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TAG E SSPI E G E L B ER LI N ER »Man macht es, wie man es kennt. Die Liebe schlägt ein. Sie findet statt zwischen zwei Menschen. Sie ist ausschließlich.« Oder? Nr. 1 November 2016

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TAGESSPIEGEL BERLINER

»Manmacht es, wieman es kennt. Die Liebe

schlägt ein. Sie findet stattzwischen zwei Menschen.Sie ist ausschließlich.«

Oder?

Nr. 1November

2016

/ Audi Deutschland

Müssen wir eigentlich alles labeln? Manches ist einfach #untaggable. Wie der Audi Q2:passt in keine Schublade. Aber in Ihre Garage. Mehr entdecken unter audi.de/q2

Audi Vorsprung durch Technik

Audi Q2#untaggable

#torstrassensurfer?#kantstrassenkreuzer?

#crewshuttle?

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Lounge Chair Twill & Ottoman Design: Charles & Ray Eames, 1956Ihren Vitra-Fachhändler finden Sie unter www.vitra.com/handel www.vitra.com/loungechair

„Wirwollten demStuhl daswarme und einladende Aussehen eines gut gebrauchtenBaseball-Handschuhs geben.“ (Charles Eames)Mit diesemGedanken entwarfen Charles und Ray Eames 1956 den Lounge Chair. Durch seine Kombinationvon Eleganz und ausserordentlichem Komfort, von Modernität und Tradition wurde er bald zu einemder großen Möbel-Entwürfe des zwanzigsten Jahrhunderts. Vitra feiert das sechzigste Herstellungsjahrdieses Originals mit einer exklusiven, limitierten Version mit Stoffbezug – so bequem, dass man leichtdarin einschlafen kann.

die vorleserin inhalt

FuturalismusPop-Art-Collage von Tony Futura

MenschenmuseumDirk Gieselmanns Unhappy Hour

SchönstpersönlichLebensverbesserungenvon Sarah Illenberger

Das Nächste

Leben – but how?Wie wir die Beziehungen führen,die wirklich zu uns passen

Dr. Körners gesammeltesSchweigenUlrich Matthes vibriert lautlos

Nr. 13Als sie starb, trug sie schwarz.Ihren Namen weiß man nicht

Mein Idol Peter AltmaierEin Millenial macht endlich Ernst

HimmelfahrtskommandoDie Ballons des Tomás Saraceno

VierMännerVon Berlin angezogen, für AshkanSahihis Kamera ausgezogen

»Man fühlt sich wie ein Sandwich«Zwischen Orchester und Publikum:der Dirigent Antonello Manacorda

NeusehlandDeutsche Serien, die wir sofortstreamen würden

Der KickEin Koffein-Krimi

Acht FrauenDiverse Menschen, diverse Mode

Immer diese neuen Apps!Neun beruhigende Empfehlungenvon Stephan Porombka

Melting PotBerliner Kreation: Ramen Burger

Dr. OmKleine Meditationen überdie großen Fragen des Lebens

Impressum

Sicherheit /FreiheitMirna Funk kommt nie wieder

Titel Laura Naumann denktan ihre drei Ehepartnerinnen.Ihr Essay steht auf Seite 16

Worum geht es in diesem Magazineigentlich? Oft hilft der Blick von außen.Diesmal: Helene Hegemann

Titel:Dan

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F ünf Tage, nachdemDonald Trump zumPräsidenten der USA gewählt wordenist, gibt er ein Fernsehinterview. Er

sitzt mit seiner Familie in einem Penthousein der 5th Avenue, goldlastig, 100 MillionenDollar wert. Dass sich ein Politiker als Stell-vertreter der Abgehängten stilisiert und esnicht lassen kann, mit seinem Reichtumanzugeben, ist der eine erschreckende Wi-derspruch. Der andere ist Trumps TochterIvanka, die während des Interviews ein dia-mantenbesetztes Armband aus ihrer eigenenSchmuckkollektion trägt und im Anschlussper Massenmail Werbung für das Teil ma-chen lässt. Preis: mehr als 10.000 Dollar.Diese Pointe wäre selbst für die »Simp-sons« zu billig. Aber sie ist Realität – wases schwierig macht, darauf besonnen zureagieren. Jeder, der genug Geld, Zeit undInteresse hat, um ein Magazin mit Life-styleschwerpunkt aufzublättern, fühlt sichwahrscheinlich ähnlich wie ich: Die bisheri-

geWeltordnung droht in Chaos zu ver-sinken, von dem niemandweiß, was esfür ihn selbst bedeutet. Zugleich hörtman nicht auf, darüber nachzudenken,ob man wirklich geliebt wird. Oderwirklich depressiv ist. Oder wirklichzu wenig Geld verdient und deshalbbald selbst zu den Abgehängten gehört,deren Rechte von populistischer Hard-linerpolitikmit Füßen getretenwerden.Der Tagesspiegel hat jetzt eine Zeit-

schriftenbeilage: den Berliner. Sie habengerade die erste Ausgabe aufgeschlagen. Dar-in überlegt Laura Naumann, was es bedeutet,wenn man den Begriff »Beziehung« seinenAnsprüchen entsprechend umdefiniert. Jo-hannes Laubmeier schreibt über einen sizili-anischen Friedhof, auf demMessingschilderdie Gräber unidentifizierter, im Mittelmeerertrunkener Flüchtlinge kennzeichnen – undüber einen Polizisten, der ihre Identitätenrecherchiert. Fabian Federl arbeitet sich anPeter Altmaier als politischem Vorbild fürdie eigene Millenial-Generation ab. Undder Fotograf Ashkan Sahihi porträtiert jun-ge, schwule Männer, nackt, die nach Berlingekommen sind, um die Menschen werdenzu können, die sie werden wollen.Es geht um Vielfalt. Um Freiheit, die im-mer schwieriger von Konkurrenzkampf zuunterscheiden ist. Und um Produkte. Umdas, was wir haben wollen, was wir habenkönnen – und deshalb zwangsläufig auch umdie Frage, was wir wirklich brauchen.

Helene Hegemann, geboren 1992 in Freiburg, ist Autorin und Regisseurin. 2017 kommtdie Verfilmung ihres Romans »Axolotl Roadkill« in die Kinos, Hegemann führte selbst Regie.

Foto Ériver Hijano

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Tony Futura, 1986 in Frankfurt/Oder geboren, ist Senior Art Director der Kreuzberger Agentur Dojo.Mehr seiner minimalistischen Pop-Art-Collagen unter instagram.com/tonyfutura

Extra Shot

futuralismus

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A rchitektur, sagte Schopenhauer, sei gefro-reneMusik.Wer dessen eingedenk durchBerlin spazieren geht, der sieht die Ge-

bäude nicht nur, er hört sie auch.Er hört nicht nur Schönes.Aus den roten Mauern des Einkaufszentrums

Alexa etwa ertönt ein Duett von Frank Zander undden Einstürzenden Neubauten. Hinter der Fassadedes neuen Stadtschlosses spielt ein barockbegeisterterSachbearbeiter Händel auf der Nasenflöte nach.An den Townhouses am Hausvogteiplatz ver-nimmt der Spaziergänger schließlich das Brum-men eines smarten Kühlschranks.Und es drängt sich ihm der Gedanke auf: Diesegefrorene Musik Berlins möchte er lieber nichtals CD gebrannt bekommen. Er würde sie wohlin einem unbemerkten Augenblick mit dem Ge-schenkpapier in den Mülleimer gleiten lassen.Was der in die Gebäude hinein lauschende Spa-ziergänger allzu selten hört, ist urbane Stille. Das ferne Rauschendes unendlichenVerkehrs, das geheimnisvolleMurmeln vonMan-telträgern, den sporadischen Trittschall auf den Gehwegplatten,das Aufflattern grauer Vögel. Die elegante Diskretion der Gebäude,die Zurückgezogenheit der Stadt hinter einem Vorhang.Leider auch dort nicht, wo diese Stille das einzige Geräuschsein müsste.Entlang der Gertrud-Kolmar-Straße in Mitte stehenWohncon-tainer in einem länglichen Pulk wie eine Gang von Kleinkrimi-nellen. Darin sind Imbisse und provisorische Kneipen unterge-bracht, davor fischen vierschrötige Kellner mit ausgebreitetenSpeisekarten nach Kundschaft. In einem Lokal schlägt um 14 Uhrdie fröhliche Stunde: Happy Hour. Es gibt alkoholische Getränkezum halben Preis, Touristen saugen an den Strohhalmen, als wärensie bizarre Vögel an einer Wasserstelle.Für die, die Architektur nicht hören können, wird dieMusik ein-gespielt: Aus den Lautsprechern glibbert »Sunshine Reggae«. DasEnsemble sieht aus, wie es klingt, und es klingt, wie es aussieht.Aggressiver kann schlechter Geschmack kaum sein.

menschenmuseum

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz bei Bremen geboren, ist Träger des Henri-Nannen- und des Deutschen Reporterpreises.

Ein völlig zermürbterDirk Gieselmann fleht: Reißtdie Trödelhöllen nieder!

Das wäre als eine ästhetischePenetranz von vielen nichtder Rede wert, wenn sie sichan einer Kartrennbahn in derVorstadt befände. Doch aufder anderen Seite der Ger-trud-Kolmar-Straße steht dasHolocaust-Mahnmal. DasDenkmal für die ermordeten

Juden Europas.Über diesenOrt wehen also akustische und

optische Signale, die die Stille, die hier herrschenmüsste, übertönen und übertünchen. Das Baller-mannhafte der Happy-Hour-Container durch-dringt und korrumpiert dieWürde desMahnmals.ZuwelchenHandlungen diese Interferenz die Be-sucher offenbar verleitet, ist in der Hausordnungdokumentiert: »Es ist verboten, von Stele zu Stelezu springen.«

Der Spaziergänger steht nun schlaff und entmutigt auf demGehsteig dazwischen. Nein, er möchte keinen süßlichen Cock-tail zum halben Preis auf der einen Straßenseite trinken, und aufder anderen möchte er nicht verkrampft Andacht halten, wo sieihm verunmöglicht wird. Er sieht eine Junggesellengruppe aufeinem Bierbike vorüberfahren, johlend und unsagbar töricht. Under wünscht sich mit letzter Kraft eine neue Diskussion über dieArchitektur dieser Stadt.Wir sollten nicht nur darüber sprechen, was gebaut wird. Wirsollten auch darüber sprechen, was entfernt werdenmuss: Touris-tenfallen, Bratwurstbuden, Heizpilzwälder, Trabisafariagenturen,Pelzmützenstände, all die hingekotzten Trödelhöllen.Und nennen wir die dann wieder wohltuend leeren Grundstü-cke bitte nicht Brachen, wie es ein nach Profit gierender Investortäte, der dort bald schon das Nächstschlimmere entstehen ließe.Nennen wir sie Pausen, wie in derMusik. Pausen, in denen etwasausklingen kann. Ausatmen. Und dann wieder Luft holen für dasKommende.Die Stadt und ihre Menschen brauchen sie.

HappyMahnmal

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UHREN SCHMUCK JUWELEN

EINZIGARTIG WIE IHRE EMOTIONEN – SEIT 1888

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schönstpersönlich

D iesen Sommer habe ich in der Künstlerresidenz Villa Lena inder Toskana (1) verbracht, zumArbeiten und zurWeinernte.Danachmochte ich »La Grande Estate« vonOlimpia Zagnoli

(2) umso mehr. Ihre wildfarbigen Illustrationen von Sonnenun-tergängen lassen mich den BerlinerWinter vergessen. Und davonträumen, mit einem gelben Ferrari (3) durchHügellandschaften zudüsen – ich wäre eigentlich gern Rennfahrerin geworden. Trosthole ichmir im Schädels in der Oderberger Straße (4) – derbeste Kaffee der Stadt! Köstlich auch das Ofenhuhn mitzehn Kräutern. Dort lese ich gern, zum Beispiel das De-signmagazin MacGuffin (5), Thema der neuen Ausgabe:Knoten. Meine Tochter Roberta liebt Anaïs Vaugelades»Steinsuppe« (6), das hat einen speziellenHumor und ist

sehr weise. Auf andere Art weise war John Cage (7). Immer wennich Interviews mit ihm auf YouTube sehe, bin ich begeistert vonseiner lausbübischen und in sich ruhenden Art. Mein Lieblings-Beautyladen ist MDC Cosmetic in der Knaackstraße: tolle Düftewie »Eau Chic« von Astier de Villatte (8) – und Ausstellungen!Blumen kaufe ich im Brutto Gusto, Torstraße. Da stehen auch Jo-hannes Nagels Vasenobjekte (9). Ebenfalls skurril: die Bowling-kugelvase von Anastassiades (10). Die Lemaire-Perlentasche(11) erinnert mich an die Auflagen auf Opis Autositzen.An den Céline-Stilettos (12) mag ich die Streichholzkopf-Absätze. Und ich versuche schon lange, meine Mutterzu überreden, für ihre Schmuckfirma Sévigné eine jungeKollektion zu entwerfen (13). Jetzt ist es endlich passiert.

Sarah Illenberger, 1976 in München geboren, wurde als Illustratorin und Artdirektorin vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

Sarah Illenberger über gelbe Autos,wilde Bücher und elf weitereLebensverbesserungen

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Das nächste Konzert, das wir besuchen, findet am 17. Dezem-ber im Columbia Theater statt und wird der letzte Auftritt vonIsolation Berlin in diesem Jahr sein. Seit gut einem Jahr wird dieBand, die klingt, als hätte Rio Reiser zu viel Sartre und Camusgelesen, als das nächste große Ding gehandelt – und das ist sieauch. Zumal im Winter, da passt ihre Musik einfach perfekt zurStadt. Also hörenwir »Alles grau« und die Liebeskummerhymne»Schlachtensee«, in der es heißt: »Es rauscht in meinen Ohren/Und es fällt schon wieder Schnee/Der Schlachtensee ist lang/Und auch ohne dich ganz schön.«

Isolation Berlin, 17. Dezember 2016 im Columbia Theater

Die nächste Ausstellung, die wir besu-chen, ist »EinWimpernschlag« vonCor-nelia Schleime. Die 1984 aus Ost- nachWest-Berlin übergesiedelte Künstlerinhat eben den Hannah-Höch-Preis desLandes Berlin erhalten; die umfangreicheRetrospektive zeigt Fotografien, Gemäl-de und Reisetagebücher von den 80ernbis heute, auch ihre mysteriösen Mäd-chenporträts.

Berlinische Galerie, bis April 2017

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Die BrüderKaramasowFrank Castorf(2./3. Dez.)

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PfuschHerbert Fritsch(9., 26., 31. Dez.)

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Von einemder auszogDirk von

Lowtzow undRené Pollesch(13. Dez.)

Isolation Berlin

Cornelia Schleime

Lars Eidinger,welche Theater-stücke sehen Sieals nächstes?

BÜHNE SONG

Lars Eidinger,40, ist Schau-spieler und DJ,

Ensemblemitgliedan der BerlinerSchaubühne undwurde unter an-derem durch seineHauptrolle im Film»Alle Anderen«und Auftritte imTatort bekannt.

Das nächste Lied,das wir hören, wirdHold on sein, die

elegische neue Emo-Rave-Single von

The XX. »Nach langenJahren, Zeit zusammenund fernab voreinander,

höchsten Höhen,tiefsten Tiefen, Herz-schmerz und Heilung«sei es nun Zeit für einneues Album, sagtdie Londoner Band.

Es wird I See You heißenund am 13. Januar 2017erscheinen, fast fünf

Jahre nach dem letztenAlbum. Am 26. Februar

spielen The XXlive in Berlin.

KONZERT

AUSSTELLUNG

BRÜHE

DasNächste, was wir gegen Erkältung undWinter zu unsnehmen werden, ist tatsächlich: Brühe. Und zwar Kno-chenbrühe vomWeiderind, wahlweisemit Ingwer, Butter,Kokosöl, Kurkuma oder Shiitake-Pilzen. In NewYorkwarKnochenbrühe schon vor fast zwei Jahren ein Großtrend,jetzt ist sie auch in Berlin zu bekommen. Entweder imWebshop von Brox oder im kleinen Pop-Up-Lokal.

»Die nächsten Stücke,die ich mir ansehe, werdenallesamt Produktionen derVolksbühne sein – ehe dortmit der Übernahme ChrisDercons die Castorf-Ära zuEnde geht. Für mich wardie Volksbühne immer dasGrößte. Die Art, wie ichmeinen Beruf verstehe,

meine Spielweise, mein gan-zer Zugang zum Theater, dasalles ist untrennbar mit Cas-torf verbunden. Hier hatteich meine prägendsten Thea-tererlebnisse. Bert Neumann,Christoph Schlingensief,Henry Hübchen, ChristophMarthaler, Sophie Rois,Martin Wuttke, Kathrin

Angerer und die vielen ande-ren sind für mich Giganten:jeder für sich völlig unab-hängig und eigen in seinemStil, seinen Stärken und

Qualitäten. Wie Superheldenin einemMarvel-Comic!«

Brox, Weinbergsweg 21, bonebrox.de

Das Nächste

Fotos:Ka

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Der neue quattro ultra-Antrieb* im Audi Q5 denkt sogar mit. Bei Bedarf wechselt er vonVier- auf Zweiradantrieb und macht Ihre Fahrt nicht nur sicherer, sondern auch effizienter.Mehr Infos unter www.audi.de/Q5

/ Audi Deutschland

*Optionale Ausstattung.

Sich einen Bruder aussuchen,eine Ehe öffnen, die Kolleginnen heiraten:

Endlich können wir die Beziehungen führen,die zu uns passen. Das macht glücklich,

sagt die Autorin Laura Naumann.

Anstrengend ist es trotzdem

Text Laura NaumannFotos Daniel Hofer

TAGESSPIEGEL Berliner 17

M ein Bruder ruft michan, um bisschen zuplaudern. Neue Cross-maschine. Und ein

neues Mädchen, vielleicht. Er wissenicht genau, ob das eine Beziehungwerde, ob er das wolle. Die beidenkennen sich seit kurzem, beide sind 16.»Was heißt denn Beziehung«, will ichwissen. »Na, Beziehung halt«, sagt er.»Ja, aber was soll das sein?« Nachdruckin meiner Stimme. »Be-zie-hung«, sagter, meinen Ton imitierend, »zusammensein halt«. Und ich: »Aber was bedeu-tet das?« Dann er: »Also, wenn ich hierBeziehung sag, dann wissen alle, wasich meine. Nur, weil du das da andersmachst in Berlin, heißt das nicht, dasssich das alle fragen. Hier ist BeziehungBeziehung. Zwei Leute, man gehört zu-sammen, fertig, aus.«Ich erinnere mich an eine Zeit, in dermein Freundeskreis fast ausschließlichaus Paaren bestand. Wir waren immerzu sechst in derWG, statt zu dritt, weilwir immer alle unsere Schmusis dahatten. Oft kamen Freund*innen vor-bei und die hatten auch ihre Schmusisdabei. Oder die Schmusis kamen nochnach. Oder die Schmusis kamen ihreSchmusis abholen. Es wurde viel Handin Hand gegangen und in Bars auf ei-nanders Schoß gesessen und das Autohatte immer einen Platz zuwenig. Paarewaren füreinander gebucht, zuständigund hauptverantwortlich. Große Irri-tationen dann, wenn Dings mit Dingsgesehen wurde oder Dings nicht wuss-te, wo Dings ist, weil: Warum weißt dunicht, wo deine Freundin ist, seid ihrnicht mehr zusammen?Manmacht es, wieman es kennt. Manmacht es, wie die anderen es machen,wie man es beobachtet hat, bei den El-tern, den Freund*innen der Eltern, denLeuten in Filmen, in Büchern, bei Jay-Zund Beyoncé. Die Liebe schlägt ein. Siefindet statt zwischen zwei Menschen.Sie ist ausschließlich. Siemuss beteuert,bewiesen und zur Aufführung gebrachtwerden. In Form einer Be-zie-hung.Unser*e Liebespartner*in erfüllt darinall unsere Bedürfnisse: nach Zärtlich-keit, nach Nähe, nach Sex, nach Event,nach Gespräch, nach Sicherheit, nachleckeremEssen, nach Ritual, nach Aben-

teuer. Diese Liebe wird zum Zentrumdes Lebens. Bestenfalls mündet sie indie Ehe, zu zweit wird für die Ewigkeiteingetütet. Bestenfalls erwächst aus ihrein Kind (#keimzelledergesellschaft).»Zwischen uns passt kein Blatt Pa-pier«, lautet ein Sprichwort, das einenglücklichen Zustand beschreiben soll.Mit jemandem so einig, so nah und soverbunden sein, dass kein Blatt dazwi-schen passt. Kein. Fucking. Blatt. Um je-manden so nah zu haben, dass kein Blattzwischen den eigenen Körper und dender anderen Person passt, mussman die-se so fest an sich drücken, oder sie einenan sich, dass es auf jeden Fall weh tunmuss, mindestens eine von beiden kei-ne Luft bekommt und beide insgesamtsehr unbeweglich sind. Und schwitzen.Warum ist das erstrebenswert?»Lebe, wie ich denke, dass ich es will,oder wollen sollte, statt mich ernsthaftzu fragen, wie ich wirklich leben will.Nicht aus Blödheit. Sondern aus Ge-wohnheit.«, schreibe ich irgendwann2012 in mein Notizbuch. Dann kommtder Sommer, in demTmitmir schimpft,weil ich Eva Illouz‘ »Warum Liebe wehtut« mit in den Urlaub gebracht habe,und damit droht, es insMeer zuwerfen.Dann kommt derWinter, in dem immer»Diamonds In The Sky« von Rihannaläuft. Dann kommt der Sommer, in demich Simone de Beauvoirs Briefe an Sart-re lese. Dann kommt derWinter, in demAmazon Prime die Serie »Transparent«herausbringt. Dann kommt der Sommer,in dem ich mit S zusammen bin, die ineiner langjährigen Partnerschaft mitG ist und es ist kein Geheimnis. Dannkommt der Winter, in dem die zweiteStaffel von »Transparent« rauskommt.Dann kommt der Sommer, in demmeinDate auf einer poshen Hochzeit einenJute-Beutel mit der Aufschrift »FUCKMARRIAGE« trägt; dieWedding-Plane-rin nickt nervös grinsend. Dann kommtder Winter, in demmein Bruder anruftund sagt: Be-zie-hung, ey.Das ist jetzt. Nicht nur mein Bruder,sondern auch ich und mein Freundes-kreis haben sich verändert. Wo früheralle ordentlich zu Paarsocken zusam-mengebunden waren, leben alte undneue Menschen jetzt als Einzelperso-nen, Duos, Gruppen und Teams. Paar

oder Kein-Paar sind nicht mehr dieprimären Ordnungssysteme. Und dashat überhaupt nichts damit zu tun,dass alle sich aus dem Love-Businesszurückgezogen hätten. Im Gegenteil,alle küssen nach wie vor sehr gern undhaben weiterhin ein großes Interessedaran, die Liebe regieren zu lassen.Aber die Staatsform wird überprüft.Die Vorstellung von der romantischenLiebe in Form der monogamen (hete-ronormativen) Zweierbeziehung, diewir als Anfang-20-Jährige als Maximedes Erwachsenenlebens noch gekaufthaben, immer wieder rein in den Korbund zieh durch die Karte, hat sich alsAllheilmittel undHort des Friedens undder Fröhlichkeit und des everlasting or-gasm nicht bewährt.Aha. Und stattdessen?Wie ist es alsojetzt?

Zum Beispiel: Mit meinem Theater-kollektiv Henrike Iglesias auf Gastspielin Leipzig, Ausflug in den BotanischenGarten.Wir reden über denOne-Night-Stand der einen und die anstehendenProben für unsere nächste Produktion,ich hab ein Eis in der Hand, wir habenalle Jogginghosen an und eine machtein Foto von den Sukkulenten und ichschreib in mein Notizbuch: »viel näherdran an wie ich leben will als 2012«.Vor zwei Jahren haben wir geheira-tet. Unsere Hochzeit fand in einer Hin-terzimmer-Kapelle in der Kantine derBerliner Sophiensaele statt. Ein schönerMannmit Rauschebart in einemHoch-zeitskleid eskortierte uns zum Ritual.Die Trauung wurde vollzogen durchdas Schlager-Duo Xiroi. Es gab Ringe,Gesänge (»Unter den Palmen der Lie-be«) und Tränen – wie bei einer ech-ten Hochzeit. Viele Menschen wurdenan diesem Abend in Zweier-, Dreier-,Vierer-, Fünfer-Konstellationen getraut,während im ganzenHaus ein rauschen-des Fest gefeiert wurde.Diese drei Frauen sind meine Le-benspartnerinnen, meine Wahlfamilie.Sie kennen meine Brüste, meine El-tern, meine Ängste. Sie kennen michmit Clown gefrühstückt und kurz vormNervenzusammenbruch. Wenn ich ei-nenWitz mache, der auch vonmeinemVater sein könnte, nennen siemich Papi.

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Wir teilen nicht die Ansichten überMonogamie in romantisch-erotischenBeziehungen, wir haben unterschiedli-che Nahrungsmittelvorlieben, manchevon uns lieben Yoga, manche lehnen esab. Unsere Beziehung hatte zu keinemZeitpunkt eine erotische Ebene – ro-mantisch kann es allerdings schon malwerden: unsere Hochzeitsnacht ende-te in einem 24-Stunden-Burger-Laden.Kurz nach der Hochzeit habenwir eineGbR gegründet, ein gemeinsames Kon-to eröffnet und uns beim Finanzamtgemeldet.

DasOpen-Office-Dokument, in demich diesen Text schreibe, trägt den Titel»LEBEN – BUT HOW«, weil mich vonjedem Punkt in meinem Arbeitszim-mer der pinke Rücken des Aktenord-ners mit dieser Aufschrift anleuchtet.Eine lebenspraktische Sammlung, dieich angelegt habe, als ich mein Studi-um beendet habe und in die Selbststän-digkeit gestartet bin. Der Ordner ist, bisauf einen Leitfaden zur Steuererklärungfür Selbstständige imKulturbetrieb, leergeblieben. Dabei ist es, mit wem auchimmer ichmich unterhalte dieser Tage,die Frage der Stunde.Zu Besuch bei den Eltern:Wiewollenwir leben, die Kinder fast verabschie-det? Eine Freundin auf einer Hochzeit:Ich hab zum zweiten Mal den Braut-strauß gefangen, aber nicht mit mir,Freunde, nicht mit mir! In der Kücheeiner Loverin: Jetzt, wo ich beruflicherreicht habe, was ich erreichen woll-te, womit füll ich mein Leben sonstso? Eine Bekannte, frisch getrennt:Das Problem ist doch: Man machtSchluss und dann steht man da, hat alleFreund*innen vernachlässigt undweißnicht mal mehr, wo das Waschmittelbei Rewe steht, weil das hat V immergekauft. Mit einer anderen Freundinauf dem Tempelhofer Feld: Wovon esabhängig machen, an welchem Ortich lebe? Ich könnte mit meinem Passfast überall auf der Erde leben. Warumausgerechnet hier? Im Internet: Wasist das für 1 life? Auf dem Balkon ei-nes Freundes: Ich will kein Leben ohneVerbindlichkeiten führen, aber ich willentscheiden, welche Verbindlichkeitenich eingehe und welche nicht.

Konservative und Reaktionäre fürch-ten das Ende der Familie durchFeminist*innen, Hedonist*innen undSexualpädagog*innen. Alle anderenfürchten einen Backlash in die 1960er.»Generation Beziehungsunfähig« istzumBegriff geworden. Die Gesellschaftaltert, aber ob Reproduktion überhaupteine gute Idee ist, in Anbetracht des Zu-stands der Welt, ist eine weitere Frage.Ein günstiger Moment, eigentlich,um die Strukturen unseres Zusammen-lebens zu hinterfragen, anzupassen, zuverändern, neu zu erschaffen, wie sieuns individuell passen und im Großenwie im Kleinen zu fragen: Wie wollenwir zusammenleben, verantwortungs-voll und möglichst friedlich? Wie kön-nen wir aktiv die Systeme gestalten,von denen wir uns wünschen, dass sieuns auffangen und in denen wir andereauffangen? Wie soll sie aussehen, dieFamilie meiner Träume? Muss sie zweiErwachsene haben und ein bis drei Kin-der? Kann sie nicht vielleicht auch fünfErwachsene haben und ein bis drei Kin-der? Oder fünf Erwachsene und keineKinder? Können wir uns miteinanderverbinden, aufeinander zählen, einanderhalten, schützen und unterstützen, fürei-nander sorgen, ja: einander verpflichtetsein in guten wie in schlechten Zeiten,durch den Monsun eiern und ein Autoteilen, ein Konto, eine Vision für einegemeinsame Zukunft, eine Rente, abernicht ein Bett, eine Stadt, einen Hund?

Ich schreibe diesenEssay gut gelaunt.Ich bin fast euphorisch an manchen Ta-gen, über die Möglichkeiten, Leben zuführen, Beziehungen zu gestalten, die esschon gibt und die noch gefunden undgelernt und ausprobiert werden können.Zum Beispiel: Meine Freundin E, de-ren bevorzugte Lebensform nie die kon-ventionelle Zweierbeziehung war, dieaber immerwusste, sie will Kinder, undzwar nicht als alleinerziehendeMutter.Hat da jemand »Pech gehabt« gemur-melt? Inzwischen hat sie eine Toch-ter, zusammen mit O, der auch immerKinder wollte, aber seine Partner nie.J ist jetzt zwei Jahre alt und sehr heiter.Sie sieht sowohl Mama als auch Papajeden Tag. Letztes Weihnachten habensie zusammen mit Os neuem Partner

bei Es Familie gefeiert. »Die Grundideedieser ›freundschaftsbasierten Eltern-schaft‹«, sagt sie, »ist eben explizit kei-ne getrennte Elternschaft, sondern einegemeinsame, in der wir alle zusammenZeit verbringen und JMutter und Vaterals respektvoll und herzlich miteinan-der umgehendeMenschen kennenlernt.Nur, dass wir eben kein Liebespaarsind.« Der schwierigste Faktor ist da-bei die Zeit, weil beide arbeiten. Undvielleicht der BerlinerWohnungsmarkt.Einmal in der Woche gibt es den El-terntag, den sie immer zu dritt verbrin-gen, und jetzt hat E auch endlich eineWohnung gefunden, die nur ein paarStraßen von Os Wohnung entfernt ist.Das erste Jahr nach der Geburt hatte Obei E gelebt. Im Moment bringt er amMorgen J zu E, wo sie den Tag verbringtund übernachtet, und am nächstenMorgen bringt E dann J zu O und soweiter. Bald kommt J in die Kita, dannwird sich ein neuer Rhythmus finden.Das Elternschaftsmodell entwickelt undverändert sich – es wächst mit. Dennals E und O sich entschieden, zusam-men ein Kind zu zeugen und sich ihrModell auszudenken, kannten sie ihrKind ja noch nicht. Und sich selbst nochnicht als Mutter und als Vater. »VieleSchwierigkeiten, die wir haben«, sagtE, »haben klassische Elternpaare auch.Einfacher macht es, das wir nicht emo-tional miteinander verstrickt oder garabhängig voneinander sind, wieman esin romantischen Liebesbeziehungen oftist.Wir sorgen beide für uns selbst. Undzusammen für J.«Anderes Beispiel: Immer, wenn ichM

sehe, redenwir über die Liebe.M ist seitüber 20 Jahren mit ihrem Partner C zu-sammen. Sie waren 30, als sie sich ken-nenlernten, sie haben Kinder zusammengroßgezogen, in unterschiedlichen Städ-ten gelebt, eine Wohnung gekauft undimmer gewusst: Es kann passieren, dassandere Frauen und Männer schön sind.»Lass es passieren und lass uns drüberreden«, nenntM ihre Absprache. In denletzten zwei Jahren war Ms Lover P eingroßes Thema. Und vor ein paar Jahrenwär fast alles in die Brüche gegangen,weil C zehn Jahre lang irgendwie J hat-te, aber keine Sprache dafür. »Grautöneakzeptieren lernen«, sagt M, und: »Er-

Laura Naumann, geboren 1989, studierte an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus.Sie schreibt Theaterstücke und ist Teil des Autorinnen-/Performerinnen-Kollektivs Henrike Iglesias.

Gefühle der anderen genauso ernst zunehmen wie die eigenen. Es ist Arbeit.Wie jede Beziehung.Wie in jeder Fami-lie, wie eigentlich immer, wennmehr alseine Person im Raum ist, kann das Zu-sammenleben nerven, anstrengend seinund weh tun. Alle brauchen Platz. Allewollenwas. Alle habenAngst zu sterben.Wir haben in den letzten Jahren ver-schiedene Tools für unser gemeinsa-mes Leben entwickelt. Ein Beispiel: dieStimmungsrunde. Als vier feinfühligePersonen merken wir nach fünf bis 50Sekunden, wenn es emotional in unse-rer Runde klumpt, sei es durch Ärger,Enttäuschung, Genervtheit oder einfachTraurigkeit wegen #life. Damit solcheVerstimmungen sich nicht zu Blocka-den, Vorwurfs-Battles oder Magenge-schwüren entwickeln müssen, kann insolchen Momenten (oder auch jeder-zeit sonst, klar) eine Stimmungsrundeeinberufen werden. Jemand sagt dann:»Ich hab das Gefühl, wir brauchen neStimmungsrunde«. Oder: »Wir habenlange keine Stimmungsrunde mehrgemacht!« Oder: »Stimmungsrunde,anyone?« Dann legen alle die Handysweg und sagen, was abgeht. Manchmaldauert‘s dann ein paar Stunden, oderes wird geweint, oder wir proben nichtmehr, sondern trinken Schnaps, abermanchmal kommt‘s auch vor, dass ein-fach alle hungrig waren oder lieber aufFuerteventura wären.Es war schon als Kind schön, alleinoder mit anderen etwas zu bauen undes dann anzuschauen und zu denken:»Geil. Das hab ich, oder das haben wir,gebaut. Sieht toll aus. Und dieses De-tail gefällt mir besonders.« Und viel-leicht später weiterzubauen, und wie-der zufrieden zu sein, oder nicht ganzzufrieden zu sein und noch Dinge zuverändern, nochmal die tragenden Ele-mente zu überprüfen, einen Fehler inder Konstruktion zu finden oder eineKleinigkeit zu ergänzen für einen gro-ßen Effekt. Oder manchmal auch: alleseinzureißen und neu aufzubauen. Unddann sieht es entweder ganz anders ausoder genauwie vorher. Oderwieman essich nie hätte vorstellen können.

Wie sähe ein Stammbaum aus, der nichtauf »geboren durch«, sondern auf »ge-wählt von« beruht? Was bedeutet es,wenn man einander »Familie« nennt?Welche Bedeutung hat es, »Bruder von«oder »Schwester von« zu sein, undwel-che Funktion gibt man einander damit?»We both know we are alone in thisworld. But we can try and be togetherin that«, beschreibt B das Verhältnis zuihrem Bruder. Wesentlicher Teil dieserGeschwisterbeziehung ist die Vereinba-rung: Auch wenn wir zehn Jahre nichtgesprochen haben und du rufst an vomanderen Ende der Welt, weil du zumBeispiel stirbst, dann steig ich in einFlugzeug und bin da.

Heute,beiGoogleHangout(einVideo-chat-Tool, in demmanmitmehr als zweiPersonen videochatten kann). HalbeStunde Henrike-Business-Talk, dannhaben wir keine Lust, zurück in unserejeweiligen eigenenAlltage zu gehen undhängen weiter ab. Eine wäscht ab ne-benbei, eine schreibt E-Mails, wir brin-gen uns auf den neueste Stand in denLebensbereichen Romance, Sex, Ge-sundheit und andere Jobs. Ist immerhinfünf Tage her, seit wir uns das letzteMalgesehen haben. Und dann sag ich noch:»Ich schreib auch über euch in diesemEssay«, und eine sagt: »Jaja, schlachteruhig unsere Liebe in denTabloids aus.«Niemand konnte ahnen, wie sich dasentwickeln würde, als wir uns vor ei-nigen Jahren zum ersten Mal in einemProbenraum in der Uni Hildesheim aneinen Tisch setzten und sagten: Naja,fangenwirmal an. Und es ist überhauptnicht leicht, ein Kollektiv zu sein, mitvier Personen jeden Tag aufs neue knall-hart Demokratie durchzuziehen, Kon-flikte auszutragen, die Bedürfnisse und

fahrungenmachenmit der Liebe«. Beidehaben ihre Leben als eigenständig han-delnde Menschen gelebt und einanderberichtet, was sie erlebt haben. Es gabZeiten von einseitiger und beidseitigerMonogamie, Zeiten mit gemeinsamerSexualität und Zeiten ohne. »Am Endezeigt die Loyalität sich darin, dass mannicht voneinander weggeht, wenn esschwierig wird, sondern dass man dableibt und die andere Person kennen-lernt, mit allem, was da ist«, sagt sie. Ichseufze.Oder: Ich sag zu T (Jahre, nachdemEva Illouz uns den Urlaub versaut hat):»Ich bin froh und dankbar, dass du ge-sagt hast: Du darfst gehen. Aber ichwill,dass du bleibst.« T sagt: »Aber du bist jagegangen.« Und ich sag: »Aber ich binauch noch da. Und du bist auch nochda.« Ich durfte ihre neue Freundin ken-nenlernen, ich erzähle ihr von meinenLiebschaften, und wenn ich irgendwoeine Giraffe sehe, schicke ich ihr einFoto, nach wie vor, und wenn sie einenlebenspraktischen Rat vonmir braucht,laufe ich zuHochform auf, nachwie vor.Wenn sie anriefe und sagte, ich brauchedich hier in zehn, dann wär ich da inzehn. Zu was macht uns das?Oder: Was macht B und W zu Ge-schwistern? Als ich B kennenlerne, sagtsie manchmal: »Mein Brudermacht dasund das.« Und ich sag dann: »Mein Bru-der macht das und das.« Irgendwannwundere ichmich über die Elternkons-tellationen und unterschiedlichenNati-onalitäten in ihrer Familie, und sie sagt:»We adopted each other.« Und ichwun-deremichweiter, weil ich nicht wusste,dass das geht. Dann erzählt sie mir, wiesie ineinander verliebt waren, zuerst,aber eine romantische Partnerschaftkam für ihn nicht in Frage. Dann istZeit vergangen, in der sie trotzdem engverbunden blieben, dann hat sich dieBeziehung verändert. Seit fünf Jahrensind sie Bruder und Schwester fürein-ander. Eine gemeinsame Entscheidung,die über den Zeitraum von einem Jahrgewachsen ist, ausgelöst durch Gesprä-che über ein Kunstprojekt über queereVersionen von Familienstammbäumen.

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Gefühlhlee der anderen gegenanausoo erernsnst zunehmen wieie ddie eigenen. Es iistst AArbrbeit.WiWie jede Beziehuhungng.Wie in jeder Fami-lie, wwieie eigentlich immer, wwenennmehr alseine Persosonn im Raum ist, kann dadas ZuZu--sasammmmenleben nenervrven, anstrengend seinund wewehh tun. Alle brauchchenen Platz. Allewollenwas. AlAllele hhabenAngst zu sterbeben.n.Wir haben in den lletetztztenen Jahren ver-schiedene Tools für unser gemeininsasa--mes Leben entwickelt. Ein Beispiel: dieStimmungsrunde. Als vier feinfühligePersonen merken wir nach fünf bis 50Sekunden, wenn es emotional in unse-rer Runde klumpt, sei es durch Ärger,Enttäuschung, Genervtheit oder einfachaurigkeit wegen #life. Damit solche

nicht zu Blocka-

Wie sähe ein Stammbaum aausus, der ninichchtauf »geboren durch«, sondernrn aauf »ge-wählt von« beruht? Was bedeutetet es,wenn man einander »Familie« nennnnt?t?Welche Bedeutung hat es, »Bruder von«oder »Schwester von« zu sein, undwel-che Funktion gibt man einander damit?»We both know we are alone in thisworld. But we can try and be togetherin that«, beschreibt B das Verhältnis zuihrem Bruder. Wesentlicher Teil dieserGeschwisterbeziehung ist die Vereinba-

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Menschen gelebt und einanderwas sie erlebt haben. Es gabinseitiger und beidseitigerten mit gemeinsamern ohne. »Am Endearin, dass man

wenn esan da

Dr. Körners gesammeltes schweigen

U lrich Matthes ist pünktlich, aber nochin Worte gehüllt. Er plaudert mit demFotografen. Als er mich sieht, schlägt er

beide Hände vor den Mund wie ein Schweige-mönch, den der strenge Abt beim Schwatzenertappt hat. Ein Plauderfeind ist Herr Matthesoffenbar nicht. Was nun? Die Gedächtniskirche,wo wir gemeinsam schweigen wollten, ist got-tesdienstvoll. Wir zucken ratlos mit den Ach-seln. Der Schauspieler wirkt leicht verlegen. Erwill authentisch sein, das Schweigen nicht spie-len. Ich lege mein Ohr an seinen Parka-Rücken,Passanten schauen irritiert. Der Rücken hält dieKlappe, auch wenn es ihm schwerfällt. Ich höreMatthes denken: »Hat der ‘n Rad ab?«Wir stromern steif über denWeihnachtsmarkt.Gemeinsames Schweigen ist echt eine verdammtintime Nummer! Nur langsam richtet sich meinPartner im Schweigen ein. Schaut hier, schaut da,verwundert wie ein Kind, das zum erstenMal diegroße Stadt erlebt. Matthes lässt erste Schwei-gegenussmomente erkennen. Er vibriert wie einHandy auf stumm. Das Europacenter schlucktuns. Und plötzlich explodiert die innere Stille, jetzt ist sie ein Trip:Die Dinge krakeelen, das Center flennt, billige Düfte kreischen. Jetztwirft sichMatthes begeistert ins Schweigen, denn es schärft die Sinne:Er neigt den Kopf und lauscht auf ein synthetisches Vogelgezwitscher,inmitten einer Geselligkeitslandschaft umtost ein Wasserfall wortlosePaare. Matthes zieht es nun zu Saturn, die Rolltreppen seufzen. JedesMedienkaufhaus ist ein Inferno, aber Matthes wirkt nun fast erlöst, alstrage er eine subversive Botschaft in den Quasseltempel. Seine brau-nen Knopfaugen glucksen vor Freude. Er springt wie ein junger Manndurch die Gänge, landet endlich in der Klassikabteilung und kauft eineGershwin-CD. Warum Gershwin? Ich verschlucke die Frage.Matthes hat sich jetzt schwungvoll in unsere Schweigespirale gewor-fen, fast stürzt er die Rolltreppe hinunter, als er sie entgegen der Lauf-richtung betritt. Er kichert lautlos, zeigt auf ein paar riesige Plüschtiere,die für einen Blockbuster die Zähne fletschen. Er ist nun ganz und garins Schweigen eingezogen, jongliert mit schmalen Schultern tausendRollenwortlos und synchronisiert jede Sprache ins Stillsein. Ich fürchte,für seinen Beruf ist derMann verloren. Dann flattert er davon in seinemmit Schweigen gefütterten Parka.

Torsten Körner, geboren 1965 in Oldenburg, ist Journalist und Schriftsteller. Er promovierte über Heinz Rühmann.

Was erfährt man über einenMenschen, wenn man nichtmit ihm spricht?

Ulrich Matthes, geboren1959 in Berlin, ist einer derbekanntesten deutschenSchauspieler. Er hat eigent-lich eine sehr klangvolleStimme.

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UlrichMatthesvibriert wieeinHandy

Foto Daniel Hofer

Als sie starb, trug sie schwarz. Ein Oberteilmit langen Ärmeln, darunter ein kurzes Top.Schwarze Jeans über schwarzen Leggins.

Die dunklen, halblangenHaare hatte sie hellergefärbt. Ihre Socken waren bunt. Als sie starb,war sie zwischen dreißig und vierzig Jahre alt.

Das ist alles, was man von ihr weiß. —

Text Johannes LaubmeierFotos Carlos Bafile

Nr. 13

Fotos:Privat,M

auritiusIm

ages

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…Warum die Frau an einemTag imAu-gust in der Nähe der libyschen StadtZuwara auf ein Boot stieg, warum siefloh, weißman nicht. Auch nicht, wohersie kam. Eritrea vermutlich, aber sicherist das nicht.Die Fakten sind: Am 24. August 2014,in der Nacht von Sonntag auf Montag,kentert ein 15 Meter langes, hellblauesBoot in der Straße von Sizilien, derMeerenge zwischen Afrika und Euro-pa. ItalienischeMilitärschiffe retten dieÜberlebenden und bergen die Leichen.Es ist der dritte Schiffbruch an diesemWochenende. Die »Fenice« bringt dieToten, insgesamt 24, in den Hafen dersizilianischen Stadt Augusta.Es gibt ein Video von der Landung.Ein Lastwagen fährt die Särge, Beamtevon der Spurensicherung, in Atemmas-ken undweißen Schutzanzügen, tragensie auf das Schiff. Die Carabinieri unddas Rote Kreuz kümmern sich um die

Überlebenden. Sie machen Notizen,zum Beispiel von einer Frau aus Eri-trea, die verzweifelt ihre Schwestersucht. Hinter einer Plane, die Polizistenals Sichtschutz hochhalten, werden dieToten in die Särge gelegt. Fotos werdengemacht. Jede Leiche bekommt eineNummer. »Cadavere #13«, schreiben siein die Akte der Frau in Schwarz.

Die Toten ohne Namen landen zweiTage später auf dem Schreibtisch desPolizisten Angelo Milazzo in der be-nachbarten Stadt Siracusa. VierzehnMänner, sechs Frauen und vier Kinder.Ohne Identität. Milazzo soll sie ihnenzurückgeben.Milazzo ist bei der Polizei von Sira-cusa Experte für Flüchtlingsfragen. Erist Mitglied einer Einheit, die gegenSchleuser ermittelt. Wie gefährlich dieFlucht über dasMeer ist, weiß er genau.In den vergangenen drei Jahren starben

mehr als zehntausend Flüchtlinge beimVersuch, Europa über dasWasser zu er-reichen. Die gefährlichste Fluchtrouteist die »Central Med« von Libyen nachLampedusa und Sizilien. 85 Prozent allerErtrunkenen werden hier geborgen, aufeiner Strecke, ungefähr so lang wie dieEntfernung von München nach Köln.Die meisten, die bei der Überfahrtsterben, können nicht identifiziertwerden. Sie werden zu Zahlen in einerStatistik, die ihren Schrecken aus derMasse, nicht den Schicksalen zieht. ImRest Europas verschwinden die Toten inden Kurzmeldungen, werden zuVariab-len einer Krisenkalkulation. In Sizilienist die Katastrophe nah. AngeloMilazzoist einer von denen, die sich ihr stellen,die versuchen, dieMenschen hinter denZahlen wiederzufinden.Von seinem Büro aus kann Milazzodas Meer nicht sehen. Der Palazzo diGiustizia von Siracusa liegt hinter ei-

Alle Informationen, die der Polizist Angelo Milazzo über »Opfer 13« hat,sind in einer orangefarbenen Aktenmappe gesammelt.

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nem schweren Eisenzaun im Nordender Stadt, der Blick aus dem Fensterfällt auf Wohnblöcke und verdorrteGrundstücke.Milazzo ist Hauptkommissar bei derPolizei von Siracusa, ein kompakterMann mit großem Bauch. Seine Lip-pen hat der 57-Jährige meist ein wenigzusammengekniffen. Er lächelt selten,als müsse er sich das Glücklichseineinteilen. Sein Büro im fünften Stocksieht aus, als sei es über die Jahre zuge-wachsen. Aktenschränke zwängen sichzwischen Schreibtischen, zusammenge-stückelt aus verschiedenen Jahrzehnten.An derWand hängt ein gerahmtes Pos-ter, das italienische Kriegsschiffe zeigt– die gleichen, die Flüchtlingsboote vorSizilien bergen. Seine kugelsichereWes-te hängt an einem Kleiderbügel in derEcke, unter einer Plastikhülle, vor län-gerer Zeit gereinigt und seitdem nichtmehr gebraucht.

HinterMilazzos Schreibtisch stapelnsich Ordner. Darin lagern die Akten derOpfer vom 24. August 2014. Auch dieAkte der Frau in Schwarz liegt in demStapel, »Vittimo #13« steht in schwar-zem Edding darauf, Opfer 13. Mit ihrbeschäftigt Milazzo sich seit mehr alszwei Jahren.Die Leichen selbst sieht er nie. Statt-dessen bekommt er die Fotos, die vonder Spurensicherung amHafen gemachtwurden. Er zeigt die Bilder auf seinemComputer. Langsam, die Augen starrauf den Bildschirm gerichtet, scrollt ersich nach unten, dabei kaut er einMinz-bonbon nach dem anderen. Die Gesich-ter der Toten sind aufgequollen, vieleBauchdecken durch Hitze und Verwe-sung geplatzt. Milazzo öffnet den Ord-ner Nummer 13. Auf den Fotos stehenMenschen in Atemmasken hinter einemdunkel verfärbten Körper, der sich un-ter schwarzer Kleidung spannt. Dass

ihm die Fotos allein nicht weiterhelfenkönnen, merkt er sofort. Zwei Tage inLeichensäcken auf dem Schiff machenjede Identifizierung unmöglich.

Die Obduktionsberichte liest Mi-lazzo zuerst. Seit Beginn der Flücht-lingskrise arbeiten die Forensiker derInsel im Akkord. Auch Antonella Argo,Gerichtsmedizinerin an der PoliklinikPalermo, obduziert seit einigen Jahrenfast nur noch Menschen, die bei derFlucht über das Mittelmeer gestorbensind. Argo steht in einem Labor imKel-ler der Poliklinik, um sie herum stapelnsich Kartonsmit Gewebeproben, in derEcke steht ein Kühlschrank, auf den je-mandmit Filzstift »Migranti« geschrie-ben hat. Darin: Blut- und Organproben.Die Toten aus dem Mittelmeer, sagt

die Ärztin, hätten alles verändert. In denersten 22 Jahren ihrer Karriere hat Argo300 Tote obduziert. Damals, erzählt sie,

Auf dem Friedhof von Catania, hier die Aussegnungshalle, liegen mehr als 100 Geflüchtete begraben.In Palermo versuchen Gerichtsmediziner anhand von Knochenuntersuchungen, das Alter der Toten herauszufinden.

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habe es pro Jahr ein paar Unfälle oderMorde gegeben. Das schlimmste warenFlugzeugabstürze, außergewöhnlicheUmstände. Heute müssen Argo undihr Team oft so viele Tote obduzieren,dass die Gerichtsmedizin zu klein ist,um alle aufzunehmen. Dann lassen dieForensiker Friedhöfe sperren und ar-beiten unter freiem Himmel. Wie vie-le Leichen sie seit 2011 untersucht hat,weiß Argo nicht auf Anhieb. Sie rech-net im Kopf nach, dann lacht sie müde.»Werden wohl so 200 gewesen sein.«Ihre Assistentin Antonetta Lanzaronehatte in dieser Zeit ebensoviele Tote aufdem Tisch. Die Katastrophe ist Alltaggeworden.Es geht den Ärzten sowohl darum,die Todesursache festzustellen, alsauch darum, die Identität der Toten he-rauszufinden. Die Todesursachen sindmeistens gleich: ertrunken, erstickt, er-drückt. Die Identität: meist unbekannt.

Antonella Argo zeigt auf einen Tischin dem niedrigen Kellerraum. Auf ihmliegen in einer Aluschale nummeriertePlastiktütchen. In ihnen menschlicheKnochen, je ein Handgelenk und einStück vom Oberschenkelknochen. 52Tüten für 52 Tote. »Diemüssenwir allenoch auf ihr Alter testen«, sagt Argo.Ob es am Ende helfen wird, herauszu-finden, wer die Menschen waren, weißsie nicht. »Wir sammeln so viele Infor-mationen wie möglich.«Für eine Identifizierung müssen dienach dem Tod gewonnenen Informa-tionen mit Proben verglichen werden,die aus dem Leben der Toten stammen.WennMenschen beimAbsturz eines Li-nienflugzeugs sterben, lassen sich Ver-wandte über Passagierlisten ausfindigmachen. Die werden für einen DNA-Test eingeladen oder schicken Probenihrer Angehörigen. Zahnbürsten oderHaarlocken zum Beispiel.

Flüchtlingsboote haben keine Pas-sagierlisten. Außerdem kommen vieleder Toten aus Ländern, in denen mannicht einfach Verwandte anrufen kann.Im vergangenen Jahr wollten Forensi-ker die Toten eines Schiffsunglücks vorLampedusa 2013 identifizieren, mehrals 350 Menschen starben damals. DieÄrzte baten die Verwandten vermissterFlüchtlinge, nach Italien zu kommen.Rund siebzig kamen – aus Frankreich,Deutschland, der Schweiz, sie konnten28 Opfern einen Namen geben. Aus Sy-rien oder Eritrea kam niemand.

Vier Tage nach der Havarie, bei derdie Frau in Schwarz ums Leben kam,besucht Milazzo die Überlebenden imAuffanglager. 352 Menschen konntedie Marine aus dem Wasser retten, siekommen aus 13 verschiedenen Ländern,unter anderem Syrien und Eritrea. Viel-leicht hat jemand die Toten gekannt?

Antonetta Lanzarone ist Assistenzärztin am gerichtsmedizinischen Institut von Palermo.In den letzten fünf Jahren hat sie mehr als 200 tote Geflüchtete obduziert.

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Milazzo liest die Steckbriefe vor, die dieGerichtsmedizin ausgefüllt hat. Größe,Alter, Kleidungsstücke, Narben. Dol-metscher übersetzen, Milazzo sprichtnur Italienisch. Drei Stunden dauert es,bis er alle Steckbriefe vorgelesen hat.Doch viel Erfolg hat er nicht. Viele derGeretteten sind schon weitergezogen,haben sich auf denWeg nachNordeuro-pa gemacht. AmEnde kannMilazzo nurdrei der 24 Toten identifizieren.Wenige Tage nach der Obduktionfindet imKrankenhaus eine Trauerfeierstatt. Priester, Imam, einige Polizistenund Journalisten. Nur wenige Minutendauert die Andacht, dann werden dieToten auf Friedhöfen derUmgebung be-graben, je nachdem, wo gerade Platz ist.

Die Ankunft der Flüchtlinge ver-ändert die Ordnung auf den Friedhö-fen Siziliens. Der Friedhof des nahegelegenen Catania ist so groß wie ein

Stadtviertel. An breiten, geteerten We-gen reihen sich blumenüberschütteteGräber, darüber wachen Heiligensta-tuen. Wer es sich leisten kann, bautseiner Familie hier ein Mausoleum, sogroß wie ein kleines Einfamilienhaus.Mitarbeiter von Unternehmen werdenin firmeneigenen Gräbern beerdigt,Gebäude wie Wohnblöcke, über derenEingängen die Namen der ehemaligenArbeitgeber stehen.Die Flüchtlingsgräber liegen am hin-tersten Ende des Geländes, auf einersonnenverbrannten Wiese hinter denFirmenmausoleen. In langen Reihenragen Grabhügel aus der Erde, dane-ben Äste und Zweige von Bäumen undSträuchern. Auf einigen der Hügel wu-chert Unkraut, andere scheinen erst vorkurzem aufgehäuft zu sein. In denmeis-ten, das zeigen kleine Messingschilder,liegen drei Särge übereinander. Insge-samt sind über hundert Flüchtlinge in

Catania begraben. Einen Grabstein mitNamen hat nur eine der Toten. Alleanderen sind Nummern – PM 3900 06,PM 3900 07, CT 24, CT 23, CT 22. Wassie bedeuten, weiß der Friedhofsarbei-ter nicht, der am Rand derWiese steht.Die Schilder seien von der Stadt gelie-fert worden, er habe sie lediglich in dieErde gesteckt. Ob jemand die Gräberbesuche? Bisher seien nur Journalistengekommen.Wer in diesem Sommer durch sizilia-nische Städte geht, bekommt vom gro-ßen Sterben vor der Küste nichts mit.Die Anonymität steht im Kontrast zuröffentlichen Trauer, mit der man sonstauf Sizilien der Toten gedenkt. Wennein Sizilianer stirbt, geht das alle etwasan. An einem Haus in Catania, in demvor kurzem ein junger Mann verstor-ben ist, haben seine Verwandten einBanner von der Größe eines Bettla-kens angebracht. Lasergedruckt lächelt

Die Forensiker nehmen Gewebeproben, in den Laboren stapeln sich die Objektträger.Auf dem Friedhof von Catania kennzeichnen nummerierte Metallschilder die Flüchtlingsgräber.

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der Verstorbene in die Straße, in derer früher lebte. Immer wieder kommtman an den »annunci funebri« vorbei,Anschlagtafeln mit den Todesanzeigender Gemeinde. Foto, Name, Sterbeda-tum, und das ewige Licht leuchte ihnen.Darunter stehen die Namen der Trau-ernden: Eltern, Geschwister, Kinder.Zur Beerdigung kommen auf Sizilienselbst entfernte Bekannte. Trauern istGemeinschaftsdienst.

Es kommen immer neueMenschenan, ständig gibt es neue Fälle für dieAnti-Schleuser-Einheit. Anfangs arbei-tet Milazzo in Vollzeit an der Identi-fizierung seiner Toten – doch nur fürwenige Tage. Dann wird er abgezogen.Doch Milazzo lässt das Schicksal derMenschen nicht los. Er arbeitet weiter,nach Feierabend. Manchmal schläft ernachts nur eine Stunde.Er findet heraus, dass auch die Mari-ne Fotos gemacht hat, gleich nach derBergung der Ertunkenen. Er öffnet ei-nen anderen Ordner auf seinem Com-puter, beginnt wieder, durch Bilder zuscrollen. Diesmal sind die Gesichter derMenschen bleich, umrahmt vom Gründer Leichensäcke. Milazzo biegt eineBüroklammer zwischen seinen Fin-gern. Auf einem Foto blickt eine Fraumit weit aufgerissenen, leeren Augenin die Kamera. Sie hat Schaum vor demMund, der Sack fällt um ihr Gesicht wieein Kopftuch.Er biegt das Ende der Klammer nachoben, dreht sie zwischen seinen Fin-gern. Ein anderes zeigt einen Leichen-sack, in dem zweiMenschen liegen: EinMann, ausgestreckt, auf seiner Schulterein Baby. Milazzo biegt die Klammerwieder nach unten. Die Fotos der Ma-rine erinnern an Heiligenbilder, dieman in Sizilien überall am Straßenrandsieht: Madonna im Gebet, Christopho-rusmit dem Jesuskind auf der Schulter.Nur kurz zeigtMilazzo die Fotos. »Mandarf nicht im Bild drinbleiben«, sagt er.Die Büroklammer bleibt verbogen aufdem Tisch liegen.Er selbst sieht sich die Toten fasttäglich an. Er durchsucht das Internetnach Vermisstenanzeigen, beobachtetFacebook-Feeds undNachrichtenseitenaus Syrien, Libyen und Tunesien. Auf

einer syrischen Internetseite findet ereine Listemit 109 Vermissten. Er schicktFragebögen an Menschen, die suchenund erhält 170 Antworten, mit BildernundNamen. Er lässt sich von der Polizeidie Handys der Toten geben. MancheSpeicherkarten hat das Meerwassernicht zerstört. Milazzo durchsucht sieund findet, wasman auf Handys immerfindet: Fotos.Er öffnet einen Ordner auf seinemDesktop. Auch die Frau in Schwarzhatte Bilder gemacht und sie auf ihremNokia gespeichert. Das erste zeigt sie ineinemWohnzimmer. Unter einem rotenKopftuch schaut sie schräg nach obenin die Kamera, Selfiepose, ernster Blick.Ein anderes zeigt sie inmitten einerGruppe von Freunden, fünf Frauen mitKopftüchern und drei Männer lächelnden Fotografen an. Milazzo untersuchtdie Fotos auf Hinweise, vergleicht siemit den Bildern, die ihm die Marinegegeben hat.Er liest die Sim-Karten der Handys

aus und ruft die zuletzt gewähltenNum-mern an. Auf Listen hat er zusammen-gefasst, was dabei herauskam – erreicht,belegt, Leitung tot. Die Liste der Toten#13 füllt mehr als eine Seite.Er erstellt ein Facebook-Profil, mitdem hellblauen Boot als Coverfoto.Dort stellt er Ausschnitte von Fotosonline, Details wie Kleidungsstückeund Schmuck. Er lernt einige BrockenArabisch, um nach den Vermissten fra-gen zu können: Wer kennt jemandenmit einer Narbe am rechten Arm oderan der rechten Schulter?Wer kennt diePerson, die dieses grün gestreifte Shirttrug? Bitte per Privatnachricht kontak-tieren. Mehr als fünfhundertMenschenfolgen der Seite.

SeinenAbschlussbericht schreibt An-gelo Milazzo im November 2015. Er hatmehr als dreitausend Überstunden ge-macht. Ob es sich gelohnt hat? Er lächelt,zum ersten Mal an diesem Tag, nimmtsein Handy aus der Tasche und wischtdurch einenWhatsapp-Chat. Bilder vonbunten Blumen reihen sich aneinander.JedeWoche bekomme er die, von einemsyrischen Anwalt, demBruder eines derToten, die er identifiziert hat. Daruntersteht, auf Arabisch: Danke.

Eigentlich aber sei es bei seiner Arbeitummehr gegangen. »Die Namen zu su-chen, ist ein Akt der Menschlichkeit«,sagt er.Ohne die Gewissheit, was aus ihrenVerwandten geworden ist, können dieFamilien in den Heimatländern nichtum sie trauern. Frauen brauchen denTotenschein ihres Mannes, um wiederheiraten zu dürfen. Milazzo nennt diefehlende Identität der Toten »Limbus«.Dante Alighieri benutzt dasWort in der»Göttlichen Komödie« als Namen fürdie Vorhölle, den Ort für die Seelen, dieweder im Himmel noch in der Unter-welt ihren Platz finden. Der erste Kreisder Hölle ist die Ungewissheit.WasMilazzo nicht sagt:Wenn er vom»Limbus« spricht, meint er auch seineeigene Ungewissheit.Am Ende hatte er 21 der 24 Totenzweifelsfrei identifiziert. 19 von ihnenkommen aus Syrien, je einer aus Ma-rokko und Ägypten. Auf ihren Ordnernstehen heute Namen, bei zwei weite-ren wartet er nur noch auf den DNS-Vergleich.Wer die Frau in Schwarz ist, weiß erimmer noch nicht. Auf ihrer Akte, im-mer noch: »Vittimo #13«. Dabei hatte erschon ganz zu Anfang eine Spur. Aufdem Gruppenfoto mit den lächelndenFrauen erkannteMilazzo die Eritreerin,die amTag, als das Schiff mit den TotenamHafen vonAugusta anlegte, verzwei-felt nach ihrer Schwester gesucht hatte.Ihren Namen kennt er nicht, nur ihreNummer: »Überlebende 224«.Als er versuchte, sie im Auffangla-ger zu treffen, war sie verschwunden.»Wohl nach Norden weitergezogen«,sagte man ihm. Auf dem Nokia von #13fand er auch eine deutsche Nummer.Milazzo rief an. Kurzes Tuten, dann:»Die gewählte Rufnummer ist nichtvergeben«.Wenige Wochen, nachdem AngeloMilazzo seine Geschichte erzählt hat,landet ein Schiff im Hafen von Sira-cusa. An Bord sind sieben Tote. Es istder 8. September 2016. Seit Milazzovor neun Monaten seinen Abschluss-bericht geschrieben hat, sind mehr als3000 Menschen im Mittelmeer gestor-ben. Die meisten von ihnen sind nichtidentifiziert.

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CollectionsAspesi, Barena, Boglioli, Céline, Christophe Delcourt, Common Projects, CristaSeya,Dries Van Noten, E15, Felisi, Giorgio Brato, Isaac Reina, Issey Miyake, Kolor, KostasMurkudis, Leica, Ludwig Reiter, Lutz Huelle, Mackintosh, Maison Margiela, Marni,Marsèll, Michael Anastassiades, Mykita, Neri, Nina Ricci, Nymphenburg Porzellan,Officine Generale, Oyuna, Roberto Collina, Rosa Maria, Samuel Gassmann, SaskiaDiez, Society, Sofie D’Hoore, Stephanie Schneider, Susanne Kaufmann, The Row,

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Dieser Mann ist derKlassensprecher der Politik –langweilig, aber er verändertdie Welt zum Guten.Fabian Federl findet:das perfekte Idol

Text Fabian FederlIllustration Uli Knörzer

»Ichwäre gerneuncool und unironisch.So wie PeterAltmaier«

V or zwei Jahren, auf den Stufen der Volks-bühne: Wir waren noch ganz beflügeltvom Widerstandsgeist der Vorstellung,tranken Spätibier und stritten über die

eben gehörten Thesen. Über die Entflechtung von Frei-heit und Liberalismus, dem »unüberschreitbaren Ho-rizont unserer Zeit«. Kleiner hatten wir’s nicht. In ba-rocker Weltbeschimpfung probten wir die Dissidenz,planten die ganz große Rebellion. Dann zogen wir unsdie Mäntelkragen in den Nacken und gingen durch dieHerbstkälte nach Hause – wir hatten alles durchschaut.Seit jenem revolutionären Abend trat eine Freundinin die SPD ein und besuchte kein einziges Treffen. Eineandere vergaß auf demWeg in den Schweden-Urlaubihre Wahlunterlagen zu Hause. Und ich habe mir vondrei verschiedenen Parteien Beitrittsformulare zuschi-cken lassen. Und dann versehentlich mit alten Zeitun-gen ins Altpapier geworfen.Und immer, wennwir wieder darüber sprachen, ver-teidigten wir nicht unsere Faulheit oder rechtfertigtensie, sondern wir entfernten uns ironisch davon. Wirseien halt jene »Kellerbewohner«, wie Hillary Clintonalle nach 1980 Geborenen nannte. Als »narzisstisch,verschwenderisch und gierig« charakterisierten unsSozialforscher. Unsere politischen Ansichten »erge-ben keinen Sinn«, schreiben Magazine. In Zeiten, indenen eine gruselige »schweigende Mehrheit« ihreHerrschaftsansprüche geltend macht, Länder spaltetund pöbelnde Präsidenten wählt, beschweren wir uns,dass die Alten uns Jungen dieWelt kaputtmachen. An-statt wirklich wählen zu gehen.Diese gefühlte und gespielte Unzuständigkeit ist einGewächs jener distanzierten Coolness, die schon im-mer mit Ironie verwoben war, in nahezu allen Subkul-turen der vergangenen Jahrzehnte. Bei Beatniks, Punks,Grungern, Hipstern. Manwar cool, wennman sich

selbst und alles andere nicht so ernst nahm,über den Dingen schwebte. Uncool, daswaren die, derenÜberzeugung nacktim Raum stand, die das Faktischeverwalteten: Klassensprecher,Jungpolitiker, AStA-Kader.Kein deutscher Politikerverkörpert diesen Typuswie Peter Altmaier. Alt-maier ist DeutschlandsKlassensprecher. Die hel-fende Hand der Lehrerin.Er zeigt keine Steinbrück-Gabriel-Mittelfinger. Erwirkt sogar neben seinerChefin nüchtern.Altmaier ist 58 Jahre

alt, zu seinen Hobbys ge-hören Bismarck und An-tiquitäten. Er ist nicht gut

gekleidet, spricht oft unnatürlich laut. Wenn er seinenKörper auf die Bühne wirft, dauert es nicht lange, dawischt er sich mit einem weißen Stofftaschentuch dieGlatze. Der Kanzleramtschef organisiert »praktischeRegierungsarbeit möglichst geräuschlos« (»Focus«), erist »ein wandelnder Vermittlungsausschuss« (»FAS«).Sein Motto: »Dienst ist Dienst« («FAZ«).Peter Altmaier erinnert mich an einen Klassenka-meraden, der sich an Diskussionen immer engagiertbeteiligte und nach der Stunde mit dem Lehrer nochweiter diskutierte. Nicht, um auf sich aufmerksam zumachen, sondernweil ihn das Thema interessierte. DerBesserwisser, mit einem etwas zu ernsthaften Interessean der Sache. Und auf dem Schulhof warteten die sozi-alen Alphas und lachten ihn aus.Über kaum einen Politiker werden so viele Witze

gemacht wie über Peter Altmaier, Übergewicht, Sprach-fehler, es ist ja auch einfach. Kürzlich sah ich auf You-Tube ein altes Video von Deutschlands ObersatirikerMartin Sonneborn. Für seine – natürlich ironisch be-titelte – Sendung »Sonneborn rettet die Welt« traf ersich mit Altmaier in dessen Büro.Altmaier steht dawartend imRaumherum, als die Ka-mera reinschwenkt. Sonneborn fordert ihn auf, mit ihmCO2-Zertifikate zu verbrennen, um so deren Preis in dieHöhe zu treiben. Altmaier fragt erst einmal, ob die Zer-tifikate echt seien. Dann kommentiert er den Preis vonCO2, das Verbrennen verweigert ermit Verweis auf denBrandschutz. Als Zuschauer fühlt man, wie Sonnebornsich viel mehr versprochen hatte, einen Ausrutscher,einen unbedachten Kommentar oder zumindest die Bil-der, wie Altmaier in seinem Büro herumkokelt. Abernichts da. Sonneborns Jetzt-mach-doch-mal-mit-Lächelnversendet sich, prallt ab an Altmaiers höflicher, aberbestimmter Art. Ein Fels der Ernsthaftigkeit, der physi-schen, rhetorischen, strategischenUnerschütterlichkeit.Als Peter Altmaier 1993 zum »Generalsekretär derVerwaltungskommission für die soziale Sicherheit derWanderarbeitnehmer« ernannt wurde, erschien in denUSA gerade David FosterWallaces »EUnibus Pluram«.Darin skizzierte der Autor die Notwendigkeit des »neu-en Rebellen« in einer durchironisierten Welt. Einen,der »die kindliche Frechheit besitzt, Eindeutigkeit zu-zulassen und umzusetzen«. Der neue Rebell erträgtdas Gähnen und die schiefen Blicke. Gelächter pralltan ihm ab, seine Aufgabe wird nicht durch Coolness,Verfremdung und Distanz verwässert. Seine Aufgabeist seine Aufgabe, Punkt.Daran will ich mir ein Beispiel nehmen. Die nächsteDiskussionsreihe an der Volksbühne heißt »Ordnungund Anarchie«. Wir werden wohl wieder auf den Stu-fen vor dem Theater sitzen und pompös vor uns hindiskutieren. Diesmal aber werde ich aufstehen, mit demFeuerzeug gegen die Flasche klopfen, mir Aufmerksam-keit erräuspern und rufen: »Ich habe mir wieder Bei-trittsformulare zuschicken lassen!«

Fabian Federl,geboren 1987in München,ist freier Jour-nalist undÜbersetzer

Foto:H

endrikLehm

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TAGESSPIEGEL Berliner 35

AM ANFANGWAR DAS KLEBEBANDTomás Saracenos Installation »Museo Aero Solar« besteht aus tausenden gebrauchten Plastiktüten.

An sonnigen Tagen fliegt das Gebilde, ohne Gas oder Motor, nur durch die Kraft der Thermik.Andere von Saracenos Ballons können Menschen tragen.

36 TAGESSPIEGEL Berliner

Tomás Saraceno ist einer derwichtigsten Installationskünstler der Welt.In seinem Berliner Atelier Skulpturen bauen?Reicht ihm nicht. Gemeinsam mit der NASA

will er die Menschheit retten

TEXT JAN OBERLÄNDER

WHITE SANDS, NEWMEXICO, 2015Vorbereitungen für den Flug der Skulptur »D-O AEC«. Mehr als ein Dutzend Menschen schwebten mit ihr in den Himmel –

auch der Künstler selbst. Bei der Entwicklung seiner Null-Emission-Ballons hat Tomás Saraceno mit der NASA,der französischen Raumfahrtagentur und dem Massachusetts Institute of Technology zusammengearbeitet.

VIELE HÄNDE, VIELE KÖPFEDie großen Ballons müssen von Teams in die Luft gebracht werden. Tomás Saraceno kontrolliert das Innere von »D-O AEC« (links unten).

Das »Aerocene Explorer«-Set passt – samt Ballon und Sensoren zur Messung von Klimadaten – in einen Rucksack.

40 TAGESSPIEGEL Berliner

ES GEHT NICHT NUR UMS FLIEGENEs geht darum, den Planeten besser zu verstehen. Seine Geschwindigkeit, seine Atmosphäre.

Nicht allein aus Forscherdrang, sondern um zu lernen, im Einklang mit der Erde zu leben. Saraceno setzt dem vom Menschendominierten Zeitalter von Raubbau und Verschmutzung das »Aerocene« entgegen – das Zeitalter der Luft.

W er genau hinschaut, kanndie Aufschriften lesen:Aldi, Rewe, Mediamarkt.In Rechtecke geschnitten

und aneinandergeklebt, ergeben hundertedieser gebrauchten und weggeworfenenPlastiktüten einen haushohen Ballon, eineSkulptur, ein wissenschaftliches Experi-ment, wie auch immer man es sehen will.Das »MuseoAero Solar« des aus Argen-tinien stammenden, aber in Berlin an derRummelsburger Bucht arbeitendenKünst-lers Tomás Saraceno fliegt. Ohne Motor,ohne Gas, ohne Solarzellen, nur durchdie Kraft der Thermik. Es braucht nur einpaar wärmende Sonnenstrahlen, den Resterledigt der Temperaturunterschied zwi-schen der Luft innerhalb und außerhalbder Plastikschicht.2007 ist die erste Inkarnation des »Mu-seo Aero Solar« in Mailand in die Luftgestiegen. An mehr als 20 Orten hat Sa-raceno seitdem gemeinsam mit lokalenFreiwilligen den Ballon erweitert. Recyc-ling ist dabei ein nützlicher Nebeneffekt.Eigentlich geht es Saraceno um etwasanderes, Größeres. Nämlich darum, dieWelt zu retten.In zwei Atelierhäusern und mit rund40 Mitarbeitern forscht Saraceno schonan der nächsten Stufe des thermischenFliegens. Für sein neuestes Projekt »Ae-rocene« hat Saraceno komplexe Ballonsentwickelt, aus schwerem, schwarzemRipstopnylon oder transparenten Kunst-stoffen. Größere Modelle, das beweisendie Fotos von den Testflügen, können so-garMenschen tragen. Auch Saraceno ließsich nach oben tragen, 2015 in der Wüstevon New Mexico. Das Fluggerät war amBoden festgebunden, aus Sicherheitsgrün-den durften die Passagiere nur fünfMeterhoch aufsteigen.Aber die Skulpturen können auch Stre-cke machen. Im August schwebte einervon Saracenos Ballons von Berlin in achtStunden bis ins nordöstliche Polen, 800Kilometer weit. Am Tag hebt die Sonneden Ballon in die Höhe, nachts sinkt er ab,wird aber getragen von der Infrarotstrah-lung, die die Erdoberfläche abgibt.Das Fliegen ist kein Selbstzweck undkeine ästhetische Spielerei. Saraceno will

verstehen, wie der Planet funktioniert –um richtig auf ihm leben zu können. Da-für arbeitet er mit der NASA zusammen,mit der französischen RaumfahrtagenturCNES, mit dem Massachusetts Institutefür Technology.Genauermüsste man sagen: Die Institu-te arbeiten mit ihm zusammen. Denn dieNull-Emission-Ballons lassen sich hervor-ragendmitMessgeräten ausstatten, um dielängst nicht ausreichend erforschte untereStratosphäre zu erkunden, die Ozonkon-zentration zu überwachen, Luftströmun-gen zu kartieren.Das nutzt der Wissenschaft, aber auchSaracenos Mission. »Aerocene« bedeutet»Zeitalter der Luft«. Saraceno will es ein-läuten, als Gegenentwurf zum vom Men-schen dominierten »Anthropocene«, demAnthropozän.Umweltverschmutzung, Klimawandel,Kriege um Rohstoffe – all dem setzt Sa-raceno eine so simple wie herausfordern-de Idee entgegen: Nachhaltigkeit. »Wennmeine Skulpturen fliegen«, sagt er, »sindsie nicht so gewalttätig wie zum BeispielRaketen. Sie treiben in der Luft.«Sind Sie für Ihre Arbeit zum Ingenieurgeworden, Herr Saraceno? Herzliches La-chen: »Im Gegenteil! Das Stichwort heißt›de-engineering‹!Wir denken heute dochnur noch mechanisch. Wenn wir unsereWäsche trocknen wollen, stecken wir siein eine Maschine, statt sie in die Sonnezu hängen.«Tomás Saraceno hat in seiner Karriereviele Projekte verfolgt, immer zwischenKunst, Architektur und Naturwissen-schaft. »Aerocene« ist sein umfassendstes.Denn natürlich ist er nicht einfach ein en-

gagierter Bastler oder Öko-Enthusiast. Erhat eine Vision, die weit über das Irdischehinausfliegt.Am Ende von »Aerocene« steht fürSaraceno die Utopie von den »Cloud Ci-ties«, seifenblasenförmigen Städten imHimmel, Rettungsbooten für das sinkendeSchiff Erde. Eine Provokation, das weiß erselbst. Luftschlösser. »Aber man kann esauch so sehen: Wenn wir gelernt haben,wie man Wolkenstädte baut, dann habenwir vielleicht gelernt, wie wir auf der Erdeleben können. Es ist ja unmöglich, da obenzu existieren, wennman nicht im Einklangmit dem Planeten ist.«Viel wichtiger als das utopische Ziel istdie Reise dorthin. Und dass es nicht dasProjekt eines einzelnen Künstlers bleibt.»Es wäre arrogant zu denken, dass eineganze Epoche von einer einzelnen Persongeprägt werden könnte«, sagt Saraceno.»Aerocene« sieht sich als Community,es gibt eine Website für Ankündigungen,eine Facebook-Seite, über die sich Fansorganisieren – um vielleicht irgendwannselbst über der Erde zu schweben.Saracenos neueste Erfindung: der»Aerocene Explorer«. Das als Rucksacktransportable Set soll jedemMenschen er-möglichen, eine eigene Skulptur steigenzu lassen, um Messungen vorzunehmenund sie in den gemeinsamen Datenstromeinzuspeisen. An dem Ballon hängt einePlastikflasche, in die Temperaturfühlereingesetzt werden können, GPS-Tracker,Kameras oder Sensoren für Luftver-schmutzung.Noch gibt es nur ein Dutzend Testver-sionen, aber gerade im Oktober wurdenHard- und Software des Sets bei offenenWorkshops in London weiterentwickelt.Kommendes Jahr sind Flüge in Argen-tinien, Dänemark, Großbritannien undDeutschland geplant.Sind Künstler und Hobbyforscher dieletzte Hoffnung des Planeten? Zunächstgeht es um Austausch, um Kreativität– aber auch um Spaß. »Vielleicht ver-anstalten die Leute ja irgendwann Bal-lon-Wettrennen auf den verschiedenenLuftströmungen«, sagt Tomás Saraceno.»Wer weiß, vielleicht gibt es sogar eineFormel 1 mit Ballons!«

Als Tomás Saraceno, 43, vor einigen Jahren NASA-Ingenieuren erzählte, man könne innerhalb von 24 Stunden aus alten Plastiktüteneinen Ballon zusammenkleben, der einen Menschen in die Luft trägt, sagten die: Das geht nicht. Geht aber. Fo

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42 TAGESSPIEGEL Berliner

Die Kunstdes schenkensDie Besten Geschenke und die schönsteEinpackstation der Stadt im Bikini Berlin

Berlin ist heute Sehnsuchtsort für junge Schwule weltweit.Der in Teheran geborene, in New York aufgewachsene und heutein Berlin lebende Fotograf ASHKAN SAHIHI hat für seine Serie

»Beautiful Berlin Boys« junge Männer porträtiert,die erst hier zu sich selbst gefunden haben.

Ein fotografisches Plädoyer für Freiheit und Offenheit,für Zugehörigkeit und Toleranz

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O L I V E R

»Ich stamme aus einem 1500-Seelen-Dorf in Schwaben, nicht weit vonRavensburg. Alles war klein und sehr katholisch und es gab niemanden,der für mich als jungen Schwulen ein Vorbild gewesen wäre. Dieses Lebenfand ich sehr schwer zu akzeptieren. Meine Oma wusste schon, als ichkleinwar: Der ziehtmalweg, der kommt nichtwieder. Als ich vor neun Jah-ren nach Berlin kam, war mir selbst gar nicht klar, dass ich nach einemOrtsuche, an dem ich dazugehöre. Ich wollte nur weg aus dem Dorf. Eigent-lich war Berlin eine zufälligeWahl, einfach weil ich hier einen Studienplatz

bekommen habe. Erst als ich dann zwischenzeitlich nach Hamburg gezo-gen bin, habe ich gemerkt, wie sehr mir die Stadt fehlt. Es ist die Freiheit.Es gibt eine Art Berliner Gleichgültigkeit, die sehr angenehm ist – weil in ihreine große Gleichwertigkeit steckt. Hier ist es im Grunde egal, wie du bist.Jeder darf so sein, wie er will. Das Vielfältige ist das Normale, das finde ichsehr angenehm. Die Menschen sind hier meistens respektvoll, ohne dassich das Gefühl habe, dass sich alle die ganze Zeit beweisen müssen, wietolerant sie sind.«

TAGESSPIEGEL Berliner 45

»Ich hatte Fernweh nach Berlin, obwohl ich noch nie hierwar, schonmit 13. Eine Schulfreundin war oft hier, sie hat mir immer Postkar-ten geschrieben. Als ich dann das erste Mal am Hauptbahnhofstand, musste ich erstmal schreien, ich hatte ein 50-Zentimeter-Affengrinsen im Gesicht. Vor fünf Jahren bin ich hergezogen, ausNiedersachsen. Inzwischen bin ich angekommen, aber andere Län-der reizen mich auch, New York, Neuseeland. Für meine Jugend istBerlin toll, aber ich werde hier sicher nicht alt werden.«

»São Paulo, wo ich aufgewachsen bin, ist auch eine Großstadt. Aber dort hat mir bei aller Größe im-mer gefehlt, mit sehr unterschiedlichenMenschen in Kontakt zu kommen. Mein Umfeld war relativhomogen und ich habe immer gespürt, dass das nicht alles ist. Homosexualität war dort immer einblödes Klischee, deshalb hatte ich dort keine Vorbilder und keine Unterstützung, ummich outen zukönnen. Ich war von Anfang an von Berlin fasziniert, weil die Menschen hier so unterschiedlich sindund dochmiteinander leben. Hier kann ich sein undmich ausdrücken, wie ich möchte. Ich kannmitmeinem Freund Händchen halten. Seit ich in Berlin lebe, habe ich das Gefühl, dass ich mich selbsterforschen und mich von den Erwartungen meines Umfeldes lösen kann.«

C H R I S T I A N

ROD R I G OAshkan Sahihi

BEAUTIFUL BERLIN BOYSBildband, 48 Seiten, 35 Euro,erschienen im Kehrer Verlag.

Ausstellung in der Kehrer Galerie,Potsdamer Straße 100,

3.Dez. 2016 bis 28. Jan. 2017

46 TAGESSPIEGEL Berliner

S E P E H R

»Ich habe Teheran, die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin,immer geliebt. Trotzdem wollte ich immer weg, spätestens als ich mit derUniversität Probleme wegen meines politischen Engagements und meinerHomosexualität bekommen habe. Die Liebe zu Teheran war sofort vorbei,als ich nach Berlin kam. Heute denke ich, dass ich im Iran eigentlich bloßzur Welt gekommen bin, Wurzeln habe ich da keine mehr. Es ist, als wäreich in Berlin neu geboren worden. Dabei war der Beginn in Deutschlandschwer. Ich musste ein Jahr in einem Dorf in Sachsen verbringen, in dem

ich überhaupt kein Leben hatte, bevor ich meinen Freund geheiratet habeund nach Berlin gekommen bin. Ich war fasziniert, wie schwul die Stadt ist.Natürlich habe ich auchmal gehört, dass jemand ›Schwuchtel‹ gerufen hat,aber was soll‘s. Ich kann mir mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, irgend-wo anders zu wohnen. Selbst wenn ich beruflich nur für einen Tag wegfah-re, freue ich mich zurückzukommen. In Berlin bin ich frei. Das Größte ist,an einem Sommertag mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. DiesesGefühl. Das wäre in Teheran aus so vielen Gründen gar nicht möglich.«

TAGESSPIEGEL Berliner 47

Interview Frederik Hanssen & Jan Oberländer

Vor ihm das Orchester und imRücken das Publikum:Der DirigentAntonelloManacorda fühlt sich oftziemlich durchgerüttelt. Ein Gespräch über Aerobic

am Pult, die Aktualität alterWerke undFurtwängler auf Youtube

»Ich bin eineScheibe Salami

zwischen zweiEnergien«

HerrManacorda, wenn Sie einePartitur zum erstenMal lesen –wie klingt die für Sie?Stellen Sie sich vor, hier liegt ein iPhone,auf dem ein Radioprogramm läuft – undauf dem iPhone liegt ein Kissen. Ich höreeinen gedämpften Klang von dem, wasich lese. So, wie ich gerade, während wirsprechen, ein Quintett aus dem »Barbiervon Sevilla« imKopf habe. Es gibt immereinen Soundtrack in meinem Leben.

Und auf IhremTelefon?Ich höre nie Musik. Manche Leute ma-chen das abends nach der Arbeit, zur Ent-spannung. Für mich wäre es das Gegen-teil. Es wäre nur zusätzliche Information,irgendwann explodiere ich.

Aberwenn Sie neue Stücke probenwollen, ein Programm zusammen-stellen, müssen Sie dieMusik dochvorher anhören.Was ich meistens mache, ist auf Youtu-be recherchieren, checken, wie ist diesesStück, okay, so. Mal hier reinhören, malda. Und dann besorge ichmir die Partitur.Die ist mir wichtiger, als jemand anderemzuzuhören.

Das Notenblatt ist lebendigerals das Internet-Video?Die Partitur klingt! Es gibt Leute, die fra-gen, ob ich ein Klavier zu Hause habe.Ich habe kein Klavier. Ich lerne vomBlatt.

Und das Orchester spielt untermKissen in IhremKopf.Ja! Man lernt, viele Stimmen zusammenzu lesen. Nicht alles hörtman sofort. Manstudiert eine Partitur ja für eine gewisseZeit, drei Tage oder drei Monate. Klar,manchmal muss ich kurz eine Aufnahmeanhören. Ich denke: Dieses Allegro ver-stehe ich nicht, was ist das für ein Tempo?Mal sehen, was Furtwängler da gemachthat – als ob ich ins Lexikon schaue.

Und das hilft?Es gibt nicht die eine richtige Lösung.Als Dirigent lernt man lebenslang. Ichhabe immer das Gefühl, dass alles, wasich mache, eine große Suche ist. Und ichweiß, dass ich auf meine Fragen nie eineAntwort bekommen werde. Das ist un-heimlich wichtig, denn sobald ich eine

Antwort habe, bin ich tot, musikalisch,künstlerisch. Je mehrman über ein Stückweiß, je mehr man liest, desto breiterwerden die Interpretationsmöglichkeiten.

Wie lassen Sie jahrhundertealtePartituren heutig klingen?Interessante Frage. Ich verstehe immernicht, wenn Leute sagen: »Popmusik,Elektro, toll! Warum macht ihr so alteMusik?« Sie ist nicht alt! Sie ist ganz mo-dern, in dem Moment, in dem sie aufge-führt wird. Man schaut einen Van-Dyck-Altar aus dem 17. Jahrhundert an und istbetroffen. Weil dieser Versuch, das Le-ben zu beschreiben, genauso mein Le-ben beschreibt. Warum spielt man heutenoch die »Hochzeit des Figaro«, warum»Hamlet«? Das sind Meisterwerke, dieden Kern des Seins betreffen. Wenn einKunstwerk nicht aktuell ist, ist es keinMeisterwerk, so einfach ist das. Warumliest man immer noch Goethe?

Heute sieht man doch höchstensim Berliner Ensemble noch den»Faust« aus demTextbuch. Bei der»Eroica« sagt niemand: Dritter Satzgestrichen, außerdem nehme ichdie Hörner raus. Theater hat dieseFreiheit.Nein, es nimmt sich die Freiheit.WirMu-siker haben einen großen Respekt vordemText, vor denNoten. Der Komponiststeht ganz oben, und wir sind hier unten.Ich gehe sehr viel in die Oper, sehr viel insTheater. Und oft frage ich mich: Waaas?Schön, eure Freiheit. Aber manchmal istsie ein Paravento, hinter dem ihr euch ver-steckt. Diese Szene ist zu lang? Zack, weg.

Was finden Sie am schwierigstenan der Notenarbeit?Zu entscheiden, was ich eigentlich zeigenwill. Und was ich zeigen muss. Denn dieMusiker brauchen manchmal einen Ein-satz, wenn vielleicht die letzte Tuba nichtdie zweite Geige hört. Ich höre alles – undkann sagen: jetzt! Es ist sehr wichtig zuunterscheiden, wannmanMusik dirigiert– und wann man Musiker dirigiert.

Sie waren selbst früher Geiger.Ja, ClaudioAbbado ludmich 1994 als Kon-zertmeister ins Gustav-Mahler-Jugend-orchester ein…

…als erste Geige, die wichtigsteOrchesterposition nach demDiri-genten. Es ist sehr selten, seineKarriere so zu beginnen.Und ich habe zuerst Nein gesagt! Ichwollte Urlaub machen. Ganz doof vonmir. Glücklicherweise hatte ich gute Leu-te ummich, die mir gesagt haben: Bist duverrückt, Abbado hat dich gerade gefragt,ob du Konzertmeister werdenwillst, unddu sagst Nein? Ich wusste einfach nicht,was das bedeutet.

Haben Sie die Proben damalsanders wahrgenommen als heuteals Dirigent?Als Konzertmeister hat man ja auch eineLeitungsfunktion, ich war immer inte-ressiert an der Führung des Gesamten.Ich hatte neben meiner Stimme immerauch die Partitur dabei. Als Dirigent istes eine große Hilfe, im Orchester gewe-sen zu sein, man hat den Insiderblick, einGefühl dafür, wenn die Konzentrationnicht mehr da ist. Wenn man probt, gehtes viel mehr umPsychologie, Diplomatie,Organisation als um Musik. Man denkt,ein Dirigent ist eine mystische Figur, dieda oben steht und aus seinerMacht etwasschöpft. Stimmt aber nicht. DieMacht istin der Partitur, in derMusik. Der Dirigentist da, um zu helfen.

Sehr bescheiden.Es ist heute nicht mehr so wie zu Ka-rajans Zeiten. Dirigenten zeigen ihreMenschlichkeit. Vielleicht sind einigenoch ein bisschen diktatorisch, aber 80Prozent sind anders geworden. Ich sagemeinemOrchester: Ich bin in der Mitte,aber ich bin nicht höher. Ich bin einMu-siker unter anderen Musikern, ich binda, um die Partitur zu decodieren, diesowieso schwer zu verstehen ist. Klar,es gibt Hierarchien. Ich bin der, der vie-le Entscheidungen treffen muss. Aberwichtig ist, dass ich zuhöre und nichtnur sage: Dumachst das, du machst das,tschüss.

Wie bereiten Sie eine Partitur vor?In den Notentext notiere ich nur tech-nische Sachen. Ein Horneinsatz hier, einTempowechsel da, ein Auftakt dort. Nichtin verschiedenen Farben, das wäre Ma-lerei. Ich nehme nur Rot, einfach, damitFo

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TAGESSPIEGEL Berliner 49

man es besser sieht. Ich bin mittlerweile46, bei Bleistift sehe ich keinen Unter-schied zur Partitur.

Und dann üben Sie das Stückmit denMusikern zusammen ein?Orchester können sehr viel alleine ma-chen. Man braucht einen Dirigent nichtdie ganze Zeit. Mein Lehrer Jorma Panu-la in Finnland sagte immer: »Help, don’tdisturb!«. Er redete sehr wenig, aberwenn da einer stand und unnötig mitdem Stab herumfuchtelte, schnarrte er:»Dirigenten-Solo!« Er meinte: Warummachst du da oben Aerobic?

Sie sagen also den Geigern nicht,wann sie mit demBogen auf- undwann abwärts streichen sollen?Eigentlich vereinbart man das zusam-men, Auf- oder Abstrich, Diminuendooder Crescendo. Es ist doch für michzu Hause unmöglich zu wissen, was dieMusiker in diesem Takt sagen wollen!Andererseits: Man kann so offen sein,wie man will, trotzdem glaube ich danneben, dieses Sforzato – also ein Akzentauf einem Akkord – ist kein Messer imFleisch, sondern eher ein Schlag mit ei-nem Stück Holz.

Wiewissen Sie denn amEnde:Sowird’s gemacht?Am Ende steht das Konzert. Es ist meineVerantwortung, dann alles zusammenzu-führen. Und obwohl ich meine eigene In-terpretation habe, passiert eben dasWun-der, dass das Sforzato sich heute so ergibtund morgen ganz anders. Auch mit den-selben Musikern im selben Saal. Weil dieBässe etwas anderes gegessen haben, weilich einenHexenschuss habe oder das Pub-likum offener ist. Eine »Eroica«-Sympho-nie fängt an mit zwei simplen Akkorden,Bam! Bam! Aber die klingen nie gleich.

Das Publikum beeinflusstden Klang?Wahnsinnig! Und die Leute wissen dasnicht! Es ist aber unglaublich wichtig,dass das Publikum das versteht. War-um sonst gehen sie ins Konzert?Weil siedann zur Elite gehören? Weil sie zeigen

Antonello Manacorda, 1970 in Turin geboren, ist Künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam und Chefdirigent des niederländischenHet Gelders Orkest. In Berlin dirigiert er als nächstes den »Barbier von Sevilla« am 4., 16. und 16. Dezember in der Komischen Oper.

können, dass sie genugGeld für eine Kar-te haben?Weil die Eltern schon gegangensind? Entschuldigung, nein.

Vielleicht lieben sie einfach dieMu-sik – undwissen gar nicht, dass siedadurch, dass sie Liebe zur Bühneabgeben, das Konzert unterstützen?Sie können auchHass abgeben. Oder garnichts, verschränkte Arme, das ist aucheine Beeinflussung.Musik lebt nur, wennein Zuhörer da ist. Es ist ein Dreieck:Komponist, Interpret, Zuhörer. Das Pub-likum unterschätzt sich sehr oft. MancheLeute gehen nicht ins Konzert, weil siedenken, naja, ich verstehe eh nichts vonklassischerMusik. Aber es geht gar nichtdarum, dass sie verstehen. Es geht darum,dass sie sich berühren lassen. Dass sieihre Seele öffnen. Das ist die Magie derMusik. Warum treffen bestimmte Tönezusammen und man fühlt etwas?

Konzertabend. Das Orchester ist da,das Publikum sitzt.Wann spürenSie, wie das Publikum gestimmt ist?Sofort. Sobald ich reinkomme und denersten Applaus höre, merke ich, welcheEnergie das Publikum hat. Und dann,wenn man einatmet für einen Auftakt.In der Musik ist die Stille ja viel wichti-ger als die Töne. Ich brauche den Raumzwischen denNoten, umTiefe zu bekom-men.Wenn ich den Taktstock hebe, fühleich wirklich, ob der Saal mit mir ist odernicht. Das ist wie eine Droge. Als Diri-gent spürt man diese Energie von hinten,am Rücken. Gleichzeitig hat man so vielEnergie von vorne, vom Orchester, manfühlt sich wie ein Sandwich. Ich bin eineScheibe Salami zwischen zwei Energien.

Wie fühlt sich das körperlich an?Bei mir ist es so, dass ich als Kind in denAugen meiner Eltern und meiner Lehrernie genug gemacht habe, nie. Lobwar fürmich sehr fremd. Darum ist für mich dasAllerrührendste, wennmanmir sagt: Dashast du gut gemacht. Ich weine, wenn ichim Fernsehen sehe, wie jemand bei Olym-pia eineMedaille bekommt. Oder jemandgewinnt einen Oscar und hält seine Dan-kesrede.Wenn ich imKonzert diese gute

Energie von hinten spüre, rührt mich dasim Tiefsten. Denn diese Energie ist auchein Dankeschön, sie bedeutet: Wir sinddabei, wir verstehen, wir fühlen etwas.Deswegen ist dieser Job auch so erschöp-fend, nicht nur physisch, sondern auchpsychisch: dieser unglaubliche seelischeProzess, wie eineWelle am Strand, vorne,hinten, vorne, hinten, man ist immer hin-und hergerissen.

Karajan hat einmal Elektroströmein seinemKörpermessen lassen –während er sein Privatflugzeug flogundwährend er »Tristan und Isol-de« dirigierte. BeimDirigierenwa-ren die Ausschläge deutlich höher.Natürlich! InMailandmit meinem erstenOrchester spielten wir einen Beethoven-Zyklus, eine große Sache für einen Diri-genten. Leiderwar ich krank, Legionellen,42 Grad Fieber, ich habe 15 Kilo verloren.Die ersten zwei Proben musste ich absa-gen, weil ich nur kotzte, danach warennoch zehn Tage Zeit für die neun Sym-phonien. Aber dann auf der Bühnemerk-te ich: gar nichts. Ich hatte das Gefühl,ich könnte alles schaffen, wie Superman.Davor und danach war ich eine Leiche.Die Musik ist wirklich ein Wunder, fürdie Zuhörer, aber für uns Musiker auch.

Was ist, wenn die Energie malnicht fließt?Es ist wie in einer Beziehung, wenn zweiLeute sich kennen lernen. In diesem Falldauert die Beziehungmit dem Publikumvielleicht zwei Stunden.Man sagt: Hallo,wie geht’s – und sofort fängt es an. Magich seine Hände? Finde ich ihre Augenschön? Vielleicht kann ich ihren Geruchnicht leiden? Im Saal können das tausendSachen sein, zumBeispiel ein zu bewegli-cher Dirigent. Ich war einmal imKonzert– ich werde keine Namen nennen – unddieses tänzerische Gehabe hat mich totalgestört, ich musste dann so machen…

…Sie halten sich die Hand vordie Augen.Das war dann meine Beziehung mitdiesem Typ. Dass ich einfach nicht hin-schauen konnte. Nur zuhören.

50 TAGESSPIEGEL Berliner

TAGESSPIEGEL BERLINER

»Manmacht es, wieman es kennt. Die Liebe

schlägt ein. Sie findet stattzwischen zwei Menschen.Sie ist ausschließlich.«

Oder?

Nr. 1November

2016

Für Berlinerinnen und Berliner. Weltweit.

Das neue Magazin des Tagesspiegels erscheint unregelmäßig.Als Tagesspiegel-Abonnent verpassen Sie es nie:

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DÄMMERUNG

Deutsche Serien sind meistens Mist.Der Drehbuchautor Stefan Stuckmann hat für uns

fünf gute Ideen entwickelt, an die sich keinSender heranwagen wird – leider

Text Stefan StuckmannIllustration Christoph Kleinstück

I m Jahr 2018 hört die Erde plötzlich auf, sich zudrehen. Die Sonne teilt von nun an immer diegleichen Erdhälften in Tag und Nacht. Von derOder ausgehend Richtung Osten bis tief in denPazifik ist es ununterbrochen greller Tag, nachWesten, quer über Europa und ganz Amerika hin-weg, zieht sich der Schatten. In der ewigenNacht,die immer kälter wird, bricht erst die Energiever-sorgung zusammen, dann gehen die Nahrungs-mittel aus. Auf der Sonnenseite dagegen wird esso heiß, dass Landwirtschaft nicht mehr möglichist. Es dauert nicht lange, und Staaten brechenauseinander. Die USA und China stürzen in dieAnarchie, während Osteuropa von Flüchtlingenüberrannt wird.In dieser dystopischen Drama-serie begleiten wir die deutscheÄrztin Hanna und ihre zwei Kinder

auf ihremWeg durch eine Welt, in der Geldnichts mehr wert ist, in der keine Gesetzemehr gelten, und in der Selbstlosigkeit schnellzu tödlichem Leichtsinn wird. Zusammen mitanderen Flüchtlingen aus Westeuropa müssensie sich zum einzigen Ort vorkämpfen, an demmenschliches Leben jetzt noch möglich ist: inden schmalen Streifen am Rand der besonntenSeite der Erde, der sich von Polen über Ungarnbis nach Südafrika zieht. Wer hier ankommt,denkt, er hätte das Schlimmste hinter sich. Undtauscht dann doch nur die eine Hölle gegen eineandere, besser beleuchtete, in der Warlords unddie letzten Reste großer Armeen um Land undRessourcen kämpfen.

Genre: Postapokalypse-RoadmovieDiese Serie ist: düster, gewalttätig, prophetisch

TAGESSPIEGEL Berliner 53

I m Berlin der Goldenen Zwanziger kommt eszwischen Jazzclubs, Ballhäusern und den ers-ten Großkinos immer öfter zumysteriösenÜber-fällen: Spaziergänger werden von tot geglaubtenGanoven überfallen, Musikern von grünenSchleimwesen die Instrumente geklaut – undauf der Damentoilette des KaDeWe öffnen sichverschlossene Türen wie von Zauberhand. DiePolizei? Ratlos. Wie so oft in jener noch vomkriegsbedingten Männermangel geprägten Zeitübernehmen Frauen den Job: Elsa Siemens, ver-stoßene Ur-Ur-Enkelin des berühmten Elektro-Patriarchen, gründet die erste deutsche »Unter-nehmung zur Beseitigung von Geisterwesen«– zunächst nur als Nebenjob zu ihrer eigentlichenArbeit als Beleuchterin am Theater.Zusammenmit drei Freundinnen – der Stumm-film-Stuntfrau Greta, der Varieté-Tänzerin Leo-nore und der Berufskommunistin Alma – kämpftElsa fortan im Berliner Nachtleben gegen Ge-spenster. Im Kampf gegen fliegendeUntote hilft den Vieren ein Arse-nal selbst zusammengelöteterAusrüstung, immer am Ran-de des technisch Möglichen(Glühbirnen! Akkus! Elek-tro-Mobile!). Doch die Geistersind nicht der einzige Gegner:Den männlichen Vorurteilendarüber, was Frauen ge-sellschaftlich eigentlichbeizutragen haben, istmit Humor deutlich bes-ser beizukommen als mitStarkstrom.

Genre: Retro-Ghost-Busterinnen-ActionDiese Serie ist: gruselig, skurril, lustig

30 Jahre in der Zukunft leben mehrere tau-send Menschen verteilt in Siedlungen

auf dem Mond, als die Erdstaaten einander ineinem Nuklearkrieg auslöschen. Politisch istdie Welt dieses Science-Fiction-Dramas schonwährend der 2030er in drei Lager zerfallen, diesich auch in denWeltraumkolonien spiegeln. Dieweltwirtschaftlich isolierten USA; China, das inerstarkten afrikanischen Staaten neue Verbünde-te gefunden hat; und eine zusammengeschrumpf-te Kern-EU, die gemeinsam mit einer Handvollliberaler Staaten versucht, mit politischem Ide-alismus das wettzumachen, was man technischschon lange nicht mehr zu bieten hat. Konntendie Bewohner der Mondsiedlungen bisher infriedlicher Ignoranz aneinander vorbei arbeiten,geht es jetzt nicht mehr um das eigene Überle-ben, sondern um die Zukunft der Spezies. Dochvor der Erkenntnis, dass man, wenn überhaupt,nur gemeinsam eine Chance hat, steht für vieledie Frage, was auf der Erde überhaupt passiertist – und wer daran Schuld hat.Friedrich LaFayette ist der deutsch-französi-sche Kommandant der bereits etwas betagteneuropäischen Station. Er ist zwar im Generals-rang, aber mit Petrischalen viel besser vertrautals mit Waffen. Ausgerechnet ihm fällt die un-dankbare Aufgabe zu, am Verhandlungstischmit Chinesen und Amerikanern eine weitereEskalation zu verhindern – und zugleich dieunübersichtliche Stimmungslage in der eige-nen Kolonie in den Griff zu kriegen. Die kon-servative EU-Abgeordnete Gabriella Newson,ursprünglich nur zu Besuch auf der Station,

wird als letzter überlebender Polit-Profi schnell zur Meinungsführerinall derer, die LaFayette für naiv undzu idealistisch halten. Shakespeare-hafte Polit-Intrigen mischen sichin dieser Serie mit utopischenAufbruchsfantasien – wo sonstkann man als Menschheit dieFehler der Vergangenheit besservergessen als auf einem ganz neu-

en Himmelskörper?

Genre:Weltraum-PolitthrillerDiese Serie ist: prophetisch, anspruchsvoll,

spannend

ELSA SIEMENS,GEISTERJÄGERIN

NEU-ATHEN

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E s ist 1982 im geteilten Berlin, im Westen derStadt mischen sich Depression, Verfall und

große Kunst, als plötzlich eine Zombie-Epidemieausbricht. Ground Zero dieser Komödie ist dieKreuzberger Punkkneipe »Blutsturz«, inder der abgebrochene Kunststudent Klaus»Ratte« Brandenburg arbeitet und lebt. Demersten Zombie, der während eines Konzertsder »Ätztussis« von der Straße aus hereintorkelt,stellt Ratte noch einen Jägermeister vor die Le-derkrawatte. Erst, als sich in den SchnapsgläsernGehirn und Doppelkorn mischt und Stammkun-din Straps-Jenny auf einmal ohne Arme dasteht,bricht Chaos aus, das sich schnell über die ganzeStadt ausbreitet.Die ganze Stadt? Natürlich nicht: Der sozialis-tische Ostteil, einreisewilligen Westdeutschengegenüber sonst extrem aufgeschlossen, stellterleichtert fest, dass die Mauer nicht nur gegenFaschisten hilft, sondern auch gegen menschen-fressende Supergruftis. Ratte, der schnell raus-findet, dass man Zombies töten kann, wenn manihnen den abgebrochenenMercedes-Stern genauzwischen die Augen sticht, verbündet sich der-weil mit dem Popper Dirk aus Bielefeld und der»taz«-Abonnentin Gisela. Gemeinsam kämpfendie drei aus einem geklauten Polizei-Auto herausund zu einem Soundtrack, der von David Bowieüber Ideal bis zu den Ärzten reicht, gegen hung-rige Untote in Neon-Leggings, Nietengürtel undTigerprint-Top.

Genre:World-War-B-Zombie-TrashDiese Serie ist: absurd, lustig, wahnsinnig ekelhaft

PUNKS VS. ZOMBIES

BRÜDER

Z ehn Jahre trennen die beiden HalbbrüderMarco und Patrizio – zehn Jahre und eine

Spielklasse. Während Patrizio sich mit 21 Jahrenin der ersten Mannschaft der Hertha geradeunverzichtbar spielt, hat Marco gerade sei-ne Fußballkarriere bei Union Berlinan den Nagel gehängt, nicht reich,aber passabel versorgt und op-timistisch. Beide sindArbeiterkinder, nochimmer tief verwurzelt inNeukölln, trotz oder geradewegen der Karriere. Dennwer einmal erfolgreich ist,der findet so schnell kei-ne echten Freunde mehr– was Marc und Paddy da-durch gelöst haben, dass sieihre Freunde einfach nie aus-getauscht haben: Philipp und Nurisind beide auf der gleichen Straßegroßgeworden wie die Brüder, der einestudiert mehr oder weniger erfolgreich Film, derandere sieht seine Zukunft je nach Stimmung inverschiedensten Berufen, die aber immer mitdem Stattfindenlassen von Partys zu tun haben.Marco hat eine 13-jährige Tochter – entsprungeneiner betrunkenen Nacht mit seiner Teenager-Liebe Jessica. Die ist inzwischen Pianistin, beideteilen sich das Sorgerecht imWochenrhythmus.Diese Dramedy bricht in halbstündigen Folgenmit überkommenen Fußballerklischees, erzähltdenGroßstadtkiez alsmoderne Provinz undNeu-kölln als verlässlichen Entschleuniger fürmännli-cheHöhenflüge. Kriegt man einen besseren Kita-Platz für die Tochter, wenn man bei Wikipediaals »Pokalheld« geführt wird? Wie erklärt manenglischen Türstehern, dass man in Deutschlandmindestens C-Promi ist? Und wer beschleunigteigentlich besser: der Ferrari vomMitspieler oderder Elektro-Kleinwagen von DriveNow?

Genre: Fußball-Sozial-DramedyDiese Serie ist: witzig, warmherzig, authentisch

Stefan Stuckmann, geboren 1982 in Kleve, schrieb für »Switch Reloaded« und die »heute-show«.Er ist Autor der ZDF-Serie »Eichwald, MdB«

Eigentlich störte Laura Zumbaum nur, dass dieSchalen der Kaffeebohne weggeworfen werden.

Jetzt jettet sie als Firmenchefin durch dieWelt,um in einem gnadenlosenMarkt zu überleben.

Ein Koffein-Krimi

Text Fabian FederlFotos Kai Müller

D ie Etikettiermaschine rattert. Eine metallene Rollebeklebt Flasche nach Flasche mit dem braun-weißenLogo: Selosoda, Selosoda, Selosoda.

Laura Zumbaum steht davor und beobachtet: Stimmt die Füll-menge? Ist das Etikett gerade? Es ist ihre Limonade, die dieMa-schine ausspuckt. Das Projekt, an dem sie seit über einem Jahrarbeitet, an dem sie anGeschmack undDesign gefeilt, für das siesich Geld geliehen hat. Es ist Juni 2015 und im Schwarzwald, 800Kilometer von Zumbaums Berliner Wohnung entfernt, laufendie ersten Flaschen vom Band.»Ich wusste damals nichts«, sagt Zumbaum. »Vielleichtschmeckt die Limo ja keinem? Vielleicht kippt man um, wennman zehn Flaschen davon trinkt?« Da half nur: ausprobieren.Sie lud die ersten 4000 Flaschen in ihren Mietwagen und fuhr

zurück nach Berlin. Aber was sich damals wie ein Sprungins kalteWasser angefühlt habenmuss, war imRückblicknur das Eintauchen des kleinen Zehs.

Frisch gepflückt. Jede Kaffeekirscheenthält zwei Bohnen, die verarbeitetwerden. Schalen und Fruchtfleischlanden im Müll. Dabei sind sie

durchaus genießbar.

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Laura Zumbaum ist Kaffeeliebhaberin. Ihre Diplomarbeitschrieb sie über Nachhaltigkeit in der Lebensmittelbranche,arbeitete bei Onlineshops für fair gehandelte Bohnen, lernteRöster und Großhändler kennen und verstand, wie der Marktfunktioniert, vomAnbau zur Logistik bis zur fertigen Tasse. Sieist 27 Jahre alt, trägt ihre blonden Haare offen und spricht auf-fällig beherrscht. Wenn sie merkt, dass sie ins Plaudern gerät,stockt sie kurz, fängt sich und sagt sehr richtige und sehr ödeBWL-Sätze. Da wird aus der koffeinhaltigen Hallo-Wach-Limoschnell ein »nachhaltiges, erfrischendes Konsumprodukt ausder Kaffeeproduktion.«Es ist eines neben Dutzenden, dafür reicht ein Blick in einenSpätikühlschrank. Die Geschichte desWeges, die Limonade ausder Kaffeekirsche auf den deutschenMarkt zu bringen, beginntbei einer Tasse Tee. Im Frühsommer 2014 betritt die damals25-jährige Zumbaum das Kreuzberger Café Bonanza CoffeeHeroes. Auf der Karte stolpert sie über das Wort »Cascara«,auf spanisch: Schale. Zumbaum probiert, findet das Getränk ge-wöhnungsbedürftig, aber interessant. Der Barista erklärt ihr, essei ein Aufguss aus der getrockneten Schale der Kaffeefrucht,aus Panama importiert. Er schreibt ihr einen Namen auf einenZettel: Graciano Cruz.

»Ichwillmehr vondiesem fabelhaftenTee«, sagt sie wenigeTage später bei Skype. Graciano Cruz ist überrascht. Nicht vieleMenschen interessieren sich für den Tee. Seit Cruz 1992 seineerste Farm in seinem Heimatort Boquete im Westen Panamasübernahm, bereitet er die Kaffeeschalen auf, testet Zubereitungs-arten. Und ist damit in Zentralamerika, wo auf jedem zweitenHügel Kaffee wächst, der erste und lange Zeit auch der einzi-ge. Cruz kennt den Tee aus Äthiopien, dort trinkt man ihn seitJahrhunderten. Aber eben auch: nirgendwo sonst. Entsprechendschleppend läuft Cruz‘ Geschäft.Die Schale der Kaffeefrucht ist seit Jahrhunderten vornehm-lich eins: Müll. Kaffeeernter pflücken die reife Frucht und trock-nen sie. Die Bohnen werden herausgelöst, Schale und Frucht-fleisch kommen auf den Kompost. Es ist diese Verschwendung,die Laura Zumbaum antreibt. Noch vor dem Geschmack, vordem Geld und vor dem Abenteuer. Dass 55 Prozent der Kaffee-frucht einfach weggeworfen werden, findet sie absurd: Da liegtein Rohstoff nahezu unendlich verfügbar herum – und niemandnutzt ihn. Wie kann das sein?ZweiWochen nach demTelefonat kommt ein ProbepäckchenvonCruz’ Kaffeeschalen in ZumbaumsWohnung in Berlin-Mittean. 250 Grammmattroter, johannisbeergroßer Fetzen, die nachHagebutte undHonig schmecken und roh zerkaut an Tabakblät-ter erinnern. Aber was damit anstellen? Außer ein paar äthiopi-

schen Köchenweiß keiner so recht, wie der Aufguss überhauptschmecken soll.Zumbaum experimentiert. Sie stellt Gläser auf der Küchenan-richte auf, füllt Schalen hinein und beginnt aufzubrühen. 95, 92,75 Grad. Drei Minuten, vier Minuten, acht Minuten. 10 Gramm,20 Gramm, 30 Gramm.Hunderte Farmer schreibt sie in dieser Zeit an, fragt, ob sieCascara verkaufen, bestellt Proben, viele davon unbrauchbar,einige voller Ungeziefer. Sie zieht mit ihren Säckchen von Rös-terei zu Rösterei, zu befreundeten Köchen, in Cafés, in Res-taurants, zu Sommeliers und Sensorikern. Immer wieder brühtsie den Tee auf, testet: süßer oder saurer? Herber oder milder?Heiß odermit Eis? Ein halbes Jahr lang. Und hat schließlich denGedanken: Was, wenn man Kohlensäure dazugibt? Und eineLimonade macht?Der Vater dieses Gedankens ist Dieter Leipold. Der Brauer ausOstheim an der Rhön isolierte Anfang der 90er Jahre in seinemprovisorischen Labor Bakterien aus japanischem Kombucha-Tee und braute daraus: Bionade. Leipolds Getränk wurde zumIn-Getränk in den Großstädten, dann zum Erfolg in den Su-permärkten. Es war der Beginn des deutschen Limo-Booms. 18Liter alkoholfreie Erfrischungsgetränke trinken die Deutschenpro Kopf und Jahr. 17 Milliarden Euro geben sie dafür jährlichaus. Deutschland ist Europas vielfältigster Limomarkt. Und derumkämpfteste. Genau da wollte Laura Zumbaum rein.Anfang 2015 kündigt sie ihren Job, bekommt ein Privatdarlehenüber 25.000 Euro und bestellt eine große Menge Schalen ausPanama. »Eine Bank hätte mir nichts gegeben«, sagt Zumbaum.»Ich musste alles selbst machen. Ich war allein.« Es geht ihrlängst nicht mehr nur um das Recycling der Kaffeeschale oderum die perfekte Rezeptur. Es geht darum, »den Kaffeehandelnachhaltig zu machen.«

DafürmussZumbaumschnellerwerden, professioneller. Siespricht jetzt nichtmehr von der »Kaffeefrucht», sondern von der»Kaffeekirsche». Das klingt besser, korrekt ist es trotzdem. Sieheuert eine Braumeisterin und eine Laborantin der Versuchs-brauerei in Prenzlauer Berg an. »Es hat ein bisschen gedauert,ihr zu erklären, dass wir in einem Biersudkessel Kaffeeschalenaufkochen wollen«, sagt Zumbaum. Die nächsten Monate ver-bringt sie vor Kesseln, Abfüllgeräten und Thermometern. FülltFlaschen ab, verkorkt und beschriftet sie: »Test 1«, »Test 2«, »Test3«. Dann radelt sie durch die Stadt und stellt die Limo unter demNamen Selosoda vor – Selo heißt Schale auf Esperanto.Sie drückt Bekannten ihr Getränk in die Hand, stellt es beibefreundeten Cafébesitzern in den Kühlschrank, überzeugt Sze-nelokale, Spezialitätenläden, Spätis. VonMitte nach PrenzlauerBerg, nach Kreuzberg, Neukölln. »Es gab keine Ressourcen«,

sagt sie. Es läuft schleppend. Aber es läuft. Einer vonZumbaums Kontakten stellt die Flaschen in seinemStartup in den Kühlschrank, andere folgen, und nach

wenigen Monaten landet Selosoda in den Kan-tinen von Spotify und Universal.Das Unternehmen wächst langsam, aber ste-tig. Als die Flaschen ausgehen, finanziert Zum-baum die nächste Abfüllung per Crowdfunding,

Rohstoff. Die getrockneten Schalender Kaffeefrucht lässt Zumbaum sichaus Panama und Costa Rica liefern.

Ursprünglich wurde der Schalentee nurin Äthiopien getrunken.

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20.000 Euro kommen zusammen. Sie gibt Interviews mit Start-Up-Websites, dann Food-Magazinen, später vor größerem Pu-blikum, in der »Brigitte« und der »Wirtschaftswoche«. Geld istknapp, und Zumbaum liefert noch immer persönlichmit Fahrradoder U-Bahn aus. Aber in der Nische lässt es sich erst einmaleinrichten.

Es ist kurz nachMitternacht, die erstenMinuten des 17. April2016, als die Nische plötzlich aufreißt. Laura Zumbaum sitztnach einem langen Tag am Laptop. Eigentlich ist alles erledigt,als eine Mail aufploppt: »Nachahmung ist die größte Form derAnerkennung – oder hast du etwas damit zu tun?« schreibt einBekannter aus demRheinland. Darunter ein Link: »Koffein-Kick:Gaffel macht jetzt Panama-Brause«.Was bedeutet das? Ist das gut? Zumbaum weiß nicht, was siedenken soll. Die Kölner Brauerei Gaffel, im Biermarkt ein eherkleiner, aber imVergleich zu Selosoda gigantischer Getränkespe-zialist, bringt ihre eigene Kaffeeschalenlimo auf den Markt. Istdas eine Bestätigung? Eine Bedrohung? Es betrifft alles, woransie die letzten zwei Jahre gearbeitet hat. In diesem Momenthatte Laura Zumbaum ein Gefühl »irgendwo zwischen Panikund Freude«, erinnert sie sich.DerMann, der für diese wechselndenGefühle verantwortlichist, sitzt zwischen braunen Kaffeesäcken in einem Café in derDüsseldorfer Altstadt. »Ich kann das Gefühl nach-vollziehen«, sagt er, »und ich habe den höchstenRespekt vor dem, was sie da auf die Beine gestellthat.« Martin Schäfer, Mitte vierzig, ein Glatzkopfmit jugendlichem Lächeln, ist Besitzer des Cafés,viele Kunden nicken ihm zu, man kennt sich hier.Schäfer ist der Gründer der KaffeehausketteWoy-ton. Und der Mann hinter Cascara Sparkling, der»Panama-Brause« von Gaffel.

Cascara Sparkling ist später ge-startet als Selosoda, sehr viel spä-ter – aber vom ersten Tag an ineiner ganz anderen Liga. Gaffel istgroß, 52 Millionen Euro Umsatz,Kölns meistverkaufte Biermarke.Innerhalb weniger Tage ist dieLimo überall. Alle, die von Gaffelbeliefert werden, bekommen jetztauch Cascara. Alle Supermärkte inNRW können die Limo ordern, inKöln und Düsseldorf stehen dieFlaschen in den Rewe-Regalen,und zwischen Wiesbaden, Aa-chen und Osnabrück haben in-nerhalb weniger Wochen 714 Ein-zelhändler Cascara ins Sortimentaufgenommen. So viel wie Gaffelverschenkt, kann Selosoda nichteinmal produzieren.Der ganze Brau-, Vertriebs-und Marketingapparat der Groß-

brauerei ist eingeschaltet. Damit sich das lohnt, herrscht Men-genzwang. »Wenn wir nächsten Jahr rund 200.000 Hektoliterverkaufen«, sagt Martin Schäfer, »dann wären wir happy undnicht zu groß.« Er holt sein Handy aus der Tasche, tippt in dieRechner-App. »Hekto ist hundert, Flaschen sind 0,33, also mal300… sechs Millionen Flaschen«, sagt er. »Oh, das ist ja docheine ganze Menge.«Aber Schäfer betont, dass auch er ein kleiner Player ist. ImGegensatz zu Club Mate, zu Coca Cola, zu allen Energydrinks.»Groß ist böse, klein ist gut – so einfach ist es nicht«, sagt er.Anfangs habe er darüber nachgedacht, die Limo nur für seine 20Läden in Köln und Düsseldorf zu brauen. Doch auch Schäfer istÜberzeugungstäter. »Mit jedemKauf entscheidenwir, in welcherWelt wir lebenwollen – Preise, Qualitäten, Arbeitsbedingungen.Wennwir dieses Bewusstsein verbreiten können, habenwir wasEchtes erreicht.« Und das lässt sich eben nicht per Handabfül-lung machen.

Während am 17. April 2016 in Köln schon die ersten KistenCascara Sparkling ausgeliefert werden, liest Laura Zumbaum inBerlin noch einmal den Gaffel-Artikel. Ob Panik oder Freude –sie muss reagieren. Noch am selben Morgen mietet sie sich einAuto, fährt nach Köln, um die wenigen Kunden zu besuchen, mitdenen sie dort Kontakt hatte. »Imposant, wie groß da aufgefah-

Aufguss. Ehe Laura ZumbaumSelosoda entwickelte, probierte sie ver-schiedene Zubereitungsarten, Stärkenund Temperaturen des Schalentees.

Sie trinkt ihn selbst gerne.

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Kon fe ssion.

ren wurde», sagt sie. Cascara Sparkling auf Plakatwänden, aufLitfaßsäulen, in Werbeprospekten. Bei den Gastronomen, beidenen Zumbaum anklopft, stehen die Flaschen schon auf demTresen. Dass Cascara im Rewe steht, sagt sie, sei auch gut fürSelosoda. Was aber, wenn Cascara in allen Rewes steht?Köln war, wie Zumbaum heute sagt, »ein Arschtritt«. Undwie Arschritte nun mal sind, bewegen sie einen nach vorn. Dasheißt im Geschäft: wachsen. Und zwar schnell.Damit begann sie schon im Auto auf der Rückfahrt aus Köln.Sie notiert sichNamen vonGeschäftskontakten. Alle, die ihr ein-fallen. Sie ruft Bekannte an: Kennt irgendwer jemanden? Einen,der helfen kann, schneller und klüger zu wachsen und einemfunktionierenden Produkt zu dem Erfolg zu verhelfen, den esihrer Sicht nach verdient?

EinenMonat später derAnruf eines Bekannten:Er habe ihr einen Termin vereinbart. RosenthalerStraße, im Zentrum der Berliner Start-Up-Welt.Das Büro hat die Optik eines Co-Working-Spaces,außen verglast, innen lange Tische. An einem da-von sitzt der Investor Christophe Maire. LauraZumbaum setzt sich, Maire stellt ihr eine FlascheSelosoda hin, er habe zur Vorbereitung eine Kistegekauft. »Zurückhaltend, interessiert, detailliert«

beschreibt Zumbaum den Investor. Sie sprechen über ihre Vi-sion, Ambitionen, über Zukunftspläne, später über Mengen,schließlich über Zahlen. Und über Gaffel. Maire rät: keine Zeitverlieren. Gas geben.Maire ist nicht irgendwer. Der gebürtige Schweizer hat schon2008 Software anNokia verkauft, dann die Foto-App EyeEm, denOnline-Design-HändlerMonoqi gegründet. Brands4Friends, Stu-diVZ, Barcoo, SoundCloud: Bei fast allen Tech-Projekten, die inBerlin in den vergangenen Jahren erfolgreichwurden, warMairebeteiligt. Heute sieht er einen neuenMarkt: Essen und Trinken.Anfang 2016 hat er die »Atlantic Food Labs« gegründet, einenInkubator für Start-Ups imNahrungsmittelmarkt. Selosoda passtin den Trend: vegan, paläo, fair, zuckerfrei, recycled. Aber alleinmit Image wächst man nicht. Maire investiert Geld. Nach derersten Finanzierungsrunde ist Selosoda ein Unternehmen mitMarktwert im einstelligen Millionenbereich.»Wir überspringen einen Schritt«, sagt Zumbaum.Wuppertal,Ludwigsburg, Ingolstadt sollen die Kölner machen. Selosodageht direkt auf denWeltmarkt. »Die Strategie ist gefährlich undaufwendig« sagt sie. Sie muss immer noch schneller werden,noch professioneller. Wenn sie über Pläne spricht, sagt Zum-baum »strategy«, sie spricht von »brand ambassadors« und »in-vestment cases«. Sie stellt monatlich neueMitarbeiter ein, fährt22.000Autokilometer inwenigenMonaten. Berlin undHamburg,Zürich, Winterthur und Basel, Wien und Amsterdam. Bis Endedes Jahres London und Paris. Es kommen Anfragen aus Japan,China und Indien – bis zu 100 Paletten pro Lieferung, 96.000Flaschen. Der Ex-Manager von Starbucks in Saudi-Arabienwill Selosoda an den Golf bringen, Exklusivverträge werden inKroatien, Griechenland und Zypern geschlossen. Und vor derHaustür stellt Gaffel Cascara Sparkling in die Kaiser’s-Regale.Ende August auf demBerlin Coffee Festival in derMarkthalleIX in Kreuzberg. Florian Venedey, einer der neu eingestelltenMitarbeiter von Laura Zumbaum, steht am Selosoda-Stand, er-zählt Kunden von Frucht und Schale, von Transparenz, Nach-haltigkeit undUmweltschutz. Ein Gast nickt aufmerksam,machtNotizen, fragt genau nach. Was sich denn so imMarkt bewege,wie Venedey die Chancen von Cold-Brew-Kaffee einschätzt, obdie Kaffeeschale das nächste großeDing sei. Venedeywirdmiss-trauisch, fragt, wieso das alles so genau interessiere. Zögerndsagt derMann, er sei vonMelitta, man beobachte Selosoda, vielein der Branche täten das. Später setzt Venedey sich auf einenSchemel und macht sich eine Limo auf.Hinter dem Stand erzählt ein Arbeiter von der Eröffnungspar-ty amTag davor. Die Getränke habe so ein Kaffeelimoherstellergesponsert. Eine Palette, 40 Kisten Freiware. Wurde direkt andie Location geliefert. Aus Köln.

Wachmacher. Die Konkurrenz aus Kölndominiert den deutschen Markt,

Selosoda das internationale Geschäftvon der Schweiz bis Saudi-Arabien

und Zypern.

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Hilfe, ständiggibt es neue Apps!Neun Tipps, wieman nicht irre wird

1.EntspannenAch, es gibt jetzt das neue Tinder,das noch tinderiger als das alteTinder ist? Wenn man es Ihnenanbietet, dürfen Sie nicht nervöswerden. Man muss nicht allesmitmachen. Weil man nicht allesmitmachen kann. Es gibt zu vielvon allem. Und es geht zu schnell.Da ist es nicht nur okay, einfachmal zu entspannen. Es ist not-wendig! Sagen Sie am besten,Sie müssen erst mal all die Leuteküssen, die noch beim altenTinder sind. Das kann dauern.

Text Stephan PorombkaIllustration Mrzyk &Moriceau

2.

3.

Einmal aussetzenAber Achtung! Wenn es ein neues Spiel, eine neueApp oder ein neues brennendes Smartphone gibt,dürfen Sie niemals sagen: »Das geht mir alles zuschnell, ich komme nicht mehr mit.« Das sagen nurdie Unentspannten. Wer entspannt ist, sagt: »Daslasse ich aus, Danke. Bin das nächste Mal wiederdabei.« Man sollte sich nicht verweigern. Weil mansonst nicht mitbekommt, was passiert. Aber mansollte mit Lässigkeit zeigen, dass man drübersteht.Oder ein bisschen daneben.

QuatschmachenWerden Sie mit irgendeinem Quatsch konfrontiert,sagen Sie wahrheitsgemäß: »Das ist ja Quatsch.«Aber seien Sie sofort bereit, jeden Quatsch aus-zuprobieren, um zu verstehen, wie er funktioniertund was er mit einem macht. Wenn man nichtgerade aussetzt (siehe 2), weil man zum Beispielnoch die Männer und Frauen von Tinder küssenmuss (siehe 1).

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8UmfunktionierenMan sollte die Sachen nie so benutzen, wie mansoll. Die Sachen zu biegen und zu brechen, be-deutet immer, sich einen Freiraum zu verschaffen.Die Fitness-App nutzt man fürs Dating. In derDating-App tauscht man sich über Backrezepteaus. »Grand Theft Auto« nutzt man, um schöneAusflüge zu planen. Bei Snapchat schreibt manLiebesbriefe, wie die Welt sie noch nie gesehen hat.Und das brennende Smartphone stellt man beimRendezvous so hin, dass es wie Kaminfeuer wirkt.Man muss einfach kreativ sein. Denn nur dannhat man es wirklich mit etwas Neuem zu tun.

Der Autor twittert unter@stporombka und postet alsstephan_porombka bei Instagram.Außerdem ist er Professor fürTexttheorie und Textgestaltungan der UdK Berlin.

6SocialisingWeil man tumb wird, wenn man zu viel allein vordem Computer oder auf dem Sofa sitzt, solltenSie neue Sachen immer zusammen mit anderenausprobieren. Sie brauchen also Freunde undFreundinnen, mit denen Sie sich regelmäßig treffen.Den Spieleabend an der Playstation gibt’s schon.Jetzt kommt der Pärchenabend mit E-Books.Eine Swinger-Party mit Pokémon Go. Oder Siegehen zusammen in ein nobles Restaurant undspielen bei gutem Essen und teuremWein denganzen Abend lang ein paar Apps durch. Dannkann man sie wieder löschen. Die Apps sindja wahrscheinlich uninteressant. Aber echte Test-Freundschaften halten ewig.

4.

5OutsourcingWer entspannt genug ist, machtdie Sachen sowieso nicht selbst.Man lässt machen! Die Weltist Ihr Testlabor. Das neue Tindersoll Oma ausprobieren. Demfünfjährigen Neffen schenkt man»Grand Theft Auto VI« zumSpielen. Kollegen rät man zurneuen Fitness-App. In Zeiten,in denen sowieso zu viel vonallem da ist und zu schnellersetzt wird, ist es lehrreich undlustig, wenn man andere beob-achtet und ihnen interessierteFragen stellt.

7RetrokombinierenImmer wenn Sie etwas Neues ausprobieren, solltenSie zugleich zwei Produktnummern zurückgehen.Man spielt am neuen Smartphone. Aber man tele-foniert mit dem alten Nokia. Man streamt Musik.Aber man legt beim Rendezvous mit den Leutenvon Tinder Schallplatten auf. Man klickt sich durchdie Mediathek. Aber am Samstagabend guckt manFernsehen auf einem kleinen Antennen-TV, der nurdrei Programme empfängt. Das entspannt enorm.

9Ein JournalführenEin Journal führen heißt, dasFlüchtige festzuhalten. Man musskurz aufschreiben, was man sichso anschafft und runterlädt, um esauszuprobieren. Und was für Erfah-rungen man damit macht. Dannversteht man besser, wie sehr manvon den Geräten und Gadgetsbestimmt wird, mit denen mansich umgibt. Außerdem ist es jaziemlich lustig, später nochmaletwas über die eigene skurrileLiebesbeziehung zu seinem Handyzu lesen. Und über Leute, die manwegen Tinder geküsst hat. Undbei was und bei wemman dannschließlich doch hängengebliebenist, weil es in all der Flüchtigkeitund Beliebigkeit die wirklich großeLiebe war.

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UnderstatementWenn Sie einen Quatsch mit-machen, sollten Sie das aberbitte nicht an die große Glockehängen. Man läuft nicht mitdem neuesten Smartphone rumund gibt damit an. Auch dannnicht, wenn es so toll brennt.Man ruft auch auf der Party nichtlaut durch den Raum, dass manjetzt bei Snapchat ist. Under-statement ist gefragt. MachenSie Snapchat, aber leise. LöschenSie Ihr Handy, aber leise. Wer sotut, als sei er Avantgarde, gehörtgarantiert nicht dazu.

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d er Burger ist wie die USA: Es gibt eine Grundidee, aber man kann sie ständig neuerfinden. Das Brötchen des Ramen Burgers besteht ausWeizennudeln, wie sie auch inder Ramen-Suppe verwendet werden, zusammengehalten von Ei undMehl. Befeuert

durch eine Gewürzmischung wird es in Fett knusprig ausgebacken. Das Burgerfleisch ist,klassisch, ein medium gegrilltes Rinderhacksteak, das auf Rucola und Mayonnaise liegtund vonWeißkohl-Kimchi, Frühlingszwiebeln und Gochujang-Sauce getoppt wird. Kross-kompakt im Biss, säuerlich-scharf und saftig-frisch im Geschmack.Der amerikanischeUr-Burger bildet hier die Basis für einemultiethnische Aneignung: Denjapanischen Drehmit demRamen-Bun hat Keizo Shimamoto, Foodblogger und Küchenchefdes »Smorgasburger«, 2013 in Brooklyn erfunden, allerdings nochmit klassischemBelag. Derin Berlin geborene Chili Pak sah die Kreation auf YouTube – und hat den Ramen-Burger fürsein Lokal weiter in Richtung Korea gedreht. Shiso-Blätter, Tomate und Ketchup ersetzt erdurch koreanische Zutaten: scharf vergorenenWeißkohl und fermentierte Chilipaste – einepanasiatisch-nordamerikanische Kreation made in Berlin.

Chili Pak serviert seinen Ramen Burger im Chilees, Choriner Straße 25, Prenzlauer Berg

Ramen Burger

USA/Japan/Korea/Berlinmelting pot

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S chon in seiner ersten Lehr-rede sprach Buddha das Leidan, das durch denVerlust des

Angenehmen entsteht – und dieNotwendigkeit, dieses Leid an-zuerkennen. Es ist wahr: Eine Be-ziehung hinter sich zu lassen, dieeinmal liebend und unterstützendwar, bedeutet großen Schmerz.Eine Trennung kann aber mit-fühlend vollzogen werden, mitdem ehrlichen Ziel, den anderenso wenig wie nur möglich zu ver-letzen. Durch Demut, durch Ehrlichkeit zusich selbst und höchste Aufmerksamkeit ge-genüber den Bedürfnissen des anderen.Wasaber sollen wir tun, wenn das nicht der Fallist? Wenn eine Trennung die Folge von Be-trug oderMissbrauch ist, wenn sie zu starkennegativen GefühlenwieWut, Hass oder demWunsch nach Rache führt?Die tibetischen Geistesübungen des »lodschong« wurden entwickelt, um auch inden schwierigsten Umständen zu wachsen.Mit ihnen verbleibenwir in Gefühlen und Si-tuationen, die wir normalerweise vermeidenwürden. Sie ermuntern uns, solche Situatio-nen als Gelegenheiten zu verstehen, geduldi-ger, demütiger und liebevoller zuwerden. AlsChance, unser Ego zu reduzieren. Wer sagtdenn, dass es bei dieser Trennung überhauptum Sie ging? Vielleicht war Ihr Partner ein-fach in großer seelischer Not?Eine besonders schwierige Situation ist,verletzt zu werden, wenn wir denken, dass

wir das Gegenteil verdient hät-ten. Der tibetische Meister Ge-she Langri Thangpa (1054-1123)schrieb: «Wenn jemand, dem ichmit großer Hoffnung geholfenhabe / mich ganz ohne Grundverletzt / will ich lernen, diesenMenschen / wie einen edlengeistigen Lehrer zu sehen.«Was können wir von so einem

Menschen lernen?Wennman dieKommentare dieses Verses liest,bedeutet er, dass Menschen, die

uns verletzen, den Egoismus in uns offen-legen. Oft gibt man in Beziehungen eigeneBedürfnisse auf – weil man darauf spekuliert,etwas zurückzubekommen. Außerdem gebenunsMenschen dadurch, dass sie unsereWutwecken, die Chance, Gelassenheit zu lernen.Zudem ist so eine Situation eine Gelegen-heit, echtesMitgefühl zu entwickeln, das denSchmerz jedes Menschen sieht, egal wie eroder sie uns behandelt hat. An den Verlet-zungen, die Ihnen zugefügt werden, erken-nen Sie das Ausmaß des innerlichen Leidsdes anderen.Die Übungen des »lo dschong« sind kom-plex und anspruchsvoll. Wenn sie jenseitsunserer Fähigkeiten liegen, sollten wir ver-suchen, ein Bewusstsein für uns selbst zuentwickeln, und für den Schmerz, den wirverspüren. Sie müssen nicht unbedingt demanderen verzeihen, was Ihnen angetan wur-de. Sie müssen sich selbst verzeihen, verletztworden zu sein.

Wer den eigenenWohlstand und denpersönlichen Stil vorzeigenwill, inves-tiert leider fast immer in Weingläser.Das ist einerseits Quatsch, schließlichtrinkt man ja nicht ständigWein. Undandererseits schade, weil auch Mine-ralwasser, Tonic und Fruchtsaft eineansprechende Darreichung verdienthaben – schließlich gibt eswahnsinnigschöne Trinkgläser. Für die man keinVermögen ausgeben muss.Die Serie »Prestige« der 180 Jahre

alten F.X. Nachtmann Kristallwerkeaus dem oberbayrischen Neustadtan der Waldnaab, die in der über-haupt großartigen Brasserie Ora amKreuzberger Oranienplatz für Drinksverwendet wird, interpretiert die Ideedes traditionellen Tumblers runder,großzügiger, herzlicher. Anstatt derstrengen Form und Musterung desklassischen Old-Fashioned-Glasesschmeichelt er den Fingern und liegtangenehm schwer in der Hand. Selbstdas eilig hinuntergestürzte Mine-ralwasser bekommt in diesem Glasdie Gewichtigkeit eines schottischenSingle Malts. Und ein selbstgemixterWhiskey Sour trinkt sich daraus natür-lich auch perfekt.

Tumbler »Prestige« von F.X.Nachtmann, ca. 2,99 Euro/Stück,

via barstuff.de

Herzaus Glas

Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff, LorenzMaroldt Projektidee Peter JohnMahrenholz Redaktions-leitung Jan Oberländer Artdirektion Suse GrützmacherBeratungDaniel Erk (Redaktion), Catrin Oldenburg(Artdirektion) Bildredaktion Saskia Otto Autoren dieserAusgabe Fabian Federl, Mirna Funk, Dirk Gieselmann,Oren Hanner, Helene Hegemann, Torsten Körner,Johannes Laubmeier, Laura Naumann, Stephan Porombka,

»Ich bin dieses Jahr auf schmerzhafte Weise betrogen,belogen und verlassen worden. Ganz ehrlich: Ich bin wütendund verletzt. Ich würde das alles gern hinter mir lassen, aberwenn ich einfach vergebe, sende ich das falsche Signal –

nämlich, dass die Art der Trennung okay war.

Was soll ich mit meiner Wut tun?«

Oren Hanner, 1979 in Jerusalem geboren, studierte Philosophie in Tel Aviv und promoviertein Buddhismuskunde an der Uni Hamburg. Schicken Sie Ihre Frage an [email protected]

Dr. omKleine Meditationen

über die großen Fragendes Lebens

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IMPRESSUM

Kai Röger, Stefan Stuckmann Fotografen undIllustratoren dieser Ausgabe Carlos Bafile, Tony Futura,Ériver Hijano, Daniel Hofer, Christoph Kleinstück, UliKnörzer, Mrzyk &Moriceau, Kai Müller, se7entyn9neMode Sebastiano Ragusa, Arne Eberle (OEMagazine)und Lucie Schibel, Lisa Borges (Maven Berlin) KorrektoratPatriciaWolf Verlag Verlag Der Tagesspiegel GmbH,Askanischer Platz 3, 10963 Berlin, www.tagesspiegel.de

Geschäftsführung Florian Kranefuß VerlagsleitungPenelopeWinterhager, ThomasWursterAnzeigen-leitung Philipp Nadler VerkaufsleitungMagazineNils Höfert Vertriebsleitung Sebastian StierHerstellungsleitungMarco Schiffner Layout undProduktion SabineMiethke, Christian RennerDruckMöller Druck und Verlag GmbHAbo- und Leser-service Tel 030/29021-502, Fax 030/29021-599

Redaktionsschluss 17. November 2016Copyright 2016 für alle Beiträge bei VerlagDer Tagesspiegel GmbH. Nachdruck, Übernahmein digitale Medien sowie Vervielfältigung aufDatenträger nur nach vorheriger Zustimmungdurch den Verlag.

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Sicherheit Freiheit

Mirna Funk, wannmussten Sie sichzwischen Sicherheitund Freiheit ent-scheiden?

»Ich zogmich leise an und kamnie wieder«

A ls ich bei meiner Mutter auszog, war ich noch klein. Gerade mal 17. Ich packte einengrünen Seesack und verschwand einfach. Drei Straßenweiter, zumeinemFreund. Derwar schon groß. 27 nämlich. Heute denke ich, dass mit einem 27-Jährigen nicht alles

richtig läuft, der mit einer 17-Jährigen zusammenzieht. Damals wusste ich das noch nicht.In seiner Wohnung hatte ich ein eigenes kleines Zimmer. Trotz Beziehung wollten wir

keinen bürgerlichen Schlafzimmer-Wohnzimmer-Alptraum, sondern einander das eigeneLeben lassen. Die große Freiheit. Ich war damals in der zwölften Klasse. Morgens saß ich in derSchule, am Nachmittag auf dem Schoß des alten Mannes. Am Abend kellnerte ich in einer Bar,im Berlin der neunziger Jahre interessierte sich niemand für mein Alter. Und so schlief ich wenigund tänzelte zwischen den Welten hin und her. Aber keine passte zur anderen.Nach ein paarMonaten, in den Sommerferien 1999, schlugmein Freund vor, eineWeltreise zumachen.

Er hatte gerade sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg abgeschlossen und war frei, ich steckte nochmitten drin. Dein Abitur oder ich, sagte er. Ich könne es ja auch auf dem zweiten Bildungsweg nachmachen.Und ich stellte mir vor, wie ich, 27-jährig, mit anderen Erwachsenen an meiner Zukunft feile, während zuHause ein 17-jähriger Junge auf mich wartet, um sich auf meinen Schoß zu setzen.An einem Spätsommertag, kurz bevor die Schule wieder anfing, stand ich morgens aus seinem Bett auf. Früh,

weil ich nicht schlafen konnte, halb sechs oder sogar fünf, zog mich leise an und kam nie wieder. Ich nahm mirmeine erste eigeneWohnung und wiederholte die zwölfte Klasse. Ich arbeitete nur noch amWochenende, standin derWoche früh auf, ging früh ins Bett und wurde diszipliniert. Es fühlte sich gut an. Weil da niemand mehr war,der sein Leben über meines stellte.

Mirna Funk wurde 1981in Ost-Berlin geboren.Sie arbeitet als freie Jour-nalistin und Autorin undschreibt über Kultur und ihrLeben zwischen Berlinund Tel Aviv. 2015 erschienihr Debütroman »Winter-nähe«. Ihr neuer Roman istauch schon fertig und sollbis 2018 erscheinen.

Foto Ériver Hijano

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