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FRAUNHOFER-INSTITUT FÜR BETRIEBSFESTIGKEIT UND SYSTEMZUVERLÄSSIGKEIT LBF EIN EINFACHES VERFAHREN ZUR ABSCHÄTZUNG DER ANRISSLEBENSDAUER BEIM VORLIEGEN VON BRUCHWÖHLER- LINIEN Technische Mitteilungen, TM-Nr. 114 / 2014

Technische Mitteilungen, Nr. 114/2014 Prof. Sonsino

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Ein einfaches Verfahren zur Abschätzung der Anrisslebensdauer beim Vorliegen von Bruchwöhlerlinien

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EIN EINFACHES VERFAHREN ZUR ABSCHÄTZUNG DER ANRISSLEBENSDAUER BEIM VORLIEGEN VON BRUCHWÖHLER-LINIEN

Technische Mitteilungen, TM-Nr. 114 / 2014

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EIN EINFACHES VERFAHREN ZUR ABSCHÄTZUNG DER ANRISSLEBENSDAUER BEIM VORLIEGEN VON BRUCHWÖHLER-LINIEN

Technische Mitteilungen, TM-Nr. 114 / 2014

Prof. Dr. Ing. C.M. Sonsino

Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF

Bartningstraße 47, 64289 Darmstadt

Telefon +49 6151 705-0

Fax +49 6151 705-214

[email protected]

www.lbf.fraunhofer.de

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EIN EINFACHES VERFAHREN ZUR ABSCHÄTZUNG DER ANRISSLEBENSDAUER BEIM VORLIEGEN VON BRUCHWÖHLERLINIEN C.M. Sonsino, Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF, Darmstadt Technische Mitteilungen, TM-Nr. 114 / 2014 1 EINLEITUNG Die Ermittlung der Anrisslebensdauer ist für eine Bewertung von vielen sicherheitsrelevanten Bauteilen, wie Druckbehälter, Bremsgehäuse, Achsschenkel, Antriebswellen mit Überschneidungen von Längs- und Querbohrungen schwierig, vor allem, wenn die anrissgefährdeten Bereiche nicht von außen zugängig sind bzw. Detektionsverfahren an komplexen Geometrien scheitern oder das Versagen zu spät angezeigt wird. Ebenso ist eine bruchmechanische Rückrechnung vom Bruch zum ersten technischen Anriss mit sehr großen Unsicherheiten behaftet, z. B. durch nicht genaue Kenntnis der örtlichen bruchmechanischen Kennwerte, der Initialrissform, des zutreffenden Spannungsintensitätsfaktors usw. Im Folgenden wird anhand von einigen ganz oder nur teilweise publizierten bzw. nicht veröffentlichten Ergebnissen und Erfahrungen des LBF ein einfaches Verfahren für nicht oberflächennachbehandelte Bauteile vorgeschlagen, das eine Abschätzung der Anriss-Wöhlerlinie beim Vorliegen einer experimentell ermittelten Bruch-Wöhlerlinie vornimmt. Die Basis für dieses Verfahren bilden experimentelle Ergebnisse mit komplexen Bauteilen sowie bauteilähnlichen Proben. 2 EXPERIMENTELLE BASIS Die Ermittlung der Anrisslebensdauer von Bauteilen mit einem Anriss definierter Größe (Tiefe bzw. Länge) erfordert nicht nur einen sehr großen messtechnischen Aufwand, sondern auch eine statistische Absicherung. Aus diesem Grunde sind nur wenige veröffentlichte und zuverlässige Ergebnisse verfügbar. Im Folgenden werden beispielhaft einige veröffentlichte bzw nicht veröffentlichte Ergebnisse [1 bis 4] kurz dargestellt werden. Vorab ist zu bemerken, dass alle hier dargestellten Versuche mit den Bauteilen oder bauteilähnlichen Probekörpern lastgesteuert durchgeführt worden sind. In den anrisskritischen Stellen sind jedoch die örtlichen Beanspruchungen aufgrund der Spannungskonzentration und Spannungsgradienten weitestgehend dehnungsgesteuert, sofern die Formdehngrenze nicht überschritten wird [4]. Bild 1 zeigt Anrisslebensdauern, die an kleineren druckbehälterähnlichen Versuchskörpern sowohl mit umlaufender Dichtungsstütze sowie mit unterbrochenen Knaggen mittels Ultraschall erfasst wurden [1]. Bei diesen Untersuchungen wurden 45°-Ultraschallprüfköpfe am äußeren Umfang der Versuchskörper bzw. außen an den Knaggen befestigt und die innenliegenden Kerben kontinuierlich angestrahlt. Die hierfür ermittelten Anrisslebensdauern wurden der mit ungekerbten Proben ebenfalls für das

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gleiche Anrisskriterium (a = 0,5 mm mit Ultraschall erfasst) dehnungsgesteuert aufgenommenen Anriss-Wöhlerlinie gegenübergestellt. Die Ergebnisse an den Versuchskörpern folgen der Neigung der Anriss-Wöhlerlinie der ungekerbten Proben. Die größere Streuung der bauteilähnlichen Versuchskörper ist allerdings auf ungleichmäßige Belastungen der Knaggen bzw. der Kontaktflächen [1] zurückzuführen. In Bild 2 sind Ergebnisse zusammengestellt, die mit Nutzfahrzeugachsschenkeln unter konstanten und variablen Amplituden ermittelt wurden [2]. Parallel dazu wurden in [2] mit gekerbten Proben lastgesteuerte und mit ungekerbten Proben dehnungsgesteuerte Anriss-Wöhler- und Anriss-Gaßnerlinien für jeweils gleiche Beanspruchungs-Zeit-Funktionen aufgenommen, Bild 3. Am Bauteil war das Versagenskriterium der technische Anriss mit einer Tiefe von a = 0,5 bis 1 mm. An den Bauteilen wurde der Anriss mittels Silberleitlack und an den ungekerbten Proben durch den Lastabfall um 5 %, der mit der Risstiefe a = 0,5 mm korreliert wurde, erfasst. Die Neigungen der Anriss-Wöhler- und Anriss-Gaßnerlinien für Bauteil und Probe stimmten gut überein, Bild 3 [2], die Unterschiede in den ertragbaren örtlichen Beanspruchungen sind auf die verschieden großen höchstbeanspruchten Werkstoffvolumina zurückzuführen [2]. Als weiteres Ergebnis sind in Bild 4 Anriss- und Bruch-Wöhlerlinien eines ABS/ASR-Magnetventilgehäuses dargestellt. Die Anrisse wurden durch Registrierung örtlicher Dehnungsänderungen mit Hilfe von DMS in der Nähe der versagenskritischen Bereiche erfasst. Es kann erwartet werden, dass ein Anriss mit einer Tiefe von a = 0,5 bis 1 mm vor der Anzeigenänderung der DMS erfolgt. Demzufolge dürfte die entsprechende Anriss-Wöhlerlinie sogar flacher verlaufen. 3 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN FÜR DIE PRAXIS Die Ergebnisse zeigen, dass der Verlauf der an den Bauteilen bzw. Versuchskörpern ermittelten Anriss-Wöhlerlinien mit dem Verlauf der an ungekerbten Proben dehnungsgesteuert bestimmten Anriss-Wöhlerlinien gut übereinstimmen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die Anriss-Wöhlerlinien sich erst im Abknickbereich den Bruch-Wöhlerlinien nähern. Daraus kann für praktische Anwendungen, bei denen sich experimentell eine Anriss-Wöhlerlinie nicht oder mit zu hohem Aufwand ermitteln lässt, folgende Vorgehensweise zu ihrer Abschätzung ableiten, Bild 5:

- Wenn die Bruch-Wöhlerlinie mit dem Streuband zwischen Pü = 10 und 90 % vorliegt, kann dann bis zum Abknickpunkt bei Nk der Verlauf der Anrisslebensdauer mit der Neigung kA = -1/b der dehnungsgesteuert aufgenommenen Anriss-Wöhlerlinie eingetragen werden, Bild 5. b ist der Exponent des elastischen Anteils der dehnungsgesteuert aufgenommenen Anriss-Wöhlerlinie:

( ) ( )cAfb

Af

pl,ael,ages,a N2'N2E'

⋅ε+⋅σ

=ε+ε=ε

- Allerdings erfolgt die Positionierung der Anriss-Wöhlerlinie mit Pü = 50 % am Abknickpunkt der Bruch-Wöhlerlinie mit Pü = 90 %, Bild 5. Dadurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch nach dem Abknickpunkt bei abnehmender Schwingfestigkeit, ebenfalls wie im Bereich der Zeitfestigkeit, Anrisse vor dem Bruch entstehen.

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- Sofern eine ausreichende Anzahl von Ergebnissen für das Versagenskriterium Bruch nicht vorliegen, können bezüglich Abknickschwingspielzahl Nk, Neigung k* nach dem Abknickpunkt und Streumass Tσ, Tabelle 1 herangezogen werden [5]. Vor dem Abknickpunkt der Bruch-Wöhlerlinie kann eine Neigung kB = 5.0 unterstellt werden, wenn hierzu keine Erfahrungen bzw. Versuchsergebnisse vorliegen [6].

- Abknickpunkt, Streumass und Neigung nach dem Abknickpunkt für das Versagenskriterium Anriss entsprechen den Werten für das Versagenskriterium Bruch.

Somit kann eine Anriss-Wöhlerlinie mit Pü = 50 % abgeschätzt werden. Mittels einer Schadensakkumulationsrechnung, z. B. nach Palmgren-Miner mit der Modifikation nach Haibach [7], mit einer zutreffenden Schadenssumme (Dzul < 1.0) [8], kann anschließend die entsprechende Anriss-Gaßnerlinie berechnet werden. Die Übernahme der Neigung aus dem elastischen Teil der Anriss-Wöhlerlinie, die dehnungskontrolliert mit ungekerbten Proben ermittelt wird, könnte konservativ sein, da im Bereich der Zeitfestigkeit (N < Nk) die Anriss-Wöhlerlinie durch die Stützwirkung steiler werden könnte. Auch in [9] wird für Bauteile die Neigung der elastischen Anriss-Wöhlerlinie vorgeschlagen, aber die Anriss-Wöhlerlinie aus den ungekerbten Proben um eine Stützziffer angehoben. Allerdings ist die verwendeten Stützziffer, sei es nach dem Spannungsgradientenansatz [10], sei es nach dem Spannungsmittelungsansatz [11], nur für den Bereich N > Nk definiert. Wie diese sich beim Versagenskriterium Anriss für N < Nk ändern könnten, ist bisher nicht systematisch untersucht worden. 4 LITERATUR [1] Grubisic, V.; Sonsino, C. M.: Festigkeit von Hochdruckbehältern für neuartige Fertigungsverfahren Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit (LBF), Darmstadt Bericht-Nr. FB -148 (1979) [2] Sonsino, C. M.; Kaufmann, H.; Grubisic, V.: Übertragbarkeit von Werkstoffkennwerten am Beispiel eines betriebsfest auszulegenden geschmiedeten Nutzfahrzeug-Achsschenkels Konstruktion 47 (1995) 7/8, S. 222 – 232 [3] Brandt, U.: Schwingfestigkeitsuntersuchungen von ABS/ ASR-Gehäusen unter Innendruck Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit (LBF), Darmstadt LBF-Bericht Nr. 7907/8418 (1997), unveröffentlicht [4] Grubisic, V.; Sonsino, C.M.: Influence of Local Strain Distribution on Low-Cycle Fatigue Behaviour of Thick- Walled Structures In: ASTM STP 770 (1982), S. 612-629

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[5] Sonsino, C. M.: Dauerfestigkeit – Eine Fiktion? Konstruktion 4 (2005) 1, S. 87-92 [6] Ostermann, H.: Das Festigkeitsverhalten von Bau- und Vergütungsstählen unter zeitlich veränderlicher Beanspruchung Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit LBF, Darmstadt Sonderdruck aus Integration von Maschinen- und Stahlbau (1978), S. 54-71 [7] Haibach, E.: Betriebsfestigkeit – Verfahren zur Bauteilbemessung Springer Verlag, Berlin, 2002, 2. Auflage [8] Sonsino, C. M.: Principles of Variable Amplitude Fatigue Design and Testing In: Fatigue Testing and Analysis Under Variable Amplitude Loading Conditions, ASTM STP 1439, P.C. McKeighan and N. Ranganathan, Eds., ASTM International, West Conshohocken, PA, 2005, pp. 3-23 [9] Seeger, T.: Grundlagen der Betriebsfestigkeitsnachweise Stahlhandbuch – Band1, Teil B Stahlbau-Verlagsgesellschaft mbH, Köln (1996), S. 5-123 [10] Siebel, E.; Stieler, M.: Ungleichförmige Spannungsverteilung bei schwingender Beanspruchung VDI-Zeitschrift 97(1955), S. 121-126 [11] Neuber, H. [1968]: Über die Berücksichtigung der Spannungskonzentration bei Festigkeitsberechnungen Konstruktion 20 (1968), S. 245-251

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Tabelle 1: Empfohlene Abknickpunkte, Neigungen nach dem Abknickpunkt und Streumaße

Bild 1: Ergebnisse von Versuchen mit bauteilähnlichen Versuchskörpern (Versagenskriterium: erster technischer Anriss a = 0.5 mm)

Werkstoff Nk k* Abfall pro

Dekade in % 1 : Tσ

Stahl, nicht geschweißt 5 . 105, hochfest 2 . 106, Baustähle

45

5 1.20

Stahl, geschweißt 1 . 106, spannungsarm geglüht 1 . 107, hohe Zugeigenspannungen

45 22

5 10

1.50

Stahlguss 5 . 105, hochfest 2 . 106, mittelfest

45 5 1.40

Sinterstahl 5 . 105, hochfest 2 . 106, mittelfest

45 5 1.25

Eisengraphitguss 5 . 105, hochfest 2 . 106, mittelfest

45 5 1.40

Aluminiumknetlegierungen, nicht geschweißt

1 . 106 bis 5 . 106 22 10 1.25

Aluminiumknetlegierungen, geschweißt

1 . 106, geringe Eigenspannungen 1 . 107, hohe Zugeigenspannungen 22 10 1.45

Aluminiumguss 1 . 10 6 bis 5 . 106 22 10 1.40

Sinteraluminium 1 . 106 22 10 1.25

Magnesiumknetlegierungen, nicht geschweißt

5 . 104 bis 1 . 105 45 5 1.20

Magnesiumguss 1 . 105 bis 5 . 105 45 5 1.30

Magnesiumknetlegierungen, geschweißt

5 . 105, geringe Eigenspannungen 1 . 107, hohe Zugeigenspannungen

22 10 1.50

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Bild 2: Anriss- und Bruch-Wöhlerlinien bzw. Gaßnerlinien von NFZ-Achsschenkeln

GassnerdauerlinienKtb = 1,45

Ktb = 1,75

Gassnerlinien

Bild 3: Vergleich von Anriss-Wöhler- und Anriss-Gaßnerlinien von NFZ-Achsschenkeln, Kerbproben und ungekerbten Proben

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Bild 4: Anriss- und Bruch-Wöhlerlinien von ABS-Hydraulik-Prüfkörper

Bel

astu

ng

s(B

ean

spru

chu

ng

s)am

plit

ud

e X

a

Schwingspielzahl NA, NB

Pü [%]: 105090

k*

BruchwöhlerliniekB

AnrisswöhlerliniekA = -1/b

Nk

Tx105090

Bild 5: Abschätzung einer Anriss-Wöhlerlinie beim Vorliegen einer Bruch-Wöhlerlinie