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Sicut JmJitr leitung WOCHENENDE öt SMMtog/Sonntag. 1./2. Dezember 1990 Nr. 280 75 /4m £We «wer langen Kulturgeschichte des Auswärtsessens: die Schnellimbiss-Lokale. Ihr Anteil an de n 26 000 schweizerischen Restaurants erhöht sich von Jahr zu Jahr. isst, Von Jiirg Moser (Text) und Iren Stehli (Photos) Wenn die Leute genug Nahrungsmittel zur Verfügung haben und nicht hungern müssen, wird der Geschmack wichtig. Ge- schmack beim Essen setzt ein Unterscheidungsvermögen voraus, das sich an Standards des Guten und des Schlechten orientiert, die- ses billigt und jenes ablehnt. Bei Geschmacksfragen entscheidet man scheinbar individuell auf Grund eigener Neigungen. In Wirk- lichkeit aber wird der Geschmack beim Essen grösstenteils gesell- schaftlich geformt - durc h die Religion, durch die Nation und durch den sozialen Stand. Die Völlerei gehört zu den alten sieben Todsünden des katholi- schen Glaubens. Die meisten Inder lehnen es ab, Rindfleisch zu essen. Die Grönländer mögen Talg, und die Chinesen nehmen weder Milch noch Molkereiprodukte zu sich. Instant- Kaffee hat in England den echten Kaffee gründlicher vertrieben als sonstwo auf der Welt, denn viele Engländer ziehen den Geschmack dieses Ge- tränks dem ganz anderen des echten Kaffees vor. Kein logisches Argument kann jemande m beweisen, dass ein Geschmack besser sei als der andere. Der Geschmack ist erworben, und er verlangt sein Recht Ekel vor bestimmten Nahrungsmitteln kann physiologisch begründet sein. Kinder, denen man nach dem Abstillen keine Milch mehr gibt, verlieren die Fähigkeit, sie zu ver- dauen - wenn sie als Erwachsene Milch trinken, wird ihnen übel. Abscheu vor bestimmten Nahrungsmitteln kann auch psychologisch begründet sein. Julia Kristeva schreibt: «Widerwille gegen Nah- rungsmittel ist die vielleicht elementarste Form des Abscheus. Wenn meine Augen diese Haut der Milch sehen oder meine Lippen sie berühren - etwas völlig Harmloses, dünn wie Zigarettenpapier, jäm- merlich wie ein abgeschnittener Fingernage l -, dann würgt es mich im Hals, mein Magen und Darm und alle Organe krampfen sich zu- sammen, die Galle kommt mir hoch, Tränen schiessen in die Augen, das Herz beginnt schneller zu schlagen, an Stirn und Hän- den bricht Schweiss aus.» Die Angst davor, neue Nahrungsmittel zu probieren, ist weit verbreitet. Und man muss sich an neue Nahrungsmittel gewöhnen, bevor sie einem schmecken. Robert C. Bölles beschreibt diesen Pro- zess am Beispiel des Kaffees: «Kaffee gehört zu den Dingen, die wunderbar, exquisit schmecken. Wer wollte das eigentlich leugnen? Nun - eigentlich jeder, der Kaffee zum erstenmal trinkt. Kaffee ge- hört nämlich zu den Geschmackstypen, die den Menschen angeb- lich von Natur aus zuwider sind. Er ist bitter und hat keinen Cha- rakter; Kaffee schmeckt einfach schlecht, wenn man ihn zum ersten- mal trinkt. Hat man erst einmal ein paar tausend Tassen hinter sich, kann man ohne ihn nicht mehr leben. Kinder mögen ihn nicht; Er- wachsene ohne Kaffee- Erfahrung mögen ihn nicht; Ratten mögen ihn nicht. Niemand mag Kaffee ausser denen, die schon ziemlich viel davon getrunken haben - und die mögen ihn für ihr Leben gern. Sie erzählen jedem, wie gut er schmeckt. Einen massigen Kaffee trinken sie gern, einen guten geniessen sie richtig, bei einem exzellenten Kaffee geraten sie in Ekstase.» Unter extremen Bedingungen essen Menschen beispielsweise Eicheln, um nicht zu verhungern. Oder sie werden gar zu Kanni- balen. Aber in vielen Fällen konnten Hungernde ihren Widerwillen gegen bestimmte Nahrungsmittel, die ihne n zur Verfügung standen, nicht überwinden - und sind deshalb verhungert. Gibt es beim Essen so etwas wie einen Nationalgeschmack? Warum haben sich in Italien, Frankreich und England recht unter- schiedliche Küchen entwickelt? Die Unterschiede bei der Ernährung im Mittelalter waren zwi- schen den verschiedenen Gesellschaftsschichten ausgeprägter als zwischen den verschiedenen Nationen. Das einfache Volk ass eher bescheiden. Ernährungsgrundlagen waren Breie und Suppen, die man aus Gerste oder Hirse mit Wasser oder Milch und Salz kochte. Die unteren sozialen Schichten aller westeuropäischen Länder kannten nur Bohnen, Erbsen und Kohl als Gemüse. Zu Brot und Milchprodukten kamen später noch Mais und Kartoffeln. Fleisch konnte man sich nur seiten leisten, das Hausschwein war der ein- zige Fleischlieferant Im Gegensatz zum einfachen Volk verzehrte die weltliche und die kirchliche Oberschicht ungeheure Fleischmengen. Die Grund- lagen der Speisen waren in Italien, Frankreich und England die gleichen, ebenso die Methoden der Zubereitung. Im Mittelpunkt der Mahlzeiten stand der Braten, der äusserst reichlich gewürzt und dessen Geschmack durch süsse und saure Zutaten verstärkt wurde. Man servierte dazu milden Haferbrei oder Getreide- und Gemüse- püree. Diese Beilagen und die starken Saucen waren stets einge- färbt: gelb mit Safran, rot mit Sandelholz, grün mit Kräutern, blau mit Maulbeeren. Die höfische Küche des Mittelalters scheint viel Ähnlichkeit mit der modernen indischen Küche gehabt zu haben. Das übermässige Würzen, das durchaus auch dem mittelalterlichen Geschmack entsprochen hat, erklärt sich aus den damals beschränk- ten Möglichkeiten zur Frischhaltung von Lebensmitteln: starke Aromen waren nötig, um den unangenehmen Geschmack von ein- gepökeltem oder verdorbenem Fleisch zu überdecken. Der Bruch mit der mittelalterlichen Küche wurde an den italie- nischen Fürstenhöfen der Renaissance vollzogen. Ein italienisches Kochbuch aus der Mitte des 16. Jahrhunderts nennt neue Zuberei- tungsmethoden wie das Schmoren, Dünsten und Pochieren. Der Anteil der Fleischgerichte ist in diesem Werk zugunsten der Ge- müsezubereitung und Vorschlägen für Obst und Backwaren redu- ziert. Rezepte für Teigwaren, die man bereits seit einigen Jahrhun- derten kannte, erscheinen in weiterentwickelter Form. Das Buch be- weist, dass es schon vor dem Siegeszug der Tomate in Italien eine vom übrigen Europa deutlich unterschiedene Küche gegeben hat. Der neue italienische Kochstil gelangte durch Katharina von Medici nach Frankreich, indem sie 1533 ihre Köche von Florenz an den Hof ihres zukünftigen Gemahls und späteren Königs Hein- richs II. mitbrachte. Die Franzosen entwickelten diesen Kochstil schnell weiter. Dank der Drucktechnik konnten sich die neuen Rezepte rasch verbreiten - Gutenbergs Erfindung stand bereits ab 1474 mit der Veröffentlichung des Kochbuchs «De honeste volup- tate» von Bartolomeo Piatina im Dienst der Küche. Die französi- sche Haute Cuisine hielt Einzug in den Höfen Deutschlands und Englands, sie wurde zur internationalen Richtlinie und zum Vorbild des guten Geschmacks. Weil sich gleichzeitig die allgemeine Wirt- schaftslage verbessert hatte, vergrösserte sich das Segment der wohlhabenden Gesellschaft: immer mehr Leute verfügten über die Mittel zur Nachahmung der adligen und geistlichen Essgewohnhei- ten. Um sich gegen die Nachahmer abzugrenzen, verfeinerten die Eliten ihren Geschmack mehr und mehr. Kennerschaft und Sinn für das Feine beim Essen galten nun als Markenzeichen der Höflinge und der vornehmen Kreise. Einen unbestreitbaren Beweis für einen eigenen französischen Kochstil findet man in der Veröffentlichung von La Varennes «Le cuisinier francais» aus dem Jahr 1651. Unter den Rezepten, die be- reits 1653 ins Englische übersetzt wurden, empfiehlt er ein «Poulet d'Indes ä la framboise farcy». Er beschreibt Verfahren der Reduk- tion zur Geschmacksverstärkung und ersetzt in seinen Vorschlägen Neue Zürcher Zeitung vom 01.12.1990

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SMMtog/Sonntag. 1./2. Dezember 1990 Nr. 280 75

/4m £We «wer langen Kulturgeschichte des Auswärtsessens: die Schnellimbiss-Lokale. Ihr Anteil an d en 26 000 schweizerischen Restaurants erhöht sich von Jahr zu Jahr.

isst,Von Jiirg Moser (Text) und Iren Stehli (Photos)

Wenn die Leute genug Nahrungsmittel zur Verfügung habenund nicht hungern müssen, wird der Geschmack wichtig. Ge-schmack beim Essen setzt ein Unterscheidungsvermögen voraus,das sich an Standards des Guten und des Schlechten orientiert, die-ses billigt und jenes ablehnt. Bei Geschmacksfragen entscheidetman scheinbar individuell auf Grund eigener Neigungen. In Wirk-lichkeit aber wird der Geschmack beim Essen grösstenteils gesell-

schaftlich geformt - d u r ch die Religion, durch die Nation und durchden sozialen Stand.

Die Völlerei gehört zu den alten sieben Todsünden des katholi-schen Glaubens. Die meisten Inder lehnen es ab, Rindfleisch zuessen. Die Grönländer mögen Talg, und die Chinesen nehmenweder Milch noch Molkereiprodukte zu sich. Instant- Kaffee hat inEngland den echten Kaffee gründlicher vertrieben als sonstwo aufder Welt, denn viele Engländer ziehen den Geschmack dieses Ge-tränks dem ganz anderen des echten Kaffees vor.

Kein logisches Argument kann j emandem beweisen, dass einGeschmack besser sei als der andere. Der Geschmack ist erworben,und er verlangt sein Recht Ekel vor bestimmten Nahrungsmitteln

kann physiologisch begründet sein. Kinder, denen man nach demAbstillen keine Milch mehr gibt, verlieren die Fähigkeit, sie zu ver-dauen - wenn sie als Erwachsene Milch trinken, wird ihnen übel.Abscheu vor bestimmten Nahrungsmitteln kann auch psychologischbegründet sein. Julia Kristeva schreibt: «Widerwille gegen Nah-rungsmittel ist die vielleicht elementarste Form des Abscheus. Wennmeine Augen diese Haut der Milch sehen oder meine Lippen sieberühren - etwas völlig Harmloses, dünn wie Zigarettenpapier, jäm-merlich wie ein abgeschnittener Fingernagel -, dann würgt es michim Hals, mein Magen und Darm und alle Organe krampfen sich zu-sammen, die Galle kommt mir hoch, Tränen schiessen in dieAugen, das Herz beginnt schneller zu schlagen, an Stirn und Hän-den bricht Schweiss aus.»

Die Angst davor, neue Nahrungsmittel zu probieren, ist weitverbreitet. Und man muss sich an neue Nahrungsmittel gewöhnen,bevor sie einem schmecken. Robert C. Bölles beschreibt diesen Pro-zess am Beispiel des Kaffees: «Kaffee gehört zu den Dingen, diewunderbar, exquisit schmecken. Wer wollte das eigentlich leugnen?Nun - eigentlich jeder, der Kaffee zum erstenmal trinkt. Kaffee ge-hört nämlich zu den Geschmackstypen, die den Menschen angeb-

lich von Natur aus zuwider sind. Er ist bitter und hat keinen Cha-

rakter; Kaffee schmeckt einfach schlecht, wenn man ihn zum ersten-mal trinkt. Hat man erst einmal ein paar tausend Tassen hinter sich,kann man ohne ihn nicht mehr leben. Kinder mögen ihn nicht; Er-wachsene ohne Kaffee- Erfahrung mögen ihn nicht; Ratten mögen

ihn nicht. Niemand mag Kaffee ausser denen, die schon ziemlichviel davon getrunken haben - und die mögen ihn für ihr Lebengern. Sie erzählen jedem, wie gut er schmeckt. Einen massigen

Kaffee trinken sie gern, einen guten geniessen sie richtig, bei einemexzellenten Kaffee geraten sie in Ekstase.»

Unter extremen Bedingungen essen Menschen beispielsweiseEicheln, um nicht zu verhungern. Oder sie werden gar zu Kanni-balen. Aber in vielen Fällen konnten Hungernde ihren Widerwillengegen bestimmte Nahrungsmittel, die i h n en zur Verfügung standen,nicht überwinden - und sind deshalb verhungert.

Gibt es beim Essen so etwas wie einen Nationalgeschmack?

Warum haben sich in Italien, Frankreich und England recht unter-schiedliche Küchen entwickelt?

Die Unterschiede bei der Ernährung im Mittelalter waren zwi-schen den verschiedenen Gesellschaftsschichten ausgeprägter alszwischen den verschiedenen Nationen. Das einfache Volk ass eherbescheiden. Ernährungsgrundlagen waren Breie und Suppen, dieman aus Gerste oder Hirse mit Wasser oder Milch und Salz kochte.Die unteren sozialen Schichten aller westeuropäischen Länderkannten nur Bohnen, Erbsen und Kohl als Gemüse. Zu Brot undMilchprodukten kamen später noch Mais und Kartoffeln. Fleischkonnte man sich nur seiten leisten, das Hausschwein war der ein-zige Fleischlieferant

Im Gegensatz zum einfachen Volk verzehrte die weltliche unddie kirchliche Oberschicht ungeheure Fleischmengen. Die Grund-lagen der Speisen waren in Italien, Frankreich und England diegleichen, ebenso die Methoden der Zubereitung. Im Mittelpunkt

der Mahlzeiten stand der Braten, der äusserst reichlich gewürzt unddessen Geschmack durch süsse und saure Zutaten verstärkt wurde.Man servierte dazu milden Haferbrei oder Getreide- und Gemüse-püree. Diese Beilagen und die starken Saucen waren stets einge-

färbt: gelb mit Safran, rot mit Sandelholz, grün mit Kräutern, blaumit Maulbeeren. Die höfische Küche des Mittelalters scheint vielÄhnlichkeit mit der modernen indischen Küche gehabt zu haben.

Das übermässige Würzen, das durchaus auch dem mittelalterlichenGeschmack entsprochen hat, erklärt sich aus den damals beschränk-ten Möglichkeiten zur Frischhaltung von Lebensmitteln: starkeAromen waren nötig, um den unangenehmen Geschmack von ein-gepökeltem oder verdorbenem Fleisch zu überdecken.

Der Bruch mit der mittelalterlichen Küche wurde an den italie-nischen Fürstenhöfen der Renaissance vollzogen. Ein italienischesKochbuch aus der Mitte des 16. Jahrhunderts nennt neue Zuberei-tungsmethoden wie das Schmoren, Dünsten und Pochieren. DerAnteil der Fleischgerichte ist in diesem Werk zugunsten der Ge-müsezubereitung und Vorschlägen für Obst und Backwaren redu-ziert. Rezepte für Teigwaren, die man bereits seit einigen Jahrhun-derten kannte, erscheinen in weiterentwickelter Form. Das Buch be-weist, dass es schon vor dem Siegeszug der Tomate in Italien einevom übrigen Europa deutlich unterschiedene Küche gegeben hat.

Der neue italienische Kochstil gelangte durch Katharina vonMedici nach Frankreich, indem sie 1533 ihre Köche von Florenz anden Hof ihres zukünftigen Gemahls und späteren Königs Hein-richs II. mitbrachte. Die Franzosen entwickelten diesen Kochstilschnell weiter. Dank der Drucktechnik konnten sich die neuenRezepte rasch verbreiten - Gutenbergs Erfindung stand bereits ab1474 mit der Veröffentlichung des Kochbuchs «De honeste volup-tate» von Bartolomeo Piatina im Dienst der Küche. Die französi-sche Haute Cuisine hielt Einzug in den Höfen Deutschlands undEnglands, sie wurde zur internationalen Richtlinie und zum Vorbilddes guten Geschmacks. Weil sich gleichzeitig die allgemeine Wirt-schaftslage verbessert hatte, vergrösserte sich das Segment derwohlhabenden Gesellschaft: immer mehr Leute verfügten über dieMittel zur Nachahmung der adligen und geistlichen Essgewohnhei-

ten. Um sich gegen die Nachahmer abzugrenzen, verfeinerten dieEliten ihren Geschmack mehr und mehr. Kennerschaft und Sinn fürdas Feine beim Essen galten nun als Markenzeichen der Höflingeund der vornehmen Kreise.

Einen unbestreitbaren Beweis für einen eigenen französischenKochstil findet man in der Veröffentlichung von La Varennes «Lecuisinier francais» aus dem Jahr 1651. Unter den Rezepten, die be-reits 1653 ins Englische übersetzt wurden, empfiehlt er ein «Pouletd'Indes ä la framboise farcy». Er beschreibt Verfahren der Reduk-tion zur Geschmacksverstärkung und ersetzt in seinen Vorschlägen

Neue Zürcher Zeitung vom 01.12.1990

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2°^ /?Km / / V176 Stmstag/Sonntig, 1./2. Dezember 1990 Nr. 280 WOCHENENDE diene

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«Die traditionellen, schweren Hauptmahlzeiten werden durch einen leichten, aber vollwertigen Imbiss von exquisiter Qualität abgelöst, irgendwann zwischendurch eingenommen», heisst's in der Einheitsphilosophie der Anbieter.

viele exotische Gewürze der früheren Küche durch einheimischeKräuter. Ihre feste Form als Grande Cuisine erhielt die französischeKüche allerdings erst durch die Veröffentlichungen von Grimondde la Reyniere in den Jahren 1803 bis 1812 sowie durch die Publi-kationen von Jean-Anthelme Brillat de Savarin und von AntoineCareme. Brillat de Savarins 1825 erschienenes Werk «Physiologie

du Goüt» wurde zur Bibel aller Feinschmecker. Der 1833 gestor-

bene Careme erlangte seinen Weltruhm einerseits für seine teurenGerichte, die er als architektonische Gebilde aufbaute, anderseitsauf Grund seiner Vereinfachungen bei den Saucen: er verzichteteauf die traditionellen, komplizierten Coulis und setzte an ihre Stelledie drei Grundsaucen Espagnole, Veloute und Bechamel. In derMitte des 19. Jahrhunderts scheint ein Zerfall und eine Entartung

der Grande Cuisine einzusetzen. Vor rund hundert Jahren ver-änderte Auguste Escoffier, der von 1847 bis 1935 lebte, die profes-

sionelle französische Küche. Escoffier gilt noch heute als Kaiser derKöche. Die vorläufig letzte Epoche im französischen Kochstil be-gann 1960 mit der Nouvelle Cuisine. Die beiden Gastronomie-kritiker Henri Gault und Christian Millau wählten diese Bezeich-nung für einen Kochstil, den Paul Bocuse, Jean und Pierre Trois-gros, Michel Guerard, Roger Verge und Raymond Oliver gefunden

hatten.

Trotz der grenzüberschreitenden Vorherrschaft der französischenKüche in Westeuropa sind regionale Kochstile erhalten geblieben.

Im grössten Gegensatz zu den Essgewohnheiten der Franzosen ste-hen wohl jene der Engländer. Die französische Küche galt in Eng-

land schon immer als etwas extravagant. Während die Franzosendie Geschmacksdurchdringung oder eine Geschmacksintensivie-rung anstrebten, standen bei den Engländern die Pies und die gros-sen Fleischstücke im Mittelpunkt der Mahlzeiten. Einerseits war inEngland das Fleisch reichlicher und in besserer Qualität vorhandenals in Frankreich, weshalb man es nicht in kleineren Portionen aufmehrere delikate Gerichte verteilen und seinen Geschmack nicht

/

verdecken musste. Anderseits verlangte der englische Puritanismuswohl stärker als sein französisches Pendant, dass das Essen nur denHunger stillen, nicht aber den Appetit anregen solle. Den grössten

Einfluss auf die unterschiedliche Entwicklung der französischenund der englischen Küche hatten jedoch die unterschiedlichenStrukturen des Adels. Die höfische Gesellschaft Frankreichs wareine enge, geschlossene Schicht, die im Rampenlicht stand und diesich gegen andere Kreise abgrenzen musste - auch d u r ch die Ess-gewohnheiten. In England herrschte die offene Aristokratie derPeers und Gentry, deren Einfluss eher sozial als rechtlich bestimmtwar und die sich deshalb weniger zur Abgrenzung gezwungen sah.In Frankreich orientierte sich der Adel an den städtischen Höfen,der Landadel galt wenig - und alles, was vom Land kam, also auchdie Nahrungsmittel, musste in einer kultivierten Form präsentiertwerden, welche die Herkunft versteckte. Der englische Landadelhingegen genoss h o he Achtung, weil er die Politik bestimmte - unddieser Landadel liess sich nicht von städtischen Moden beeinflus-sen, auch nicht bei den Essgewohnheiten.

Die ersten Restaurants entstanden in Paris zwei Jahrzehnte vorder Revolution. Zwar gibt es verschiedene Vorläufer des Restau-rants, aber keine dieser Institutionen entsprach der heutigen Kom-bination von Stil und Art der Kost, sozialem Milieu und gesell-

schaftlicher Funktion.In den mittelalterlichen Gasthäusern mussten die Reisenden

essen, was der Wirt zu einer von ihm bestimmten Zeit auf den Tischbrachte. Die Gäste konnten also nicht zwischen verschiedenen Ge-richten wählen. Zur gleichen Zeit war es allerdings in vielen StädtenEuropas möglich, ein zubereitetes Essen zu kaufen, das man zuHause verzehrte. In den Garküchen Hessen die Städter das vonihnen mitgebrachte Fleisch kochen, oder sie kauften ein warmesGericht, beispielsweise Pasteten oder Puddings. Wichtig waren dieGarküchen vor allem für die unteren Schichten, denn diese verfüg-

ten in ihren Wohnungen nur über beschränkte Einrichtungen fürsKochen. Vornehmere Kreise liessen sich von den Traiteurs ganze

Mahlzeiten ins Haus liefern. In Frankreich hatte die Zunft derTraiteurs das exklusive Recht, zubereitete Fleischgerichte zu verkau-fen. In England hingegen war es den Köchen nicht verboten, eineneigenen Handel zu betreiben.

Aus den mittelalterlichen Garküchen entwickelten sich in Eng-

land allmählich die Kaffeehäuser. Im 18. Jahrhundert begannen sie,

auch einfache Tagesgerichte anzubieten. Diese Art der Verpflegunggewann in England mehr und mehr Bedeutung, denn die Industria-lisierung führte zu einem raschen Wachstum der Städte, und vieleNeuankömmlinge hatten in ihren Unterkünften keine Kochgelegen-

heit. In Frankreich wuchsen die Städte weniger schnell, weshalb dienach englischem Vorbild entstandenen Cafes nur seiten eine Mahl-zeit offerierten. Gleichzeitig mit den Kaffeehäusern begannen auchdie englischen Wein- und Bierschenken, ihren Gästen warme Ge-richte anzubieten: die Gentry, die während der Frühlings- undSommermonate wegen der Parlamentssitzungen in der Hauptstadtweilte, wohnte in London meist in mässigen Verhältnissen und ver-pflegte sich deshalb gerne in den Tavernen.

Den Grundstein zu den französischen Restaurants legte einMonsieur Boulanger. Er verkaufte in Paris eine Bouillon, weil dieZubereitung und der Handel mit Fleischbrühe nicht unter dasMonopol der Traiteurs fielen. Seine Bouillon nannte er «Restau-rant» - im Sinne einer Stärkung. Als er auf die Idee kam, auchHammelfüsse an einer weissen Sauce zu verkaufen, wurde er vonder Traiteurzunft verklagt. War dieses Gericht nun ein Ragout odereine Bouillon? 1765 entschieden die obersten Richter in Paris, eshandle sich nicht um ein Ragout, und Monsieur Boulanger durftees weiterhin verkaufen. Damit geriet das Traiteurmonopol ins Wan-ken, und 1782 eröffnete ein Wirt namens Beauvilliers in Paris daserste grosse Restaurant nach dem Vorbild der englischen Speise-lokale, nämlich «La Grande Taverne de Londres».

So unterschiedlich die Gastronomie sich in den einzelnen Ländern auch entwickelte, der Schnellimbiss sorgt filr internationale Nivellierung des Geschmacks.

Neue Zürcher Zeitung vom 01.12.1990

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Statt <;3iird)tr Jdtung WOCHENENDE280/7

Samstag/Sonntag, 1./2. Dezember 1990 Nr. 280 77

«Pappiges, schlecht gebackenes Druckschluck-Sandwich, gefüllt mit Patent-Fleischkombinat, garniert mit Einheitstunke aus dem grossen Kübel und Papierservietten statt Besteck», bemängeln die Gastrokritiker.

Während der Französischen Revolution wuchs in Paris der Be-darf an solchen Restaurants, denn es kamen zahlreiche revolutio-näre Deputierte aus der Provinz in die Hauptstadt, wo sie grössten-

teils in Pensionen lebten und auswärts essen mussten. Mehr undmehr Restaurants wurden eröffnet, häufig von Köchen des gestürz-

ten Adels, und nach der Revolution blieb das Essen in diesen Gast-stätten weiterhin in Mode. Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sichdie Vorrangstellung, die London mit seinen Speiselokalen gegen-

über den Restaurants in Paris hatte: jene gutsituierten Junggesellen,

die in der französischen Metropole die gastronomische Kultur för-derten, Helen in London als Restaurantgäste zunehmend aus, weilsie in ihren Clubs speisten.

Die Zahl der Mahlzeiten, die man heute täglich ausser Haus ein-nimmt, wächst und wächst. In Kantinen, Autobahnrestaurants,Cafeterias und Schnellimbiss-Lokalen dominieren Küchen o h neKöche, Tiefkühlprodukte und Mikrowellenherde, Automatisierungbeim Grillen oder Braten, die Rationalisierung des Selfservice.Europa wird überrollt von einer amerikanischen Junk- Food-Wellemit industriell standardisierten Einheitsmahlzeiten ä la Hamburger,Frankfurter, Frites, Ketchup, Pizzas, Spaghetti, Sandwiches undCoke.

Der Anteil der Schnellimbiss- Lokale an den 26 000 schweizeri-schen Restaurants erhöht sich von Jahr zu Jahr. In ihren Selbstdar-stellungen präsentieren die einzelnen Unternehmensketten eineaustauschbare Einheitsphilosophie: «Der bisherige Erfolg unsererSelbstbedienungsrestaurants hat bewiesen, dass das von uns entwik-kelte Gastronomiekonzept offenbar sehr genau den verändertenVerpflegungsbedürfnissen entspricht», heisst es da etwa. «Die tra-ditionellen, schweren Hauptmahlzeiten werden mehr und mehrdurch einen leichten, aber vollwertigen Imbiss von exquisiter Qua-lität abgelöst, irgendwann zwischendurch eingenommen. Dank demSelbstbedienungskonzept und genau geplanten Abläufen kommt

bei uns der Gast minutenschnell zu seinem gewünschten Gericht.Unser Preis- Leistungs-Verhältnis konnte durch höchste Rationali-sierungsanstrengungen optimiert Werden. Wir garantieren eine hoheQualität zu vernünftigen Preisen. Ständige Qualitätskontrollen vomAusgangsprodukt bis zur Verarbeitung im Lokal bieten Frische undQualität zu jeder Tageszeit Unsere Produkte sind immer frisch zu-bereitet, Aufgewärmtes ist undenkbar. Unsere Gaststätten sindkeine Schnellimbiss- Lokale, sondern neue, schnelle, lebenslustigeSelbstbedienungsrestaurants. Wir wenden uns an ein unkomplizier-tes, aufgeschlossenes Publikum, das . . .»

Aus dem Blickwinkel der Gastronomie- Kritiker zeigen sich diemodernen «Abfütterungsmethoden» in einem andern Licht: «Pap-piges, schlecht gebackenes Druckschlucksandwich, gefüllt mitPatent-Fleischkombinat und garniert mit Einheitstunke aus demgrossen Kübel - nein danke! Das runde Brötchen, das das Hack-fleischplätzchen einklemmt, ist so weich wie ein feuchter Schwamm.Der Spass beginnt, wenn beim zweiten Biss Ketchup und Zwiebel-streifen, die dem runden Ganzen einen gewissen geschmacklichen

Halt geben, über den Daumen aufs Tablett fallen. Immerhin:Papierservietten, mit denen man sich die als Besteck dienendenFinger reinigen kann, sind ä discretion zu beziehen. Vonfooden" keine Rede! Zum Glück gibt es weder vor noch nach demEssen ein umständliches Zurechtrücken der Stühle, denn sie sind,ebenso wie die Tische, festgemauert und festgeschraubt wie Schil-lers Glockenform in der Erde. Hat man das Tablett abgestellt undsich in die Tischkonstruktion gezwängt, ist das fast wie Weihnach-ten . . .»

Ungeachtet der massiven Kritik an den Junk-Food-Lokalen sinddiese meist voll besetzt Vielen Leuten, vor allem den Jugendlichen,

scheinen sie zu gefallen. Und man kann diese Verpflegungsstätten,

die so etwas wie moderne Volksküchen sind, durchaus auch radikalpositiv-negativ beurteilen: «Die Junk- Food- Lokale haben teil ander Zerschlagung der bürgerlichen Esskultur. Das Publikum lässt

die Deckel auf den Bechern und trinkt mit Strohhalmen. Das isthygienisch. Ausserdem braucht man nicht zu sehen, was man zusich nimmt. Ein Sinneseindruck, der des Geschmacks, reicht zurIdentifikation der gekauften Ware. Die Sprache des Publikums istanti-euphemistisch wie der Kaufvertrag, den man an der Theke mitBestellung und Bezahlung schliesst. Hier trinkt man zum Beispiel

ein Heisswassergetränk mit Schokoladengeschmack anstatt eineheisse Pseudoschokolade mit Schlagrahm. Man verzichtet aufSchummer als Gemütlichkeitssurrogat, denn die Gäste können sichzeigen, von allen Seiten. Sie brauchen keinen Schatten, in den siesich zurückziehen können. Sie essen schnell, viel und effektiv, weilsie ihre Zeit für spannendere Projekte nutzen als über gepunzeltem

Trüffeldüddeldü zu brüten ...»

Essgewohnheiten und Tischsitten haben sich über Jahrhunderteverfeinert. Doch eines ist dem Menschen geblieben: beim Essenkann er nur teilweise bewusst handeln. Ob im Schnellimbiss- Lokaloder im Dreistern- Restaurant, der Mensch kaut wie eine Kuh, seineUnterkiefer mahlen kreuz und quer durch die Gelenkpfanne, dasGesicht verzieht sich wie bei einem Clown während der Aufwärm-Mimik vor dem Spiegel. Nachdem eine Gabelladung aufgehäuft ist,schweift der Blick zuerst über den verbliebenen Speisevorrat aufdem Teller, dann, beim Kauen, über die Umgebung. Ist da jemand,der mir meine Mahlzeit wegstehlen will? Vor dem Schlucken gleitetder Blick wieder zum Teller hinunter, damit die nächste Gabel-ladung schon im voraus gewählt werden kann. Die Gabelladungpassiert den geöffneten Mund, und schon wieder schweifen diewachsamen Kontrollblicke über die Umgebung. Im Gegensatz zurKüche, die der Mensch zunehmend kultiviert hat, lassen sich beimEssen die urtümlichen Instinkte nicht verändern. Darauf, wie er isst,hat der Mensch nur wenig Einfluss. Aber daran, was er isst, kannman - gemäss einem der berühmten Aphorismen Brillat de Sava-rins - erkennen, wie er ist

Vor allem gutsituierte Junggesellen besuchten im Paris des 19. Jahrhunderts die Gaststätten und förderten die Entwicklung der Gastronomie. Das Publikum der heutigen Junk-Food-Lokale hat meist bescheidenere Mittel zur Verfligung.

Neue Zürcher Zeitung vom 01.12.1990