-Ansatz ein.

Abschließend expliziert dieses Kapitel aus dem systemischen Ansatz Mitte der 80er Jahre und aus Luhmanns Theorie sozialer Systeme was es an Theorie zum Verständnis von Organisationen gibt. Mit dieser Theorie, über den spezifischen Beratungsgegenstand Organisation im Gepäck, lässt es sich dann in die detaillierte methodische Beschreibung des Beratungsprozesses starten.

3.1 Von der Pferdekutsche zum Ferrari – die Entwicklungen in Organisationen

Die Grundidee der Organisation ist einfach und bestechend: Zum Zweck eines spezifischen Aufgabenvollzugs tritt sie an, mit ihren Mitgliedern durch die Art und Weise der Verknüpfung von Tätigkeiten und Kommunikation, Vorteile an Effektivität und Effizienz zu erbringen, die dieselbe Anzahl an Personen in unkoordinierten Leistungen nie erbringen könnte.

In den vergangenen 50 Jahren ist in Organisationen kein Stein auf dem anderen geblieben. In der evolutionären Drift mit ihren jeweiligen Umwelten – Produkte, Märkte, Kunden, Eigentümer, Mitarbeiter, Technologien und Gesellschaft ganz allgemein – haben Organisationen ihre Strukturen immer wieder nachgestellt. Sie haben neue Aufgabenbereiche, neue Methoden der Arbeitsorganisation, neue Sys-teme ausdifferenziert, sich immer wieder neu entworfen und umgebaut.

Dabei hat sich die Art und Weise, wie Organisationen vorgehen, um ihre Ver-fasstheit zu optimieren, zunehmend verfeinert: vom Babbage-Prinzip und Blue-print der ersten Manufakturen über die holzschnittartigen Raster des Scientific Management zu einer Vielzahl ausgefeilter Methoden, Systeme und Prozesse, bis zum Feinstofflichen der Organisational Capabilities und Competencies heute, die Ulrich die „DNA der Wettbewerbsfähigkeit“ nennt (Ulrich 1997, S.65). Organi-sationen sind heute hochprofessionelle, komplexe Gebilde. Was einst als Pfer-dekutsche entworfen wurde, ist heute ein Ferrari.

Die professionelle Organisation – die nach den Regeln der Kunst optimierte Ver-fasstheit für den Aufgabenvollzug – ist heute nicht nur in allen gesellschaftlichen Bereichen Selbstverständlichkeit, sie ist zum Schlüsselfaktor im globalen Wett-bewerb geworden. So reicht es längst nicht mehr aus, dass oben jemand auf dem Kutschbock sitzt und mit einer Peitsche die Pferde antreibt. Es braucht heute ein ganzes hochgeschultes Rennteam, das in kürzesten Boxenstopps alle Parameter auf Optimum stellt, damit das Gefährt im Rennen wieder die Nase vorn hat. Vor diesem Hintergrund haben sich in den vergangenen 50 Jahren einige Inhouse-Beratungsfunktionen herausgebildet, deren jüngste die interne Organisationsbera-tung ist.

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 45

3.1.1 Die atemberaubende Professionalisierung von Organisationen

In ihrer Kopplung an Märkte und andere Umwelten haben Organisationen immer wieder typische Herausforderungen erlebt und jeweils typische Probleme lösen müssen. Dazu und dabei haben sie ihre Strukturen angepasst. Welche Baustellen für die Verbesserung ihres Organisiert-Seins, Organisationen in jüngster Vergan-genheit bearbeitet haben, zeigt sich an der Fülle von Organisations- und Ma-nagementkonzepten, die in den vergangenen fünfzig Jahren entstanden sind; seit Ende der 1960er-Jahre haben ca. hundert solcher Konzepte umfassende Verbrei-tung in Organisationen aller Art gefunden.

Diese Konzepte lassen sich nach Stoßrichtungen clustern und jeweils einem be-stimmten, paradigmatischen Problemtypus zuordnen10. Diese unterschiedlichen Problemtypen illustrieren die Geschichte des Driftens von Organisationen und Umwelten. Im Folgenden sollen sechs Paradigmen von Organisation-Umwelt-Kopplung unterschieden und mit den ihnen zugeordneten Organisationskonzepten skizziert werden (Krizanits 2011, S.182-205).

Im Paradigma “Wertschöpfung und Wachstum organisieren“ (von der Industriali-sierung bis Ende der 50er-Jahre) wird der Mensch zur Arbeit in Einheit von Zeit und Ort diszipliniert. Erste Konzepte von Führung (Scientific Management) und Arbeitsteilung – nach Spezialisierung, Qualifikationsniveau (Babbage Prinzip), nach Hand- und Kopfarbeit – entstehen, ebenso wie die ersten Organisationsmo-delle und Führungssysteme (Taylorismus, Bürokratiemodell, Human-Relations-Ansatz). Die Produktionsfunktion wird professionalisiert (z.B. Fließbandproduk-tion), Absatzmärkte und der Konsument werden erfunden (Fordismus) usw.

Im Paradigma “Grenzen des Wachstums und Krise der Hierarchie“ (Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre) müssen Organisationen in den neuartigen Käufer-märkten erstmals ihre Zukunft planen. In Europa tauchen die ersten Management-konzepte auf: MbO (Management by Objectives), Marketing, Strategisches Ma-nagement, erste Maßnahmen zur Führungskräfte-Entwicklung und frühe Organi-sationsentwicklung (z.B. in Form von Managerial Grid Trainings). In den 60ern gründen die großen US-amerikanischen Beratungsunternehmen in Europa ihre Niederlassungen.

Im Paradigma “Bei schrumpfenden Märkten Margen aus der Optimierung inter-ner Leistungsprozesse schöpfen“ (ab Mitte der 70er-Jahre) kommt eine Fülle neu-er Konzepte dazu, von denen einige später von Organisationen als neue Funktio-

10 Die Management-Konzepte eines gemeinsamen Paradigmas kann man in ihrer Beziehung zuei-nander als „funktionale Äquivalente“ (Luhmann 1996, S. 242) sehen. Kritische Geister haben das immer wieder mit der Bemerkung „alter Wein in neuen Schläuchen“ quittiert. Aus organisationaler Perspektive ist eine solche Redundanz durchaus begrüßenswert, weil sich neuartige Problemdefini-tionen und -lösungen so verlässlicher und mit mehr Variation durchsetzen können.

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46 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

nen ausdifferenziert und auf Dauer gestellt werden. Beispiele sind: Controlling, EDV, später IT genannt, Personalentwicklung/HR-Management, Projektmanage-ment, Qualitätsmanagement. Andere Konzepte betreffen Vorgehensweisen (Ma-nagement Approaches) und Systeme: Gemeinkostenwertanalyse, Lean Manage-ment, KVP, TQM, Dezentralisierung, Benchmarking, Time Based Management, Just in Time Fertigung, Outsourcing, Downsizing, Joint Ventures …

Im Paradigma “Die strukturelle Kopplung der Organisation: Umwelten optimie-ren“ (seit Anfang der 90er Jahre) verbreiteten sich Konzepte wie Reengineer-ing/Geschäftsprozessoptimierung, Management-Informationssysteme (MIS), Cha-os Management, Sustainability, Ethik im Management, Corporate Governance, Strategische Geschäftsfelder, Customer Relationship Management, M&A, Globa-lisierung, New Economy, E-Business, Virtuelle Organisation, Netzwerke, EFQM Modell, Stakeholder-Modelle, Shareholder Value und Value Based Management, Kernkompetenzen, Balanced Score-Card, systemisches Management, Change Management, Wissensmanagement, Lernende Organisation, Corporate Communi-cation, Unternehmensentwicklung, neue Formen der OE wie Interne Consultin-gabteilungen, HR-Business Partner Modell…

Seit der Jahrhundertwende lassen sich dem Paradigma “Höchstleistung erzielen bei Wertschöpfung, Wachstum und Innovation“ folgende neue Management- und Organisationskonzepte zuordnen: Interkulturelles Management; Diversity Ma-nagement; Corporate Social Responsibility (CSR); Renaissance des Themas Lea-dership; Führung als Profession; Management Development; Entrepreneurship; Managing the Unexpected; Kreativitäts- und Innovationsmanagement; Talent Management; Performance Management, Customzing, Customer Education, Supply-Chain-Management, Beyond Budgeting u.a.m.

Während in den 70er bis 90er Jahren die neuen Managementkonzepte in einem mitunter marktschreierisch auftretenden “Seminarzirkus“ die Aufmerksamkeit von Führungskräften fanden, führt der Weg neuer Organisationskonzepte heute meist über die professionalen Netzwerke der vielen Funktionen direkt – und nicht mehr über den Flaschenhals der Management Attention oberer Führungsebenen –in die Organisation. Sie haben dann eine Rüttelstrecke von Peer-Reviews in deren professionalen Netzwerken hinter sich – oder werden überhaupt dort (und nicht mehr nur von externen Consultants) im Best-Practices-Vergleich formuliert.

Wegen ihres wellenhaften Auftretens und der strohfeuerartigen öffentlichen Auf-merksamkeit für neue Begriffe, wurden die Organisationskonzepte der letzten 50Jahre von Vertretern der Universitäten und von Consultants selbst als “Manage-ment-Moden“ kritisiert. Diese kategorische Abwertung wird m.E. ihrer tatsächli-chen Bedeutung für Organisationen nicht gerecht. Aus einer organisationalen Per-spektive waren die Organisationskonzepte der vergangenen vierzig Jahre keine “eitlen, vergänglichen Moden“, sondern Entwicklungsimpulse, die von Organisa-tionen neugierig und experimentierfreudig aufgenommen wurden (Krizanits 2005,

Vgl. Kapitel 9

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 47

S. 307). Organisationen und Führungskräfte haben m.E. einen spezifischen Theo-riebedarf, der sich vom Wissensverständnis der Akademia unterscheidet: Sie su-chen Erfahrungswissen für mittelfristige Handlungshorizonte (s. S. 139).

Praktisch alle Konzepte haben Spuren in den Organisationen hinterlassen. Sie ha-ben als Informationen gewirkt, Strukturen und die Art und Weise, wie Organisati-onen sich selbst beobachten, nachhaltig verändert. Ihre breite Rezeption belegt: Organisationen beobachten heute nicht nur – auf der Objektebene – ihre Rentabi-lität, wie eng sich Kunden an sie binden, welche neuen IT-Systeme es gibt usw. Sie beobachten auf einer Metaebene ihre Verfasstheit selbst und versorgen sich geradezu stetig mit neuen Optionen, diese zu gestalten.

Was wir angesichts der atemberaubenden Verbreitung von Organisationskonzep-ten beobachten, ist de facto eine beispielslose Professionalisierung von Organi-sationen. Auffällig ist dabei das unglaubliche Tempo, in dem sich diese Professi-onalisierung vollzieht – als wäre die Idee der organisationalen Professionalisie-rung selbst eine Durchbruchsinnovation wie seinerzeit der mechanische Webstuhl.

Auffällig ist zudem, dass diese Organisationskonzepte zwar für das Unterneh-men, die Organisation des Wirtschaftssystems, entwickelt wurden, sich heute aber uneingeschränkt in Organisationen unterschiedlichster gesellschaftli-cher Funktionssysteme verbreitet haben. Es scheint, als sei das moderne Un-ternehmen in punkto Verfasstheit zum Vorbild für Organisationen schlechthingeworden: vom Krankenhaus, über Schulen, Verwaltungsbehörden zu Universitä-ten, Theatern, Museen, Vereinen, Parteien…

3.2 Die Entwicklungen in der Unternehmensberatung

Transmissionsriemen für diese breite Entwicklungsoffensive von Organisationen war und ist die Unternehmensberatung; sie expliziert und verbreitet Best Practices. Sie geht dabei kasuistisch nach den in der Managementpraxis aktuellen Problemstellungen vor und generalisiert schnell und auf geringer Abstraktionse-bene in Form von Einzelkonzepten, Tools, Instrumenten, Anleitungen, Einzelinter-ventionen – die nur selten weiterentwickelt und zu allgemeineren Modellen, Me-thoden bzw. zu einem gesamthaften Organisationsverständnis integriert werden.

Welche Entwicklungen lassen sich in der Unternehmensberatung verfolgen und wie nutzen Organisationen heute die Dienstleistungen der Unternehmensbera-tung? Die folgenden Ausführungen beschreiben die Entwicklungen vom Ma-nagement Consulting zum Business Consulting und die zunehmende Einrich-tung interner Beratungseinrichtungen in Organisationen.

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48 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

3.2.1 Vom Management Consulting zum Business Consulting

Das klassische “Management Consulting“ entstand Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Industrialisierung in den USA und beschränkte sich dort lan-ge Zeit darauf, die Problemlösungskapazität von Linienmanagern durch Einspie-len von Fach- und Branchenexpertise zu steigern. Management Consultants füll-ten Lücken im Wissen und in Kompetenzen von Linienmanagern; sie waren spe-zialisiert auf bestimmte Branchen und bestimmte Linienfunktionen wie Produkti-on, Rechnungswesen, Verwaltungsabläufe, Vertrieb etc.

In Europa (mit Ausnahme von Großbritannien) setzte der Consulting-Boom Ende der 60er Jahre ein. Im Vergleich zu den USA war im (deutschsprachigen) Europa das Ausbildungsniveau der leitenden Führungskräfte höher; es überwog der Typ des Familienunternehmens, in dem Entscheidungsträger unter dem Primat des “Keep Going“ umfassend herangebildet wurden. Der frühe Bedarf an ingenieurs-technischen Beratungsleistungen wurde außerdem durch Verbände wie das RKW oder den REFA abgedeckt.

Für den klassischen Zuschnitt der US-Unternehmensberatung war in Europa also einerseits gar nicht so viel Nachfrage zu erwarten. Andererseits emergierte Ende der 60er-Jahre in den USA wie in Europa ein neues Paradigma des Wirtschaftens: Die Grenzen des Wachstums waren erreicht, die Konsumgesellschaft war entstan-den. Eine breite Basis von Organisationen sah sich zum ersten Mal vor die Her-ausforderung gestellt, die eigene Zukunft zu organisieren. Erste Managementkon-zepte, wie das Marketing und die Strategische Planung, verbreiteten sich; Peter Druckers Management by Objectives fand eine große Reichweite.

Laut der International Labour Organisation (ILO) hat sich das Beratungsgeschäft in der Folge grundlegend geändert: Beratungsfelder, die das System als Ganzes adressieren – Strategieberatung, IT-Beratung, Qualitätsmanagement, Prozessop-timierung, HR-Beratung, Organisationsberatung usw. – wuchsen, ebenso wie die Nachfrage nach integrierten “one-stop“ – Beratungsleistungen, die ganz allgemein Wettbewerbsvorteile und Wertsteigerung im Geschäft versprechen. Konsequen-terweise bezeichneten sich Berater nun vermehrt als “Business Consultants“ (Kubre 2002, S. 27) oder nur als "Consultants".

3.2.2 Der Siegeszug der Inhouse-Beratung

Doch die wahre Revolution spielt sich längst innerhalb der Mauern der Organisa-tionen ab: Genau diese Beratungsfelder, die das System als Ganzes adressieren, haben sich Organisationen inzwischen ins Haus geholt und auf Dauer gestellt: Marketing, Controlling, Human Resources Management, Qualitätsmanagement, IT, Organisations- und Strategieberatung. Diese Aufgaben werden heute in prak-tisch jeder Organisation in der einen oder anderen Form von Internen wahrge-

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 49

nommen. Ja, man kann sich eine Organisation ohne die meisten dieser Funktionen heute eigentlich nicht mehr denken.

Die ILO schreibt 2002: „Interne Management Consulting Services sind heute in großen Organisationen üblich geworden […]. Das sind Einheiten, die innerhalb einer Organisation – eines Unternehmens, einer öffentlichen Einrichtung, eines Ministeriums usw. – auf Dauer etabliert sind, um Beratungsleistungen an andere Einheiten dieser Organisation zu erbringen […]. Diese Einheiten sind unterschied-lich im Organigramm verortet: Einige sind Consulting-Abteilungen im wörtlichen Sinn; sie haben ein Mandat, auf Anfrage des Senior Managements und von Abtei-lungsleitungen mit ihrer Beratungskapazität zu intervenieren. In anderen Fällen ist die Beratungsfunktion nur eine Funktion von mehreren; sie sind auch verantwort-lich für interne Audits, Accounting und Informationssysteme, für Dokumentation und Berichtswesen, für Organisationsrichtlinien, Entwicklung von Stäben und an-dere ähnliche Funktionen“ (übersetzt nach Kubre 2002, S. 50).

Und weiter:

„Die Standesvertretungen der Unternehmensberater haben die internen Consul-tants schon früh anerkannt. 1976 kam das britische Institut der Management Con-sultants überein, dass der Begriff `independent practice` – das Kernkriterium in der Definition von Unternehmensberatung – auch auf diejenigen Berater anzu-wenden ist, die inhouse angestellt sind, wenn diese die geltenden Standards be-züglich Wissen, Erfahrung und Kompetenz erfüllen und wenn sie dafür freige-stellt sind, objektiv und unabhängig zu beraten“ (übersetzt nach Kubre 2002, S. 50).

„Die wachsende Dynamik der ökonomischen, ökologischen, technologischen und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaft sowie die zunehmende Komplexität in den Unternehmensstrukturen führen zu einem steigenden Bera-tungsbedarf der Unternehmen“, schreibt Hunecke (2005, S. 1).

Dieser gestiegene Beratungsbedarf lässt sich aus verschiedenen Indizien ablesen:

Hunecke weist darauf hin, dass dieser Beratungsbedarf heute in vielen Fach-funktionen deutlich wird, die infolgedessen beratende Tätigkeiten zusätzlich zu ihrer Fachkompetenz wahrnehmen (Hunecke 2005, S. 5); er sieht hier z. B. die interne Revision betroffen. Anders ausgedrückt: das Tätigkeitsprofil der klassischen Fachfunktionen verlagert sich zunehmend auf aktive Beratungs-agenden, wenn z.B. Controller die Aufgabe bekommen, eine Niederlassung in China zu planen, die mehrere Business Units in ihrer Globalisierungsstrategie servicieren soll.

Das Selbstverständnis der Fachfunktionen verändert sich hin zu eigenini-tiativer, proaktiver Beratung von Führungskräften. So hat Ulrich in seinen empirischen Erhebungen die wichtigste Kernkompetenz für erfolgreiche HR-Vertreter “Credible Activist“ genannt; er hat damit den proaktiven Gestalter

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50 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

mit hoher Glaubwürdigkeit gemeint, der Themen mit organisationsweiter Be-deutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Organisation eigeninitiativ früh auf-nimmt und mutig an die Führung heranträgt (statt auf klare Aufträge von oben zu warten).

Gewisse, für die Organisation lebenswichtige Beratungsfelder werden von mehreren Inhouse Beratungsfunktionen betreut; so sehen sich z.B. Controller, Qualitätsmanager, die strategische Unternehmensplanung und die Organisa-tionsberatung zuständig für Themen der Strategieentwicklung. Aus system-theoretischer Sicht macht diese Redundanz durchaus Sinn: Sie sorgt dafür, dass sich (für Fragen der strukturellen Kopplung überlebenswichtige Perspektiven für) die Selbst- und Fremdbeobachtung in Organisationen verbreiten. Außer-dem wird aus vielen unterschiedlichen Perspektiven differenziert beobachtet und Expertise entwickelt - ähnlich wie die Inuit z.B. weit über 30 Worte für Schnee ausdifferenziert haben, weil ein differenziertes Verständnis von Schnee für sie existenziell ist.

Schließlich werden junge Beratungsfelder wie die Organisationsberatung in den Rollen und Strukturen oftmals redundant angelegt: so mag es in großen Firmen eine eigene Einheit geben, die im Auftrag der Holding in den BUs (Business Units) neue Systeme und Best Practices verbreitet; daneben gibt es zentral wie dezentral eingehängte Organisationsentwicklungseinheiten, die spezifisch auf Anfrage/Anlass tätig werden; außerdem sorgt z.B. die Rolle des Business Partners für eine ständige Beobachtung der Themen Veränderung/Change, Strategie usw. in Leitungsteams der ersten Ebenen.

Die Vorteile der Internen sind erheblich: sie sind billiger als die Externen, zudem geländegängig in informellen Netzwerken und anschlussfähig bei kulturellen Ei-gentümlichkeiten, sie sind durch ihre Doppelzugehörigkeit - zur eigenen Organisa-tion einerseits und zu ihrer Profession andererseits – bestens in der Lage, passende Best Practices von Außen hereinzuholen und – was in den Augen von Führungs-kräften besonders wiegt: Sie sind dem “Gesetz des Wiedersehens“ unterworfen. Sie werden noch da sein, wenn die Folgen ihrer Expertisen und Ratschläge sicht-bar sind. Ihre Haltung: “I do my job with an attitude“ bringt ihnen zunehmend Glaubwürdigkeit und Respekt ein.

3.3 Organisationsberatung in der Tradition des Action-Research-Ansatzes

„Ziel systemischer Beratung ist es, langfristige, nachhaltige Lern- und Erneue-rungsprozesse zu initiieren und zu begleiten, um Systeme (Organisationen) über-lebensfähiger, erfolgreicher und effizienter zu machen. Das ist der Punkt, um den sich alles dreht“ (Königswieser u. Hillebrand 2007, S. 20).

Systemische Organisationsberatung schließt dabei an die Tradition des Action- Research-Ansatzes an.

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 51

3.3.1 Der Action-Research-Ansatz

Kurt Lewin prägte den Begriff ”Action Research” Mitte der 40er-Jahre und de-finierte ihn als ”a comparative research on the conditions and effects of various forms of social action and research leading to social action”11. In heutigem Deutsch:

Definition: Action Research ist die gezielte Untersuchung der Bedingungen und Auswirkungen sozialer Handlungsmuster und die gezielte Suche nach (neu-en/erweiterten) Handlungsoptionen in sozialen Systemen).

Lewins Aussage “Es gibt nichts, was so praktisch wäre wie eine gute Theorie“wurde zum geflügelten Wort. Er meinte: Statt im Elfenbeinturm generelle Theo-rien zu entwickeln, soll sich Forschung der Praxis handelnder Menschen widmen. Umgekehrt ist die Entwicklung von Handlungen – d.h. die gezielte Suche von Handlungsoptionen für soziale Systeme – theoriebasiert durchzuführen. Kurz: keine Theorie ohne Aktion, keine Aktion ohne Theorie.

Konstitutiv für Action Research ist ein methodisches Vorgehen in Form einer Spirale, die sich aus wiederholten Schleifen zusammensetzt, die jeweils einen Zyklus von Planung, Durchführung von Interventionen und anschließender empi-rischer Untersuchung der Auswirkungen umfassen (Lewin, 1946): “a spiral of steps, each of which is composed of a circle of planning, action, and fact-finding about the result of the action“.

Abb. 7: Praxis-basierte Theorie und Theorie-basierte Praxis im Action-Research-Ansatz. Quelle: Autorin J.K.

11 Cook, Chein und Harding von der Commission on Community Interrelations definierten vier Verfahren von Action Research: diagnostische AR, die – aus einer Expertenhaltung - einen Hand-lungsplan entwirft und vorschlägt; teilnehmende AR, die die Betroffenen in den Forschungspro-zess einbezieht; empirische AR, die vergleichbare Phänomene zusammenträgt und experimentelle AR, die verschiedene Techniken von Handlungsplanung auf relative Wirksamkeit untersucht (nach Marrow 1977, S.217). Für Lewin selbst war die experimentelle AR der Zugang der Wahl; in der Organisationsberatung hat sich jedoch die teilnehmende Variante durchgesetzt

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52 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

Mit seinem Konzept des Action Research schloss Lewin an Blumers Ansatz des symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule der Soziologie an, der be-sagt:

Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen; die Bedeutungen der Dinge werden in Inter-pretationsprozessen im Zuge sozialer Interaktionen vereinbart (Blumer (1937) 1981).

Wenn gilt, dass Menschen mit ihren Handlungen auf die Bedeutungen reagieren, die sie Dingen zuschreiben, und wenn diese Bedeutungen durch einen interpreta-tiven Prozess in sozialen Interaktionen entstehen, dann bedeutet das umgekehrt: Will man soziale Handlungsmuster geplant und gezielt verändern, muss man dazu entsprechende interaktive Sinngebungs-Prozesse zwischen den Be-troffenen organisieren.

Diese Einsicht Lewins ist seither die Grundlage für die Gestaltung von Change, den er als dreistufigen Prozess beschrieb (Lewin 1947): In der “Unfreezing-Phase“ geht es darum, Trägheit und Widerstand zu überwinden und das bestehen-de “Mindset“ zu explizieren. Die “Move-Phase“ ist eine Transition: Bestehende Handlungsmuster lösen sich auf, ohne dass noch klar ist, welche neuen Muster an ihre Stelle treten werden. Letztere kristallisieren sich erst in der “Freeze-Phase“heraus, wo sich ein neues Mindset festigt. Lewin hat mit seiner “Hockeyschläger-Kurve“ den für Change typischen Abfall in der Systemleistung beschrieben, dem erst später ein Anstieg der Systemleistung über das Ausgangsniveau folgt. Diese Kurve ist die – meist unzitierte – Grundlage der meisten Change-Konzepte.

Abb. 8: Kurt Lewin's “Hockeyschläger-Kurve“ über Leistungseinbrüche und -steigerungen in Change Prozessen, Quelle: Staehle 1997, S. 592

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 53

3.3.2 Von der Organisationsentwicklung zur Organisationsberatung

Trotz seines frühen Todes (im Februar 1946) kommt Lewin der Verdienst zu, die Grundlagen der Organisationsberatung gelegt zu haben. So beschreiben French und Bell ”organization development (OD)” als ”organization improvement through action research” (French u. Bell 1969). Douglas McGregor und Richard Beckhard definierten in den 50er Jahren den Ansatz der Organisationsentwicklungals organisationsweiten partizipativen Prozess, in dem die Betroffenen ihre Ar-beitswelt humaner gestalten und gleichzeitig die Effektivität und Lebensfähigkeit der Organisation stärken.

In den 70er Jahren gelangten diese Impulse aus Organisationsentwicklung und Systemtheorie ins deutschsprachige Europa. Der Action-Research-Ansatz ist bis heute Kern des Vorgehens in der Organisationsberatung, auch wenn sich das Verständnis von Organisationen und Beratungsmethoden im Lauf der Zeit immer wieder verändert haben. Dazu von Rosenstiehl (2005, S. 236):

„Vereinfacht lässt sich sagen, dass Organisationsentwicklung eine Anwendung der Aktionsforschung in Organisationen ist. Eine dort betriebene “Tat-Forschung“(Lewin 1947) ist Kernstück nahezu aller heute betriebener Organisationsentwick-lungsprozesse, und zwar im Sinne des auf Lewin zurückgehenden Survey-Feedback-Ansatzes.“

Mitte der 80er Jahre wurde der Begriff Organisationsberatung geprägt als ein bestimmtes beraterisches Vorgehen in komplexen, sozialen Systemen, das zum Ziel hat, Organisationen jedweden Typs in ihrem Selbstentwicklungspotenzial für ihre jeweiligen spezifischen Herausforderungen zu stärken (Wimmer 2008, S. 4):

„Der Begriff Organisationsberatung bezeichnet eine ganz bestimmte beraterische Herangehensweise in der Behandlung komplexer Problemstellungen von Organi-sationen jedweden Typs (Unternehmen, Krankenhäuser, Einrichtungen der öffent-lichen Verwaltung, Schulen, Universitäten, etc.) […]. Dieser Begriff zieht im pro-fessionellen Selbstverständnis damit eine dezidierte Grenze gegenüber den tradi-tionellen Formen der Unternehmensberatung, wie sie speziell von den großen […] Beratungsfirmen seit jeher praktiziert werden […]. Die Organisationsbera-tung orientiert ihr Interventionsrepertoire nicht nur an der möglichst effizienten Zurichtung der Organisation hin auf das ökonomische Kalkül. Es umfasst viel-mehr alle organisationsbezogenen Beratungsanstrengungen, die das Selbstent-wicklungspotenzial von Organisationen mit Blick auf ihre je spezifischen Leis-tungsanforderungen erhöhen.“

Wimmer hat diesen Begriff als Dachmarke für unterschiedliche professionale Orientierungen bzw. Beratungszugänge vorgeschlagen.

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54 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

„Dazu zählen insbesondere die Tradition der Organisationsentwicklung und des Change Managements […] die Gruppendynamik […] die Prozessberatung […] sowie unterschiedliche Weiterentwicklungen des Beratungsrepertoires aus der systemischen Familientherapie heraus […]. Gemeinsam ist all diesen Herange-hensweisen ein gewisses Grundverständnis, was es praktisch heißt, in komplexe Zusammenhänge zu intervenieren“ (Wimmer 2008, S. 5).

3.3.3 Organisation – Beratungsbedarf – Beratungsansatz im Zeitgeist

Wenn all diesen Beratungsansätzen ein gewisses, im Action-Research-Ansatz be-gründetes Vorgehen gemeinsam ist, was unterscheidet sie dann?

Jeder Beratungsansatz ist seinerseits Antwort auf einen bestimmten zeitgeis-tigen Beratungsbedarf von Organisationen; denn der Schlüssel zur Stärkung des Selbstentwicklungspotenzials ändert sich mit den Herausforderungen, denen Organisationen sich stellen müssen, wollen sie im Wettbewerb überleben. So las-sen sich Organisationsentwicklung, Change Management, systemische Organisa-tionsberatung und Organisationsberatung mit der Luhmannschen Systhemtheorie als Beratungsparadigmen von Organisationsberatung verstehen, die jeweils auf andere überlebenswichtige Anpassungs- und Entwicklungspotenziale abstellen.

Das Beratungsparadigma der Organisationsentwicklung – Mitarbeiter arbeiten Silo- und Hierarchie-übergreifend in Prozessen zur Verbesserung ihrer Arbeits-welt zusammen, Ziele und Lösungen entstehen “unterwegs“ – kommt in den 70er- Jahren in den USA zur Blüte; es deckt den spezifischen Beratungsbedarf großer Konzerne ab, ihre Organisationen – schwerfällige, in sinnentfremdender Arbeits-teilung überbürokratisierte und -hierarchisierte “Tanker“ – in die Integrationspha-se12 zu führen.

Anfang der 90er Jahre fordern Umbrüche in Politik, Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft Organisationen eine neue Fähigkeit ab: ihre Verfasstheit in Bezug auf Strategie, Struktur und Kultur radikal, gezielt und turbo-schnell zu re-engineeren. Damals entsteht das Beratungsparadigma des Change Management,das den “Schalter umlegen“ soll – in einer zeitlich begrenzten Parallelstruktur zum Business mit ausgetüftelten Prozessarchitekturen, die eine Fülle projektmanage-mentmäßiger Problemlösungen konzertieren mit neuen Beteiligungs- und Kom-munikationsprozessen, neuen Rollenskripten und einem Steuerungsmodell rollie-render Planung.

Seit Mitte der 80er Jahre spricht man vom systemischen Beratungsansatz, der für das theoretische Verständnis sozialer Systeme Zugänge von Chaosforschung,

12 Glasl und Lievegoed unterscheiden die Pionierphase, die Differenzierungsphase, die Integrati-onsphase als typische Entwicklungsstadien von Organisationen; später stellte Fritz Glasl die Asso-ziationsphase dazu (Glasl u. Lievegoed 2).

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 55

Konstruktivismus und Erkenntnisbiologie integriert und Methoden und Tools aus der Familientherapie einsetzt. Dazu gehören das das zirkuläre Fragen, Anfertigen von Beobachtungen 2. Ordnung, die Hypothesenbildung, Interventionen als Ver-störungsversuche sowie die “systemischen Prämissen“ – ein Set von Haltungen und Einstellungen. Der systemische Beratungsansatz hilft Organisationen, engge-fahrenen Handlungsmustern und unvorhersehbaren, chaotischen Musterbrüchen, durch Erweiterung der Möglichkeitsräume und Ansätze zur Kontext-Steuerung zu begegnen.

In all diesen Ansätzen der Organisationsberatung liegt der Schlüssel zur Ver-haltensänderung in der gezielten Gestaltung interaktiver Prozesse sozialer Bedeutungsgebung.

Seit den 90er Jahren verbindet sich dieser Beratungsansatz zunehmend mit der Soziologie Niklas Luhmanns (Luhmann (posthum) 2000, 2001). Dieser ergänzt die Gemengelage aus Methoden und Werkzeugen mit einer rahmensetzenden Theorie, die Beraterinnen hilft, das Geschehen in Organisationen gezielt zu be-obachten, zu interpretieren und zu diagnostizieren. Denn Luhmanns Systemtheo-rie beschreibt typische Autopoiese-Prozesse für Organisationen – z.B. die Kom-munikationsprozesse des Mitteilungs- und des Sinnverstehens, das Treffen von Entscheidungen, das Setzen von Entscheidungsprämissen durch Programme, Kommunikationsstrukturen, Personen, Operationen von Selbst- und Fremdbe-obachtung u.v.m. (s. Krizanits 2009, S. 43 ff). Diese anspruchsvolle, systemische Theoriebasis ist dem Beratungsgegenstand – komplexe, in volatile, turbulente Umfelder eingebettete Organisationen – angemessen. Organisationsberatung mit der Luhmannschen Organisationstheorie sieht die Ansatzpunkte für die Stärkung des Selbstentwicklungspotenzials von Organisationen direkt in der Auseinander-setzung mit ihren Autopoieseprozessen.

Luhmann wollte eine generelle Theorie schreiben; er beschäftigte sich nicht mit Methoden für die Gestaltung interaktiver Prozesse sozialer Bedeutungsgebung. Der Action-Research-Ansatz lässt sich aber nahtlos im Rahmen der Luh-mannschen Systemtheorie fortschreiben, die ja in kommunikativen Austausch-prozessen überhaupt die Grundlage für Existenz und Entwicklung von Organisati-onen sieht.

Personen als psychische Systeme werden zwar als Umwelt sozialer Systeme konzipiert; über Sinn sind Personen und Organisationen aber strukturell aufs Engste gekoppelt. Sinn ist das effizienteste Kommunikationsmedium in Organisationen und gleichzeitig die effizienteste Form der Erfahrungsverar-beitung im psychischen System; Sinnverstehen ist gleichzeitig perfekte Kom-munikation und erfüllte Bewusstheit.

Auch wenn die Systemtheorie die Genese von Kommunikationsmustern in Organisationen als Emergenzprozess versteht, liegt doch auf der Hand: Ein gezielter Prozess der Verstörung von Kommunikationsmustern kann nur darin

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56 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

bestehen, soziale Interaktionen zu schaffen, in denen gezielt mit Kommunika-tionsanschlüssen experimentiert wird – nach der klassischen Schrittfolge: Variation, Selektion, Retention. So kann neuer Sinn entstehen; neue Kommuni-kationsanschlüsse und -muster stärken die Autopoiese der Organisation und koppeln die psychischen Systeme der Personen strukturell stärker an.

Organisationsberaterinnen werden gerufen, wenn die Kommunikation nicht mehr funktioniert, d. h., wenn sie sich rekursiv auf unzweckmäßige Muster, auf überholte Kommunikationsanschlüsse eingeengt hat. Dirk Baecker sieht die Wirkung systemischer Organisationsberatung darin, dass sie die Kommunika-tion in Organisationen verändert (Baecker, 2001).

Kurz: Die Organisationstheorien der Berater haben sich mit den Entwicklungen in Organisationen und Gesellschaft immer wieder verändert – das Geschäft ist das Gleiche geblieben. In der Organisationsberatung geht es nach wie vor um die Stärkung der Lebens- und Entwicklungsfähigkeit von Organisationen; der Action-Research-Ansatz ist der methodische Schlüssel dazu.

3.4 Organisationstheorie aus dem systemischen Beratungsansatz

Dieses Unterkapitel trägt die, der systemischen Organisationsberatung zugrunde liegenden, Annahmen über das Wesen und Funktionieren von Organisationen als soziale Systeme nochmals zusammen. Das bringt zwar einige Wiederholungen mit sich, hat aber den Vorteil, dass Sie die Organisationstheorie komprimiert und auf einen Blick wiederfinden.

Es gliedert sich in zwei Unterkapitel: zuerst werden die Annahmen für eine Theo-rie von Organisationen zusammengetragen, die sich Mitte der 80er-Jahre – als sich der systemische Beratungsansatz festigt – mehr oder weniger explizit aus dem systemischen Ansatz ableiten ließen. Darauf folgt eine Zusammenstellung der wesentlichen Begriffe aus Luhmanns Theorie der Organisation. Zu letzteren finden Sie in den Studienbriefen SB0110 und SB0120 wesentlich detailliertere Ausführungen; es mag Ihnen aber hilfreich sein, den Zusammenhang mit den Entwicklung Mitte der 80er Jahre zu sehen, mit denen Luhmann ja nur sehr locker – über seine Kontakte mit dem Heidelberger Kreis und den Wiener Organisati-onsberatungsgruppen – verbunden war.

3.4.1. Ableitungen aus dem systemischen Beratungsansatz Mitte der 1980er Jahre für das Verständnis von Organisationen

Im Folgenden also die Aussagen aus dem systemischen Ansatz Mitte der 80er Jahre, die sich zum Verständnis von Organisationen als soziale Systeme zusam-mentragen lassen.

Vgl. SB0110 und SB0120

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 57

Grenzziehung zwischen System und Umwelt: Soziale Systeme prägen eine Grenze zu ihrer Umwelt aus, über die sie ihre Identität definieren. Sie entwickeln spezifi-sche Handlungen, Begriffe, ihren eigenen Sinn bzw. Eigensinn. Sie trachten, sich selbst gleich zu bleiben und stimmig mit ihrem Selbstverständnis bzw. ihrer Iden-tität zu handeln. Welche Grenze wo gezogen wird, ist eine Eigenleistung des Sys-tems.

Organisationen sind in ihren Handlungen selbstbezüglich und rekursiv, d.h. sie schließen in ihren Handlungen an Handlungen an, die in der Vergangenheit hin-reichend erfolgreich für den Weiterbestand des Systems waren, bzw. an Hand-lungsmustern, die sich irgendwie eingespielt haben. Organisationen beziehen sich in ihren Handlungen fast ausschließlich auf ihre inneren Zustände bzw. sie verar-beiten Reize von Außen mit Logiken, die sich aus ihrer Geschichte der Organisa-tion ergeben, nicht aus der Natur des Reizes. Selbstreferentialität und Rekursivitätbewirken, dass ein anderes Vorgehen als das praktizierte kaum vorstellbar ist.

So prägen Organisationen ihre eigenen “Brillen“ aus. Ihre Beobachtung von In-nen- und Umwelten ist bedingt durch ihre inneren Strukturen wie Kommunikati-onswege, Managementsysteme, Verfahren oder besondere Kompetenzen. Sie ist geprägt durch besondere Ereignisse, Erfahrungen mit vergangenen, hinreichend erfolgreichen Handlungen, durch Konventionen und oft genug einfach durch be-liebige Verfahrensweisen, die in der Praxis nie widerlegt werden. Peter Senge drückt dies mit dem Konzept der “mentalen Modelle“ (Senge 1990, S. 213ff.) aus.

Das Konzept der mentalen Modelle beleuchtet ein Phänomen, das der US-amerikanische Managementtheoretiker Herbert A. Simon “begrenzte Rationali-tät“ (bounded rationality) genannt hat. Gemeint ist: In ihrem zirkulären und selbst-referentiellen Operieren entwickeln soziale Systeme ihre eigene Systemra-tionalität: Das, was sich hinreichend bewährt hat, ist per Definition rational, zweckmäßig. Der Zweck wird nach Karl Weick quasi im Nachhinein definiert. Rückblickend sieht es dann aus, als sei ein Zweck mit einem bestimmten, rationa-len Verhalten angestrebt worden. So pendeln sich soziale Systeme auf bestimmte eigensinnige Funktionsmuster ein und schaffen sich ihre eigene Wirklichkeit. Je-des System spielt seine eigene Melodie und hört nur seine eigene Musik, sagen Systemiker.

Damit schränken Organisationen ihren tatsächlichen Möglichkeitsraum ein. Sys-temische Beratung zielt darauf ab, den Möglichkeitsraum wieder zu vergrößern und neue Optionen aufzumachen – nach Heinz von Foersters “ethischem Impera-tiv“: Handle stets so, dass die Anzahl deiner Möglichkeiten größer wird.

Die Herausforderung an Beratung ist, dass – systemtheoretisch betrachtet – Orga-nisationen sich in ihrem Verhalten ja nicht instruieren oder determinieren lassen.Bestenfalls lassen sie sich durch kritische Widersprüche, durch Störgeräusche perturbieren, d.h. in ihren Mustern und Gewohnheiten irritieren. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn die Verstörbarkeit strukturell angelegt ist, wenn die

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58 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

“Frequenzen der neuen Musik“ im für das System hörbaren Bereich liegen. Ist das nicht der Fall, werden sie als Rauschen ausgefiltert.

Strukturelle Kopplung: Mit der Grenze zwischen Organisation und Umwelt ent-steht ein Komplexitätsgefälle: im System gibt es weniger Varietät von Verhalten, weniger Möglichkeiten als in den Umwelten jenseits der Grenze. Der Organisati-onsvorteil – dass Organisationen qualitativ und quantitativ höhere Leistungen er-bringen können als die Summe der beteiligten Individuen – ergibt sich durch den jeweiligen Blueprint des Organisiert-Seins, der auf den Prinzipien der Spezialisie-rung und Arbeitsteilung, auf Skaleneffekten usw. aufbaut. Organisationen müssen aber nicht nur in ihrer Verfasstheit einen optimalen Organisationsvorteil realisie-ren; sie müssen auch ein angemessenes Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und Binnenstruktur herstellen. Ein zu stark stereotypisiertes und auf den Organisa-tionsvorteil ausgerichtetes Verhaltensrepertoire darf nicht dazu führen, dass sich die Organisation strukturell von den Entwicklungen in den Umwelten abkoppelt.

System und Umwelt sind wechselseitig Umwelt und System füreinander. Ihre Ge-schichte wechselseitiger Verstörung bildet den Rahmen für ihre Co-Evolution, die in Form eines nicht-gerichteten “evolutionären Drifts“ verläuft, bei dem es nur darauf ankommt, dass ein Fit zwischen System und Umwelt erhalten bleibt.

Organisationen als komplexe Systeme weisen typische Funktionsmuster auf: Esgibt lange Phasen stabiler Ordnung und inkrementeller Veränderung. Durch die wiederholte Anwendung derselben Operationen auf die Ergebnisse eben dieser Operationen werden kleine Abweichungen hochgeschaukelt. Nach langen Perio-den stetigen, stabilen Verhaltens, wird das System plötzlich turbulent, dann chao-tisch, um sich umbruchartig auf einen neuen Attraktor für Verhalten einzupen-deln. In komplexen Systemen können kleine Abweichungen besonderen Signal-charakter haben: Sie können auf das Ende stetiger Phasen und auf den Beginn vonTurbulenzen hinweisen. Deshalb besteht die geeignete Strategie für die Steuerung komplexer Systeme darin, Widersprüche und Abweichungen scharf zu stellen und nicht darin, Abweichungen von Planwerten durch Maßnahmen schnell auszuglei-chen.

3.4.2 Luhmanns Organisationstheorie

In seinem posthum von Dirk Baecker herausgegebenen Buch "Organisation und Entscheidung" (Luhmann, 2000) entwickelt Niklas Luhmann eine umfassende Theorie des sozialen Systems Organisation.

System und Grenzziehung

Die Funktionssysteme der entwickelten Gesellschaft – z.B. das Politiksystem, das Rechtssystem, das Wissenschaftssystem, das Gesundheitssystem, das Erziehungs-system, das Wirtschaftssystem, das Kunstsystem usw. (s.o.) – grenzen sich über

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 59

eine bestimmte Leitdifferenz ab, mit der sie das Geschehen in der Gesellschaft be-obachten. Für diese identitätsbildende Grenzziehung von seiner Umwelt verwen-det jedes Funktionssystem einen bestimmten binären Code. Dieser ist eine schnel-le Entscheidungsregel dafür, was als sinnvolle Kommunikation aufzunehmen ist und was als belanglos ausgefiltert wird. Das Wissenschaftssystem operiert mit dem Code wahr/falsch, das Rechtsystem mit dem Code Recht/Unrecht, das Wirt-schaftsystem mit dem Code Eigentum Haben/Nicht-Haben bzw. Haben/ Nicht-Haben von Geld. So gewinnt jedes Funktionssystem eine hohe Selektivität gegen-über Umwelteinflüssen und spezialisiert sich in seinen Kommunikationen auf be-stimmte Sinnbereiche.

Ein System, das sich von seiner Umwelt durch eine Grenzziehung unterscheidet und sich in seiner Identität erhalten will, muss sich selbst beobachten (Luhmann 2000, S. 46). Mit Heinz von Foerster sagt Luhmann: Die Unterscheidung selbst ist der blinde Fleck der Beobachtung (Luhmann 2000, S. 145), die von Außen be-obachtbare Unbeobachtetheit des Systems.

Der Volksmund kennt dieses Phänomen unter dem Begriff des "barfüßigen Schus-ters": Eine Kirchenorganisation, die sich auf die Beobachtung von Seelenheil und Erlösung spezialisiert, wird intern immer wieder Unheil und Leid inszenieren; die antiautoritäre Schule wird immer wieder von oben herab Willkürakte setzen, die Abläufe in der Unternehmensberatungsfirma sind alles andere als geschäftspro-zessoptimiert, usw.

Um nämlich eine identitätsbildende Unterscheidung bzw. Grenzziehung zur Um-welt aufrecht halten zu können, muss die ausgegrenzte Seite mitgeführt werden. Luhmann spricht dann von einem “Re-Entry“ – ein Begriff aus dem Formkalkül Spencer Browns (1969). Re-Entry bedeutet, dass die Unterscheidung, die dazu ge-führt hat, das System in seinen spezifischen Sinn- und Kommunikationsanschlüs-sen von der Umwelt abzugrenzen, eben wieder in die Kommunikation des Sys-tems eingeführt wird.

Das Wissenschaftssystem z.B. grenzt sich von nicht-wissenschaftlichen Systemen dadurch ab, dass es wissenschaftliche Nachweisbarkeit fordert und nicht “nurGlauben“. Die Frage: “Was ist wissenschaftliche Nachweisbarkeit, woran glauben wir, wenn wir davon reden?“ ist ein Re-Entry. Die ausgegrenzte Dimension Glau-be wird wieder zur Selbstdefinition herangezogen.

Organisation und Person

Ein Kern der Luhmannschen Systemtheorie ist die jeweilige operationale Ge-schlossenheit der verschiedenen Arten lebender Systeme auf ihren jeweiligen Mo-dus der Autopoiese. Psychische Systeme können nur wahrnehmen, denken, Be-wusstseinsprozesse unterhalten; sie können nicht kommunizieren. Soziale Syste-me können nur kommunizieren, sie können nicht denken, wahrnehmen, Bewusst-seinsprozesse unterhalten. Das ist der Hintergrund dafür, warum Luhmann Perso-

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60 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

nen als Umwelt von Organisationen konzipiert und nicht als Basiselemente oder Teilmenge von Organisationen – wie dies in der Theoriegeneration der techni-schen Systeme der Fall ist. Genau gesagt, ist die Person derjenige Anteil des psy-chischen Systems, der in Kommunikationsakte eingebunden ist.

Soziale Systeme und psychische Systeme stehen in einem Verhältnis struktureller Kopplung von System und Umwelt zueinander; Luhmann nennt die Kopplung von psychischen und sozialen Systemen Interpenetration; damit bringt er zum Ausdruck, dass psychische und soziale Systeme strukturell besonders eng gekop-pelt sind.

Die strukturelle Brücke zwischen Person und Organisationen, zwischen Bewusst-sein und Kommunikation, ist Sinn. Sowohl soziale Systeme als auch psychischeSysteme sind sinndeterminiert; denn jede Art der Erfahrungsverarbeitung wird durch Sinn organisiert und Sinn kann sich nur in sozialen und in psychischen Sys-temen konstituieren. Sinn ist die effektivste Möglichkeit, Komplexität und Kon-tingenz zu reduzieren.

In jedem sinnkonstituierenden und -konstituierten System artikuliert und manifes-tiert sich Sinn in drei Dimensionen:

in der sachlich-inhaltlichen Dimension – über was kommuniziert wird, was quasi den Kern der Kommunikationsanschlüsse bildet,

in der sozialen Dimension – die Perspektivenvielfalt und Interessengeleitetheit der verschiedenen Personen, die Umwelt eines bestimmten sozialen Systems sind

und in der zeitlichen Dimension – mit den Projektionen von Vergangenheit und Zukunft bzw. mit der Verortung auf einem bestimmten Zeitpunkt im Entwick-lungspfad eines Systems.

Nehmen wir als Beispiel das Interaktions-System Rush-Hour: Die inhaltliche Grenze sind alle Mobilitätsbewegungen in einem Gebiet, die soziale Grenze sind alle sozialen Gruppen, die die Einwirkfaktoren abbilden, also die Autofahrer, die Schüler, die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, die Betriebe, die Betreiber von Baustellen auf der Autobahn, die Lieferanten von Frischwaren an Lebensmittelge-schäfte usw. Die zeitliche Grenze liegt beispielsweise zwischen 6.30 und 9.00 Uhr vormittags und 16.30 bis 18.00 Uhr nachmittags. Ein Auffahrunfall hat andere Folgen um 16.30 Uhr als um 17.45 Uhr, wenn z.B. gar nicht mehr unterschieden werden kann, ob der Unfall Ursache oder Wirkung des Staus ist. Die einzelne Per-son ist nicht Bestandteil des Systems, sondern Umwelt. Fragen Sie die Frau, die inder überfüllten U-Bahn zur Arbeit fährt oder den Autofahrer, der im Stau steckt; beide werden klagen, dass sie keinen Einfluss auf das System haben.

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Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung 61

Rekursivität, Selbstreferenz, Selbst- und Fremdbeobachtung

Dass Organisationen in der Zeit fortschreiten, heißt nicht, dass ein Außenereignis die folgenden grundsätzlich determiniert oder prägt. Nach Luhmann produzieren Organisationen als autopoietische Systeme grundsätzlich mit jedem einzelnen Kommunikationsereignis einen Überschuss an Möglichkeiten (Luhmann 2000, S. 46). Die Engführung auf die geschichtliche “Pfadabhängigkeit“ ist vielmehr in den Momenten der Rekursivität und Selbstreferentialität begründet. Mit dem Blick auf die Vergangenheit und das Bewährte werden vorzugsweise und mit ei-nem gewissen Automatismus bestimmte Anschlussereignisse ausgewählt, die egal welchem Außenereignis folgen.

Bedingt durch ihre Selbstbezüglichkeit und ihr Rekurrieren auf die Vergangenheit befinden sich Organisationen in einem „Dauerzustand der Unsicherheit über sich selbst im Verhältnis zur Umwelt“ (Luhmann 2000, S. 47). Sie müssen deshalb immer wieder auch für “Fremdbeobachtung“ Sorge tragen, d.h. sich aus den Per-spektiven ihrer Umwelten betrachten. Wenn eine Organisation Innen und Außen vergleicht, wenn sie zwischen Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung wech-selt, nennt Luhmann dies Reflexion. Fremdbeobachtung und Reflexion sind Vo-raussetzungen, ist eine Voraussetzung dafür, die strukturelle Kopplung zwischen der Organisation und ihren Umwelten aufrecht zu erhalten.

Um die Anschlussfähigkeit ihrer Operationen zu sichern, setzen Organisationen eine weitere Unterscheidung ein, wenn sie sich selbst beobachten: die Unter-scheidung zwischen Vorher und Nachher. Die Fähigkeit zu dieser Art von Be-obachtung nennt Luhmann Reflexivität.

Organisationen operieren immer in der Gegenwart. Sie können nicht wieder in ei-nen früheren Zustand geraten; sie schreiten in der Zeit fort. Mit dem Fortschreiten in der Zeit ändern Organisationen die Art, wie sie sich selbst beobachten; sie be-obachten sich heute mit anderen Augen als gestern. Mehr noch: Sie beobachten das Gestern mit den Augen von heute. Luhmann hat das organisationale Ge-dächtnis (Luhmann 2000, S. 192 ff) als eine ständige Konstruktionsleistung defi-niert. Organisationen müssen ununterbrochen (neu) entscheiden, was sie verges-sen und was sie erinnern wollen. So bauen sie sich ständig mit den Augen der Ge-genwart für eine bestimmte Zukunft die passende Vergangenheit.

Entscheidungen und Entscheidungsprämissen

Ein besonderer Typ von Kommunikation sind Entscheidungen. Entscheidungenbzw. die dahinter liegenden Entscheidungsprämissen ermöglichen es Organisatio-nen, Unsicherheit zu absorbieren. Entscheidungsprämissen haben für Organisati-onen dieselbe Funktion wie die binären Codes für die Funktionssysteme: Sie stel-len schnelle Daumenregeln dafür auf, was in einem gegebenen sozialen System zulässige Entscheidungen sind und was als nicht-relevant auszufiltern ist. Sie len-ken also die Kommunikation; dabei dienen sie aber nur als “Oszillatoren“. Sie le-

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62 Kapitel 3: Systemische Organisationsberatung

gen künftige Entscheidungen nicht fest (Luhmann 2000, S. 224). Entscheidungs-prämissen führen für den Umgang mit Ereignissen eine gewisse Redundanz ein und entlasten die Organisation von überfordernder Einzelfall-Informationsver-arbeitung (Luhmann 2000, S. 227).

Luhmann unterscheidet drei Arten von Entscheidungsprämissen: Entscheidungs-programme, Kommunikationsstrukturen und Personen.

Entscheidungsprogramme lassen sich in die Input-orientierten Konditional-programme und die Output-orientierten Zweckprogramme einteilen (Luhmann 2000, S. 261). Konditionalprogramme unterscheiden zwischen Bedingungen und Konsequenzen nach dem Motto “immer wenn… dann…“, Zweckpro-gramme unterscheiden zwischen Zwecken und Mitteln nach dem Motto “um…zu erreichen, mache…“. Entscheidungsprogramme sind entweder formalisiert,wie z.B. Businesspläne oder Strategien. Sie können aber auch nicht formalisiert sein, wie z.B. mentale Modelle oder wie das Bauchgefühl der Unternehmerin.

Mit Kommunikationsstrukturen sind die in der Organisation angelegten sozialen Räume gemeint, die für die Regelkommunikation in der Aufbau- und Ablauforganisation bestimmt sind. Man müsste die Kommunikationsräume in Projekten und anlassbezogene Nicht-Regel-Kommunikationsräume (z.B.Betriebsversammlungen) ergänzen.

Luhmanns dritte Kategorie von Entscheidungsprämissen betrifft Personalent-scheidungen und Stellenbesetzungen. In dem Maß wie sich in Organisationen die Anforderungen an Führung enttrivialisieren und verändern, werden Per-sonen selbst zu Entscheidungsprämissen. Ihre Personmerkmale, z.B. ihre Ent-scheidungsstile, machen sie zu einer Art “vorgeschalteten Kompetenz“ für das “Erkennen von Gelegenheiten“ (Luhmann 2000, S. 282).

Übungsaufgabe 6:

Wie hängen die Entwicklungen in Organisationen und in der Unternehmensbe-ratung zusammen?

Übungsaufgabe 7:

Was ist die Grundidee im Action-Research-Ansatz? Und: Was ist das Ziel der Organisationsberatung?

Übungsaufgabe 8:

Warum lässt sich der Action-Research-Ansatz Kurt Lewin's auch in der Organi-sationsberatung?

Übungsaufgabe

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 63

4 Der Beratungsprozess

Fragen zum 4. Kapitel:

Wie sieht der Beratungsprozess in der systemischen Organisationsberatung aus? Welchem Ablaufmodell folgt er, welche Schritte gehören dazu? In welchen Logi-ken und Dynamiken bewegt man sich als Berater? Worauf gilt es in der Gestal-tung der Kooperation mit Auftraggebern zu achten? Wie sieht es mit der Außen-perspektive von externen und internen Beratern wirklich aus? Überhaupt: was un-terscheidet externe und interne Beraterinnen?

Welche Fragen stellen Sie sich zu Beginn dieses Kapitels?

Dieses 4. Kapitel ist ein kurzes; es zeigt den Gesamtzusammenhang des Bera-tungsprozesses in der systemischen Organisationsberatung. Es geht dabei um das “Was“, um die einzelnen Stellgrößen, die in den folgenden Kapiteln methodisch in ihrem “Wie“ detailliert werden. Es beginnt mit den einzelnen Schritten des Be-ratungsprozesses, beschreibt die logischen Rahmenbedingungen der Arbeit im Be-ratungssystem und setzt sich mit einfachen und mehrfachen Auftraggebersyste-men auseinander; dabei wird immer wieder auch auf die besonderen Handlungs-bedingungen interner Organisationsberaterinnen verwiesen.

4. 1 Der Beratungsprozess im Überblick

Der Beratungsprozess in der systemischen Organisationsberatung folgt dem Mo-dell der Action-Survey-Schleife oder Action-Research-Schleife, die im Folgenden vorgestellt wird. Danach werden die konstitutiven Schritte des Beratungsprozesses überblicksartig beschrieben: das Auftragsgespräch mit dem Klienten, das Ange-bot, die Planung und Durchführung der Datenerhebung, insbesondere das Führen qualitativer Interviews, die Auswertung und das Erstellen der Diagnoseschrift und schließlich der Rückspiegelungsworkshop.

4.1.1 Die Action-Research-Schleife

Kurt Lewin hat die Form des Forschungsprozesses im Action-Research Ansatz definiert als Spirale von aufeinanderfolgenden Schleifen die jeweils aus einer Schrittfolge von Planung und Durchführung von Handlungen mit anschließender Datenerhebung über deren Auswirkungen besteht; das ist die Action-Survey-Schleife oder Action-Research-Schleife.

Sie beginnt mit der der Wahrnehmung von Problemen durch den Klienten, die diesen veranlassen, Berater anzufragen. Diese erheben Daten, erstellen eine Di-agnose, die sie an den Auftraggeber zurückspiegeln. Mit dem Feedback des Kli-

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64 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

enten entsteht eine gemeinsame Problemdiagnose, die Basis ist für eine gemein-same Planung und Durchführung von Aktionen. Dann beginnt eine neue Schleifevon Datenerhebung, Diagnoseerstellung durch Berater, Rückspiegelung an den Klienten mit Aktionsplanung usw.

Abb. 9: Die Action-Survey-Schleife, Quelle: French a. Bell 1984, S. 109

Die Vorstellung, dass ein Vorgehen in Schleifen, bzw. die Aneinanderreihung von Schleifen zu einer Spirale ein geeignetes Modell für den Forschungs- und Er-kenntnisprozess darstellt, ist nicht neu. Die Hermeneutik kennt den Begriff des “hermeneutischen Zirkels”. „Die Vorstellung eines Zirkels (d.h. Kreisbewegung) bildet dabei die Tatsache ab, dass es keinen objektiv beginnenden und linearen, direkt zielführenden Weg zum Sinn… gibt, sondern der Verstehende sich erstens bereits in einer verstehenden Annäherungsbewegung befindet und dabei zweitens, wenn nicht sich schlicht nur “im eigenen Kreise drehend“, sich dem Verstehens-ziel bestenfalls analog einer Spirale annähert, ohne das angestrebte Ziel Verständ-nis unmittelbar erreichen zu können.” (Zusammenfassung der Position des Philo-sophen und Hermeneutikers Hans-Georg Gadamer im Wikipedia-Eintrag “Her-meneutischer Zirkel“).

Der Schleifengang ist explizit die heuristische Grundform der systemischen Orga-nisationsberatung; das zeigt sich im “großen“ Prozessmodell der Action-Survey-Schleife und im “kleinen“ Prozessmodell der systemischen Schleife. Er bildet den Kern des Action-Research-Ansatzes – die Forderungen nach handlungsbasierter Theorie und theoriebasiertem Handeln – methodisch ab: “die gezielte Erforschung der Bedingungen und Auswirkungen der Handlungsmuster in einem sozialen Sys-

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 65

tem“ – d.h. die Bildung von Theorie über die gelebte Praxis – und darauf folgend “die gezielte Suche nach Handlungsoptionen für das System“ – d.h. eine theorie-basierte Praxisgestaltung.

Dazu Königswieser und Hillebrand (2004, S. 45-46):

„Die systemische Schleife stellt ein einfaches Prozessmodell dar, welches die sys-temische Haltung zum Ausdruck bringt: "Ich möchte verstehen, was läuft. Wir müssen zuerst Hypothesen bilden, reflektieren, nicht gleich agieren." Dieses Ba-sismodell besteht aus mehreren Schritten: Zuerst sammeln wir Informationen, bil-den Hypothesen, bevor wir die Interventionen planen und durchführen. Innerhalb dieser Zeitachse geht es aber nicht linear, sondern eher spiralförmig zu.“

4.1.2 Die Schritte im systemischen Beratungsprozess

Der Beratungsprozess beginnt mit der Anfrage eines Klienten an einen externen Berater; bei internen Organisationsberatern ist es häufig so, dass die Initiative zu einem Beratungsprozess vom internen Experten ausgeht, der sich bei einer Füh-rungskraft dazu einen Auftrag holt.

Die Anfrage nach Beratung

Bei internen Beratern laufen viele Fäden zusammen, frühe Signale verdichten sich; deshalb spüren sie einen gegebenen Change Impact früher als Führungskräf-te in der Linie, wo diese Signale zum selben Zeitpunkt nur sehr schwach, wenn überhaupt wahrnehmbar sind. Im Allgemeinen sind Linienführungskräfte bereit, auf Ihre Fachkollegen zu hören, sodass interne Organisationsberatungsprozesse oft in einem viel früheren Stadium beginnen, bevor die Dinge sich verschleppen und mit inhaltlicher und sozialer Komplexität aufladen. Die internen Beratungs-prozesse verlaufen deshalb oft schlanker und unspektakulärer – nicht selten in Form von einigen Workshops – als die von externen Beratern geführten. Externe Berater werden in der Regel erst gerufen, wenn allen Führungskräften klar ist, dass und wo Handlungsbedarf besteht, wenn es dafür ein Budget, Personalres-sourcen, Auswahlprozesse und die Bereitschaft zu umfangreicher Parallelarbeit neben dem Tagesgeschäft gibt.

Interne Berater beklagen mitunter, dass der Prophet im eigenen Land nichts gelte,unterliegen dabei aber einem logischen Kurzschluss: Zum Zeitpunkt, wenn Exter-ne ins Haus geholt werden, gibt es allgemeinen Konsens über die Handlungsnot-wendigkeit; es geht also weniger um eine Prophezeiung als um eine Diagnose. Anders bei den Internen: Ihre frühen Hinweise auf Handlungsbedarf mögen Füh-rungskräften als Prophezeiung erscheinen, weil letztere die Signale, auf die die in-ternen Berater sich berufen, selbst nicht in dem Ausmaß wahrnehmen. Die Bezie-hung zwischen Führungskräften und internen Beratern ist in einem Wandel begrif-fen: Zunehmend schätzen Führungskräfte die Eigeninitiative ihrer Experten und

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66 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

begegnen deren Vorschlägen mit Vertrauen. Das belegen Ulrich's Studien zur Kernkompetenz des “credible activist“ (s. S. 49).

Das Auftragsgespräch

Der nächste Schritt ist das Auftragsgespräch mit dem oder den Klienten. In die-sem Gespräch geht es einerseits um den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung,andererseits darum, die Anliegen der Klienten zu verstehen. Es geht außerdem da-rum, das Wirkungsgefüge, das dem zu bildenden Beratungssystem (s.u.) zugrunde liegt, zu erkunden und aufs Erste inhaltlich, sozial und zeitlich abzugrenzen. Am Ende des Auftragsgesprächs spiegelt der Berater erste Hypothesen zurück, auf de-nen er seine Vorschläge für das weitere Vorgehen begründet. Dieses Vorgehen wird skizziert, ein Verständnis über die zugrunde liegende Zusammenarbeit in den Rollen zwischen Auftraggeber und Beraterin vereinbart. Die Gestaltung des Auf-tragssgesprächs ist ausführlich in Kapitel 5 beschrieben.

Das Angebot

Nach dem Auftragsgespräch schickt die Beraterin in der Regel ein schriftliches Angebot, das die Ergebnisse des Gesprächs festhält und rechtliche Grundlage für den Leistungstausch ist. Es enthält Aussagen über Ausgangslage und Zielsetzun-gen des Beratungsprojektes, die methodische Vorgehensweise für die Datenerhe-bungen, um zu einer Diagnose zu gelangen und mitunter schon eine erste Skizze des gesamten Beratungsprozesses – der Architektur – die im Rückspiegelungs-workshop vertieft und ergänzt werden kann.

Bei kleineren Projekten, wie z.B. Teamentwicklungen, gibt es häufig keinen lan-gen Beratungsprozess, sondern nur ein bis zwei Workshops. Hier wird mit der Rückspiegelung der Diagnose gleich ein Designvorschlag für den Workshop ge-macht, der nach einem Contracting direkt umgesetzt wird.

Außerdem enthält das Angebot die Namen von Auftragnehmern und Verantwor-tungsträgern im Projekt, Aufwände und Kosten und die Geschäftsbedingungen. Die Angebotserstellung ist in Kapitel 6 beschrieben.

Interne Organisationsberater arbeiten oft ohne formales Angebot; sie starten und bewegen sich in der Unschärfe. Das ist einerseits nötig, weil sie frühzeitig agieren, wenn sich ein Change Impact abzeichnet. Andererseits ist ein Angebot auch des-halb nicht nötig, weil zentrale Funktionen des Angebots – wie Legitimierung und Vertrauensbildung – ohnedies in der Arbeitsbeziehung zwischen internen Beratern und Führungskräften/Auftraggebern hinterlegt sind. Auch externe Berater arbeiten mitunter ohne formales Angebot – in Familienunternehmen z.B. oder im Fall langjähriger Arbeitsbeziehungen.

Vgl. Kapitel 3

Vgl. Kapitel 5

Vgl. Kapitel 6

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 67

Datenerhebung und -auswertung, Diagnoseschrift und Rückspiegelung an den Klienten

Kapitel 7 beschreibt die Methoden und den Prozess der Datenerhebung mittels –persönlicher oder telefonischer – Einzel- oder Gruppeninterviews oder mit Frage-bogen. Es schildert die Gesprächsführung im narrativen Interview. Aus den erho-benen Daten werden Hypothesen gebildet und prozessiert und schließlich richtig formuliert werden. Die Bedeutung von Fachwissen für die Diagnose wird erläu-tert, der Aufbau der Diagnoseschrift mit ihren Bestandteilen und ihrem Span-nungsbogen wird dargelegt.

Es folgt die Beschreibung der Zielsetzungen, das methodische Vorgehen und De-sign des Rückspiegelungsworkshops, in dem die Berater den Auftraggebern ihre Hypothesen vorstellen. Letztere werden von den Klienten auf Nützlichkeit geprüft und evaluiert. Dann folgt die gemeinsame Erarbeitung der Roadmap für den wei-teren Beratungsprozess bzw. bei größeren Beratungsprozessen die gemeinsame Klärung der Rahmenbedingungen, die Grundlage für nachfolgende Ausarbeitun-gen von alternativen Prozessarchitekturen durch die Berater sind.

Die Architektur von Beratungsprozessen

Das 8. Kapitel beschreibt das Anforderungsprofil an Beratungsprozesse und die Elemente, die in Architekturen konzertiert werden können, mit ihren jeweiligen Leistungsprofilen. Es geht ein auf zugrunde liegende Steuerungsmodelle und Rol-lenverteilungen.

Die Evaluierung von Beratungsprozessen

Das 9. Kapitel beschreibt des Prozess der Evaluierung eines Beratungsprojekts nach dem Modell des Vorher-Nachher Vergleichs bezüglich Ausgangslage und Zielsetzungen des Angebotes. Außerdem werden die Gütekriterien der modernen qualitativen Sozialforschung angewandt auf systemische Organisationsberatung und die in der Norm EN 16114 für Unternehmensberatung spezifizierten Quali-tätsanforderungen an Beratungsprozesse betrachtet.

Die einzelnen Schritte des Beratungsprozesses werden in den späteren Kapiteln genauer beschrieben und mit einem durchgehenden Fallbeispiel veranschaulicht.

4.2 Topografie des Beratungssystems

Beratung findet in einem Interaktionssystem statt, das sie selbst definiert. Diese Aussage ist voraussetzungsvoll: Zum einen gilt es, das Problemsystem inhaltlich, sozial und zeitlich angemessen abzugrenzen damit Beratungsleistungen auch des “Pudels Kern“ treffen können; zum anderen gilt es, gewahr zu sein, dass Berater dem System von Handlungsbezügen selbst angehören, über das sie eine Diagnose erstellen und in das sie Interventionen setzen wollen.

Vgl. Kapitel 7

Vgl. Kapitel 8

Vgl. Kapitel 9

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68 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

4.2.1 Die Abgrenzung des Beratungssystems

Berater werden in der Regel nicht angefragt, um eine ganze Organisation zu bera-ten. Es geht immer um ein begrenztes Interaktionssystem in der Organisation. Ein System von Handlungsbezügen soll in seinen mentalen und instrumentellen Struk-turen verändert werden, um neue Freiheitsgrade zu erzielen.

Mitunter löst ein Problem den Beratungsbedarf aus; die Formulierung des Bera-tungsanliegens enthält dann häufig schon einen Lösungsvorschlag aus Sicht des Klienten. Die angedrohte Mobbingklage vor Gericht ist der Anlass, der Mitarbei-terin ein Coaching zu verordnen. Ständiger Streit im Geschäftsführungsteam führt zur Anfrage nach einem Team-Feedback, mit dem Kollege x endlich in seine Schranken verwiesen werden soll.

Meist geht es aber nicht um eine Störung, sondern um eine Aufgabenstellung, für die von dritter Seite Starthilfe benötigt wird. Eine neue Funktion entsteht – z.B. Supply Chain Management – und mit den davon tangierten Aufgabenbereichen –Einkauf, Produktion, Lager, Logistik, Lieferanten – ist eine Neukonfiguration der Aufgabengebiete zu erarbeiten.

Der neue Vorstandsvorsitzende will mit seinen Kollegen und Direct Reports ein neues Führungsleitbild erarbeiten. Mittelgroße Projekte können Aufbau und Ent-wicklung einer Prozessorganisation betreffen, die Einführung des virtuellen Büros oder Aufbau und Einführung eines Performance Management System in einer Verwaltungseinheit. Schließlich kann es um umfangreiche und komplexe Umbau-prozesse gehen, die anforderungsreiche Change-Architekturen bedingen: die In-tegration der Aufgabenbereiche, Systeme und Teams nach einem Merger, die Gründung/Auflösung von Standorten, die Generationsübergabe im Familienunter-nehmen usw.

Beratung beginnt mit der eigenständigen, vom Berater durchzuführenden inhaltli-chen, sozialen und zeitlichen Abgrenzung des Interaktionssystems, das beraten werden soll. Das ist gleichzeitig das Beratungssystem, d.h. die Menge der Interak-tionen von Beratern und Kunden.

Die Abgrenzung des Problemsystems findet am Ende des Auftragsgespräches ge-meinsam mit dem Klienten statt; möglicherweise wird im Zuge der Erhebungen nachkorrigiert. Wenn sich z.B. in den Interviews zeigt, dass die Interviewpartner sich immer wieder auf einen “Player“ beziehen, den der Auftraggeber gar nicht genannt hat, kann es sinnvoll sein, diese Person auch zu interviewen; im Beispiel der Konfliktmoderation kann es z.B. sinnvoll sein, eine Person zu befragen, die an Interaktionen teilnimmt, aber keine Anzeichen von Konflikteskalation zeigt oder wahrnimmt.

Da die Abgrenzung des Problemsystems die Vorlaufgröße für die Datenerhebung und für die Diagnose ist, kommt ihr methodisch zentraler Stellenwert zu.

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 69

4.2.2 Klientensystem – Beratungssystem – Beratersystem

Alle Informationen, Interpretationen und Interventionen finden im Rahmen dieses Beratungssystems statt, dem die Berater angehören.

Abb. 10: Das Beratungssystem. Quelle: Autorin J.K.

Auch wenn nur ein begrenztes Interaktionssystem in der Organisation beraten wird, gilt: “Das ganze System ist der Kunde“. Ein Teilaspekt soll nicht auf Kos-ten der anderer optimiert werden, kurzfristige Optimierung nicht nachhaltige Ent-wicklung beeinträchtigen. Die systemische Prämisse der Allparteilichkeit gilt auch auf dieser Ebene.

Berater können per Definition nicht auf das Klientensystem einwirken, das wäre paradox. Anders ausgedrückt: sie sind selbst Verursacher und Betroffene ihrer Wahrnehmungen. Die Prämisse der Außenperspektive – in der oftmals ein großer Nutzen gesehen wird- relativiert sich damit etwas.

Auch die kategorische Zuschreibung, dass externe Berater über Außenperspektive verfügen, interne Berater als Systemangehörige aber im blinden Fleck seien, rela-tiviert sich: Erstens büßen auch externe Berater durch ihre Zugehörigkeit zum Be-ratungssystem Außenperspektive ein. Zweitens sind interne Berater zwar Mitglied der Gesamtorganisation, üblicherweise aber nicht fixes Mitglied des konkreten Beratungssystems. Denn dann würden sie Gefahr laufen, von anderen Mitgliedern des Beratungssystems spezifische Interessen, einen Mangel an Neutralität zuge-schrieben zu bekommen und wären in ihrer beraterischen Wirksamkeit erheblich eingeschränkt. Ein interner Berater wird deshalb nur in Beratungssystemen bera-ten, zu denen ihm eine gewisse Distanz und Unabhängigkeit zugeschrieben wird.

Die Tatsache, dass Berater immer selbst Teil des Beratungssystems sind, kann als Vorteil gesehen werden: Sie haben dadurch Zugang zu Informationen aus der Per-spektive der Betroffenen, was sich in Resonanzphänomenen zeigt. Bei der Arbeit im Beratersystem – d.h. wenn mehrere Berater, die in einem Beratungssystem un-

Kundensystem – Interaktionen zwischen Personen in der Kunden-organisation

Beratersystem – Interaktio-nen zwischen den Beratern

Beratungssystem – Interaktionen zwischen Klienten und Beratern

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70 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

terwegs sind, z.B. gemeinsam Hypothesen machen oder ein Design für einen Workshop planen – stoßen sie immer wieder unvermittelt auf die Selbsterkennt-nis, dass sie untereinander bestimmte Kommunikationsmuster reproduzieren, die auf die Muster im Beratungssystem verweisen.

Das kann Hyperaktivität und exaltierte Blödelei im jungen High-tech Unterneh-men sein, das brave an-die-Arbeit- gehen, wenn man eine Schule berät, das endlo-se Reden über Regeln und Ausnahmen, wenn man eine Verwaltungseinheit berät, null-Bock und Widerstand, überhaupt mit der Arbeit zu beginnen, wenn die Ge-schäftsleitung im Mergerprozess willensmäßig noch nicht “über den Rubikon“ ist, bleierne Müdigkeit und latente Angstgefühle, wenn es im System um Dauer-Hochleistung und Burnout geht usw.

Das bedeutet, das Beratersystem konstruiert untereinander ähnliche Relationen, es trifft ähnliche Unterscheidungen, es geht die Prozesse der Wirklichkeitsbeschrei-bung ähnlich an wie das Beratungssystem, in dem es gerade berät. Die Befind-lichkeit der Berater, wie es ihnen beim Wahrnehmen, Nachdenken und Fühlen geht, ihre Resonanzen auf Kommunikationsmuster im System, können damit als eigene Datenquellen angesehen werden, die Zugang zu den Funktionsmustern des Systems verschaffen – wenn wir uns dies bewusst machen und reflektieren, z.B. mit Fragen: "Wie sind wir eigentlich gerade unterwegs und was hat das mit dem System zu tun?"

Grundsätzlich folgt aus der Tatsache, dass man als Berater immer nur im Bera-tungssystem agiert, dass es besondere Sorgfalt braucht, die eigenen Wahrnehmun-gen und Interpretationen methodisch zu “kontrollieren“, um valide Beobachtun-gen 2. Ordnung zu machen. Genauere Hinweise darauf, wie das gelingen kann, werden im Studienbrief SB0410 gegeben.

4.3 Der Kontrakt mit den Auftraggebern

Neben der Abgrenzung des Beratungssystems ist der Kontrakt mit den Auftragge-bern die wesentliche Stellgröße für die Beratungsarbeit. Hier ist zu unterscheiden zwischen einfachen und mehrfachen Auftraggebersystemen, die jeweils andere Kommunikationsprozesse bedingen.

Zentrales Navigationsinstrument im Beratungsprozess ist das Dreieck von Kon-text-Auftrag und Rollen; wer das nicht auf dem Radar hat, läuft Gefahr, auf Grund zu laufen und unterzugehen. Was hier zu beachten ist, wird im Folgenden be-schrieben.

Vgl. SB0410

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 71

4.3.1 Einfache und mehrfache Auftraggebersysteme

Der Einfachheit halber geht man bei der Beschreibung des Beratungsprozesses meist von dem Klienten und dem Auftraggeber aus. De facto hat man es als Bera-ter mit wesentlich komplexeren Strukturen zu tun: mit mehrfachen Auftraggeber-systemen.

Bei Teamentwicklungen z.B. werden von internen Beratern aus Organisations-entwicklung (OE) oder Human Resources (HR) mehrere externe Berater ange-fragt. Sie haben zuvor eine Anfrage von einer Führungskraft, z.B. einem Teamlei-ter bekommen und mit diesem bereits eine Auftragsklärung durchgeführt. Damit haben sie bereits grundsätzliche Weichen gestellt, z.B. eine Entscheidung zwi-schen Coaching oder Teamentwicklung oder eine Grundsatzentscheidung über die mögliche Dauer, den Teilnehmerkreis, die Stoßrichtung einer Maßnahme.

Auf dieser Basis sprechen die Internen mögliche Kandidaten als externe Berater an. Sie führen mit diesen Vorgespräche, in denen sie selbst als Auftraggeber auf-treten. In diesen Gesprächen werden Informationen über die strukturelle Einbet-tung des Teams, geschichtliche Entwicklungen, die Erfolgskriterien aus Sicht von HR oder OE und Beratungsstandards ausgetauscht. Die Internen machen eine Vorauswahl und empfehlen ihrem Auftraggeber, einem Teamleiter z.B., nur eine Auswahl von 2-3 Kandidaten für näheres Kennenlernen. Im Auftragsgespräch mit dem Teamleiter geht es dann um den spezifischeren Kontext, die spezifischen An-liegen, die Relationen im Team.

Zu beiden Auftraggebern gilt es, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Die Vertrauens- und Näheverhältnisse sind angemessen und sorgfältig zu gestalten. Der interne Berater benötigt aktive Rückmeldung, wie das Gespräch mit dem “Endkunden“ verlaufen ist und welche Vereinbarungen getroffen wurden; er be-kommt eher keine inhaltlichen Informationen, was im Gespräch oder in vorberei-tenden Interviews ausgetauscht wurde. Der Endkunde benötigt mehr Informations-tiefe, z.B. eine eigene Rückspiegelung der Hypothesen, die der Berater aufgrund der Interviews mit Teammitgliedern bildet; auch das Design des Workshops sollte mit ihm detailliert vorbesprochen werden. Als Führungskraft und Auftraggeber benötigt er Informationsvorsprung und der Berater benötigt einen konkreteren Auftrag für die Zusammenarbeit im Workshop.

Mehrfache Auftraggebersysteme sind nicht nur inhaltlich komplex, sondern auch sozial. Es bilden sich leicht Dreiecksbeziehungen nach dem Motto “zwei gegen einen“ – mit wechselnden Allianzen. Wenn dann noch z.B. der Chef eines Team-leiters an HR herantritt mit dem Auftrag, dass “die dort“ einen Teambildungs-workshop machen sollten, wird es sozial und inhaltlich nochmals komplexer; man gerät zudem leicht in das Fahrwasser “versteckter“ Aufträge oder bekommt widersprüchliche Aufträge von den verschiedenen Auftraggebern.

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72 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

In mehrfachen Auftraggebersystemen hat man es nicht mit einem Beratungssys-tem zu tun, sondern mit mehreren Interaktionssystemen, die jeweils inhaltlich, so-zial und zeitlich abzugrenzen sind und für die jeweils Kontext, Auftrag und Rollen zu klären sind. Das ist den einzelnen Partnern mitunter gar nicht so klar. Drei-ecksdyamiken sollte vorgebeugt werden, indem man mit der anwesenden Partei bewusst anspricht, wie die gemeinsame Kooperation mit der abwesenden Partei gestaltet wird. Letztlich geht es nicht um jeweils bilaterale Rollenklärung, sondern um die Rollenklärung im Gefüge des mehrfachen Auftraggebersystems. Jeder soll-te dabei ein Auge darauf haben, wie weit er selbst geneigt ist, in Konkurrenz zu gehen. Konkurrenzdynamiken zeigen sich z.B. bei externen Beratern häufig darin, dass sie die Kompetenz der Internen abwerten oder mit ihrer eigenen Kompetenz vergleichen. Das ist im Grunde nicht zweckmäßig, denn die Ausprägung der Rol-len und Kompetenzen sind für das System eher dann von Nutzen, wenn sie kom-plementär ausgestaltet werden.

Die meisten großen Unternehmen haben inzwischen explizite Prozesse für die Rekrutierung von externen Beratern und die “Lieferantenbewertung“. Sie gehen dabei nach Kriterien wie Honorarhöhe, Unabhängigkeit, Beratungsansatz, kultu-rellem Fit usw. vor. Große Beratungsprozesse müssen ausgeschrieben werden, schriftliche Spezifikationen gehen an einen großen Kreis von Beratern, die zur Angebotslegung eingeladen werden. Es ist nicht mehr so einfach, als externer Be-rater direkt mit dem Endkunden eine Auftragsklärung durchzuführen. In fast allen großen Unternehmen kommt mittlerweile eine weitere Partei ins Auftraggebersys-tem: der Einkauf. Dieser verhandelt nicht selten die, zwischen den anderen Par-teien getroffenen, Vereinbarungen nach, vor allem was Honorarhöhe und hono-rarwerte Leistungsbestandteile betrifft.

4.3.2 Das Bermuda-Dreieck: Kontext-Auftrag-Rollen

Im Auftragsgespräch wird der Kontext geklärt, das Beratungssystem abgegrenzt, der Auftrag geklärt und kontrahiert und die Rollen in der Zusammenarbeit von Klienten und Beratern vereinbart.

Klären bringt nicht unbedingt “Klarheit“. Die Forderung nach Klarheit von Kon-text, Auftrag und Rollen – oft verbunden mit dem Appell, unklare Aufträge nicht anzunehmen – ist Unfug; in komplexen Systemen kann es Klarheit ja gar nicht auf Dauer geben; wäre es so, bräuchte es keine Beratung. Dazu Schein "Viele Bera-tungstheorien argumentieren, solche impliziten Erwartungen sollten von Anfang an so offiziell und explizit wie möglich dargestellt werden. Meiner Erfahrung nach ist es nicht besonders praktikabel und wenig effektiv, ...denn noch weiß kei-ne der beteiligten Parteien ausreichend Bescheid über die sich entwickelnde Situa-tion, um abschätzen zu können, was sie geben kann und was sie zu bekommen hofft. ...Es ist sinnvoll, in jeder Phase in Bezug auf die eigenen Erwartungen offen zu sein...“ (Schein 2000, S. 289).

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Kapitel 4: Der Beratungsprozess 73

Damit kommt man aber nicht durch den gesamten Beratungsprozess, sondern bes-tenfalls ein Stück des Weges. Anders ausgedrückt: mit einem linearen Steue-rungsmodell, das einmal den Ansatz klären und diesen dann ausrollt, kann man in der Beratung kein Auslangen finden.

Erstens wirken komplexe Systeme auf sich selbst zurück und ändern ihre Funktionsmuster immer wieder.

Zweitens kann jedwede beraterische Intervention ja nur eine Irritation von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern im System sein; wie sich diese Irrita-tion auswirkt, hat viele Freiheitsgrade. Erfolg lässt sich gerade daran messen, dass sich Muster verändern.

Drittens ist das Beratungssystem in Umwelten und Einflüsse eingebettet, die genauso verhaltenswirksam sein können wie beraterische Interventionen bzw. für letztere sogar rahmensetzend bzw. rahmenverändernd sein können.

Aus all diesen Gründen ist es nötig, auch das Dreigestirn von Kontext-Auftrag-Rollen im Beratungsprozess immer wieder nachzuschärfen. Es kann also nur um Klärung als ständigen Metaprozess gehen, der im Auftragsgespräch seinen Aus-gang nimmt und später im Beratungsprozess immer wieder in den vor- und nach-bereitenden Gesprächen mit dem Klienten, aber auch mit anderen für den Bera-tungskontrakt zentralen Personen, unternommen wird.

Man fragt: was hat sich seit dem letzten Mal verändert, was ist gleich geblieben? Welche Einflüsse von Außen, welche Entscheidungen spielen in unsere Arbeit hinein? Was bedeutet das für unseren Auftrag? Wo müssen wir nachschärfen, was ist obsolet geworden, was kommt völlig neu dazu? Was bedeutet das für die Rol-len, in denen wir zusammenarbeiten – z.B. wo braucht es mehr oder weniger ope-rative Unterstützung, wo mehr Führung, wo mehr Irritation usw.?

Ziel kann nur sein, jeweils für die nächsten Schritte genügend Handlungsorientie-rung für eine mittelfristig symmetrische Arbeitsbeziehung zu bekommen.

Die laufende Klärung von Kontext-Auftrag-Rollen geschieht in Vorbereitungs-meeting zu einzelnen Workshops, in Nachbesprechungen; in komplexen Pro-zessarchitekturen gibt es eine eigene Schiene mit regelmäßigen Meetings mit den Auftraggebern, deren Inhalt eine laufende Reflexion und Evaluierung des Bera-tungsprozesses ist.

Übungsaufgabe 9:

Ordnen Sie die einzelnen Schritte im Beratungsprozess den Phasen der Action-Research-Schleife zu.

Übungsaufgabe

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74 Kapitel 4: Der Beratungsprozess

Übungsaufgabe für Ihre Arbeit in Peergruppen:

Nehmen Sie einen Beratungsprozess, in den Sie als Beraterin oder Kunde ein-gebunden sind und

- beschreiben Sie den Anlass für die Nachfrage nach Beratung,

- grenzen Sie das Beratungssystem sozial, inhaltlich und zeitlich ab,

- beschreiben Sie die Struktur des Auftraggebersystems.

- Worauf wird es bei der wechselseitigen Gestaltung der Rollen im Beratungs-prozess ankommen?