23
Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle nach Talcott Parsons und George H. Mead Wissenschaftliche Hausarbeit zur Übung: Neuere Theorien 2. Semester Dr. Wolfram Backert Chemnitz, den 16.09.2009

Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

  • Upload
    doannhi

  • View
    218

  • Download
    2

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

Technische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie

Perspektiven der Sozialisation,

Sozialisationsmodelle nach Talcott Parsons und George H. Mead

Wissenschaftliche Hausarbeit zur Übung:

Neuere Theorien

2. Semester

Dr. Wolfram Backert

Chemnitz, den 16.09.2009

Page 2: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

Modul/Studienordnung: Modul 2, Prüfungsordnung vom März 2007

Zeichenanzahl: 36.466

Autoreninformationen:

Anne-Marie Kilpert geboren am 26.12.1988 in Siegburg

Studiengang Bachelor Soziologie, 2. Fachsemester

Matrikelnummer: 215345

Anschrift: Lutherstraße 60, 09126 Chemnitz

E-Mail: [email protected]

Erklärung:

Ich versichere, dass ich die folgende Arbeit vollständig alleine für den hier

angegebenen Zweck angefertigt und alle direkt und indirekt aus fremden Quellen

übernommenen Gedanken und Informationen gekennzeichnet habe.

Chemnitz den 16.09.2009

Page 3: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

Gliederung

1 Einleitung ............................................................................................................... 4

2 Die Theorie von Parsons ....................................................................................... 5

2.1 AGIL-Schema ................................................................................................. 5

2.2 Das Allgemeine Handlungssystem ................................................................. 6

2.3 Der Rollen-Begriff ........................................................................................... 8

3 Die Theorie von Mead ........................................................................................... 9

3.1 Der Sinn-Begriff ............................................................................................ 10

3.2 Signifikante Symbole .................................................................................... 11

3.3 Die Struktur des Selbstbewusstseins............................................................ 12

4 Vergleich der Sozialisationsmodelle .................................................................... 13

4.1 Bedeutung des Individuums.......................................................................... 13

4.2 Erlernen sozialer Normen ............................................................................. 14

4.3 Vorgang des sozialen Handelns ................................................................... 17

5 Diskussion der Sozialisationsmodelle ................................................................. 18

6 Quellenverzeichnis .............................................................................................. 21

7 Abbildungsanhang ............................................................................................... 22

Page 4: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

1 Einleitung

„Das menschliche Neugeborene verfügt zwar über einige angeborene Reflexe und

Instinkte […], aber diese Ausstattung reicht bei Weitem nicht aus, um es schon zu

einem in der Gesellschaft handlungsfähigen Individuum zu machen. Diese

Fähigkeiten werden erst in einem längeren und komplizierten Lernprozess erworben,

den wir Sozialisation nennen“ (Joas 2007: 138).

Das Individuum muss mit fortschreitendem Alter mit immer komplexeren sozialen

Strukturen und Sachverhalten umgehen können und soll gesellschaftliche

Erwartungen erfüllen, die durch Werte und Normen definiert sind. Im Kindesalter

stellt die Familie die soziale Umwelt dar. Bald darauf kommen Freunde und die

Institution Schule hinzu. Im Jugendalter erfährt das Individuum neue Situationen,

denen es sich zuvor noch nicht ausgesetzt sah. Der Eintritt ins Arbeitsleben verlangt

ihm wiederum andere Fähigkeiten ab. Diese Entwicklung, beziehungsweise diese

erfolgreiche Entwicklung hin zu einem Individuum, das fähig ist in der Gesellschaft zu

leben, wird in der Soziologie mehrfach durch verschiedene Theoretiker1 beschrieben.

Durkheim, Simmel, Mead, Gehlen, Parsons, Erikson und weitere befassten sich mit

der Fragestellung wie es möglich ist, dass Menschen miteinander in Interaktion treten

können. Wie der Mensch sich durch Laute und Gesten verständigen kann. Und was

den Menschen dazu bringt soziale Normen zu erlernen und sein Leben nach ihnen

zu organisieren. Durkheim spricht beispielsweise von einer „Vergesellschaftung der

menschlichen Natur“ (vgl. Durkheim 1972).

In der vorliegenden Arbeit wird sich mit den Theoretikern Talcott Parsons und

George Herbert Mead beschäftigt. Die Stellung der Sozialisation in den beiden

Theoriegebäuden ist vollkommen unterschiedlich. Parsons (1977) möchte das

Problem der sozialen Ordnung klären, das schon von Thomas Hobbes aufgeworfen

wurde. Für diese Erklärung benötigt er ein Modell der Sozialisation, um die

Entstehung und den Erhalt sozialer Normen begründen zu können. Mead (1973)

interessiert sich für die Herausbildung der Identität, zu der auch gesellschaftliche

Normen und Werte gehören. Warum der Mensch welche Werte verinnerlicht und sein

Handeln an ihnen orientiert erklärt Mead in seinem Sozialisationsmodell.

1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden in dieser Hausarbeit nur männliche Formen verwendet.

4

Page 5: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

5

Zunächst soll ein Blick in die beiden Theorien einen Eindruck der Denkweise der

Theoretiker vermitteln (Kap.2 und Kap.3). Wobei die Aspekte dargestellt werden, die

für das weitere Verständnis der Arbeit notwendig sind. Danach schließt ein Vergleich

der beiden Sozialisationsmodelle an, in dem die Bedeutung des Individuums in dem

jeweiligen Modell (Kap.4.1), das Erlernen von sozialen Normen (Kap.4.2) und der

Vorgang des sozialen Handelns selbst (Kap.4.3) gegenüber gestellt werden.

Abschließend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Positionen

herausgearbeitet. Die Hausarbeit behandelt durchgängig zuerst die Position von

Parsons und anschließend die von Mead. Damit wird sie an der Quellenliteratur

orientiert.

2 Die Theorie von Parsons

Parsons (1937) betrachtet die Gesellschaft als einen Zusammenschluss aus

mehreren funktionierenden integrativen Systemen, die in der Gesamtheit eine große

Unität ergeben. Diese Sichtweise auf die Welt, insbesondere auf die soziale, war

völlig neu und wurde zunächst mit Skepsis betrachtet. Die von ihm begründete

Theorierichtung des Strukturfunktionalismus geht davon aus, dass alle sozialen

Systeme sich selbst durch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Input und Output

erhalten. Er knüpft mit seinen Überlegungen an Comte, Durkheim und Weber an. In

diesem Kapitel wird zunächst das AGIL-Schema beschrieben, da dieses die

grundlegenden Überlegungen von Parsons beinhaltet. Dann wird das Allgemeine

Handlungsschema erklärt, welches die Anwendung des AGIL-Schemas auf die

Gesellschaft ist und als letztes wird der Begriff der sozialen Rolle aus der Perspektive

von Parsons erläutert.

2.1 AGIL-Schema

Parsons (1977) stellt sich die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei. Dieses

Problem wurde von Thomas Hobbes aufgeworfen. Dieser versuchte zu erklären, wie

die Gesellschaft existiert, das heißt, welche Beziehungen vorherrschen. Um diese

Fragestellung zu lösen, entwickelt Parsons das zunächst allgemeine AGIL-Schema.

Mit seinem Modell will er Handlungszusammenhänge erklären, von der Gesellschaft

bis zur Familie.

Page 6: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

6

Um einen stabilen Handlungszusammenhang aufrecht zu erhalten, müssen die vier

Bezugsprobleme Adaption (A), Goalattainment (G), Integration (I) und Latent pattern

maintenance (L) gelöst werden. Adaption bedeutet eine Anpassung des Systems an

die Umwelt, das heißt, es müssen die verfügbaren Ressourcen im weiteren

Handlungsverlauf berücksichtigt werden. Im Gesellschaftssystem deckt der

Wirtschaftssektor diesen Bereich ab. Goalattainment formuliert ein Ziel unter

realisierbaren Bedingungen und in Einverständnis aller Gruppenmitglieder, im

Gesellschaftssystem übernimmt dies die Politik. Integration bezieht jede Einheit in

das System, das heißt jeden in seinen Fähigkeiten wahrzunehmen und diese für das

System zu nutzen. In diesem Beispiel wird dieses durch die gesellschaftliche

Gemeinschaft bewerkstelligt. Das letzte Bezugsproblem ist die Latent pattern

maintenance, die Aufgabe der Normerhaltung. Diese wird im Gesellschaftssystem

durch das kulturelle System in Form von Erziehung und Sozialisation gelöst. Jedes

Handlungssystem lässt sich in diese vier Bereiche gliedern (vgl. Schneider 2005:

144ff).

Das AGIL-Schema enthält nicht nur die vier universalen Bezugsprobleme, sondern

lässt auch eine Steuerungs- und eine Energiehierarchie als Interpretation zu.

Parsons (1978) geht davon aus, dass das Informationsmaß mit der Bezeichnung des

Schemas zunimmt. Beispielsweise besitzt der Wirtschaftssektor (A) den niedrigsten,

das kulturelle System (L) den höchsten Informationsgehalt. Die Intensität der

Energiehierarchie verläuft genau anders herum, das kulturelle System (L) hat das

niedrigste, der Wirtschaftssektor (A) das höchste Energiemaß. Die

Steuerungshierarchie hat eine kontrollierende Wirkung auf die Energiehierarchie. Die

Energiehierarchie wirkt als Kondition auf von der Informationshierarchie zu

realisierende Ziele. Mit diesen beiden Einteilungen kann man den Einfluss, den die

einzelnen Subsysteme aufeinander haben, abschätzen. Ein Handlungssystem

beinhaltet beide Hierarchien (vgl. Brock et al. 2007: 199).

2.2 Das Allgemeine Handlungssystem

Parsons wendet das AGIL-Schema, mit Blick auf das Problem der sozialen Ordnung,

auf die Gesellschaft an. Diese Anwendung des Schemas nennt er allgemeines

Handlungssystem. Das allgemeine Handlungssystem ist eine Einheit, durch die

gesellschaftliche Prozesse der Welt integriert und Sinnzusammenhänge erstellt

werden.

Page 7: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

7

Um das Handlungsmodell von Parsons (1951) nachvollziehen zu können, müssen

einige Vorüberlegungen getätigt werden. Er geht davon aus, dass die

Handlungsweise des Akteurs in Bezug zu seiner Umwelt nicht deterministisch ist,

sondern sich voluntaristisch verhält. Das bedeutet, der Akteur ist nicht gezwungen

auf eine bestimmte Art zu handeln, zum Beispiel durch biologische Gegebenheiten,

sondern er entscheidet sich für seine Handlungsweise durch Abwägung mehrerer

Handlungsmöglichkeiten, wobei es auf das jeweilige Verhältnis zwischen Akteur und

Umwelt ankommt (Morel et al. 2001: 149).

Parsons unterteilt das Allgemeine Handlungsmodell in das Verhaltenssystem, das

Persönlichkeitssystem, das Sozialsystem und das Kultursystem. Das

Verhaltenssystem erfasst Handlungszusammenhänge kognitiv und richtet sich

spontan auf eine sich verändernde Umwelt ein. Es übernimmt im AGIL-Schema die

Aufgabe der Anpassung durch das Medium der Intelligenz. Zielsetzung und -

verwirklichung werden durch das Persönlichkeitssystem determiniert. Dieses stellt

Handlungsmöglichkeiten in den definierten Situationen zur Verfügung. Das

Sozialsystem übernimmt das Feld Integration. Es erzeugt das Gemeinschaftsgefühl

und integriert somit das Individuum in die Gesellschaft durch affektive Bindungen.

Die Aufgabe der Normerhaltung wird durch das Kultursystem okkupiert und gibt dem

Individuum soziale Normen vor, welche zur Orientierung dienen. Durch sie erhalten

Objekte einen Sinn und geben damit Situationsdefinitionen vor2. Das

Verhaltenssystem ist dem Persönlichkeits- und dem Kultursystem untergeordnet, da

Reaktionen zuerst an Normen und Rollenerwartungen gemessen werden bevor sie

ausgeführt werden. Dieses System macht es dem Individuum möglich im Verlauf der

Sozialisation Kapazitäten zu entwickeln, die es zulassen Rollen auszuüben, soziale

Bindungen einzugehen und sich durch Gesten und Sprache auszudrücken (vgl.

Mühler 2008: 146f).

Parsons geht weiterhin davon aus, dass sich jedes menschliche Handeln dichotom

einordnen lässt. Dichotom bedeutet, dass ich jede menschliche Handlung exakt einer

der Variablen zuordnen lässt. Dieses erklärt er mit Hilfe der Pattern Variables, die

Orientierungsalternativen darstellen. Sie wurden von Tönnies (1887) entwickelt, um

„soziale Handlungsmuster voneinander zu unterscheiden“ (Brock et al. 2007: 203).

2 Das Allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme (Abb.1) ist im Abbildungsanhang zu finden.

Page 8: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

8

Parsons übernimmt diesen Gedanken, damit er die hauptsächliche

Handlungsorientierung des Menschen definieren kann.

Tab 1: Pattern Variables nach Parsons

Gesellschaft Gemeinschaft

Universalismus Partikularismus

Leistungsorientierung Zuschreibung

Spezifität Diffusität

Affektive Neutralität Affektivität

Quelle: Brock et al. 2008: 204.

Entweder beurteilt der Mensch eine Situation oder eine Person allgemein

(Universalismus) oder er lässt sich durch Freundschaft und andere persönliche

Bindungen in seinem Urteil beeinflussen (Partikularismus). Er kann eine Handlung

aufgrund von Leistung bewerten (Leistungsorientierung) oder er orientiert sich an

vordefinierten Eigenschaften, wie Nationalität, Familienname oder Ähnlichem

(Zuschreibung). Der Mensch bezieht ein Objekt in seine Handlungsorientierung mit

ein, weil es bestimmte Eigenschaften hat (Spezifität). Anderenfalls kann er dies tun,

weil das Element eine Fülle von Eigenschaften aufweist (Diffusität). Einerseits kann

der Mensch seine Gefühle kontrollieren (affektive Neutralität) oder er kann ihnen

freien Lauf lassen (Affektivität) (vgl. Mühler 2008: 151). Aus dieser streng dichotomen

Zuordnung wird es möglich typische Handlungsmuster, zum Beispiel das eines

Schülers, zu formulieren (vgl. Brock et al. 2007: 205). Diese Muster stehen immer in

Zusammenhang mit den Erwartungen, die an die Person gestellt werden.

2.3 Der Rollen-Begriff

Unter der sozialen Rolle versteht man ein „Bündel von Erwartungen, die sich in einer

gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen […]

Insofern ist jede einzelne Rolle ein Komplex oder eine Gruppe von

Verhaltenserwartungen“ (Dahrendorf 1965: 26).

Parsons geht davon aus, dass jede Situation dem Akteur unzählige

Handlungsmöglichkeiten bietet. Doch aus diesen wird nur eine wahrgenommen,

nämliche diejenige, die der Akteur in der entsprechenden Situation für angemessen

Page 9: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

9

hält. Er misst seine Handlungsmöglichkeiten an den an ihn gestellte

Verhaltenserwartungen. Durch diese Auswahl zeigt der Akteur in einer Interaktion

immer nur Ausschnitte seines Persönlichkeitssystems, also aus einem

Zusammenspiel der Identität (L) der Werthaltungen (I) der Motivation (A) und der

Ziele und Interessen (G). Diese Ausschnitte definiert Parsons als soziale Rolle. Eine

soziale Rolle beinhaltet bestimmte Erwartungshaltungen, die an eine Person

aufgrund ihrer Position gestellt werden. Diese Position ist auf die Wertinternalisierung

im Laufe der Sozialisation zurückzuführen. Parsons geht davon aus, dass diese

Verinnerlichung so zur Entfaltung kommt, dass sich das Individuum selbst motiviert

nach gesellschaftlichen Normvorstellungen zu handeln. Es setzt eine innere

Belohnung ein (vgl. Schneider 2005: 117)3.

Jedoch werden nicht in jeder Situation dieselben Erwartungen an das Individuum

gestellt. Eine Person kann mehrere soziale Rollen inne haben, zum Beispiel die des

Partners in einer Beziehung und die eines Elternteils. Die Mutter soll eher affektiv

gegenüber ihrem Kind handeln, während man von derselben Frau in ihrem Beruf als

Lehrererin erwartet, dass sie affektneutral bleibt. Die Handlungsorientierungen

werden also zu Rollenerwartungen. Eine Rollendifferenzierung findet statt. Diese

mögliche Rollenüberschneidung impliziert, dass man einer Person gegenüber nicht

alle Rollen einnehmen kann und es zu Konflikten kommt.

Die makrosoziologische Theorie von Parsons erklärt Handlungszusammenhänge

durch das AGIL-Schema, indem Bezugsprobleme zu Aufgaben umgewandelt

werden. Diese vier Aufgaben (AGIL) müssen von dem System erfüllt werden, um

stabil zu funktionieren. Das Allgemeine Handlungssystem beinhaltet neben den

Aufgabenstellungen auch die Pattern Variables, die eine dichotome Einteilung

menschlichen Handelns möglich machen und somit eine Typisierung zulassen. Diese

steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der sozialen Rolle, der nach Parsons

als ein Ausschnitt des Persönlichkeitssystems definiert ist.

3 Die Theorie von Mead

Eine ganz andere Auffassung, wie Soziologie forschen soll vertreten die Mitglieder

des interpretativen Paradigmas. Ziel war ein konkreteres und realitätsnäheres

3 In diesem Zusammenhang wird im Kapitel 4.2 die Gratifikations-Deprivations-Balance näher erläutert.

Page 10: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

10

Vorgehen ihrer Wissenschaft. Qualitative Methoden wurden entwickelt, die die

Interpretationsleistung des Menschen erfassen sollten, zum Beispiel in Form von

Analysen von Interaktions- und Kommunikationsprozessen (vgl. Brock et al. 2009:

18f). Dieser Theorierichtung gehörte auch George H. Mead an. Er versucht die Frage

zu analysieren, wie der Mensch dazu fähig ist, das Verhalten anderer zu antizipieren

und richtig zu interpretieren. Der Schlüssel, der soziales Handeln erklärt, liegt nach

Mead in der Interaktion. „Ich möchte einen anderen Ansatz vorschlagen: die

Erfahrung vom Standpunkt der Gesellschaft aus zu betrachten, zumindest unter dem

Gesichtspunkt der Kommunikation als der Voraussetzung für eine

Gesellschaftsordnung“ (Mead 1973: 39). Die nachfolgenden drei Abschnitte zu der

Theorie von Mead behandeln den Sinn-Begriff, das heißt, wie Sinn in dieser Theorie

verstanden wird. Folgend wird zu den signifikanten Symbolen hingeleitet und ihre

Bedeutung für menschliche Interaktionen erklärt und die Perspektive von Mead auf

die Entwicklung des Individuums wird dargelegt.

3.1 Der Sinn-Begriff

Verhaltensweisen in Interaktionen zwischen Menschen sind nach Mead (1973)

immer sinngesteuert, denn nur dadurch ist die Antizipation einer Handlung möglich.

Mead beginnt nach einem evolutionären Grundmodell des Sinns zu suchen und stößt

dabei auf die Erkenntnis, dass immer nur zwischen zwei Organismen einer Art eine

sinnbehaftete Interaktion stattfinden kann. Sinnbehaftet bedeutet in diesem Fall, dass

beide Organismen die Geste beziehungsweise das Symbol auf die gleiche Art und

Weise verstehen, dadurch wird die objektive Bedeutung eines Objektes zur subjektiv-

intentionalen (vgl. Schneider 2005: 181ff). Zunächst verständigten sich Arten durch

Gesten, die dann der Mensch zu Symbolen weiterentwickelte4.

Der Organismus besitzt eine dreifache Beziehung zu einer Geste. Erstens die

Beziehung zwischen der Geste und sich selbst, also welche Bedeutung er der Geste

zuschreibt. Zweitens die Beziehung zwischen dem anderen Organismus und der

Geste, denn auch dieser muss der Geste eine Bedeutung zuschreiben; im besten

Falle ist dies dieselbe. Drittens besteht zwischen der Geste und der Phase der

sozialen Handlung ein Bezug. Eine Geste zu verschiedenen Verlaufspunkten der

4 In diesem Zusammenhang wird auf Brock et al. 2009: 50 verwiesen.

Page 11: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

11

sozialen Handlung ausgeführt, kann immer eine andere Bedeutung haben5. Der Sinn

hängt also immer von der jeweiligen Situation ab und wird nicht nur durch den

Sender bestimmt, sondern auch durch den Empfänger, denn seine Reaktion spiegelt

sein Sinnverstehen wider und formt den weiteren Verlauf der Interaktion. In diesem

Zusammenhang ist auch die Bedeutung von Objekten zu betrachten. „Bedeutung ist

[…] in erster Linie nicht als ein Bewusstseinszustand oder einer Reihe von

Beziehungen zu sehen, die geistig außerhalb des Erfahrungsbereiches liegen, in den

sie eingehen, im Gegenteil: man sollte Bedeutung objektiv als etwas betrachten, das

unmittelbar in diesem Bereich selbst existiert“ (Mead 1969: 219ff). Mead geht davon

aus, dass Objekte durch und in der Interaktion ihre Bedeutung erhalten und dass

sich diese Bedeutung ändern kann. Der 11. September 2001 hat zum Beispiel das

Bild des Terroristen insoweit verändert, als dass dieser typischerweise aus dem

Nahen Osten kommt und dem muslimischen Glauben angehört.

3.2 Signifikante Symbole

Die evolutionäre Entwicklung von der Geste bis hin zum signifikanten Symbol ist eine

der zentralen Erklärungen des deutenden Verstehens durch den Menschen und

damit der Kommunikation. Mit Hilfe von Symbolen zu interagieren ist eine besondere

Fähigkeit des Menschen, denn mit ihrer Verwendung tritt eine Interpretationsinstanz

zwischen das Individuum und seine Umwelt. Symbole sind damit von instinktiven

Handlungen, die durch reflexives Bewusstsein ausgeführt werden zu unterscheiden

(vgl. Brock et al. 2009: 49f).

Symbole sind nach Mead (1969) nicht primär Bezeichnungen für bestimmte

Gegenstände, sondern gehen über ihre eigentliche Bedeutung hinaus. Das

Händereichen bei Vertragsabschluss steht stellvertretend für Loyalität dem

Vertragspartner gegenüber und für die Einhaltung der im Vertrag festgehaltenen

Konditionen. Es besitzt also einen tieferen Sinn, als die reine Bewegung des

Händegebens. Gestenkommunikation ist eine relativ universale Struktur, die

Kommunikation und Kooperation ermöglicht6. Signifikante Symbole hingegen sind in

ihrer Bedeutung nicht universal, sondern in bestimmten sozialen Gruppen, wie Peer-

5 Zur näheren Erläuterung: Das Händereichen zu Beginn einer Interaktion hat die Bedeutung einer Begrüßung,

während diese Geste am Ende einer Interaktion als Verabschiedung zu verstehen ist. 6 Mit „relativ“ ist gemeint, dass Gestenkommunikation zwar universaler ist als signifikante Symbole, jedoch nicht

für jeden Menschen verständlich. Das Händereichen, ist zum Beispiel in Deutschland und auch Amerika oder Japan, also über eine große Distanz bekannt, man kann aber nicht damit rechnen, dass diese Form des Vertragsabschlusses auch von einem afrikanischen Volksstamm verstanden wird.

Page 12: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

12

Groups oder auch Gesellschaftskreisen, festgelegt. Sie werden von Mitgliedern

dieser sozialen Gruppen in gleicher Art und Weise verwendet und verstanden. Oft ist

der Sinn eines signifikanten Symbols für Außenstehende nicht nachvollziehbar,

beziehungsweise die Handlung ist Sinn los. Signifikante Symbole sind durch die

Sprache möglich, die genauso wie das Mind eine spezielle Fähigkeit des Menschen

darstellt.

3.3 Die Struktur des Selbstbewusstseins

Durch die Sprache ist es dem Individuum möglich für sich selbst zum Objekt zu

werden, das heißt sich aus der Perspektive von anderen zu betrachten. Diese

Instanz nennt Mead, wie oben bereits erwähnt, Mind. Die Reflexion der eigenen

Handlung steht in Beziehung zu der sozialen Rolle, in der man sich befindet. Jeder

verhält sich so, wie er es von anderen in seiner Rolle erwarten würde. Diese

Erwartungserwartungshaltung ist prägend für das Selbstbewusstsein.

Das Selbstbewusstsein wird in diesem Fall nicht verstanden, als Wertschätzung der

eigenen Persönlichkeit, sondern als ein bewusstes Wissen, dass man selbst existiert

und interagiert. Dieses Bewusstsein, bezeichnet als Identität, benennt Mead mit dem

Begriff Self. Das Self gliedert sich auf in das I und das Me. Während das I

gegenwartsgerichtet ist und kreative Einfälle zum Self beisteuert, reflektiert das Me

die eigenen Überlegungen und Handlungen und prüft diese auf

Gesellschaftstauglichkeit. Es fungiert so zu sagen als Zensor, der eine objektive

individuelle Stellungnahme formuliert7. In wie weit der eine oder andere Faktor im

Self zum Ausdruck kommt steht mit der Rollenerwartung an das Individuum in

Verbindung (vgl. Schneider 2005: 206ff).

„Erst aus dem komplexen Zusammenhang von I, Me, Self und Mind sind in der

Meadschen Konzeption die Entstehung der Persönlichkeit des Menschen und dein

Handeln möglich und erklärbar. Der Mensch wird als Wesen mit reflexivem

Bewußtsein von sich selbst verstanden, der ein individuelles und zugleich soziales

Subjekt darstellt“ (Hurrelmann 1989: 50).

Mead hat eine mikrosoziologische Betrachtungsweise und versucht darin die

Vorgänge zwischen einzelnen Individuen nachzuvollziehen. Er erläutert in seiner

Theorie, wie sinnhafte Interaktionen zwischen Menschen funktionieren können.

7 Das Modell der Phasen des Selbst im inneren Dialog (Abb. 2) ist im Abbildungsanhang zu finden.

Page 13: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

13

Zunächst müssen Objekte und Zusammenhänge einen Sinn erhalten. Dieser Sinn

sollte von möglichst vielen Individuen verstanden und verwendet werden, damit

Interaktion erleichtert wird. Die menschliche Fähigkeit der Sprache spielt in der

Theorie von Mead eine bedeutende Rolle, da durch sie das Mind erzeugt wird und so

der Mensch Handlungen deutend verstehen kann, indem er sich selbst bewusst wird.

4 Vergleich der Sozialisationsmodelle

Wie bereits in der Einleitung beschrieben ist die Sozialisation ein lebenslanger Lern-

und Aneignungsprozess. In jedem Lebensabschnitt muss sich das Individuum

anderen Gegebenheiten anpassen. Die Sozialisation spielt sowohl in der Theorie von

Parsons als auch in der von Mead eine große Rolle, denn beide versuchen die

Verinnerlichung der sozialen Normen durch den Menschen zu erklären. Der Vorgang

der Sozialisation ist nach Parsons eine einzige Zeitspanne der Krisen. Das Kind ist

dazu genötigt ständig neu aufkommende Krisen durch Neuorientierung zu

überwinden. Krisen entstehen durch ständig komplexer werdende Situationen, die

das Individuum mit seinen bis dahin erlernten Werten und Normvorstellungen nicht in

der Lage ist zu lösen. Mead beschreibt die Sozialisation als einen Vorgang, in dem

das Individuum lernt sich selbst aus der Perspektive anderer sehen und sein Handeln

zu beurteilen. Es teilt sich mit und versteht die Position anderer durch das Medium

der Sprache. Anhand von drei Kategorien werden im Folgenden die beiden

Sozialisationsmodelle verglichen. Zuerst wird die Bedeutung des Individuums aus

beiden Perspektiven dargelegt. Dann wird das Erlernen sozialer Normen

beschrieben und, im nachfolgenden Kapitel, wie diese im sozialen Handeln realisiert

werden.

4.1 Bedeutung des Individuums

Die Sozialisation des Individuums wird von beiden Theoretikern ganz unterschiedlich

beschrieben. Parsons geht davon aus, dass Personen in sozialen Rollen

austauschbar sind und misst dem Individuum kaum Bedeutung zu. Für ihn sind

Personen immer ein Teil der Umwelt von sozialen Systemen, aber soziale Systeme

bestehen nicht aus ihnen. Mead dagegen betrachtet das Individuum als kreativen

Interpreten, der ständig seine Umwelt einzuordnen versucht und mit fremden

Situationen umgehen muss. Es entwickelt eigenständig ein Bewusstsein und ein

Page 14: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

14

Selbstbild. Die Gesellschaft beeinflusst zwar die Struktur des Selbstbewusstseins,

aber sie determiniert sie nicht. Nach Mead umgibt das Individuum immer eine soziale

Realität, die zugleich ein individuelles Arrangement ist (vgl. Hurrelmann 1989: 51f).

Die Sichtweise auf das Individuum ist der erste grundlegende Unterschied zwischen

den beiden Theorien: Parsons hat eine makrosoziologische Perspektive und sieht die

Gesellschaft als eine Einheit, in der der Mensch nur eine Nebenrolle spielt.

Wohingegen Mead dem Individuum die Position eines selbstbewussten kreativen

Teils der Gesellschaft einnehmen lässt.

4.2 Erlernen sozialer Normen

Parsons beginnt seine Überlegungen zu sozialen Normen indem er die Idee des

Utilitarismus aufgreift. Dieser steht seiner Meinung nach vor dem Dilemma, dass es

einen ständigen Widerspruch zwischen interessensgeleiteten und moralischen

Handlungsabsichten gibt. Diesen Widerspruch löst Parsons, indem er das evaluative

(moralische) und das affektiv-kathektische (interessensgeleitete) Verhalten verbindet.

Da das, was im normativen Interesse des Akteurs liegt, seinen Ursprung in

Moralvorstellungen hat, ist eine moralische Regel „nicht wahrhaft moralisch, wenn es

nicht wünschenswert erscheint, ihr zu gehorchen, wenn nicht das Glück und die

Selbsterfüllung des Individuums mit ihr verbunden sind“ (Parsons 1968: 387). Das

„richtige“ Verhalten wird durch die Gratifikations-Deprivations-Balance erlernt und

aufrecht erhalten. Diese Balance wird durch das Lernen am Erfolg, genauer durch

Belohnungen, erzeugt. Doch externe Belohnungsquellen sind nach Parsons (1999)

viel zu unzuverlässig, um so ein komplexes System, wie das soziale, aufrecht zu

erhalten. Er geht von einer inneren Belohnungsquelle aus. Zuerst werden Normen

generalisiert und somit stabilisiert. Das Individuum hält die generalisierten Normen

für richtig und wird für ihr Einhalten mit positiven psychischen Eindrücken belohnt.

Nonkonformes Verhalten löst psychische Kosten in Form eines schlechten

Gewissens aus8. Durch die Internalisierung wird das kognitive Verhalten dem

evaluativen und dem affektiv-kathektischen untergeordnet. Dies geschieht durch eine

völlige Wertinternalisierung, also der Gewissheit das Richtige zu tun, und lässt kaum

noch Selbstzweifel am eigenen Handeln zu. Allerdings führt diese zweite Stufe der

Entwicklung zur inneren Belohnungsquelle auch zu Uneinsichtigkeit gegenüber

fremden Wertvorstellungen (Mühler 2008: 103ff).

8 Das Sozialisationsmodell nach Parsons (Abb. 3) ist im Abbildungsanhang zu finden.

Page 15: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

15

Eine biologische Grundvoraussetzung für die Identifikation des Menschen mit den

moralischen Handlungsabsichten ist ein instinktfreies Denken. Diesen Gedanken

formulierte Gehlen (1940) in seiner Theorie und bezeichnet den Menschen als

Mängelwesen. Dadurch, dass der Mensch weder Instinkte noch Reflexe besitzt,

muss er seine Umwelt bewusst verarbeiten. Parsons führt zu diesem Zweck das

Modell der kulturvermittelten Orientierung ein. Diese besteht aus Werten und

Normen, die dem Individuum im frühen Alter durch eine Bezugsperson vermittelt

werden. Dieses Vorbild befriedigt primär die Bedürfnisse des Kindes und ist somit oft

ein Elternteil, das dem Kind Eigenschaften, Anforderungen und normative

Orientierungen näher bringt. Parsons spricht hier von einer Hierarchie der

Sozialisation. Zunächst steht das Individuum in einer Zweier-Beziehung, meist mit

der Mutter oder dem Vater, dann trifft es auf Gleichaltrige in der Schule.

Anschließend tritt es in die Jugendphase ein und darauf in das Erwachsenenalter,

welches die Institution des Arbeitens beinhaltet. Die letzte Stufe in der

„Rollenkarriere“ (Hurrelmann 1989: 43) ist die Gründung einer eigenen Familie. Je

mehr Menschen ein Individuum umgeben und je älter es wird, desto inhaltlich

umfassender und strukturell komplexer werden die Beziehungen und desto mehr

differenziert sich die Persönlichkeit aus (vgl. ebd.: 43).

Das Sozialisationsmodell nach Mead (1969) enthält ähnlich wie das von Parsons

verschiedene Stufen, durch die das Individuum mittels Interaktion und

Kommunikation das individuelle Verhalten auf normative und kulturelle

Anforderungen abzustimmen lernt. Durch das Mind wird es dem Individuum möglich

sich selbst als Objekt zu sehen und dadurch sein eigenes Handeln aus der Sicht

anderer zu betrachten. Diese Fähigkeit erlernt es auf zwei Stufen des

Sozialisationsmodells: Durch das Play und das Game. Die erste Stufe ist das Play.

Das Kind ahmt Verhaltensweisen nach und lernt dadurch verschiedene Perspektiven

kennen, zum Beispiel die Rolle der Mutter oder des Lehrers. Es lernt, die

Handlungsweise zu verstehen, dadurch dass es im Spiel mit anderen bis dahin

erfahrene Rollenmuster einnimmt. Es vermittelt auf der einen Seite seinen

Spielgefährten durch Sprache wie es die nachgeahmte Rolle bis jetzt erlebt hat und

wägt gleichzeitig im Kopf ab, was die Person in dieser oder jener Situation tun würde.

Es versucht sich also in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und lernt

durch eigenes Interpretieren das Rollenmuster weiterzudenken. Die zweite Stufe der

Page 16: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

16

Sozialisation ist das Game. Das Game vermittelt dem Kind, dass es in Interaktionen

bestimmte Regeln gibt, wie zum Beispiel bei Wettkämpfen. Regeln sind

generalisierte Erwartungshaltungen, die richtig und falsch definieren und

Konsequenzen haben, die das Individuum tragen muss. Die Erwartungshaltung

bezeichnet man auch als generalisierter anderer, beziehungsweise generalized

other. „Die organisierte Gemeinschaft oder soziale Gruppe, in dem Individuum die

Einheit seines Ichs gibt, kann der ‚generalisierte Andere‘ genannt werden. Die

Haltung des generalisierten Anderen entspricht der Haltung der gesamten

Gemeinschaft“ (Mead 1969: 282). Dadurch wird dem Individuum verdeutlicht, dass

es keine Ausnahme bildet, sondern in einem großen Kontext agiert9. Es muss sich an

bestimmte Vereinbarungen halten, damit dieser Kontext für alle weiterhin

handhabbar bleibt. Es wird dem Individuum also der normative Rahmen seiner

Handlungen aufgezeigt und gleichzeitig bestimmte standardisierte Reaktionsmuster

nahe gebracht, die in jedem folgenden Stadium der Sozialisation gelten. Je weiter

das Individuum im Sozialisationsprozess fortschreitet, desto besser kann es in

Interaktion treten und Konflikte lösen, denn es werden ihm immer mehr

Handlungsmuster vertraut und nachvollziehbar (vgl. Schneider 2008: 213ff). Das

Einhalten sozialer Normen wird erstens durch die Legitimation des richtigen

Handelns garantiert und zweitens durch allgemeine Gültigkeit, welche dem

Individuum Handlungssicherheit beziehungsweise Selbstsicherheit vermittelt (vgl.

Mühler 2008: 55f). Wenn sich das Individuum nicht nach den sozialen Normen

richtet, kann dies zu Sanktionen wie Ausschluss aus der Gemeinschaft führen. „Und

so kommt es, daß diese gesellschaftliche Kontrolle [der Reaktion], die mittels der

Selbstkritik wirkt, das Verhalten des Einzelnen so eindringlich und umfassend

beeinflußt und dazu dient den Einzelnen und seine Handlungen im Hinblick auf den

organisierten gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß zu integrieren“

(Mead 1995: 301).

Beide Theoretiker setzen voraus, dass der Mensch ohne die Institution Kultur nicht

fähig ist in einer Gesellschaft zu leben. Hier wird der Gedanke von Gehlen, an den

Menschen als Mängelwesen aufgegriffen. Sowohl Parsons als auch Mead

beschreiben die Sozialisation als ein Stufenmodell, in dem man mit zunehmendem

Alter immer neuen Herausforderungen gegenübersteht und sich bewähren muss. Die

9 Das Sozialisationsmodell nach Mead (Tab. 2) ist im Abbildungsanhang zu finden.

Page 17: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

17

Normerhaltung wird in der strukturfunktionalistischen Theorie nach Parsons durch die

innere Belohnung (Gratifikations-Deprivations-Balance) gewährleistet. Mead

beschreibt den Erhalt in seiner handlungstheoretischen Perspektive durch

gesellschaftliche Kontrolle in Form von Sanktionierung. Ein Beispiel der Sanktion

wäre der Ausschluss aus der Gemeinschaft.

4.3 Vorgang des sozialen Handelns

Durch soziale Normen ist der Mensch fähig sozial zu handeln. Der Begriff des

sozialen Handelns wird von beiden Theoretikern im Sinne Webers verwendet:

„‘Soziales‘ Handeln soll […] ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem

oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird

und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1922: 1).

In Parsons Theorie treten soziale Normen im Handlungsvorgang durch Bewertung

von Objekten anhand von Reaktionsmodi auf. Zunächst definiert der Akteur eine

Situation, da er nie fähig ist seine ganze Umwelt aufzunehmen und in seiner

Abschätzung von Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Hierbei dienen alle

Objekte, die der Akteur als bedeutend erachtet als Orientierung und bilden somit

Kriterien für die folgende Handlung. Nach Parsons gibt es drei Reaktionsmodi, die

dem Akteur eine Orientierung geben: Den kognitiven Reaktionsmodus, den

affektiv-kathektischen und den evaluativen Reaktionsmodus. Der kognitive

Reaktionsmodus vermittelt ein Bild der gesellschaftlichen Umwelt und bezieht

Bedingungen, Möglichkeiten und Hemmnisse der Handlung mit ein. Er orientiert die

folgende Handlung an Ideen und Glauben. Der affektiv-kathektische

Reaktionsmodus berücksichtigt emotionale Bindungen. Daraus folgende Reaktionen

sind meist expressiver Natur. Der evaluative Reaktionsmodus berücksichtigt die

Folgen der eventuell bevorstehenden Handlung und orientiert sich an der

Werthaltung des Akteurs. Sowohl Ideen und Glaube, als auch Formen emotionaler

Bindungen und Wertorientierungen entstehen aus dem Kultursystem des Akteurs

und sind damit unterschiedlich und variabel. Nachdem der Akteur die verschiedenen

Reaktionsmodi berücksichtigt hat, reagiert er auf die von ihm definierte Situation.

Dieser Ablauf stellt den action frame of reference, also den Handlungsrahmen her

(vgl. Morel et al. 2001: 152ff).

Mead nennt in seiner Theorie diesen Handlungsrahmen universe of discourse. Er

besteht aus einem „System konventionalisierter Zeichen und Bedeutungen“ (Brock et

Page 18: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

18

al. 2009: 54). Dieses System entsteht durch ausgesprochene soziale Beziehungen

und wird gleichzeitig durch sie Sprache ständig verändert und reproduziert. Die zuvor

erläuterten signifikanten Symbole sind eine wichtige Voraussetzung für soziales

Handeln und sind ebenfalls Teil des Diskursuniversums, durch sie wird Interaktion

überhaupt möglich. Ohne allgemein verständliche Sprache und Zeichen wäre der

Mensch viel zu unsicher sich auszudrücken und eine Interaktion würde immer wieder

mit der komplizierten Erklärung von Umständen beginnen ohne dem Gegenüber am

Ende mitgeteilt zu haben, was man ihm mitteilen wollte. Denn ohne

Diskursuniversum, gäbe es keine signifikanten Symbole und damit auch keine

Beziehung zwischen Bedeutungen und Objekten und damit keine Sinnhaftigkeit.

Der Vorgang des sozialen Handelns wird sowohl bei Parsons, als auch bei Mead als

ein von Normen gesteuerter Prozess gesehen. Allerdings ist bei Parsons die

Sozialisation ein Weg an der Gesellschaft teilzuhaben und bei Mead ist sie ein

Verlauf, der es dem Individuum ermöglicht sein soziales Umfeld „zu verstehen und

zielgerichtet mit ihnen zu interagieren“ (Mühler 2008: 246).

5 Diskussion der Sozialisationsmodelle

Sozialisation bedeutet im Kontext der holistischen funktionsstrukturalistischen

Theorie Parsons‘ vor allem Wertinternalisierung, also die Übernahme und

Verinnerlichung sozialer Werte und Rollennormen der sozialen Umwelt (vgl. Morel

2001: 318). Im Idealfall werden diese Werte soweit verinnerlicht, dass sich eine

eigene Motivation ergibt weiterhin nach sozialen Normen zu handeln. Dieses

Ergebnis löst nach Parsons das Ordnungsproblem, denn durch Wertinternalisierung

wird der Handlungs- und Verhaltensspielraum eingegrenzt und das Individuum

versucht sich normkonform zu verhalten. Dadurch wird der Mensch in eine

Rollenstruktur gedrängt, der er sich nicht widersetzen kann. Er tritt als angepasstes

Spiegelbild der Gesellschaft auf und hat keinen eigenen Gestaltungsfreiraum.

Parsons‘ Fixierung auf die Balance zwischen den einzelnen Systemen,

Persönlichkeit, Organismus und Gesellschaft, klammert außerdem den Konflikt als

gesellschaftlichen Prozess völlig aus. Dies ist keinesfalls realitätsnah.

George H. Mead betrachtet Sozialisation als eine Entwicklung der Persönlichkeit

durch Interaktionsmuster. Er beschreibt sehr differenziert die Beziehung zwischen

Page 19: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

19

den Individuen, beziehungsweise zwischen Individuum und seiner Umwelt, jedoch

geht er kaum auf Institutionen oder organisatorische Strukturen ein. Der Einfluss, den

gesellschaftliche Einrichtungen auf den Menschen haben, wird in seiner Theorie

nicht berücksichtigt. Jedoch wäre es wichtig, diese Verbindung zwischen Individuum

und Institution zu betrachten, da die soziale Struktur zu einem nicht geringen Maße

die Persönlichkeitsbildung beeinflusst. Auch mögliche Hierarchiestrukturen, die den

Menschen von außen in seinen Handlungen manipulieren könnten, wie zum Beispiel

Machtstrukturen, tauchen in der Handlungstheorie von Mead nicht auf.

Gemeinsamkeiten der beiden Sozialisationsmodelle sind die

Perspektiventransformation und die Generalisierung. Beide Theoretiker gehen davon

aus, dass ein Individuum, um sich in der Gesellschaft zu orientieren, in der Lage sein

muss die Perspektive seiner sozialen Umwelt einzunehmen. Es muss die

Handlungen anderer nachvollziehen können, um zum einen sein eigenes Verhalten

auf soziale Maßstäbe zu prüfen und zum anderen die Handlung des Gegenübers

vorausahnen zu können und so bewusst zu handeln. Die Generalisierung ist

ebenfalls ein wichtiger Aspekt beider Theorien. Dadurch manövriert sich das

Individuum bei Parsons aus den Krisen heraus, die es im Laufe der Sozialisation

immer wieder erfährt. In der Theorie von Mead lernt das Individuum durch den

generalized other, im Sprachgebrauch „man“, nach allgemeinen Regeln zu handeln.

Der Unterschied zwischen den beiden Theorien liegt in der Erklärung zur Ordnung

des Handelns. Parsons teilt die Welt in Systeme ein, die möglichst aufeinander durch

bestimmte Mechanismen abgestimmt, agieren und funktionieren und die in einer

vorgegebenen Form ohne Irritationen ständig ablaufen. Diesen Verlauf begründet er

mit der Generalisierung von Affekten durch kulturelle Werte. Kulturelle Werte werden

soweit verinnerlicht, dass jedweder Affekt ihnen untergeordnet wird und damit eine

Generalisierung der sozialen Handlungen geschieht. Für Mead hingegen wird ein

Aspekt ausschlaggebend, der in Parsons Theorie gar keine Beachtung findet,

nämlich die Sprache. Er spricht von einer Generalisierung von

Handlungsdispositionen durch die Sprache. Diese Fähigkeit des Menschen macht

eine reflexive Betrachtung und damit die Sozialisation erst möglich.

Beide Theoretiker betrachten die Sozialisation aus differierenden Perspektiven.

Parsons erklärt mit seinem Modell wie die Gesellschaft funktioniert und stabil bleiben

kann (Brock et al. 2007: 196). In der Theorie von Mead ist die Sozialisation ein

Page 20: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

20

Prozess, der die Identität eines Individuums ausformt, indem es sich als „Teil eines

sozialen und allgemeinen Erwartungszusammenhang“ (Brock et al. 2009: 58). Trotz

einiger Gemeinsamkeiten sind die beiden Modelle, aufgrund ihrer unterschiedlichen

Herangehensweise, nicht miteinander vereinbar.

Page 21: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

21

6 Quellenverzeichnis

Brock D./Junge M./Krähnke U. (2007): Soziologische Theorien von Auguste Comte bis

Talcott Parsons, Einführung. 2. Auflage. München Wien: Oldenbourg Verlag.

Brock D. et al. (2009): Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons, Eine Einführung. 1.

Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Dahrendorf R. (1965): Homo Sociologicus. 5. Auflage. Köln und Opladen.

Durkheim E. (1972): Erziehung und Soziologie. Düsseldorf.

Gehlen A. (1986): Der Mensch, Seine Natur und Stellung in der Welt. Bonn: Athenäum.

Hobbes T.: Leviathan. Zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1978. Stuttgart.

Hurrelmann K. (1989): Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von

Sozialstruktur und Persönlichkeit. 2. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Hurrelmann K./Grundmann M./Walper S. (2008): Handbuch Sozialisationsforschung. 7.

Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Joas H. et al. (2007): Lehrbuch der Soziologie. 3. Auflage. Frankfurt a.M. New York:

Campus-Verlag.

Mead G. H. (1995): Geist, Identität und Gesellschaft. 10. Auflage. Frankfurt a.M.: Shurkamp

Taschenbuch Wissenschaft.

Miebach B. (2006): Soziologische Handlungstheorie. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für

Sozialwissenschaften.

Morel J. et al. (2001): Soziologische Theorien, Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. 7.

Auflage. München Wien: Oldenbourg Verlag.

Mühler K. (2008): Sozialisation, Eine soziologische Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink

Verlag.

Opielka M. (2006): Gemeinschaft in Gesellschaft, Soziologie nach Hegel und Parsons. 2.

Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Parsons T. (1968): Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a.M.: Europäische

Verlagsanstalt.

Parsons T. (1978): Action Theory and the Human Condition. New York.

Schneider W. L. (2005): Grundlagen der sozilogischen Theorie, Band 1: Weber-Parsons

Mead- Schütz. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Weber M. (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie.

Studienausgabe, Zitiert nach der Ausgabe von 1988. Tübingen.

Page 22: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

22

7 Abbildungsanhang

Abb. 1: Das Allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme (Mühler 2008: 146)

Abb. 2: Phasen des Selbst im inneren Dialog (Schneider 2005: 211)

Page 23: Technische Universität Chemnitz Institut für Soziologie · PDF fileTechnische Universität Chemnitz – Institut für Soziologie Perspektiven der Sozialisation, Sozialisationsmodelle

23

Abb. 3: Sozialisationsmodell nach Talcott Parsons (Schneider 2005: 116)

Tab. 2: Sozialisationsmodell nach George H. Mead

Quelle: Miebach 2006: 56