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Prof. Bernhard Waldmann Skriptum Bundesstaatsrecht 2003/2004 Teil II GRUNDRECHTE AUER/MALINVERNI/HOTTELLIER, Volume II, passim; HÄFELIN/HALLER, §§ 6–31; MÜLLER J.P., passim; S. 621 ff.; RHINOW, §§ 9–12; Verfassungsrecht der Schweiz, §§ 39–53. § 6 Allgemeiner Teil I. Begriffliches 1. «Grundrecht» Materieller Begriff = Rechte, die den Einzelnen durch eine Autorität zugesprochen werden, weil sie eine grund Bedeutung haben für die Ausgestaltung der Beziehungen mit der Gesellschaft und den öffentlichen Gewalten legende Formeller Begriff =Grundrechtskatalog (Ausnahme Art. 35, 36 BV) Botschaft BV (BBl 1997 I 191): «Die Grundrechte sind den Einzelnen gewährleistete Rechte, die von grundlegender Wichtigkeit sind für die Bestimmung der Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft und zu den Behörden. Ihre Funktion ist sowohl defensiv, indem sie den Einfluss des Staates auf die Individuen beschränken, als auch positiv, indem sie den Staat zu einem Tun veranlassen oder ihn gar dazu verpflichten. In beiden Fällen ist das verfolgte Ziel dasselbe: die tatsächliche Verwirklichung der Rechte und Freiheiten. Artikel [35 BV] bringt diese Idee zum Ausdruck und erinnert daran, dass die Gewährleistung der Grundrecht ein Grundprinzip der schweizerischen Rechtsordnung ist, neben dem Föderalismus, dem Demokratiegebot und der Gewaltentrennung.» - 27 -

Teil 2 Grundrechte - perso.unifr.chperso.unifr.ch/.../docs/bundesstaatsrecht/skript-teilII.pdf · rechts-schranke Grundrechts-verletzung Wenn nein ... Bsp.: Eine Erhöhung des Treibstoffzolls

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Prof. Bernhard Waldmann Skriptum Bundesstaatsrecht 2003/2004

Teil II

GRUNDRECHTE

AUER/MALINVERNI/HOTTELLIER, Volume II, passim; HÄFELIN/HALLER, §§ 6–31; MÜLLER J.P., passim; S. 621 ff.; RHINOW, §§ 9–12; Verfassungsrecht der Schweiz, §§ 39–53.

§ 6 Allgemeiner Teil

I. Begriffliches

1. «Grundrecht»

Materieller Begriff = Rechte, die den Einzelnen durch eine Autorität zugesprochen werden, weil sie eine grundBedeutung haben für die Ausgestaltung der Beziehungen mit der Gesellschaft und den öffentlichen Gewalten

legende

Formeller Begriff =Grundrechtskatalog (Ausnahme Art. 35, 36 BV)

Botschaft BV (BBl 1997 I 191): «Die Grundrechte sind den Einzelnen gewährleistete Rechte, die von grundlegender Wichtigkeit sind für die Bestimmung der Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft und zu den Behörden. Ihre Funktion ist sowohl defensiv, indem sie den Einfluss des Staates auf die Individuen beschränken, als auch positiv, indem sie den Staat zu einem Tun veranlassen oder ihn gar dazu verpflichten. In beiden Fällen ist das verfolgte Ziel dasselbe: die tatsächliche Verwirklichung der Rechte und Freiheiten. Artikel [35 BV] bringt diese Idee zum Ausdruck und erinnert daran, dass die Gewährleistung der Grundrecht ein Grundprinzip der schweizerischen Rechtsordnung ist, neben dem Föderalismus, dem Demokratiegebot und der Gewaltentrennung.»

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Abgrenzungen:

• «Grundrechtsnorm» • «Menschenrechte» • «Bürgerrechte» • «Freiheitsrechte» • «Verfassungsmässige Rechte» • «Grundpflichten»

2. «Grundrechtstheorie» Über Grundrechte lassen sich historische, philosophische, soziologische und auch juristische Theorien aufstellen. Bei Letzterer geht es um die Heraus-kristallisierung von allgemeinen Aussagen über Wesen und Reichweite, über Funktionen und Verständnisse von Grundrechten. Mit anderen Worten geht es um eine «systematische Zusammenstellung wissenschaftlicher Aussage über Entstehung, Wandeln und Wirkungsweise von Grundrechten» (EKKEHART STEIN/FRANZ

GÖTZ, Staatsrecht, 17. Auflage, Tübingen 2000, § 57). In der Schweiz sind allgemeine Aussagen über Grundrechte fast immer nur im Zusammenhang mit Freiheitsrechten zu finden. Erst neuere Lehrbücher versuchen, den Ausführungen über die einzelnen Grundrechte jeweils eine Art allgemeinen Teil voranzustellen.

II. Rechtsquellen der Grundrechte

• BV • KV

• EMRK und Europäische Sozialcharta

• UN-Pakte

• Andere

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III. Arten der Grundrechte

Freiheits- und Integritätsrechte

Rechtsstaatliche Garantien

Politische Grundrechte

status negativus

status activus

Rechtsstaat Demokratie (Mitwirkung an staatlicher Willensbildung)

Sozialstaat Liberalismus gegen Absolutismus

status positivus

Soziale Grundrechte

Schutzbereich (Freiheit bzw. Integrität) Schranken möglich (zugunsten anderer)

Verwandt mit Freiheitsrechten Mindestintegrität und Verhalten geschützt (pos. Leistungspflicht) Schranken?

Verfahrensrechte Stimmrecht

Grundschul-unterricht

Existenzsicherung

Initiativrecht

Treu und Glauen Willkürverbot

Rechtsgleichheit

Kein Schutzbereich Nur Rechte gegenüber Staat (also nur staatliches Umfeld) Keine Schranken (aber Inhaltsgebung durch Gesetzgebung)

Kein Schutzbereich (kein inhaltlich bestimmtes Recht, aber Garantie einer bestimmten Art in der Erfüllung der Aufgaben)

Persönliche Freiheit

Eigentum Religion

Niederlassung

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IV. Funktionen von Grundrechten

1. Allgemeines: Die Plurifunktionalität der Grundrechte 2. «Negative» und «positive» Funktionen

Botschaft BV (BBl 1997 I 191): «Ihre Funktion ist sowohl defensiv, indem sie den Einfluss des Staates auf die Individuen beschränken, als auch positiv, indem sie den Staat zu einem Tun veranlassen oder ihn gar dazu verpflichten. In beiden Fällen ist das verfolgte Ziel dasselbe: die tatsächliche Verwirklichung der Rechte und Freiheiten...».

3. «Subjektive» und «objektive» Funktionen

Botschaft BV (BBl 1997 I 13): «Die Grundrechte verbürgen nicht nur gerichtlich durchsetzbare Ansprüche des Individuums; als objektive Prinzipien durchdringen die Grundrechte anerkanntermassen die gesamte Rechtsordnung.»

4. «Demokratische Funktion» und «Minderheitenschutz»

• Die demokratische Funktion der Grundrechte stand in der Schweiz während langer Zeit im Vordergrund (Grundrechte als Motoren des politischen Meinungsbildungsprozesses)

• Minderheitenschutz: Grundrechte schützen aber auch vor

demokratischen Mehrheitsentscheiden. 5. Andere?

• Bundesstaatliche Funktion

• Im Dienste des Binnenmarktes

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V. Wirkung der Grundrechte

1. Allgemeine Grundrechtstheorie a) Rechtsnormen mit Prinzipiencharakter

Rechtsnormen

Regeln Prinzipien

Andere (Sitte, Ethik)

Normen

b) «Normschichten»

Grundrecht

2. Geltung in der ganzen Rechtsor Das soeben dargestellte, in der Lehre eder neuen Bundesverfassung neu in Art

Botschaft BV (BBl 1997 I 192): «Absatz 1 unserer Rechtsordnung sind und dass sieTragen kommen sollen. Er gibt den statatsächliche Verwirklichung der Grundrecum das angestrebte Ziel zu erreichen. Diesjeder Tätigkeit zu enthalten, die den GrundFunktion der Grundrechte als Abwehrreauferlegt. Der Auftrag enthält aber weiter azu verhalten, dass die Grundrechte geschüSinn kündigt Absatz 1 bereits die Horizonta

-

Subjektivrechtliche Schicht

Objektiv- rechtliche Schicht

dnung (Art. 35 Ab

ntwickelte Grund. 35 BV Ausdruck

bringt zum Ausdruck, d in der Gesamtheit unatlichen Behörden denhte zu sorgen, d.h. alleer Auftrag schliesst zunrechten schaden könntchte, die dem Staat uch die Verpflichtung dtzt und gefördert werdelwirkung an, die in Ab

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Obj. Recht Progr. Schicht

s. 1 und 3 BV)

rechtsverständnis hat in gefunden.

ass die Grundrechte Fundament seres politischen Systems zum allgemeinen Auftrag, für die geeigneten Mittel einzusetzen, ächst die Verpflichtung ein, sich e; dies entspricht der klassischen eine Pflicht zur Zurückhaltung er staatlichen Behörden, sich so n (positive Funktion). In diesem

satz 3 näher bestimmt wird....».

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Botschaft BV (BBl 1997 I 193): «Absatz 3 (...) präzisiert demnach die positive Funktion der Grundrechte, die in Absatz 1 erst implizit enthalten ist. Die vorgeschlagene Formulierung bringt die drei folgenden Gedanken zum Ausdruck: Zunächst wird im Einklang mit der herrschenden Lehre anerkannt, dass die Grundrechte auch eine Wirkung auf die Beziehungen unter den Einzelnen haben. Dann erscheint es, dass diese Wirkung nicht konstant ist, dass sie sich vielmehr wandelt je nach der Art des Betreffenden Grundrechts und je nach den Umständen; es ist jedesmal eine Analyse der konkreten Situation erforderlich, damit entschieden werden kann, ob die Analogie möglich ist. Schliesslich wird präzisiert, dass die Transposition das Werk der Behörden ist, worunter sowohl die rechtsetzenden als auch die rechtsprechenden Organe zu verstehen sind....».

BGE 126 II 300 ff., 314 f. (Baselbieter Banntag): «Nach neuerer Auffassung haben Grundrechte nicht nur eine abwehrende Funktion gegen Beeinträchtigungen durch den Staat, sondern begründen auch eine staatliche Schutzpflicht gegen Gefährdungen, die von Dritten verursacht werden. Diese Auffassung wurde vor allem in Deutschland entwickelt (...). Sie wird auch in der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung vertreten (..). .Auch Art. 2 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten positiv zum Schutz des Lebens (....). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sodann aus der Freiheit des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eine staatliche Pflicht zum Schutz bedrohter Grundrechte hergeleitet (...) Die grundrechtliche Schutzpflicht kann aber ebenso wenig wie das Umweltrecht einen absoluten Schutz gegen jegliche Beeinträchtigung und Risiken gewähren. Das ergibt sich einerseits aus den faktisch begrenzten Mitteln des Staates (...), andererseits aber auch daraus, dass ein solch absoluter Schutz unweigerlich dazu führen müsste, dass zahlreiche Tätigkeiten Dritter verboten werden müssten, was in Konflikt treten würde zu deren ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Betätigungsmöglichkeiten (...). Auch bei Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht ist deshalb eine Abwägung zwischen den beteiligten Interesse . erforderlich (...). Dies ist in erster Linie Sache der einschlägigen Gesetzgebung, welche durch Festlegung der unzulässigen bzw. zulässigen Tätigkeiten die Grenze zwischen einer unerlaubten Gefährdung und einem hinzunehmenden Restrisiko definiert (...).»

3. Grundrechtsträger und Grundrechtsadressaten a) Grundrechtsträger

Für die Frage des Grundrechtsträgers besteht keine allgemeine Bestimmung in der Bundesverfassung. Vielmehr muss für jedes Grundrecht separat geklärt werden, wer sich darauf berufen kann. b) Grundrechtsadressaten

Art. 35 Abs. 2 BV: wer «staatliche Aufgaben» wahrnimmt.

Botschaft BV (BBl 1997 I 193): «Absatz 2 bezeichnet die Adressaten der Grundrechte und wendet sich in diesem Sinn an die Organe sämtlicher Gemeinwesen (Bund, Kantone und Gemeinden)und an diejenigen Personen, die eine staatliche Aufgabe wahrnehmen. Sie sind es, die die Grundrechte respektieren und verwirklichen müssen, indem sie sich entweder einer Tätigkeit enthalten oder indem sie sich so verhalten, dass die Grundrechte geschützt und gefördert werden. (...) Die Delegatäre staatlicher Aufgaben sind (...) Substitute des Gemeinwesens, für das sie handeln, wenn sie die besagten Aufgaben wahrnehmen; in diesem Sinn ist ihnen ein Teil der staatlichen Gewalt übertragen, und als solche können sie den Privaten Verpflichtungen auferlegen. Deshalb geht es nicht an, sie von der Verpflichtung zu entbinden, die Grundrechte zu respektieren. Auf der anderen Seite ist es durchaus vorstellbar, dass im einen oder anderen Punkt die Pflichten, die sich aus einem bestimmten Grundrecht ergeben, angepasst werden müssen, wenn gewisse staatliche Aufgaben delegiert werden...».

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VI. Grundrecht und Grundrechtsschranken

1. Grundrechte mit Schutzbereich a) Überblick

persönlich sachlich

Ist der Schutzbereich betroffen?

Art. 36 BV

Liegt ein Eingriff vor?

Ist der Eingriff verfassungsmässig?

Wenn ja

Grund-rechts-schranke

Botschaft BV (BBl 1997Gesamtheit der Grundzugeschnitten, d.h. auf dFähigkeiten beziehen, dGlaubens- und Gewissgleichheit (...) und für iund Glauben (...) oderangemessen konzipiert,

b) Schutzbereich

Wenn nein

Grundrechts-verletzung

I 194): «Die in diesem Artikel aufgestellte Ordnung ist nicht auf die rechte anwendbar, sondern im wesentlichen auf die Individualrechte iejenigen Grundrechte, die sich auf die Ausübung gewisser menschlicher eren Schutzbereich und Inhalt sich aus ihnen selber ergeben (z.B. die ensfreiheit, die Meinungsfreiheit...). Für Grundrechte wie die Rechts-hre Ableitungen wie den Schutz vor Willkür und die Wahrung von Treu für gewisse Verfahrensgarantien (..) aber ist die Eingriffsregelung nicht ebensowenig wie für gewisse Grundrechte sozialen Charakters (...)».

Schutzbereich

Kerngehalt

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c) Grundrechtseingriff und Grundrechtsverletzung

Als Grundrechtseingriff gilt jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung gewollt oder ungewollt, rechtlich oder faktisch erfolgt. Allerdings muss die Wirkung der öffentlichen Gewalt zurechenbar sein.

Bsp.: Eine Erhöhung des Treibstoffzolls hat für die Tankstellenbetreiber an der Landesgrenze zur Folge, dass die Konsumentinnen und Konsumenten aus dem nahen Ausland ausbleiben. Dies führt allerdings noch nicht zu einem – dem Staat zurechenbaren – Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit der Tankstellenbetreiber.

Vgl. zum Ganzen auch BGE 125 I 198 ff. (Landegebühr am Flughafen Zürich); 118 Ia 46 ff. (Subvention an infosekta).

Eine Grundrechtsverletzung liegt dann vor, wenn der Eingriff nicht gerechtfertigt werden kann (Art. 36 BV). 2. Grundrechte «ohne Schutzbereich» Auch Grundrechte «ohne Schutzbereich» weisen im Grunde genommen einen eigenen Geltungsbereich auf. Allerdings fallen hier Tatbestandsmässigkeit und Grundrechtsverletzung zusammen.

Beispiel: Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs.2 BV). Eine Diskriminierung (Tatbestand) stellt immer eine Grundrechtsverletzung dar.

Vgl. BGE 126 I 81 ff.: Gemäss der Rechtsprechung zu Art. 88 OG und Art. 4 aBV begründet das allgemeine Willkürverbot für sich allein keine geschützte Rechtsstellung, welche zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde berechtigt.

VII. Menschenwürde (Art. 7 BV) als Basisgrundrecht

1. Rechtsnatur und Wirkungskraft von Art. 7 BV

Botschaft BV (BBl 1997 I 140): «Der Schutz der Menschenwürde ist Kern und Anknüpfungspunkt anderer Grundrechte, umreisst den Gehalt dieser Rechte und bietet eine Richtschnur für deren Auslegung und Konkretisierung. Nach Auffassung des Bundesgerichts und nach einem Teil der Lehre ist dieses Grundrecht nicht direkt anwendbar; es stellt vielmehr einen Grundwert dar, ein Rechtsgut, welches es im Rahmen der persönlichen Freiheit zu respektieren gilt (...).»

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2. Inhalt der Menschenwürde

BGE 127 I 6 E. 5b: «“Nach Art. 7 BV ist die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Diese Bestimmung ist neu in die Bundesverfassung aufgenommen worden. In der alten Bundesverfassung war lediglich im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie davon die Rede, dass auf dem Gebiet des Umgangs mit menschlichem Keim- und Erbgut neben Persönlichkeit und Familie auch die Menschenwürde zu schützen sei (siehe Art. 119 Abs. 2 BV); die Menschenwürde wird gleichermassen im Bereiche der Transplantationsmedizin ausdrücklich angesprochen (Art. 119a Abs. 1 BV). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat sich im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsmedizin und dem Grundrecht auf Existenzsicherung auf die Menschenwürde als allgemeines Schutzobjekt und generelles Verfassungsprinzip bezogen (vgl. BGE 115 Ia 234 E. 10b S. 269; 121 I 367 E. 2b S. 372). Bisweilen hat das Bundesgericht die Menschenwürde in Beziehung zur persönlichen Freiheit und deren allgemeiner Umschreibung als ungeschriebenes Grundrecht gesetzt und sich zu einer Wertordnung bekannt, die es sich zur Aufgabe macht, die Menschenwürde und den Eigenwert des Individuums sicherzustellen (BGE 97 I 45 E. 3 S. 49, mit Hinweisen); in einem neueren Entscheid betreffend eine psychiatrische Zwangs-begutachtung einer hochbetagten, gebrechlichen und pflegebedürftigen Person ist die Menschen-würde ohne nähere Begründung gar als Teil der persönlichen Freiheit bezeichnet worden (BGE 124 I 40 E. 3a S. 42). Einen Bezug zur Menschenwürde weist weiter der Anspruch auf rechtliches Gehör auf; es stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht dar und garantiert, dass der Einzelne nicht bloss Objekt der behördlichen Entscheidung ist, sondern sich eigenverantwortlich an ihn betreffenden Entscheidprozessen beteiligen kann (vgl. BGE 124 V 180 E. 1a S. 181; ZBl 65/1964 S. 216 f.; JÖRG P. MÜLLER, a.a.O., S. 510 f.). In der Botschaft des Bundesrates zur neuen Bundes-verfassung wird die Bestimmung über die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als Kern und Anknüpfungspunkt anderer Grundrechte bezeichnet, welche deren Gehalt umreissen und als Richtschnur für deren Konkretisierung dienen. Die neue Verfassungsbestimmung stelle gewisser-massen ein subsidiäres Auffanggrundrecht dar; es könne insbesondere im Rahmen der persönlichen Freiheit als eigenständige Garantie angerufen werden (BBl 1997 I 140 f.). Art. 7 BV enthält nach seinem Wortlaut eine Handlungsanweisung und unterscheidet sich insofern von Art. 1 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes, welcher ausdrücklich die Unantastbarkeit der Menschenwürde garantiert (vgl. Botschaft zur BV, BBl 1997 I 141). Die Menschenwürde ist nach Art. 7 BV im staatlichen Handeln ganz allgemein zu achten und zu schützen. Die Bestimmung hat insofern die Bedeutung eines Leitsatzes für jegliche staatliche Tätigkeit, bildet als innerster Kern zugleich die Grundlage der Freiheitsrechte und dient daher zu deren Auslegung und Konkretisierung. In der Doktrin wird die neue Verfassungsbestimmung denn auch als oberstes Konstitutionsprinzip, als Auffanggrundrecht sowie als Richtlinie für die Auslegung von Grundrechten bezeichnet (…). Darüber hinausgehend wird der Menschenwürde für besondere Konstellationen ein eigenständiger Gehalt zugeschrieben (Botschaft zur BV, BBl 1997 I 140; JÖRG P. MÜLLER, a.a.O., S. 1 f.). Inhaltlich weist Art. 7 BV mit all den denkbaren Erscheinungsformen einen offenen Gehalt auf und entzieht sich einer abschlies-senden positiven Festlegung. Die Menschenwürde betrifft das letztlich nicht fassbare Eigentliche des Menschen und der Menschen und ist unter Mitbeachtung kollektiver Anschauungen ausgerichtet auf Anerkennung des Einzelnen in seiner eigenen Werthaftigkeit und individuellen Einzig- und allfälligen Andersartigkeit (vgl. JÖRG P. MÜLLER, a.a.O., S. 4 und 5). Sie weist einen besonders engen Zusammenhang mit dem zentralen verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz auf.»

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§ 7 Freiheits- und Integritätsrechte

I. Allgemeiner Überblick

Siehe oben (§ 6 III).

II. Persönliche Freiheit

1. Rechtsgrundlagen

Art. 13 BV Art. 11 BV

Art. 7 BV Art. 10 BV

Persönliche Freiheit

Art. 25 III BV

Art. 31 BV

Spezialabkommen

UN-Pakt II

EMRK

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2. Schutzbereich

BGE 127 I 6, E 5: «Ein Vergleich der bisherigen Umschreibung der persönlichen Freiheit mit dem neuen Verfassungstext zeigt, dass einzelne Elemente der bisherigen persönlichen Freiheit in spezielle Bestimmungen der Bundesverfassung Eingang gefunden haben. So enthalten die Abs. 1 und 3 von Art. 10 BV das Recht jedes Menschen auf Leben (sowie das Verbot der Todesstrafe) und das Verbot von Folter und jeder anderen Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (vgl. BGE 116 Ia 420 E. 1b S. 421). Art. 31 BV umschreibt - in Anlehnung an Art. 5 EMRK - die Voraussetzungen des Freiheitsentzuges, welcher stets als schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit betrachtet worden ist (vgl. BGE 123 I 221 E. 4 und 4a S. 226). Der Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit (und auf Förderung ihrer Entwicklung) nach Art. 11 BV weist einen unmittelbaren Zusammenhang mit der persönlichen Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV auf (vgl. BGE 126 II 377 E. 5d S. 390). Der Schutz auf Privatsphäre im Sinne von Art. 13 BV war ebenfalls Teil der ungeschriebenen persönlichen Freiheit (vgl. BGE 126 I 7 E. 2a S. 10; 109 Ia 273 E. 4a S. 279). Schliesslich bildete die Anerkennung der Menschenwürde die Grundlage der bisherigen persönlichen Freiheit (vgl. BGE 97 I 45 E. 3 S. 49). Dies führt zur Frage, wie weit der Schutzbereich der persönlichen Freiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 BV tatsächlich reicht (vgl. hierzu ANDREAS KLEY, Der Grundrechtskatalog der nachgeführten Bundesverfassung, in: ZBJV 135/1999 S. 319 ff.; vgl. auch die Übersicht der umfassend verstandenen persönlichen Freiheit bei ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl. 2001, S. 105 ff. Rz. 336 ff.; ferner JÖRG P. MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999, S. 10, der für die erwähnten Erscheinungen zusammenfassend den Ausdruck des "Persönlichkeitsschutzes des Verfassungsrechts" verwendet). Trotz des Umstandes, dass die erwähnten Aspekte der bisherigen Formulierung Eingang in spezifischen Grundrechtsbestimmungen der neuen Bundesverfassung gefunden haben, kann die persönliche Freiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 BV nach wie vor als das grundlegende Freiheitsrecht bezeichnet werden. (…)Die persönliche Freiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 BV stellt daher eine Grundgarantie zum Schutze der Persönlichkeit dar. Sie umfasst weiterhin auch all jene Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen und ein Mindestmass an persönlicher Entfaltungsmöglichkeit erlauben. Was im Einzelnen dazugezählt werden kann, ist im Einzelfall unter Auslegung und Fortbildung des Verfassungstextes zu entscheiden (vgl. KLEY, a.a.O., S. 322). Dabei kann nicht übersehen werden, dass die genannten Teilbereiche in andern Verfassungsbestimmungen spezifische Ausprägungen der persönlichen Freiheit darstellen. Diese rufen im Einzelfall nach einer Abgrenzung und differenzierten Fortentwicklung.

a) Recht auf Leben (Art. 10 Abs. 1 BV)

Botschaft BV, BBl 1997 I 146: «Das menschliche Leben ist als grundlegender Aspekt der körperlichen Integrität auch geschützt durch die persönliche Freiheit. Das Recht auf Leben schützt vorab den Beginn des Lebens, auch wenn die Gesetzgebung und die Rechtsprechung die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Schutzwirkung beginnt, bis heute nicht allgemeingültig beantwortet haben (auch die EMRK gibt dazu keine Auskunft). Diese Frage spielt eine wichtige Rolle bei der juristischen Beurteilung des Embryos in Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch, in der Fortpflanzungsmedizin und der Gentechnologie. Bei der Frage, wann das Leben (und damit auch der verfassungsmässige Schutz) endet, stellt das Bundesgericht in Übereinstimmung mit der aktuellen Lehre auf den Hirntod ab. Das Recht umfasst einen absoluten Schutz gegen vorsätzliche Angriffe auf das Leben mit folgenden Ausnahmen: rechtmässige Kriegshandlungen, die zum Tod eines Menschen führen; Tötung durch die Polizei (diese kann, wenn es eine Gefahr abzuwenden gilt, im Extremfall den Tod eines Menschen rechtmässig verursachen); Notwehr (wer ohne Recht angegriffen, oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht wird, ist berechtigt, den Angriff abzuwehren; (Art. 33 StGB). Die aktive Sterbehilfe ist in jedem Fall untersagt, weil sie das Grund-prinzip des Verbots der vorsätzlichen Tötung verletzt. Das Recht auf Leben garantiert nicht nur die physische Existenz, sondern auch die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Funktionen, die von lebenswichtiger Bedeutung sind. Das Bundesgericht beurteilte das menschliche Leben als

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Grundgehalt der freien Entwicklung der Persönlichkeit und damit als Kerngehalt der persönlichen Freiheit [BGE 98 Ia 514]. In einem Urteil zur Organtransplantation führte es aus, dass das verfassungsmässige Recht auf Leben sich gegenüber dem übrigen, durch das Grundrecht der individuellen Freiheit gewährleisteten Persönlichkeitsschutz dadurch auszeichnet, dass jeder absichtliche Eingriff zugleich eine Verletzung seines absolut geschützten Wesenskerns darstellt und deshalb gegen die Verfassung verstösst. Das Recht auf Leben ertrage somit keinerlei Beschränkungen; auf gesetzlicher Grundlage beruhende und im öffentlichen Interesse liegende Eingriffe seien verfassungsrechtlich undenkbar.»

b) körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 und 3 BV)

Botschaft BV, BBl 1997 I 147: «Das Recht auf physische Integrität schützt jede Person gegen alle Angriffe auf den menschlichen Körper. Die Körperstrafen, der Einstich für eine Blutentnahme bis hin zur Pflicht eines Untersuchungshäftlings, sich zu rasieren, berühren die persönliche Freiheit.»

c) Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV)

Botschaft BV, BBl 1997 I 147: «Die persönliche Freiheit schliesst auch die Bewegungsfreiheit ein, ein ungeschriebenes, unverjährbares und unverzichtbares Verfassungsrecht [BGE 90 I 29]. Dieses Recht wird verletzt durch alle staatlichen Massnahmen, die jemanden daran hindern, sich frei zu bewegen. Wie die psychische Integrität schützt auch die Bewegungsfreiheit nur diejenigen Elemente der Freiheit, die für die Persönlichkeitsentfaltung wesentlich sind [Haller in Kommentar BV, persönliche Freiheit, Rz. 19]. Die Bewegungsfreiheit garantiert im engeren Sinn den Schutz gegen deren unrechtmässige Verletzung. Um die Rechtmässigkeit eines Eingriffs zu prüfen, sind auch die Garantien von Artikel 5 EMRK [BGE 105 Ia 29] zu beachten, der in Ziffer 1 abschliessen die Fälle aufzählt, in denen eine Person ihrer Bewegungsfreiheit beraubt werden darf. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sind allerdings für Personen mit einem besonderen Status möglich. So sind beispielsweise Ausländerinnen und Ausländer, die nicht in er Schweiz niedergelassen sind, gewissen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Indem sie angehalten werden können, die Schweiz zu verlassen (Art. 12 ANAG). Andere Beschränkungen sind zulässig, wenn die Rückführung nicht möglich ist (z.B. Internierung, Art. 14-14c ANAG). Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht sieht noch weitere Beschränkungen der Bewegungsfreiheit vor (Art. 13a ANAG). Auch die Asylsuchenden können aufgrund ihres Status Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden.»

d) Geistige Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV)

BGE 129 I 173, E. 2.1: «Die in Art. 10 Abs. 2 BV gewährleistete persönliche Freiheit schützt auch die emotionale Bindungen der Angehörigen zu einem Verstorbenen. Kraft dieser engen Verbundenheit steht den Angehörigen das Recht zu, über den Leichnam des Verstorbenen zu bestimmen, die Art und den Ort der Bestattung festzulegen sowie sich gegen ungerechtfertigte Eingriffe in den toten Körper zur Wehr zu setzen.»

e) Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 und 2 BV)

Botschaft BV, BBl 1997 I 152: «Privatleben bedeutet den Anspruch jeder Person, vom Staat nicht an der freien Gestaltung ihres Lebens und ihres Verkehrs mit anderen Personen gehindert zu werden, sowie die Respektierung eines persönlichen Geheimbereichs. Das Privatleben ist nicht nur innerhalb privater und geschlossener Räume geschützt, sondern auch im Freien oder in öffentlichen Räumen. Tritt eine Person in die Öffentlichkeit, so gibt sie sich Auge und Ohr anderer Personen preis, aber sie erteilt damit kein Einverständnis, dass ihr Verhalten oder ihre Äusserungen von staatlichen Organen

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in Schrift, Bild oder Ton festgehalten werden. Die Gesetzgebung dehnt diesen Schutz in einer reduzierten Form auch auf die Beziehungen unter Privatpersonen aus. (z.B. durch den Persön-lichkeitsschutz des Privatrechts oder den strafrechtlichen Geheimnis- und Ehrenschutz). Staatliche Organe sind dagegen umfassend verpflichtet, keine Angriffe auf die Würde, die Ehre und den guten Ruf von Personen vorzunehmen (BGE 107 Ia 52). Die Schutzbereiche er Menschenwürde, der persönlichen Freiheit und des Rechts auf Privatleben sind hier sehr eng verbunden (Art. 17 UNO-Pakt II erwähnt ausdrücklich das Verbot „rechtswidriger Beeinträchtigung der Ehre und des Rufes“).»

f) Andere Aspekte der Persönlichkeit (Art. 10 Abs. 2 BV)

• Elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung • Bestimmung über den eigenen Körper nach dem Tod

BGE 123 I 118 f.: «La garantie constitutionnelle de la liberté personnelle ne se limite pas à la durée de la vie des individus. Elle prolonge ses effets, dans une certaine mesure, au-delà du décès. Du point de vue constitutionnel, le défunt doit être considéré comme le titulaire prioritaire des droits protégeant sa dépouille contre des atteintes contraires aux moeurs et aux usages (ATF 111 Ia 231 consid. 3b). Cette pérennité de certains droits se justifie d'autant plus que le moment de la disparition de toute trace de vie dans le corps de l'individu est très difficile à fixer et que les critères retenus par l'Académie suisse des sciences médicales n'ont pas été prioritairement élaborés pour définir la fin de la personnalité, mais bien pour déterminer, en vue notamment d'un prélèvement d'organe, le moment à partir duquel un retour à la vie est exclu (ATF 118 IV 319 consid. 2 p. 323; 97 I 221 consid. 4b p. 228). Toute personne a ainsi le droit de déterminer le sort de sa dépouille après sa mort. Cette prétention comporte notamment une liberté de choix, dans le cadre tracé par la loi, l'ordre public et les bonnes moeurs, quant à la forme des funérailles et au mode d'inhumation, l'être humain ayant, quel que soit le rang qu'il a occupé dans la société, un droit constitutionnel, consacré par l'art. 53 al. 2 Cst., à un enterrement et à une sépulture décents (ATF 111 Ia 231 consid. 3b). Ce droit découle directement de la protection de la dignité humaine (cf. déjà ATF 45 I 132; ATF 98 Ia 508 consid. 8c p. 523 et les arrêts cités; voir également le Message relatif à une nouvelle Constitution fédérale, du 20 novembre 1996, FF 1997 I p. 1 ss, 143; NICOLÒ RASELLI, Schickliche Beerdigung für "Andersgläubige", PJA 1996 p. 1103-1110, p. 1105, ch. 2a); il s'oppose également à toute profanation d'un cadavre humain et, partant, à toute intervention illicite sur lui. Cette interdiction trouve, au demeurant, sa protection pénale à l'art. 262 ch. 2 CP.

BGE 129 I 117: «Selon la jurisprudence relative au droit constitutionnel non écrit, et applicable sans autre à l'art. 10 Cst. (FF 1997 I 148), la liberté personnelle ne se limite pas à la durée de la vie de l'individu. Elle s'étend au-delà du décès et permet à toute personne de se déterminer à l'avance sur le sort de sa dépouille, et de se prémunir contre toute intervention illicite, qu'il s'agisse de prélèvements d'organes ou d'une autopsie (ATF 111 Ia 231 consid. 3 p. 232; 98 Ia 508 consid. 8 p. 520). Il est généralement reconnu que le respect dû aux morts découle de la dignité humaine (MAURER, Le principe de respect de la dignité humaine et la Convention européenne des droits de l'homme, Paris 1999, p. 402-403). A l'instar de toute atteinte à un droit fondamental, un ordre d'autopsie doit se fonder sur une base légale (en l'espèce les art. 13 al. 2 LPol et 112A CPP/GE), et reposer sur un intérêt public prépondérant (en l'occurrence, la nécessité de déterminer la cause précise du décès). Lorsque les proches de la victime s'opposent à une telle mesure (ce qui nécessite une information préalable, cf. ATF 123 I 112 consid. 4c p. 119), il convient de mettre en balance les différents intérêts en présence. En l'espèce, ces intérêts consistaient d'une part dans les besoins de l'enquête visant à déterminer précisément les causes du décès et, d'autre part, le droit au respect du corps de la victime, ainsi que la volonté manifestée par cette dernière, en accord avec ses parents, d'effectuer un don d'organes. Les parents sont protégés, dans une certaine mesure, à l'égard d'un ordre d'autopsie concernant le corps de leur enfant.»

BGE 129 I 180: «Die staatlichen Behörden verfolgten mit der verfügten Urnenbeisetzung nicht primär ein öffentliches Interesse, sondern entsprachen dem Wunsch der Verstorbenen, auf dem Friedhof Meilen bestattet zu werden. Dieser Wunsch geniesst grundrechtlichen Schutz. Die in Art. 10 Abs. 2 BV verbriefte persönliche Freiheit umfasst auch das Recht des Einzelnen, in den

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Schranken des Gesetzes, der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten zu Lebzeiten selbst über das Schicksal seines Leichnams sowie die Art und den Ort der Bestattung zu bestimmen.»

Vgl. aber BGE vom4.7.2003 (1P.373/2002), Erw. 1.2.3: «Es ist einzuräumen, dass das Bundesgericht damit in bestimmten Bereichen Wirkungen des Persönlichkeitsrechts über den Tod hinaus sowie eine strafrechtliche Tabuzone für soeben Verstorbene bejaht hat. Die von den Anhängern der Theorie des postmortalen Persönlichkeitsschutzes vertretene Auffassung, wonach es zulässig ist, für einen Verstorbenen in dessen Namen Klage zu erheben, das hat das Bundesgericht jedoch nie anerkannt…».

3. Grundrechtsträger

Vgl. BGE vom4.7.2003 (1P.373/2002), Erw. 1.2.4: Ein Toter ist damit nicht parteifähig und kann weder Klage erheben noch Beschwerde führen. Niemand kann als Vertreter eines Verstorbenen einen Prozess führen.

4. Schranken 5. Einzelfragen a) Kinder und Jugendliche (Art. 11 BV)

Mit dem Inkrafttreten von Art. 11 Abs. 1 BV, wonach Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben, erhielt das Kindeswohl Verfassungsrang (BGE 129 III 255).

Vgl. zu Art. 11 Abs. 1 BV auch BGE 126 II 377 ff.

b) Untersuchungshaft und Strafvollzug

c) Ausländerrechtliche Administrativhaft

d) «Non refoulment» (Art. 25 Abs. 3 BV)

Botschaft BV, BBl 1997 I 171: «… das Verbot der Rückschiebung … gilt aber nach Absatz 3 absolut, wenn einer Person Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht. Das absolute Verbot von Abs. 3, aus auf den Kerngehalt dieses Grundrechts hinweist, gilt nach schweizerischem und internationalem Recht: nach den Artikeln 2 und 3 EMRK und nach Artikel 3 der Folterkonvention…».

Aus dem Non-refoulment-Prinzip (Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK) kann kein Recht auf Aburteilung in einem Staat abgeleitet werden, in welchem bessere Resozialiserungsmöglichkeiten bestehen (BGE 129 II 100 ff.).

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III. Glaubens- und Gewissensfreiheit

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 15 BV

• Völkerrecht:

Art. 9 EMRK; Art. 18 UN-Pakt II 2. Schutzbereich a) Schutzobjekt

b) Teilgehalte

BGE 125 I 347 E 3: «Die (…) Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt das Recht, eine religiöse Überzeugung zu haben, zu äussern, zu verbreiten oder zu praktizieren oder gemäss einer religiösen Überzeugung zu handeln (BGE 123 I 296 E. 2b/ aa S. 300; 119 Ia 178 E. 4c S. 184; 118 Ia 46 E. 4c S. 56). Dazu gehört auch das Recht, einer bestimmten Konfession oder Religions-gemeinschaft anzugehören oder nicht anzugehören, ebenso die Freiheit, die Konfession oder Religionsgemeinschaft zu wechseln.»

3. Grundrechtsträger

Botschaft BV, BBl 1997 I 156: «Die Glaubens- und Gewissensfreiheit steht allen natürlichen Personen zu, ferner denjenigen juristischen Personen, die religiöse oder kirchliche Ziele verfolgen (vgl. BGE 97 I 227; BGE 118 Ia 52). Die Frage, inwieweit minderjährige Personen diese Religionsfreiheit zukommt, ist in Artikel 303 ZGB konkretisiert.»

4. Schranken

Vgl. z.B. BGE 129 I 74 ff. mit Bezug auf Einschränkungen der Kultusfreiheit im Strafvollzug.

5. Einzelfragen

• Religionsfreiheit und Dispens von allgemeingültigen Pflichten • Staatliche Neutralitätspflicht in Bildungseinrichtungen

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IV. Recht auf Ehe und Familie

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 14 BV

• Völkerrecht:

Art. 12, (8) EMRK; Art. 23 UN-Pakt II 2. Schutzbereich

BGE 126 II 425, E 4: Nach vorherrschender Auffassung gehen Art. 54 Abs. 1 aBV bzw. Art. 14 BV von einem traditionellen Verständnis der Ehe als einer auf Dauer angelegten, umfassenden Lebensgemeinschaft zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts aus.

Botschaft BV, ,BBl 1997 I 153: «Das Recht auf Ehe gewährleistet den Bestand der Ehe als Institut. Im Vergleich zu anderen Formen des Zusammenlebens ist ihr besonderer Schutz zu gewähren. Das Recht auf Ehe stellt ein Individualrecht dar, das unmittelbar justiziabel ist. Es schützt die Freiheit, im heiratsfähigen Alter zu heiraten. Die nationale Gesetzgebung kann das Mindestalter sowie Ehehindernisse festlegen, doch dürfen diese Einschränkungen das Recht auf Ehe nicht seiner Substanz berauben. Das Recht auf Familiengründung schliesst das Recht ein, Kinder zu haben und zu erziehen, sowie das Recht, Kinder zu adoptieren, unter den von der nationalen Gesetzgebung festgelegten Voraussetzungen. Dieses Recht steht im Rahmen von Artikel 12 jedoch ausschliesslich verheirateten Personen zu. Die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention haben sich bis anhin nicht zur Frage geäussert, ob Artikel 12 EMRK auch das Recht auf die Anwendung von Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung umfasse; das Bundesgericht seinerseits hat diese Frage offengelassen, aber die Anwendung dieser Techniken unter dem Aspekt der persönlichen Freiheit gewährleistet.»

3. Grundrechtsträger 4. Schranken

BGE 117 IA 465: «Das öffentliche Interesse an der Aufklärung von schweren Gewaltverbrechen und an einem ungestörten Gang des betreffenden Strafuntersuchungsverfahrens kann dem Wunsch des Angeschuldigten, einer inhaftierten Mitverdächtigen während des Untersuchungsverfahrens einen schriftlichen Heiratsantrag machen zu wollen, vorgehen. Die Zurückhaltung des fraglichen Briefes durch die Behörden im Falle von Kollusions- und Beeinflussungsgefahr verletzt weder die Bundesverfassung (persönliche Freiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Ehefreiheit) noch die entsprechenden Garantien der EMRK (E. 2-4).»

5. Einzelfragen

• Ehe für gleichgeschlechtliche Paare?

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V. Die Kommunikationsfreiheiten

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 16 BV (Meinungs- und Informationsfreiheit)

Art. 17 BV (Medienfreiheit) Art. 20 BV (Wissenschaftsfreiheit) Art. 21 BV (Kunstfreiheit)

• Völkerrecht: Art. 10 EMRK

Art. 19 UN-Pakt II 2. Funktion Den Kommunikationsgrundrechten kommt sowohl eine menschenrechtliche wie auch eine demokratische Funktion zu. 3. Schutzbereiche und Teilgehalte a) Meinungsfreiheit («Auffanggrundrecht für Kommunikation»)

BGE 127 I 164, E 3: Die Meinungsfreiheit nach Art. 16 BV umfasst die Meinungsäusserungsfreiheit in einem weiten Sinne. Der Begriff der Meinung wird weit gefasst. Desgleichen werden die verschiedensten Formen und Arten der Kundgabe der Äusserungsfreiheit zugerechnet, soweit nicht ein anderes Grundrecht wie etwa die Medienfreiheit (Art. 17 BV) oder die Kunstfreiheit (Art. 21 BV) Platz greift.

BGE 127 I 145, E 4: Die Meinungsfreiheit bedeutet das Recht jeder Person, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Der Schutzbereich umfasst die Gesamtheit der Mitteilungen menschlichen Denkens und alle möglichen Kommunikationsformen.

b) Informationsfreiheit

BGE 127 I 145, E 4: In engem Zusammenhang mit dieser allgemeinen Meinungsfreiheit steht die Informationsfreiheit, das Recht jeder Person, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten.

c) Medienfreiheit

BGE 127 I 145, E. 4: Zentrale Ausprägung freier Kommunikation stellt ferner die Pressefreiheit (als Teil der allgemeinen Medienfreiheit) dar mit dem Verbot der Zensur und der Garantie des Redaktionsgeheimnisses (Art. 17 BV). Die freie Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen hat wesentlichen Anteil an der Realisierung der allgemeinen Auseinander-setzung im demokratischen Staat.

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d) Wissenschaftsfreiheit

BGE 127 I 145, E. 4: Einen spezifischen Platz nimmt schliesslich – neben der Kunstfreiheit (Art. 21 BV) – die Wissenschaftsfreiheit, die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung nach Art. 20 BV ein. Die darin enthaltene Forschungsfreiheit betrifft die Gewinnung und Weitergabe menschlicher Erkenntnisse durch freie Wahl von Fragestellung, Methode und Durchführung. Sie wurde bisher der Meinungsfreiheit, der persönlichen Freiheit und der Wirtschaftsfreiheit zugeordnet.

e) Kunstfreiheit

Botschaft BV (BBl 1997 I 164): «Die Kunstfreiheit schützt einerseits das Schaffen von Kunst und andererseits die Präsentation von Kunst sowie das Kunstwerk. Sie schützt nicht nur die Kunstschaffenden, sondern auch diejenigen, die Kunst vermitteln, insbesondere Galeriebesitzer, Künstleragenten, Buchverleger oder Kinobesitzer. Die Kunstfreiheit hat vor allem Schutzfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen in den Bereich des Kunstschaffens. Sie gibt keinen individuellen Anspruch auf staatliche Leistung, auch wenn es wünschbar wäre, dass der Staat ... für angemessene Rahmenbedingungen sorgt, die für die Ausübung dieser Freiheit nötig sind.»

4. Grundrechtsträger Die Meinungs- und Informationsfreiheit steht allen Personen zu: natürlichen und juristischen, ausländischen und schweizerischen, minderjährigen und voll-jährigen. 5. Schranken

Vgl. z.B. Art. 53 RTVG (Verbot von Aussenantennen aus Gründen des Orts-, Landschafts- und Denkmalschutzes).

6. Einzelfragen

• Die Benutzung öffentlichen Grundes • Sonderstatusverhältnisse

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VI. Die Sprachenfreiheit (Art. 18 BV)

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 18 BV (vgl. Art. 4, 70 BV)

2. Schutzbereich

BGE vom 11. Oktober 2001 (1P.500/2001): Die früher ungeschriebene, jetzt in Art. 18 BV enthaltene Sprachenfreiheit gewährleistet den Gebrauch der Muttersprache. Soweit die Muttersprache gleichzeitig eine Landessprache des Bundes ist, steht deren Gebrauch zudem unter dem Schutz von Art. 4 BV, der vier Landessprachen anerkennt. Diese Bestimmung verbietet es den Kantonen insbesondere, Gruppen, die eine Landessprache sprechen, aber im Kanton eine Minderheit darstellen, zu unterdrücken und in ihrem Fortbestand zu gefährden. Die Anerkennung von Landessprachen in Art. 4 BV setzt der Sprachenfreiheit jedoch auch Grenzen, denn diese Verfassungsbestimmung gewährleistet nach der Rechtsprechung die überkommene sprachliche Zusammensetzung des Landes (Territorialitätsprinzip). Die Kantone sind daher aufgrund dieser Bestimmung befugt, Massnahmen zu ergreifen, um die überlieferten Grenzen der Sprachgebiete und deren Homogenität zu erhalten, selbst wenn dadurch die Freiheit des einzelnen, seine Muttersprache zu gebrauchen, beschränkt wird. Solche Massnahmen müssen aber verhältnis-mässig sein, d.h. sie haben ihr Ziel unter möglichster Schonung der Würde und Freiheit des einzelnen zu erreichen.

3. Grundrechtsträger Auf die Sprachenfreiheit können sich alle natürlichen Personen – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit – berufen. Ob sich auch juristische Personen darauf berufen können, ist umstritten. 4. Schranken a) Amtssprachen (Art. 70 Abs. 2 BV)

b) Territorialitätsprinzip (Art. 70 Abs. 2 Satz 2 BV)

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5. Einzelfragen

• Sprache und Schule

BGE 125 I S. 359 E. 5c: «Dabei ist nicht entscheidend, ob und unter welchen Voraussetzungen der Kanton verfassungsrechtlich verpflichtet ist, sprachlichen Minderheiten einen Unterricht in ihrer Muttersprache anzubieten. Aufgrund des Territorialitätsprinzips entspricht die Unterrichtssprache in der öffentlichen Schule der Amtssprache des Einzugsgebiets; die Sprachenfreiheit gibt sprachlichen Minderheiten grundsätzlich keinen Anspruch darauf, in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden (BGE 122 I 236 E. 2d S. 239; 100 Ia 462 E. 2 S. 466; VPB 40 (1976) Nr. 37 E. 4 S. 46 f.). Hingegen kann sich in traditionell zwei- oder mehrsprachigen Gebieten aus der Sprachenfreiheit ein Anspruch darauf ergeben, in einer der mehreren traditionellen Sprachen unterrichtet zu werden, sofern dies nicht zu einer unverhältnismässigen Belastung des Gemeinwesens führt (BGE 122 I 236 E. 2d S. 240; 106 Ia 299 E. 2b/cc S. 306).»

• Das neue Sprachengesetz

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VII. Die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 23 BV, Art. 28 BV

• Völkerrecht: Art. 11 EMRK; Art. 22 UN-Pakt II

2. Schutzbereich

a) Vereinigungsfreiheit

BGE 124 I 107 ff., 114: «L'art. 56 Cst. garantit la liberté d'association. Dans son aspect positif, cette liberté permet aux particuliers de créer des associations, d'en devenir membre, d'exercer en leur sein des activités, et de les dissoudre. Dans son aspect négatif, elle garantit le droit de ne pas être obligé de faire partie d'une association, ou de la quitter (....). L'art. 11 CEDH garantit lui aussi les libertés de réunion et d'association, ainsi que la liberté syndicale, dans ses aspects positif et négatif (...). Afin d'assurer le respect effectif du droit à la liberté de ne pas se syndiquer, l'Etat peut ainsi être amené, dans certaines circonstances, à intervenir pour limiter les moyens de pression utilisés par un syndicat pour accroître la portée du système de négociation collective (...).»

b) Koalitionsfreiheit

BGE 125 III 277 ff., 280: «Streik und Aussperrung werden als Teilgehalte der Koalitionsfreiheit (Art. 56 BV) oder als Ausfluss des Prinzips der Arbeitsmarktfreiheit (Art. 34ter BV) anerkannt. Die durch Art. 28 der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 garantierte Koalitionsfreiheit erklärt Streik und Aussperrung für zulässig, «wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen und wenn keine Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen» (Art. 28 Abs. 3 nBV). Inwieweit aus Art. 11 EMRK ein Streikrecht hergeleitet werden kann, ist umstritten (...).»

BGE 129 I 113 ff.: Die Koalitionsfreiheit verleiht Berufsverbänden des öffentlichen Dienstes zwar keinen Rechtsanspruch auf Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren betreffend das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis. Bei Änderungen von Gesetzen und Reglementen, welche die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder wesentlich beeinflussen, ist ihnen indessen in angemessener Form das rechtliche Gehör zu gewähren. – Vgl. insbesondere S. 117 f.: «On distingue la liberté syndicale individuelle de la liberté syndicale collective. La liberté syndicale individuelle donne au particulier le droit de contribuer à la création d'un syndicat, d'adhérer à un syndicat existant ou de participer à son activité (liberté syndicale positive) ainsi que celui de ne pas y adhérer ou d'en sortir (liberté syndicale négative), sans se heurter à des entraves étatiques. Quant à la liberté syndicale collective, elle garantit au syndicat la possibilité d'exister et d'agir en tant que tel, c'est-à-dire de défendre les intérêts de ses membres (…); elle implique notamment le droit de participer à des négociations collectives et de conclure des conventions collectives (…).Ces considérations, valables pour le secteur privé, ne sauraient s'appliquer telles quelles à la fonction publique, car les conditions de travail n'y sont pas réglées au travers de la négociation d'une convention collective, comme en droit privé, mais sont arrêtées dans un texte légal à l'issue d'un processus législatif. Il faut donc se demander si, par analogie avec le droit de négociation collective reconnu en droit privé, SUD peut déduire de la liberté syndicale le droit de participer, sous une forme ou une autre, à l'élaboration des règlements d'application de la loi sur le personnel.»

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3. Grundrechtsträger

Botschaft BV, BBl 1997 I 167: «Gemäss Bundesgericht beschränkt sich der Geltungsbereich der Vereinigungsfreiheit auf natürliche Personen. Die herrschende Lehre anerkennt jedoch, dass sich auch juristische Personen (des privaten Rechts) auf sie berufen können. […] Ausländerinnen und Ausländer [können sich] gleichermassen [wie Schweizerinnen und Schweizer] auf dieses Grundrecht berufen […].»

4. Schranken

Botschaft BV, BBl 1997 I 168: «Zwar ist die Vereinigungsfreiheit, wie die anderen Grundrechte auch, nicht ein schrankenloses Freiheitsrecht. […] Artikel 275ter StGB, der die Gründung oder die Zugehörigkeit zu einer rechtswidrigen Vereinigung verbietet, stellt eine genügende Beschränkung der Ausübung der Vereinigungsfreiheit dar. Sogar bei fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage und ohne ein Verbot wie dasjenige von Artikel 56 [a]BV kann die Vereinigungsfreiheit bei ernster und unmittelbar drohender Gefahr beschränkt werden. Es handelt sich dabei um einen Anwendungsfall der polizeilichen Generalklausel […], die es erlaubt, Handlungen die eine schwere Gefahr für den Staat darstellen, zu verbieten. Hinzu kommt, dass sowohl die EMRK (Art. 11 Ziff. 2, 17 und 17) als auch der UNO-Pakt II (Art. 22 Abs. 2) ausdrücklich die Möglichkeit vorsehen, die Ausübung der Vereinigungsfreiheit gewissen Schranken zu unterwerfen.»

5. Einzelfragen

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VIII. Die Versammlungsfreiheit

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 22 BV

• Völkerrecht:

Art. 11 EMRK; Art. 21 UN-Pakt II 2. Schutzbereich

BGE 127 I 164: Die bundesgerichtliche Rechtsprechung anerkannte unter der Herrschaft der alten Bundesverfassung die ungeschriebenen Verfassungsrechte der Meinungsäusserungs- und der Versammlungsfreiheit. (…) Hingegen verweigerte sie die Anerkennung einer eigentlichen Demonstrationsfreiheit im Sinne eines Anspruchs auf lediglich durch polizeiliche Gründe beschränkte Inanspruchnahme des öffentlichen Grundes für Veranstaltungen mit Appellwirkung an die Öffentlichkeit. (…) Solche Veranstaltungen genossen indessen den Schutz der Meinungsäusserungs- und der Versammlungsfreiheit; insoweit galt ein bedingter Anspruch auf Benützung des öffentlichen Grundes. (…). Gemäss Art. 22 BV verbietet die Versammlungsfreiheit staatliche Massnahmen gegen Einberufung, Organisation, Durchführung oder Gestaltung einer Versammlung oder gegen die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an einer solchen. Zu den Versammlungen im Sinne dieser Bestimmung gehören verschiedenste Formen des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck.

3. Grundrechtsträger

Botschaft BV, BBl 1997 I 166: «Die Versammlungsfreiheit steht jeder natürlichen Person zu. In gewissen Fällen kann sie auch von juristischen Personen angerufen werden, insbesondere dann, wenn eine Vereinigung eine öffentliche Veranstaltung organisiert.»

4. Schranken 5. Einzelfragen

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IX. Die Niederlassungsfreiheit

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 24 BV 2. Schutzbereich

BGE 127 I 97 E 4c: Die Niederlassungsfreiheit gemäss Art. 24 BV gewährleistet die Möglichkeit persönlichen Verweilens an jedem beliebigen Ort der Schweiz; sie gebietet den Kantonen und Gemeinden, jedem Schweizerbürger die Niederlassung auf ihrem Gebiet zu erlauben, und verbietet ihnen gleichzeitig, die Verlegung des einmal gewählten Wohnsitzes in einen anderen Kanton, eine andere Gemeinde oder ins Ausland zu verhindern oder zu erschweren.

3. Grundrechtsträger

Botschaft BV, BBl 1997 I 170: «Ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für Ausländerinnen und Ausländer kann nicht aus der Bundesverfassung abgeleitet werden, jedoch besteht ein solcher unter Berufung auf internationale Verträge, welche Gegenseitigkeit für Schweizer Bürgerinnen und Bürger vorsehen. Schliesslich ist darauf aufmerksam zu machen, dass Artikel 20 VE 96 [=Art. 24 BV], gleich wie Artikel 45 [a]BV, nur auf natürliche Personen Anwendung findet. Wollen juristische Personen ihren Wohnsitz verlegen, so haben sie die entsprechenden Regeln des Zivilrechts zu beachten.»

4. Schranken 5. Einzelfragen

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X. Die Eigentumsgarantie

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 26 BV

• Völkerrecht

Art. 1 ZP 1 EMRK 2. Schutzbereiche

Eigentumsgarantie

Bestandes- und Wertgarantie Institutsgarantie a) Institutsgarantie

BGE 106 Ia 342 E6: Vor der Institutsgarantie halten jedoch nur solche Eingriffe stand, die den Wesenskern des Privateigentums als fundamentale Einrichtung der schweizerischen Rechtsordnung unangetastet lassen (BGE 103 Ia 418 mit Hinweis). Die der Institutsgarantie zugrunde liegende Vorstellung, wonach die Eigentumsordnung in ihrem Kern gegenüber staatlichen Eingriffen zu schützen sei, verwehrt es dem Gemeinwesen in gleicher Weise, den Abgabepflichtigen ihr privates Vermögen oder einzelne Vermögenskategorien (z.B. das Immo-biliarvermögen) durch übermässige Besteuerung nach und nach zu entziehen. Das gleiche Ergebnis kann eine Häufung verschiedener Steuern zur Folge haben, z.B. durch Kumulierung von Einkommens- und Vermögenssteuern und steuerähnlichen Sozialabgaben, Konsumsteuern usw., die der Bürger nur bezahlen kann, wenn er nach und nach sein Vermögen veräussert. Schliesslich kann eine solche Folge auch ohne Absicht des Gesetzgebers eintreten, wenn der immer höhere Finanzbedarf der öffentlichen Hand nur durch einen immer höher angesetzten Steuerfuss befriedigt werden kann. Die Gewährleistung des Eigentums verpflichtet mithin das Gemeinwesen, die bestehenden Vermögen in ihrer Substanz zu bewahren und die Möglichkeit der Neubildung von Vermögen in dem Sinn zu erhalten, dass das Einkommen nicht dauernd und vollständig wegbesteuert werden darf.

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b) Bestandesgarantie

BGE 120 I 117 ff., 120: Eigentumsbeschränkungen sind nur zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen und sich unter den gegebenen Umständen als verhältnismässig erweisen.

BGE 126 I 213 ff., 216: Es erscheint in der Tat problematisch, bei der Abgrenzung des Schutzbereichs der Eigentumsgarantie darauf abzustellen, ob durch die fragliche Massnahme ein rechtliches oder bloss ein faktisches Interesse betroffen sei. Bereits in einzelnen bisherigen Entscheiden wurde anerkannt, dass auch der Entzug faktischer Vorteile den Eigentümer im Ergebnis gleichermassen treffen kann wie eine Einschränkung seiner rechtlichen Befugnisse (). An der Rechtsprechung, die Anstössern von vornherein das Recht abspricht, sich gegenüber einer Aufhebung oder Einschränkung des Gemeingebrauchs einer öffentlichen Sache auf die Eigentums-garantie zu berufen, kann daher nicht festgehalten werden. Auf diese Weise wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich der Schutzbereich der Eigentumsgarantie nicht nur auf die unmittelbar aus dem Eigentum fliessenden rechtlichen Befugnisse, sondern auch auf gewisse faktische Voraussetzungen zur Ausübung dieser Befugnisse erstreckt. Das Interesse an deren Erhaltung ist insoweit nicht bloss faktischer Natur, sondern auch rechtlich geschützt.

c) Wertgarantie

BGE 122 I 120 ff., 127: «Selon le principe de la compensation réelle garantie par l'art. 22ter Cst., les propriétaires des surfaces agricoles incorporées dans le remaniement parcellaire ont le droit d'exiger, au nouvel état, l'attribution de terres équivalentes en quantité et en qualité, pour autant que le but du remaniement et les nécessités techniques le permettent (...). Sous la même condition, les propriétaires qui ont cédé du terrain destiné à la construction doivent recevoir des immeubles de même valeur; l'attribution d'une surface inférieure à celle de l'ancien état satisfait donc à la compensation réelle si la valeur se trouve néanmoins conservée par l'effet d'une plus-value. Celle-ci peut résulter du remaniement ou de mesures d'aménagement du territoire telle que, par exemple, une augmentation de l'indice d'utilisation (...).»

BGE 123 II 560 ff., 570: «...dass sich bereits aus dem Zusammenspiel von Art. 22ter Abs. 2 und 3 BV ergebe, dass jedenfalls ein gewisses Mass an Eigentumsbeeinträchtigungen entschädigungslos hingenommen werden müssten). Wollte man es anders halten, würden gerade bei öffentlichen Anlagen die Sanierungsbestrebungen unnötigerweise erschwert, was nicht im Interesse der betroffenen Nachbarn liegt.»

3. Grundrechtsträger Die Eigentumsgarantie steht natürlichen und juristischen Personen des Privatrechts zu. Auch das Gemeinwesen kann sich darauf berufen, sofern es als Private auftritt. 4. Schranken

BGE 105 Ia 330 E. 3c (Inhaltsbestimmung oder Schranke?): «Der Inhalt des Grundeigentums wird nicht nur durch die Privatrechtsordnung geprägt, sondern durch die verfassungsrechtliche Ordnung und das darauf gestützt erlassene öffentliche Recht als Ganzes (...). Die Eigentumsgarantie gewährleistet das Eigentum, wie das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung festhält, nicht unbeschränkt, sondern nur innert den Schranken, die ihm im öffentlichen Interesse durch die Rechtsordnung gezogen sind (…). Zu beachten sind namentlich die Anforderungen des

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Walderhaltungsgebotes (Art. 24 BV und Art. 31 FPolG), des Gewässerschutzes (Art. 24quater BV), des Umweltschutzes (Art. 24septies BV) und der Raumplanung (Art. 22quater BV). Die gewichtigen öffentlichen Interessen, deren Wahrung diese Verfassungsnormen fordern, sind der Gewährleistung des Eigentums grundsätzlich gleichgestellt (…). Die Eigentumsgarantie hindert den Gesetzgeber nicht, "die objektive Eigentumsordnung im Rahmen der Bedürfnisse der Gemeinschaft festzulegen" (…). Doch hat er dabei den freiheitsvermittelnden Kerngehalt des Eigentums zu wahren, wobei dieser nicht völlig statisch zu verstehen ist, sondern der weiteren Entwicklung durch den Verfassungsrichter und der Abänderung durch den Verfassungsgeber zugänglich bleibt (...). Die Zulässigkeit eigentumsbeschränkender raumplanerischer und umweltschützender Massnahmen basiert somit auf einer Interessenabwägung mit der Eigentumsgarantie. Den erhöhten Anforderungen an die Regelung eines menschenwürdigen Zusammenlebens in der Gesellschaft lässt sich dabei, wie Arthur Meier-Hayoz feststellt (…), durch die Zulassung entschädigungsloser Eingriffe auch ausserhalb der polizeilich motivierten Schranken gerecht werden.»

5. Einzelfragen

XI. Die Wirtschaftsfreiheit

1. Rechtsgrundlagen

• Bundesverfassung: Art. 27 BV (vgl. auch Art. 94 ff. BV)

2. Schutzbereich

BGE 128 I 92, E. 2: Nach Art. 27 Abs. 1 BV ist die Wirtschaftsfreiheit gewährleistet. Sie umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung (Art. 27 Abs. 2 BV). Unter dem Schutz von Art. 27 BV steht somit auch die gewerbsmässige Tätigkeit als selbstständiger Psychotherapeut. Wie andere Grundrechte kann die Wirtschaftsfreiheit auf gesetzlicher Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) im öffentlichen Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) eingeschränkt werden.

3. Grundrechtsträger

BGE 123 I 212: Ein Ausländer, der von den arbeitsmarktlichen Begrenzungsmassnahmen ausgenommen ist und gestützt auf Art. 7 Abs. 1 ANAG Anspruch auf Erneuerung seiner Aufenthaltsbewilligung hat, kann sich auf die Wirtschaftsfreiheit berufen.

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4. Schranken

BGE 126 I 276 ff., 277: «Art. 31 BV behält jedoch in Abs. 2 kantonale Bestimmungen über die Ausübung von Handel und Gewerben vor. Solche Einschränkungen können dem Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, Sittlichkeit und Sicherheit oder von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr dienen (...). Unzulässig sind wirtschaftspolitische oder standespolitische Massnahmen, die den freien Wettbewerb behindern, um gewisse Gewerbezweige oder Bewirtschaftungsformen zu sichern oder zu begünstigen. Beschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit bedürfen sodann einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit sowie der Rechtsgleichheit wahren (...)».

5. Einzelfragen a) Grundsatz der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen

BGE 125 I 431 ff., 435 f. (Ladenöffnungszeiten): «Nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen sind Massnahmen verboten, die den Wettbewerb unter direkten Konkurrenten verzerren bzw. nicht wettbewerbsneutral sind (...), namentlich wenn sie bezwecken, in den Wettbewerb einzugreifen, um einzelne Konkurrenten oder Konkurrentengruppen gegenüber anderen zu bevorzugen oder zu benachteiligen (...). Als direkte Konkurrenten gelten Angehörige der gleichen Branche, die sich mit dem gleichen Angebot an dasselbe Publikum richten, um das gleiche Bedürfnis zu befriedigen. Die Gleichbehandlung der Gewerbegenossen geht weiter als das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot: Sie gewährt einen Schutz vor staatlichen Ungleichbehandlungen, die zwar auf ernsthaften, sachlichen Gründen beruhen mögen, gleichzeitig aber, ohne in der Hauptstossrichtung wirtschaftspolitisch motiviert zu sein, einzelne Konkurrenten namentlich durch unterschiedliche Belastungen oder staatlich geregelten Marktzugang bzw. -ausschluss begünstigen oder benachteiligen (...). Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen ist selbst dann zu beachten, wenn zulässigerweise wirtschaftspolitische Massnahmen getroffen werden (...). Er gilt aber nicht absolut und schliesst gewisse Differenzierungen etwa aus Gründen des Umweltschutzes oder der Kulturpolitik nicht aus. Vermögen in diesem Rahmen haltbare öffentliche Interessen und Anliegen eine Abweichung vom Gebot der Gleichbehandlung in Grenzen zu rechtfertigen, muss eine entsprechend begrün-dete Ungleichbehandlung doch verhältnismässig sein; zudem darf sie das Gleichbehandlungsgebot nicht geradezu seiner Substanz entleeren (...). Zu vermeiden sind spürbare Wettbewerbsverzerrungen, was eine Abwägung der widerstreitenden Interessen voraussetzt (...).»

b) Die Benutzung öffentlichen Grunds für wirtschaftliche Tätigkeiten

BGE 126 I 133 ff., 139 ff. (Werbematerial): «Strassen sind öffentliche Sachen im Gemeingebrauch, d.h. sie stehen der Allgemeinheit zur Benutzung offen; diese kann mehr oder weniger intensiv sein. Verwaltungsgericht und Stadtrat sind sich darüber einig, dass das Verteilen von Druckschriften in der Zürcher Innenstadt über den schlichten Gemeingebrauch hinausgeht und gesteigerten Gemeingebrauch darstellt. Ein gesteigerter Gemeingebrauch liegt vor, wenn die Benützung einer öffentlichen Sache entweder nicht bestimmungsgemäss oder nicht gemeinverträglich ist (...). Die von den Stadtbehörden und vom Verwaltungsgericht vertretene Auffassung erscheint zwar streng, lässt sich aber für die Stadt Zürich vertreten, zumal die Aktionen der Beschwerdegegnerin, wie das Verwaltungsgericht mit Recht festhält, über das blosse Verteilen von Druckschriften hinausgehen und die Mitarbeiter darauf angewiesen sind, bereits auf dem öffentlichen Grund Gespräche mit Passanten zu führen, um deren Interesse für die angebotenen Leistungen zu wecken. Entsprechend können etwa Ausweichbewegungen von Passanten, Menschenansammlungen, Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen in stark frequentierten

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Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen. (...) Gesteigerter Gemeingebrauch bedarf grundsätzlich der Bewilligung. Diese ist als Bewilligung sui generis von der Polizeierlaubnis und von der Konzession zu unterscheiden. Sie dient nicht nur dem Schutz der Polizeigüter, sondern der Koordination und Prioritätensetzung zwischen verschiedenen Nutzungen der öffentlichen Sachen (...). Wer zur Ausübung eines Gewerbes öffentlichen Grund beansprucht, kann sich auf die Handels- und Gewerbefreiheit berufen; es besteht insoweit ein "bedingter Anspruch" auf Bewilligung des gesteigerten Gemeingebrauchs (...). Die Verweigerung einer entsprechenden Bewilligung kann einem Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit gleichgestellt werden und unterliegt daher bestimmten Schranken: Sie muss im öffentlichen Interesse notwendig sein, wobei freilich nicht nur polizeilich motivierte Einschränkungen zulässig sind, auf sachlich vertretbaren Kriterien beruhen und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren; die Bewilligung darf zudem die Freiheitsrechte weder allgemein noch zu Lasten einzelner Bürger aus den Angeln heben (...). Kommunale Autonomie kann demnach nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grundsätze bestehen. "Bedingter Anspruch" bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Behörde im Rahmen der auf ein Bewilligungsgesuch hin vorzunehmenden Interessenabwägung dem institutionellen Gehalt der Handels- und Gewerbefreiheit Rechnung trägt und die Interessen der Beteiligten an der Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit angemessen berücksichtigt (...). Als öffentliches Interesse steht die Gewährleistung des möglichst ungestörten Gemeingebrauchs durch die Allgemeinheit im Vordergrund, bei den privaten Interessen ist zwischen ideellen und anderen, namentlich kommerziellen Interessen zu unterscheiden. Bei der Ausübung ideeller Grundrechte ist eine Beeinträchtigung des Gemeingebrauchs oder anderer öffentlicher Interessen eher in Kauf zu nehmen als bei sonstigen Aktivitäten. Bei nicht ideellen Motiven für die Beanspruchung von öffentlichem Grund darf das öffentliche Interesse am ungestörten Gemeingebrauch stärker veranschlagt werden, und es widerspricht unter anderem nicht der Handels- und Gewerbefreiheit, wenn rein kommerzielle weniger stark gewichtet werden als ideelle Interessen (...). Ob die Handels- und Gewerbefreiheit ihre Schutzwirkung überhaupt entfaltet, hängt allerdings nicht davon ab, ob und wieweit ein Gewerbetreibender jeweils auf die Benützung des öffentlichen Grundes angewiesen ist. Ist dies nach der Art des Gewerbes zwingend der Fall, werden seine privaten Interessen bei der vorzunehmenden Abwägung entsprechend höher zu gewichten sein als etwa dann, wenn der gewünschte gesteigerte Gemeingebrauch zwar Vorteile bringt, aber nicht geradezu betriebsnotwendig ist. Das Mass der Notwendigkeit der Inanspruchnahme des öffentlichen Grundes durch den Betroffenen ist nicht für den Umfang des Schutzbereiches, sondern für das Ergebnis der vorzunehmenden Interessenabwägung von Bedeutung. Hiervon ausgehend erscheint die Vorschrift der Beschwerdeführerin, wonach die Verteilung von Werbematerial auf öffentlichem Grund generell verboten ist (Art. 20 VBöGS), als unverhältnismässige Beschränkung. Damit ist der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts im Lichte der Verfassung und namentlich der Handels- und Gewerbefreiheit zu bestätigen und eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu verneinen. Zwar besteht ein öffentliches Interesse daran, dass möglichst keine Werbeaktionen auf den Strassen stattfinden, weil sie den Fussgänger-verkehr beeinträchtigen und einen zusätzlichen Reinigungsaufwand verursachen können. Zudem ist ein Gewerbetreibender auf die Verteilung von Flugblättern und dergleichen auf öffentlichem Grund normalerweise auch nicht angewiesen. In der Regel werden derartige Werbematerialien in die Briefkästen verteilt. Gleichwohl sind besondere Situationen denkbar, wo das Interesse eines einzelnen Gewerbetreibenden die erwähnten öffentlichen Anliegen überwiegen kann, z.B. wenn es darum geht, Passanten auf eine in der Nähe stattfindende Veranstaltung aufmerksam zu machen. Wie vom Verwaltungsgericht angeordnet, muss daher eine Interessenabwägung vorgenommen und gestützt hierauf entschieden werden, ob und gegebenenfalls mit welchen Auflagen eine Bewilligung zu erteilen ist. Dass dies nicht bloss vermehrten Aufwand erfordert, sondern in der praktischen Handhabung auch gewisse Probleme bringen mag, entbindet das Gemeinwesen nicht von der Pflicht zu rechtsstaatlichem Vorgehen; dazu gehört die Beachtung der Grundrechte und, bei deren Einschränkung, des Verhältnismässigkeitsprinzips.

c) Freizügigkeit der Berufstätigen

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§ 8 Rechtsstaatliche Garantien

I. Allgemeiner Überblick

Siehe oben (§ 6 III).

II. Das Gebot der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV)

1. Allgemeines a) Gleichheitsprinzip als Gerechtigkeitsnorm

b) Entwicklungsgeschichte der Gleichheitssätze

c) Rechtsgrundlagen

• Allgemeiner Gleichheitssatz

• Besondere Gleichheitssätze 2. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 8 Abs. 1 BV) a) Rechtsnatur und Normstruktur

• Grundrecht

Der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 BV scheint deskriptiv («Alle Menschen sind gleich»).

• Grundrechtsträger

• Normschichten

• Kein Schutzbereich

Keine Anwendung von Art. 36 BV

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b) Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes

aa) Der Anspruch auf sachgerechte Differenzierung (Subjektivrechtliche Normschicht)

BGE 125 I 173, E 6: «Ein Erlass verletzt den Grundsatz der Rechtsgleichheit und damit Art. 4 Abs. 1 BV, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen. Die Rechtsgleichheit ist verletzt, wenn Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich oder Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Vorausgesetzt ist, dass sich der unbegründete Unterschied oder die unbegründete Gleichstellung auf eine wesentliche Tatsache bezieht. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet werden je nach den herrschenden Anschauungen und Zeitverhältnissen. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des Willkürverbots ein weiter Spielraum der Gestaltungsfreiheit.»

BGE 129 I 161 E. 3.2: Art. 8 Abs. 1 BV verlang, dass im öffentlichen Dienstrecht gleichwertige Arbeit gleich entlöhnt wird. Das Bundesgericht hat freilich den politischen Behörden einen grossen Spielraum in der Ausgestaltung von Besoldungsordnungen zugestanden. Ob verschiedene Tätigkeiten als gleichwertig zu betrachten sind, hängt von Beurteilungen ab, die unterschiedlich ausfallen können. Innerhalb der Grenzen des Willkürverbots und des Rechtsgleichheitsgebots sind die Behörden befugt, aus der Vielzahl denkbarer Anknüpfungspunkte die Tatbestandsmerkmale auszuwählen, die für die Besoldung der Beamten massgebend sein sollen (BGE 125 I 71 E. 2c/aa S. 79; 124 II 409 E. 9b S. 426 f.; 123 I E. 6b S. 8; 121 I 102 E. 4a/c S. 104 f.). Das Bundesgericht übt gewisse Zurückhaltung und greift von Verfassungs wegen bloss ein, wenn der Kanton mit den Unterscheidungen, die er trifft, eine Grenze zieht, die sich nicht vernünftig begründen lässt, die unhaltbar und damit in den meisten Fällen auch geradezu willkürlich ist (BGE 123 I 1 E. 6a S. 7f. mit Hinweisen). So wurden beispielsweise innerhalb verschiedener Kategorien von Lehrkräften folgende Lohndifferenzierungen als verfassungsrechtlich haltbar anerkannt: - Fast 22% zwischen Primar- und Orientierungsschullehrern (BGE 121 I 49 E. 4c S. 53 f.); - Rund 6,6% bzw. 12% zwischen Hauptlehrern und Lehrbeauftragten, auch dann, wenn im

konkreten Fall hinsichtlich Ausbildung, Berufserfahrung, Verantwortung und Aufgabenbereich kein Unterschied bestand (BGE 121 I 102 E. 4d S. 106 f.; Urteil 2P.325/1992 vom 10. Dezember 1993, E. 5a/bb); nur bei besonders lange (d.h. länger als etwa 15 Jahre) dauernden Lehrauftragsverhältnissen wäre eine Ungleichbehandlung bei sonst gleichen Voraussetzungen verfassungswidrig (zitiertes Urteil 2P.325/1992, E. 5a);

- rund 20-26% zwischen zwei Lehrerkategorien, die sich in der Ausbildung unterschieden (dreijährige Lehrerausbildung gegenüber Matura und anschliessendes Lizentiat), aber teilweise an der gleichen Schule unterrichteten (Urteil 2P.77/1996 vom 27. September 1996, E. 2);

- fast 10% zwischen Logopädinnen mit Grundausbildung Matura und solchen mit Lehrerpatent (BGE 123 I 1 E. 6h S. 11); - 6,73% Besoldungsunterschied und zusätzlich 7,41% Unterschied in der Zahl der Pflichtstunden zwischen kaufmännischen und gewerblich-industriellen Berufsschullehrern (Urteil 2P.249/1997 vom 10. August 1998, E. 4);

- rund 18% zwischen Mittelschullehrern und Berufsschullehrern trotz gleicher Ausbildung (Urteil 1P.413/1999 vom 6. Oktober 1999, E. 3c).

bb) Das Egalisierungsgebot (Objektivrechtliche Normschicht) Herstellung von Chancengleichheit im Zugang zu Gütern und Dienstleistung, wo sachlich geboten.

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3. Besondere Gleichheitssätze a) Überblick

• Sachbezogene Gleichheitssätze: o Art. 127 Abs. 2 BV (Steuern) o Art. 29 Abs. 1 BV (Verfahren) o Art. 92 Abs. 2 BV (Tarifgleichheit)

• Differenzierungsverbote

o Art. 37 Abs. 2 BV (Kantons- und Gemeindebürgerrecht)

• Wirkungsbezogene Gleichheitssätze: Diskriminierungsverbote o Art. 8 Abs. 2 BV (allgemeiner Diskriminierungsverbot) o Art. 8 Abs. 3 BV (Geschlechterdiskriminierungsverbot)

• Besondere Egalisierungsgebote

o Art. 11 BV (Kinder und Jugendliche) o Art. 8 Abs. 4 BV (Behinderte) o Art. 8 Abs. 3 Satz 2 BV (Frauen)

b) Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV insbesondere

aa) Konkretisierung des Anspruchs auf sachgerechte Differenzierung (subjektivrechtliche Normschicht)

BGE 126 II 377, E 6a: Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Die Bestimmung gibt in angepasster Form den Inhalt von Art. 4 Abs. 1 zweiter Satz aBV wieder (BBl 1997 I 142 f.). Im Unterschied zu Art. 8 Abs. 3 BV (vormals Art. 4 Abs. 2 aBV) enthält das allgemeine Diskriminierungsverbot allein kein Egalisierungsgebot (AB 1998 [Separatdruck] S 36 f., Votum Rhinow, Berichterstatter); der Gesetzgeber wird lediglich angehalten, Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vorzusehen (Art. 8 Abs. 4 BV; ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde in die Vernehmlassung geschickt, BBl 2000 3335). Eine Diskriminierung gemäss Art. 8 Abs. 2 BV liegt dann vor, wenn eine Person rechtsungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (AB 1998 [Separatdruck] S 36, Votum Rhinow, Berichterstatter), welche historisch und in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder sonst als minderwertig behandelt wurde. (…) Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Art von Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung eines Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an ein Unterscheidungsmerkmal anknüpft, das einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betreffenden Person ausmacht (…); insofern beschlägt die Diskriminierung auch Aspekte der Menschenwürde (Art. 7 BV). Das Diskriminierungsverbot des schweizerischen Verfassungsrechts macht aber die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal - wie Herkunft, Rasse, Geschlecht, Sprache und weitere in Art. 8 Abs. 2 BV (in nicht abschliessender Weise) aufgezählte Kriterien - nicht absolut unzulässig. Vielmehr begründet dieser Umstand zunächst den blossen "Verdacht einer unzulässigen Differenzierung" (KÄLIN/CARONI, a.a.O., S. 78); sich daraus ergebende Ungleichbe-handlungen sind infolgedessen "qualifiziert zu rechtfertigen".

BGE vom 9.7.2003 1P.228/2002) betreffend Verweigerung der Einbürgerung in Emmen: Die Beschwerdeführer rügen in erster Linie die Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2

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BV). Dieses Grundrecht soll den Angehörigen bestimmter traditionell unterprivilegierter bzw. Gefährdeter gesellschaftlicher Gruppen einen besonderen Schutz gegen Benachteiligung und Ausgrenzung gewähren und geht damit über das allgemeine Gleichbehandlungsgebot und das Willkürverbot hinaus. Sein Schutzbereich ist - im Gegensatz zu demjenigen des allgemeinen Willkürverbots (BGE 126 I 81 E. 5a S. 91; 121 I 267 E. 3c S. 270) - hinreichend bestimmt und eingegrenzt, um im Hinblick auf Art. 88 OG den Kreis der Personen zu bestimmen, die befugt sind, an den Verfassungsrichter zu gelangen. Wie bei anderen speziellen Verfassungsrechten ergibt sich die Legitimation deshalb schon aus der Grundrechtsträgerschaft und dem Inhalt des angerufenen Verfassungsrechts: Es genügt zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde, wenn die Beschwerdeführer geltend machen, sie seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gemäss Art. 8 Abs. 2 BV geschützten Gruppe benachteiligt worden (…). Dies entspricht der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 aBV, heute Art. 8 Abs. 3 Satz 1 BV; vgl. BGE 114 Ia 329 E. 2b S. 330 f. mit Hinweisen) und der neueren Praxis zu Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG, wonach sich aus Art. 8 Abs. 2 BV unter Umständen ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ergeben kann, der den Weg ans Bundesgericht im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde öffnet (BGE 126 II 377 E. 6 S. 392 ff.; unveröffentlichte Entscheide 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002 E. 2c und 2P.116/2001 vom 29. August 2001 E. 1a und 2c). Durch die Anerkennung eines rechtlich geschützten Interesses unmittelbar aus dem Diskriminierungsverbot wird auch sichergestellt, dass gegen diskriminierende Akte kantonaler und kommunaler Behörden das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde ans Bundesgericht offen steht; damit wird der Verpflichtung der Schweiz gemäss Art. 6 RDÜ Rechnung getragen, wirksame Rechtsbehelfe gegen alle rassisch diskriminierenden Handlungen durch die zuständigen nationalen Gerichte zu gewährleisten (vgl. Botschaft des Bundesrats vom 2. März 1992 über den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Übereinkommen von 1965 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und über die entsprechende Strafrechtsrevision, BBl 1992 III Ziff. 55 S. 299).

bb) Konkretisierung des Egalisierungsgebots

(objektivrechtliche Normschicht)

• Der Schutz vor tatsächlicher Diskriminierung (durch Private)

• Der Schutz vor strukturellen Diskriminierungen (Sozialgestaltungsauftrag)

Vgl. zum Ganzen auch Art. 8 Abs. 4 BV sowie das Behindertengleichstellungsgesetz (in Kraft ab 1.1.2004).

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c) Das Geschlechtergleichheitsgebot von Art. 8 Abs. 3 BV insbesondere

aa) Entstehungsgeschichte bb) Satz 1: «Mann und Frau sind gleichberechtigt»

Ausnahmen

Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 Abs. 3 BV) Verfassung

• Militärdienstpflicht (Art. 59 BV) • Zivilschutzpflicht (Art. 61 BV)

Biologische und funktionale Gründe

Egalisierungsauftrag cc) Satz 2: Egalisierungsgebot

Botschaft BV, BBl 1997 I 143: «Im ersten Satz wird der Grundsatz der Rechtsgleichheit aus Absatz 1 präzisiert; der zweite enthält einen Gesetzgebungsauftrag zur Gleichstellung von Mann und Frau und führt beispielhaft einige Berieche auf, in denen dieser Grundsatz von besonderer Bedeutung ist. Dieser Auftrag unterscheidet sich von demjenigen des Absatzes 1 in der Weise, dass er vom Gesetzgeber im Rahmen des Möglichen die tatsächliche Gleichstellung verlangt.»

dd) Satz 3: Lohngleichheitsgebot

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III. Das Gebot von Treu und Glauben

1. Begriff und Rechtsgrundlagen

Art. 5 Abs. 3 BV

Zwischen Privaten und Staat (Art. 5 Abs. 3 BV)

Zwischen Staat und Privaten (Art. 9 BV)

Zwischen Privaten (Art. 2 ZGB)

2. Teilgehalte a) Vertrauensschutz

b) Verbot widersprüchlichen Verhaltens

c) Verbot des Rechtsmissbrauchs

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Zwischen Gemeinwesen(Art. 5 Abs. 3 BV)

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IV. Das Willkürverbot

1. Entstehungsgeschichtliches und Rechtsgrundlage Ursprung im Widerstandsrecht gegen Staatsgewalt

Ableitung aus Art. 4a BV (BGE)

Heute: Art. 9 BV

2. Inhalt des Willkürverbots a) Allgemeines

Botschaft BV (BBl 1997 I 144): «Das Willkürverbot ist eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaates; es sichert dem Einzelnen im Umgang mit en Behörden ein Mindestmass an Gerechtigkeit. Aufgrund dieser Eigenschaft als Mindestgarantie erscheint das Willkürverbot wie ein subsidiäres Verfassungsrecht, das dann angerufen werden wird, wenn kein anderes Grundrecht oder kein anderes spezifisches Recht geltend gemacht werden kann.»

BGE 127 I 54 E 2b: Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist.

b) In der Rechtsetzung

BGE 122 I 18 ff., 25: «Ein Erlass verstösst gegen das Willkürverbot, wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützen lässt oder sinn- und zwecklos ist.»

c) In der Rechtsanwendung

BGE 122 I 61 ff., 66 f.: «Une décision est arbitraire lorsqu'elle contredit clairement la situation de fait, lorsqu'elle viole gravement une norme ou un principe juridique clair et indiscuté, ou lorsqu'elle heurte d'une manière choquante le sentiment de la justice et de l'équité; à cet égard, le Tribunal fédéral ne s'écarte de la solution retenue par l'autorité cantonale de dernière instance que si elle apparaît insoutenable, en contradiction manifeste avec la situation effective, adoptée sans motifs objectifs ou en violation d'un droit certain. Par ailleurs, il ne suffit pas que les motifs de l'arrêt attaqué soient insoutenables, encore faut-il que ce dernier soit arbitraire dans son résultat. Il n'y a en outre pas arbitraire du seul fait qu'une autre solution que celle de l'autorité intimée apparaît comme concevable, voire préférable (…).»

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3. Rechtsnatur und Wirkungsgehalt a) Auffanggrundrecht

Botschaft BV (BBl 1997 I 144): «Das Willkürverbot ist eine unverzichtbare Grundlage des Rechtsstaates; es sichert dem Einzelnen im Umgang mit en Behörden ein Mindestmass an Gerechtigkeit. Aufgrund dieser Eigenschaft als Mindestgarantie erscheint das Willkürverbot wie ein subsidiäres Verfassungsrecht, das dann angerufen werden wird, wenn kein anderes Grundrecht oder kein anderes spezifisches Recht geltend gemacht werden kann.»

b) Die Probleme mit der gerichtlichen Durchsetzung

BGE 121 I 67 ff.

BGE 126 I 81 ff.

V. Verfahrensgarantien

1. Allgemeines

Gesetz

Feststellung SV Fairness Akzeptanz

Verfahren

Rechtsanwendungsakt (Urteil, Entscheid)

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2. Allgemeine Verfahrensgarantien (Art. 29 BV) a) Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung (Generalklausel von Art.

29 Abs. 1 BV)

b) Verbot der formellen Rechtsverweigerung (Art. 29 Abs. 1 BV)

• Verbot der Rechtsverweigerung

• Verbot der Rechtsverzögerung

BGE 117 Ia E. 1c :«Es bleibt zu prüfen, ob das Appellationsgericht gegen das aus Art. 4 BV abgeleitete Verbot der Rechtsverzögerung verstossen hat. Die Gerichte sind aufgrund des Rechtsverzögerungsverbotes gehalten, ihre Arbeit so zu organisieren, dass das Verfahren in allen ihnen vorgelegten Fällen innerhalb einer angemessenen Frist zum Abschluss gebracht werden kann. Ob eine gegebene Prozessdauer als angemessen zu betrachten ist, muss im Hinblick auf die Natur und den Umfang des Rechtsstreites beurteilt werden (BGE 107 Ib 165 E. 3c mit Hinweisen). Im weiteren bestimmt sich die zulässige Verfahrensdauer nach der Gesamtheit der übrigen Umstände (...). Ein Verfahren wird demnach dann über Gebühr verzögert, wenn der Entscheid nicht binnen der Frist getroffen wird, welche nach der Natur und dem Umfang (Kompliziertheit) der Sache sowie nach der Gesamtheit der übrigen Umstände als angemessen erscheint.»

• Verbot des überspitzten Formalismus

BGE 127 I 31, E 2a: Das aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher aus Art. 4 aBV) fliessende Verbot des überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert.

c) Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV)

BGE vom 9. Mai 2000, 1P.231/2000, E. 3a: Aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich die Pflicht der Behörden, Vorbringen der Parteien zu hören, sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und bei der Entscheidfindung zu berück sichtigen. Dass eine solche Prüfung vorgenommen wurde, müsste aus der Begründung des Entscheids sichtbar sein. Prüfungs- und Begründungspflicht sind in diesem Sinne ein Ganzes (vgl. Arthur Haefliger, Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich, 1985, S. 147). Die Begründung eines Entscheids soll dazu beitragen, dass sich die Behörde nicht von sachfremden Motiven leiten lässt und dient sowohl der Transparenz der Entscheidfindung als auch der Selbstkontrolle der Behörden. Eine Behörde muss wenigstens kurz die Überlegungen darstellen, von denen sie sich leiten liess und auf welche sie ihren Entscheid stützt (BGE 125 II 369 E. 2c S. 372 mit Hinweisen). Sie darf sich aber auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken und muss sich nicht ausdrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinander setzen. Je stärker ein Entscheid in Grundrechte eingreift, desto höher sind die Anforderungen an die Begründung eines Entscheides.

BGE vom 9.7.2003, 1P.1/2003, E.3.2-3.3: «Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (…) haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs leitet das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung die Pflicht der Behörden ab, ihre Verfügungen und Entscheide zu begründen (…). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus folgt die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren

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Entscheid zu begründen. Der Bürger soll wissen, warum die Behörde entgegen seinem Antrag entschieden hat. Die Begründung eines Entscheids muss deshalb so abgefasst sein, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheids ein Bild machen können (…). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht ein Anspruch auf rechtliches Gehör und damit auch auf Begründung immer dann, wenn ein Hoheitsakt unmittelbar die Rechtsstellung des Einzelnen berührt (…), d.h. dieser Partei eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens ist. Art. 29 Abs. 2 BV gewährt dementsprechend den „Parteien“ Anspruch auf rechtliches Gehör (…). Die Gesuchsteller haben im Einbürgerungsverfahren Parteistellung; (…) insofern kann das Fehlen eines Rechtsanspruchs die Begründungspflicht nicht ausschliessen.»

d) Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV)

BGE 127 I 202, E. 3: Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint; soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 4 aBV hat der Geschädigte in einem Strafverfahren auch aufgrund von Art. 29 Abs. 3 BV nur dann Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung, wenn er bedürftig ist (...). Eine Person ist bedürftig, wenn sie nicht in der Lage ist, für die Prozesskosten aufzukommen, ohne dass sie Mittel beanspruchen müsste, die zur Deckung des Grundbedarfs für sie und ihre Familie notwendig sind.

BGE 129 I 129 ff., 135: «In diesem Sinne ist auch nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter Beachtung der Besonderheiten des Rechtsmittelverfahrens und der konkreten Umstände zu beurteilen, ob die unentgeltliche Verbeiständung unter Beachtung der Tragweite der aufgeworfenen Fragen und der Interessenwahrung für den Betroffenen notwendig erscheint und das vom Gesuchsteller angestrebte Verfahrensziel nicht aussichtslos ist bzw. die verlangten Prozesshandlungen nicht offensichtlich unzulässig sind.»

3. Das Recht auf richterliche Behandlung

(Art. 29a BV, Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 f. EMRK) a) Art. 6 Ziff. 1 EMRK

BGE 129 I 207, E. 3.2: «Praxisgemäss gebietet der sich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergebende Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz, dass die Kantone eine richterliche Überprüfung auch in jenen von der Konventionsbestimmung erfassten Fällen vorsehen, wo nach ihrer Gesetzgebung kein Gericht angerufen werden kann; die richterliche Kontrolle ist für solche Streitigkeiten direkt gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu ermöglichen (BGE 125 I 313 E. 3b S. 318 mit Hinweisen).»

b) Art. 29a BV

c) Besondere Garantien beim Freiheitsentzug (Art. 5 EMRK/31 BV)

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4. Verfahrensgarantien vor Gericht (Art. 30 BV) a) Allgemeines

BGer. vom 7. Januar 2000, 1p.681/1999/sch, E. 2b: Jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, hat Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt (Art. 30 Abs. 1 BV). Nach der Praxis zu Art. 58 aBV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat der Rechtsuchende einen Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unvoreingenommenen, unparteiischen und unbe-fangenen Richter beurteilt wird. Damit soll garantiert werden, dass keine Umstände, die ausser-halb des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das Urteil einwirken. Solche Umstände können in einem persönlichen Verhalten der Justizangehöri-gen oder auch in funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten begründet sein. Liegen bei objektiver Betrachtung Anhaltspunkte vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt (BGE 125 I 119 E. 3a S. 122; 124 I 121 E. 3a S. 123, 255 E. 4a S. 261; 120 Ia 184 E. 2b S. 187; 119 Ia 53 E. 4 S. 57, je mit Hinweisen). Prozessuale Fehler (oder auch ein allenfalls falscher materieller Entscheid) vermögen für sich allein grundsätzlich noch nicht die Befürchtung der Voreingenommenheit zu begründen. Anders kann es sich verhalten, wenn besonders krasse oder wiederholte Irrtümer vorliegen, die als schwere Verletzung der Richterpflichten beurteilt werden müssen (BGE 115 Ia 400 E. 3b S. 404).

b) Anspruch auf gesetzlichen Richter

BGE 127 I 128 ff., 131: «Besteht eine Behörde aus einer bestimmten Zahl von Mitgliedern, so müssen - unter Vorbehalt abweichender Ordnung - beim Entscheid alle mitwirken. Die Behörde, die in unvollständiger Besetzung entscheidet, ohne dass das Gesetz ein entsprechendes Quorum vorsieht, begeht eine formelle Rechtsverweigerung (...). Wenn einzelne Mitglieder aus triftigem Grund in Ausstand treten wollen oder müssen, sind sie zu ersetzen (...). Jeder Verfahrensbeteiligte hat Anspruch darauf, dass die Behörde richtig zusammengesetzt ist, vollständig und ohne Anwesenheit Unbefugter entscheidet (...).»

c) Anspruch auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter

BGE 126 I 68 E. 3: Nach der in Art. 58 Abs. 1 aBV bzw. im materiell unverändert in die neue Bundesverfassung vom 18. Dezember 1998 überführten Art. 30 Abs. 1 BV und in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtungs-weise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Vorein-genommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt (...) Wird mit einer staats-rechtlichen Beschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf den verfassungs- und konventions-mässigen Richter geltend gemacht, so überprüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Mit freier Kognition prüft es dagegen, ob die als vertretbar erkannte Auslegung des kantonalen Prozessrechts mit den Garantien von Art. 58 Abs. 1 aBV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist (...) Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen in das Gericht kann bei den Parteien immer dann entstehen, wenn einzelne Gerichtspersonen in einem früheren Verfahren mit der konkreten Streitsache schon einmal befasst waren. In einem solchen Fall sogenannter Vorbefassung stellt sich die Frage, ob sich ein Richter durch seine Mitwirkung an früheren Entscheidungen in einzelnen Punkten bereits in einem Mass festgelegt hat, die ihn nicht mehr als unvoreingenommen und dementsprechend das Verfahren als nicht mehr offen erscheinen lassen. Ob dies der Fall ist, kann nicht generell gesagt werden; es ist nach der Rechtsprechung vielmehr in jedem Einzelfall zu untersuchen, ob die konkret zu entscheidende Rechtsfrage trotz Vorbefassung als offen erscheint.

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d) Wohnsitzrichter

e) Öffentlichkeitsprinzip

BGE 119 IB 311 E. 6b: «Nach der Rechtsprechung gewährleistet das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung dem Angeschuldigten und allen übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung. Die Verhandlungen sind in einem doppelten Sinn öffentlich: Gegenüber der Allgemeinheit, die, von gewissen Ausnahmen abgesehen (zum Ausschluss der Öffentlichkeit, vgl. BGE 119 Ia 104 E. 4a), den Prozess unmittelbar verfolgen kann, und gegenüber den Parteien, die an allen Prozesshandlungen des Gerichtes teilnehmen können. Damit ist auch im Gerichtswesen für Transparenz gesorgt, was zu den Grundlagen eines demokratischen Staates gehört. Der Grundsatz der Öffentlichkeit in Art. 6 Ziff. 1 EMRK erscheint somit nicht nur als Grundrecht des Einzelnen, sondern ebensosehr als Voraussetzung für das Vertrauen in das Funktionieren der Justiz (BGE 119 Ia 104 E. 4a; vgl. aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, Urteil vom 8. Dezember 1983 im Fall Axen, Série A, Vol. 72, Ziff. 25 = EuGRZ 1985 S. 228, sowie das die Schweiz betreffende Urteil vom 22. Februar 1984 im Fall Sutter, Série A, Vol. 74, Ziff. 26 = EuGRZ 1985 S. 231 f.; s. auch ARTHUR HAEFLIGER, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 153). Ein aus Art. 6 EMRK fliessender Anspruch des Rechtsunterworfenen auf Ausschluss der Öffentlichkeit besteht daher grundsätzlich nicht. Ein solcher Anspruch kann sich allenfalls aus Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens; … Entscheid der Europäischen Menschenrechtskommission vom 4. Juli 1978, DR 14, 231 ff.) oder aus dem ungeschriebenen verfassungsmässigen Recht auf persönliche Freiheit (BGE 119 Ia 105 E. 4b) ergeben. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Person auf die Öffentlich-keit der Verhandlung nicht verzichten kann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging nie so weit und auch der Wortlaut oder Sinn und Zweck des Art. 6 Ziff. 1 EMRK schliessen einen solchen freiwilligen, ausdrücklichen oder stillschweigenden Verzicht nicht aus (Urteil Håkansson und Sturesson vom 21. Februar 1990, Série A, Vol. 171-A, Ziff. 66 = EuGRZ 1992 S. 10). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes muss auch eine öffentliche Anhörung nicht stattfinden, wenn der Angeschuldigte darauf verzichtet und der Vertragsstaat auf einer solchen nicht besteht (Fall Le Compte, Van Leuven und De Meyere, Urteil vom 23. Juni 1981, Série A, Vol. 43, Ziff. 59 = EuGRZ 1981 S. 554; Fall Albert und Le Compte, Urteil vom 10. Februar 1983, Série A, Nr. 58, Ziff. 35 = EuGRZ 1983 S. 194; vgl. auch Urteil Weber, a.a.O., Ziff. 39).»

5. Verfahrensgarantien im Strafverfahren insbesondere (Art. 32 BV) a) Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK)

BGE 127 I 38 E. 2: Gemäss dem in Art. 32 Abs. 1 BV und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Grundsatz "in dubio pro reo" ist bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Als Beweislastregel bedeutet die Maxime, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist verletzt, wenn der Strafrichter einen Angeklagten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Ebenso ist die Maxime verletzt, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass der Strafrichter von der falschen Meinung ausging, der Angeklagte habe seine Unschuld zu beweisen, und dass er ihn verurteilte, weil ihm dieser Beweis misslang. Ob der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweislastregel verletzt ist, prüfte das Bundesgericht unter Geltung der alten Bundesverfassung mit freier Kognition (BGE 120 Ia 31 E. 2c und d). Es besteht kein Anlass, diese Praxis nach Inkrafttreten des neuen Art. 32 Abs. 1 BV zu überdenken. Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Inwiefern dieser Grundsatz verletzt ist, prüfte das Bundesgericht bisher unter dem

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Gesichtspunkt der Willkür, d.h. es griff nur ein, wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden (BGE 120 Ia 31 E. 2; 124 IV 86 E. 2a, je mit Hinweisen). Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht, wenn der angefochtene Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 124 IV 86 E. 2a). An diesem aus Art. 4 aBV abgeleiteten Willkürbegriff hat sich durch den am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Art. 9 BV inhaltlich nichts geändert. Im Übrigen hatte das Bundesgericht das Willkürverbot - im Gegensatz etwa zum Legalitätsprinzip und dem Verhältnismässigkeitsprinzip - schon früher als eigenständiges Grundrecht verstanden (BGE 126 I 81 E. 5a).

b) Informations- und Verteidigungsrechte (Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit.

a-e EMRK)

BGE 129 I E. 3 S.154 f.: «Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des Ange-schuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Entsprechend sind Beschwerden wie die vorliegende unter dem Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen (Urteil des EGMR i.S. Kostovski gegen Niederlande vom 20. November 1989, Serie A, Bd. 166, Ziff. 39; BGE 127 I 73 E. 3f S. 80; 125 I 127 E. 6a S. 131 f., je mit Hinweisen). Mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wird, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen (Urteil des EGMR i.S. Unterpertinger gegen Österreich vom 24. November 1986, Serie A, Bd. 110, Ziff. 33; BGE 125 I 127 E. 6c/cc S. 135; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Zürich 1999, Rz. 477). Dieser Anspruch wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet (Urteil 1P.650/2000 vom 26. Januar 2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 93 S. 545, E. 3b). Dabei ist festzuhalten, dass das Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung mit Konvention und Bundesverfassung unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar ist (Urteil des EGMR i.S. Asch gegen Österreich vom 26. April 1991, Serie A, Bd. 203, Ziff. 27; BGE 125 I 127 E. 6c/aa S. 134). Das Ziel der Norm ist die Wahrung der Waffengleichheit (JOCHEN ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl usw. 1996, Art. 6 EMRK Rz. 200). Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Demgegenüber ist das Recht, Entlastungszeugen zu laden und zu befragen, relativer Natur. Der Richter hat insoweit nur solche Beweisbegehren, Zeugenladungen und Fragen zu berücksichtigen und zuzulassen, die nach seiner Würdigung rechts- und entscheiderheblich sind (BGE 125 I 127 E. 6c/bb S. 135). Das strenge Erfordernis des Anspruchs auf Befragung von Belastungszeugen erfährt in der Praxis eine gewisse Abschwächung; es gilt uneingeschränkt nur in all jenen Fällen, bei denen dem streitigen Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt (Urteil des EGMR i.S. Delta gegen Frankreich vom 19. Dezember 1990, Serie A, Bd. 191-A, Ziff. 37; BGE 125 I 127 E. 6c/dd S. 135 f.; 124 I 274 E. 5b S. 286).»

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VI. Das Petitionsrecht

1. Rechtsgrundlage und Rechtsnatur Das Petitionsrecht ist in Art. 33 BV verankert. Es findet sich zwischen den verfahrensrechtlichen und den politischen Grundrechten. Seine Rechtsnatur ist im Einzelnen umstritten:

• Petitionsrecht = Freiheitsrecht (Meinungsäusserungsfreiheit)? • Petitionsrecht = politisches Grundrecht? • Petitionsrecht = rechtsstaatlicher Grundsatz?

2. Schutzgehalt a) Anspruch auf Verfassung und Einreichung einer Petition

Botschaft BV, BBl 1997 I 188: «Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich dabei um das Recht, jederzeit den Behörden Gesuche, Vorschläge, Kritiken oder Beschwerden in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einzureichen, ohne deswegen Unannehmlichkeiten oder rechtliche Nachteile irgendwelcher Art, etwa die Verschärfung der Haftbedingungen eines inhaftierten Petitionärs, befürchten zu müssen.»

b) Anspruch auf Kenntnisnahme und Einsichtnahme durch die Behörde

Botschaft BV (BBl 1997 I 188 f.): «Bis anhin hat sich das Bundesgericht geweigert, die eidgenössischen oder kantonalen Behörden zu verpflichten, die Petitionen inhaltlich zu behandeln und sie zu beantworten. Eine solche Verpflichtung sei vom Gesetzgeber vorzusehen. Diese Recht-sprechung wird von der Lehre kritisiert. Sie vertritt die Ansicht, dass die Petition ihre Funktion als Kommunikationsmittel zwischen den Einzelnen und den Behörden nur dann wirklich erfüllen könne, wenn diese die Petition gründlich prüften, sie beantworteten und dadurch zeigten, dass sie dem Anliegen der Bürgerinnen oder des Bürgers mit dem gebührenden Ernst begegneten. Die Praxis der Behörden geht in aller Regel über die Verpflichtung der blossen Kenntnisnahme hinaus. So sehen die politischen Behörden des Bundes vor, dass an die Bundesversammlung gerichtete Petitionen materiell zu behandeln sind (vgl. Art. 45 Geschäftsreglement des Nationalrates und Art. 37 Geschäftsreglement des Ständerates). Gleiches gilt für die Praxis des Bundesrates und der Bundesverwaltung...»

c) Verbot der Sanktionierung und Benachteiligung der Petitionäre

3. Grundrechtsträger 4. Schranken

BGE 100 Ia 77: Petitionsrecht für Strafgefangene

BGE 109 Ia 208: Verbot der Unterschriftensammlung vor Strafanstalt gerechtfertigt

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§ 9 Politische Grundrechte

I. Allgemeiner Überblick (Art. 34 BV)

Siehe oben (§ 6 III).

II. Rechtsquellen und Rechtsnatur

1. Rechtsquellen

• Bundesverfassung: Art. 34 BV

• Völkerrecht: Art. 25 UN-Pakt II

2. Rechtsnatur Als politische Rechte gelten alle Rechte, die eine Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung einräumen. Als politische Grundrechte gelten alle Rechte, die einen verfassungsmässigen (völkerrechtlichen) einklagbaren Anspruch auf die Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung einräumen.

III. Inhalt und Umfang der politischen Rechte

1. Allgemeines Gemäss Art. 34 Abs. 1 BV sind die politischen Rechte gewährleistet. Geschützt werden die politischen Rechte, wie sie nach Massgabe der Regelungen im Bund, in den Kantonen und in den Gemeinden bestehen.

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2. Politische Rechte im Bund a) Rechtsgrundlagen:

• Art. 136 BV, Art. 39 BV

• BG über die politischen Rechte (SR 161.1), Verordnung über die politischen Grundrechte (SR 161.11)

• BG über die politischen Grundrechte der Auslandschweizer (SR 161.5),

Verordnung über die politischen Rechte der Auslandsschweizer (SR 161.51)

b) Träger von politischen Rechten

Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind (Art. 136 Abs. 1 Satz 1 BV). Vgl. zur passiven Wahlfähigkeit in den Nationalrat, Bundesrat und in das Bundesgericht: Art. 143 BV. c) Sachlicher Umfang der politischen Rechte Beachte BB vom 19. Juni 2003 über das Inkrafttreten der direkt anwendbaren Bestimmungen der Änderung der Volksrechte vom 4. Oktober 2002 (AS 2003 1953 f.).

• Wahlrecht o Aktives Wahlrecht (Art. 136 Abs. 2, 149 BV): Nationalrat o Passives Wahlrecht (Art. 143 BV): Nationalrat, Bundesrat, Bundesgericht

• Abstimmungsrecht

o obligatorisches Referendum (Art. 140 Abs. 1, 140 Abs. 2 BV) o fak. Referendum (Art. 141 lit. a-d, neue Fassung)

• Initiativrecht

o Volksinitiative Totalrevision (Art. 138 I BV, neue Fassung) o Volksinitiative Teilrevision (Art. 139 BV, neue Fassung) o Allgemeine Volksinitiative (Art. 139a, 139b BV, neu)

• Referendumsrecht

o Bundesgesetze (Art. 141 lit. a BV) o Dringliche, verfassungskonforme Bundesgesetze (Art. 141 lit. b BV) o Bundesbeschlüsse gemäss Verfassung und Gesetz (Art. 141 lit. c BV) o Völkerrechtliche Verträge (Art. 141 lit. d, Ziff. 1-3 BV, neue Fassung)

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d) Ausübung der politischen Rechte

Die Ausübung der politischen Rechte ist im BPR geregelt. In der Bundesverfassung finden sich lediglich gewisse Leitplanken.

• Wohnsitzprinzip (Art. 39 Abs. 2 BV)

• Persönliche oder briefliche Stimmabgabe (Art. 5 Abs. 3 BPR) 3. Politische Rechte in den Kantonen und Gemeinden a) Kantonales und kommunales Recht

Die Kantone regeln die Ausübung der politischen Rechte in den Kantonen und Gemeinden. b) Mindestanforderungen durch Bundesrecht

• Legalitätsprinzip: Verfahrensbestimmungen, welche den Erlass verbindlicher Rechtsakte regeln, müssen in den Grundzügen in einem Gesetz i.f.S. verankert sein.

• Jeder Kanton gibt sich eine demokratische Verfassung (Art. 51 Abs. 1 BV)

BGE 129 I 185 E. 3.1: «Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV (früher Art. 6 Abs. 2 lit. b aBV) verpflichtet sie lediglich, die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen (repräsentativen oder demokratischen) Formen zu sichern. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen grundsätzlich sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlverfahren. Schranke für die Ausgestaltung des Wahl-verfahrens bildet Art. 8 Abs. 1 BV (früher Art. 4 Abs. 1 aBV), welcher in Verbindung mit Art. 34 BV (auch) die politische Gleichberechtigung der Bürger garantiert; das war ursprünglich gar die Hauptbedeutung des Gleichheitsartikels gemäss der Bundesverfassung von 1848 (…). Da jede Abweichung vom Proporz zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung von Wählerstimmen führt, ist die Aufnahme proporzfremder Elemente ins Wahlverfahren nur zulässig, wenn dafür ausreichende sachliche Gründe bestehen (vgl. BGE 121 I 138 E. 5b S. 145; Urteil 1P.671/1992 vom 8. Dezember 1992, E. 3a, publ. in: ZBl 95/1994 S. 479).»

BGE vom 9.7.2003 (1P.1/2003), E.5: «Die Bundesverfassung verlangt in den Kantonen lediglich das obligatorische Verfassungsreferendum sowie die Volksinitiative auf Verfassungsrevision (Art. 51 Abs. 1 BV). Ansonsten bleibt die Ausgestaltung der politischen Rechte auf kantonaler und kommunaler Ebene dem kantonalen Recht vorbehalten (Art. 39 Abs. 1 BV).»

• Anspruch auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe (Art.

34 Abs. 2 BV)

Siehe Ziff. IV hiernach

• Wohnsitzprinzip (Art. 39 Abs. 2 BV)

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• Einheit des Wohnsitzes (Art. 39 Abs. 3 BV)

• Fakultative Karenzfrist für Neuzugezogene (Art. 39 Abs. 4 BV)

• Gleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot (Art. 8 BV)

Vgl. BGE 129 I 185 ff., 199 f. betreffend Wahlkreisgestaltung in der Stadt Zürich: «Aus der Rechtsgleichheit und der politischen Gleichberechtigung im Speziellen folgt die Wahl-rechtsgleichheit. Diese sichert einerseits allen Wählern desselben Wahlkreises die Zuteilung einer gleichen Anzahl von Stimmen, die Möglichkeit ihrer Abgabe sowie die gleiche Stimmenzählung (Zählwertgleichheit). Der Wähler hat das Recht, seine Stimme bei der Zählung der gültig eingelegten Stimmen berücksichtigt zu finden; die Wähler sind formell gleich zu behandeln, Differenzierungen des Stimmgewichts sind unzulässig (…). Wahlrechtsgleichheit bedeutet andererseits Gleichheit der Stimmkraft und erfordert die Bildung gleich grosser (Einer-)Wahlkreise bzw. ein in allen Verhältniswahlkreisen möglichst gleichbleibendes Verhältnis von Sitzen zur Einwohnerschaft. Sie garantiert jedem Wähler die gleiche Möglichkeit, seine Stimme verwertet und nicht nur gezählt zu finden (Stimmkraft- oder Stimmgewichtsgleichheit; (...). Insbesondere soll schliesslich allen Stimmen bei der Zählung nicht nur derselbe Wert und dieselbe Stimmkraft, sondern auch derselbe Erfolg zukommen (Erfolgswertgleichheit). Alle Stimmen sollen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen, und möglichst alle Stimmen sind bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen. Die Zahl der gewichtslosen Stimmen ist auf ein Minimum zu begrenzen. Verschiebungen und Einbrüche im System sind nur gestattet, wenn sie wirklich unvermeidbar sind, z.B. wenn im Rahmen der Restmandatsverteilung gewisse Stimmen unverwertet bleiben müssen. Die Erfolgswertgleichheit erfasst damit nicht nur den Anspruch auf Verwertung der Stimme, sondern bedingt auch eine innerhalb des gesamten Wahlgebietes gleiche Verwirklichung des Erfolgswertes. Damit hat sie wahlkreisübergreifenden Charakter (…).»

BGE 125 I 21 ff. Die quotenmässige Zuteilung von Volkswahl-Mandaten stellt eine unzulässige Einschränkung des freien und gleichen Wahlrechts dar (E. 3d/dd).

BGE 124 I 55 ff.: Die Rückerstattung der Kosten für den Druck von Wahllisten auf Parteien zu beschränken, die im Wahlkreis mindestens 7,5% der Listenstimmen erreichen, ist verfassungs-rechtlich nicht haltbar (E. 6). Der Ausschluss kleiner Parteien von der staatlichen Unterstützung an den Wahlkampf, die keine 5 Sitze im Grossen Rat erringen, hält vor der Stimm- und Wahlfreiheit nicht stand (E. 7).

BGE 116 Ia 352 ff.: Der Ausschluss der Frauen vom Wahl- und Stimmrecht ist verfassungswidrig.

• Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze

BGE vom 9.7.2003 (1P.1/2003), E.5: «Die Einführung des Referendumsrechts ist unproblematisch, wenn es um Sachgeschäfte (z.B. Finanzbeschluss) oder um die Gesetzgebung geht, die alle Bürger des Gemeinwesens potentiell gleichermassen betreffen. So steht es den Kantonen und Gemeinden auch frei, das Gesetz, das die Voraussetzungen für Einbürgerungen festsetzt, dem obligatorischen oder fakultativen Referendum zu unterstellen. Betrifft eine einzuführende Volkstabstimmung dagegen unmittelbar die Rechtsstellung Einzelner, wie dies bei Einbürgerungsentscheiden der Fall ist (…), so sind die Grundrechte der Betroffenen (hier: der Einbürgerungswilligen) und die Verfahrensgarantien von Art. 29 Abs. 2 BV zu wahren. Weil dies bei der Volksabstimmung an der Urne nicht möglich ist, erweist sich die kantonale Regelung, mit der solche Einzelentscheide dem Referendum unterstellt sind, als verfassungswidrig. Insofern sind auch der direkten Demokratie verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.»

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IV. Der Anspruch auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe insbesondere (Art. 34 Abs. 2 BV)

1. Allgemeines

BGE 124 I 55 ff., 57: «Das ... Bundesverfassungsrecht der Wahl- und Abstimmungsfreiheit räumt dem Stimmbürger allgemein den Anspruch darauf ein, dass kein Abstimmungs- und Wahlergebnis anerkannt werde, welches nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (...).Zudem soll der Stimmbürger seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen können (...).»

2. Teilgehalte a) Richtige Zusammensetzung der Aktivbürgerschaft

BGE 121 I 187 ff., 195: «Die Identifizierbarkeit des Stimmenden bei der Stimmabgabe erscheint somit als unentbehrlich zur Gewährleistung einer zuverlässigen und unverfälschten Willenskundgabe. Freilich vermag dieses Erfordernis Missbräuche des Stimmrechts auch nicht ganz auszuschliessen; doch werden sie im Vergleich zur anonymen Stimmabgabe deutlich erschwert. Es rechtfertigt sich nicht, im Interesse der Einfachheit der brieflichen Abstimmung und des optimalen Schutzes des Stimmgeheimnisses auf eine geeignete Massnahme zum Schutz vor Missbräuchen des Stimmrechts zu verzichten, da gerade bei der brieflichen Stimmabgabe - wie erwähnt - ausgedehnte Möglichkeiten unzulässiger Machenschaften bestehen und den angeführten übrigen Zielsetzungen des brieflichen Abstimmungsverfahrens auch sonst in genügendem Mass entsprochen werden kann. Ausserdem ermöglicht einzig eine Stimmabgabe, die unter Angabe des Namens des Stimmenden erfolgt, eine wirksame Kontrolle der Stimmberechtigung, wie sie Art. 8 Abs. 1 BPR verlangt. Eine Überprüfung der Namen der Stimmenden kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn Zweifel an der Richtigkeit eines Ergebnisses auftreten oder Unregelmässigkeiten geltend gemacht werden. Im übrigen ist sie unter Umständen aber auch nötig, um die gültigen Stimmen korrekt zu ermitteln. Verlieren Personen nach dem Versand der Unterlagen, der mindestens drei Wochen vor dem Abstimmungstag erfolgt (Art. 11 Abs. 3 BPR), aber noch vor dem Abstimmungstag ihre Stimmberechtigung, so dürfen ihre Stimmen nicht gezählt werden (vgl. Art. 2 der Verordnung über die politischen Rechte vom 24. Mai 1978 [SR 161.11]). Hingegen steht den Kantonen bei der Wahl der Form, in der sich der Stimmende bei der Stimmabgabe gegenüber den Behörden auszuweisen hat, ein grosses Ermessen zu. Sie sind entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers von Bundesrechts wegen nicht gehalten, vom Stimmberechtigten bei der brieflichen Stimmabgabe eine Unterschrift zu verlangen. Eine zuverlässige Identifizierung der Stimmenden kann auch in anderer Weise gewährleistet werden.»

b) Einheit der Materie

BGE 125 I 227 ff., 230 f.: «Le Tribunal fédéral a eu récemment l'occasion de rappeler que l'unité de la matière est une notion relative, dont les exigences doivent être appréciées en fonction des circonstances concrètes (ATF 123 I 63 consid. 4 p. 70 ss). Une initiative se présentant comme un ensemble de propositions diverses, certes toutes orientées vers un même but (dans cette espèce de 1997 la protection de l'emploi), mais recouvrant des domaines aussi divers qu'une politique économique une réforme fiscale, le développement de la formation, la réduction du temps de travail, la réinsertion des sans- emploi, etc., violait manifestement la règle de l'unité de la matière, même compte tenu du fait que cette initiative était non formulée et tendait principalement à l'adoption de prescriptions législatives (consid. 5 p. 73/74)... L'initiative 109 regroupe un ensemble de propositions qui visent à permettre au canton de développer et d'appliquer «une politique de sécurité fondée sur la mise en oeuvre de moyens

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pacifiques, aptes à résoudre tout conflit au niveau local et international» (Principe, al. 1). Au titre des moyens, le canton est invité à soutenir «toute démarche visant le désarmement global, la coopération et la solidarité entre les peuples et le respect des droits de l'homme et de la femme» (al. 2) et doit oeuvrer pour la prévention de conflits et le développement d'une culture de la paix par plusieurs moyens spécifiques (al. 3). L'initiative invite en outre le canton à mettre en oeuvre et développer des «moyens non militaires pour garantir la sécurité de la population» (al. 4). Explicite dans son titre déjà, le fil conducteur de l'initiative 109 apparaît clairement de l'ensemble du texte de celle-ci: le développement d'une politique de paix, touchant à la fois une politique de sécurité et la mise en oeuvre de moyens non militaires pour garantir la sécurité de la population. Malgré le caractère assez hétérogène de certaines propositions, celles-ci peuvent être rattachées, sans artifice, à l'idée centrale, contenue dans l'initiative, du développement d'une politique de paix par le canton de Genève. On ne se trouve donc nullement dans l'un des principaux cas où, selon la jurisprudence actuelle, l'unité de matière fait défaut, soit parce que l'initiative présente en réalité le programme politique général d'un parti (...), soit parce qu'il n'y a pas de rapport suffisamment étroit entre les différentes propositions que l'initiative contient, soit encore parce que les différentes clauses de l'initiative sont réunies de manière artificielle ou subjective (...). Le grief de défaut d'unité de la matière doit donc être rejeté.»

c) Klare und objektive Abstimmungsfrage

BGE 121 I S. 12: «Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete Stimm- und Wahlrecht räumt dem Bürger allgemein den Anspruch darauf ein, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Wille der Stimmbürger kann namentlich durch eine unrichtige Fragestellung auf dem Stimmzettel verfälscht werden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung trifft die Behörden daher bei der Formulierung der Abstimmungsfrage eine erhöhte Sorgfaltspflicht, welche die vom Bundesgericht im Zusammenhang mit amtlichen Erläuterungen aufgestellten Anforderungen übersteigt. Die Frage muss klar und objektiv abgefasst werden, darf weder irreführend sein noch suggestiv wirken und muss allfälligen besonderen Vorschriften des kantonalen Rechts genügen (BGE 106 Ia 20 E. 1 S. 22 f.). Stellt das Bundesgericht einen Mangel fest, so hebt es die Abstimmung auf, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben könnten (BGE 119 Ia 271 E. 3b S. 273 f. mit Hinweisen).»

d) Interventions- und Beeinflussungsverbot durch die Behörden

BGE 114 Ia 427 ff., 432 ff. (Laufental): Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische Stimmrecht gibt dem Bürger einen Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (...). Daraus folgt, dass jeder Stimmbürger seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung soll treffen können (...). Die Freiheit der Meinungsbildung schliesst grundsätzlich jede direkte Einflussnahme der Behörden aus, welche geeignet wäre, die freie Willensbildung der Stimmbürger im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen zu verfälschen (...). Eine solche unerlaubte Beeinflussung liegt etwa dann vor, wenn die Behörde, die zu einer Sachabstimmung amtliche Erläuterungen verfasst, ihre Pflicht zu objektiver Information verletzt und über den Zweck und die Tragweite der Vorlage falsch orientiert. Eine unerlaubte Beeinflussung der Stimmbürger kann ferner vorliegen, wenn die Behörde in unzulässiger Weise in den Abstimmungskampf eingreift und entweder positive, zur Sicherung der Freiheit der Stimmbürger aufgestellte Vorschriften missachtet oder sich sonstwie verwerflicher Mittel bedient (...). Als verwerflich gilt unter anderem, wenn eine Behörde mit unverhältnismässigem Einsatz öffentlicher Mittel in den Abstimmungskampf eingreift (...). Nach dieser Rechtsprechung schliesst die Freiheit der Meinungsbildung jedes Eingreifen der Behörden in einen Wahlkampf aus. Hingegen gilt es nachschweizerischer Rechtsauffassung immerhin als zulässig, dass eine Behörde ihre Sachvorlage den Stimmberechtigten zur Annahme empfiehlt und

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Erläuterungen oder Berichte dazu beilegt, sofern sie dabei ihre Pflicht zu objektiver Information nicht verletzt und über den Zweck und die Tragweite der Vorlage nicht falsch orientiert (...). Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung zu Fällen behördlichen Eingreifens im Abstimmungskampf über eigene Vorlagen wie auch zu solchen betreffend Interventionen einer Gemeinde in einen kantonalen Abstimmungskampf Stellung genommen. Es hat dabei solches behördliches Eingreifen nur als Ausnahme zugelassen und auf Fälle beschränkt, in denen triftige Gründe für eine Tätigkeit der Behörden sprechen (...). Für den Fall des Eingreifens von Gemeindebehörden in den kantonalen Abstimmungskampf hat es angenommen, dass triftige Gründe jedenfalls dann vorliegen, wenn eine Gemeinde und ihre Stimmbürger am Ausgang der Abstimmung ein unmittelbares und besonderes Interesse haben, das jenes der übrigen Gemeinden des Kantons bei weitem übersteigt (...). Beim Eingreifen der Behörden in den Abstimmungskampf über eigene Vorlagen gelten nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung strengere Massstäbe (...). Triftig sind Gründe für eine zusätzliche Information, Klarstellung usw. dann, wenn sie im Interesse einer unverfälschten Willensbildung und Willensbetätigung der Stimmbürger als notwendig erscheinen und so gewichtig sind, dass sie die Interessen an der freien, unbeeinflussten Meinungsbildung überwiegen (...). Kein triftiger Grund kann in der Absicht gesehen werden, die Stimmbürger zur Annahme einer Abstimmungsvorlage zu bewegen (...). Das Vorliegen triftiger Gründe ist vom Bundesgericht etwa im erwähnten Urteil vom 24. November 1982 i.S. Pfenninger (BVR 1983, S. 6 f.) angenommen worden. In jenem Urteil hat es eine Plakataktion der Behörden noch als Information gewertet und darin im Gegensatz zur Propaganda keine unzulässige Beeinflussung des Stimmbürgers gesehen, und angesichts der Komplexität des Abstimmungsgegen-standes hat es das Vorliegen wichtiger Gründe für eine Zusatzinformation bejaht. Im ebenfalls schon genannten Urteil vom 20. November 1985 i.S. Ausfeld (E. 2b/aa) hat das Bundesgericht triftige Gründe für die nochmalige Veröffentlichung eines Teils der Abstimmungszeitung deshalb als gegeben erachtet, weil sich die Abstimmungszeitung noch mit einem dahingefallenen Gegenvorschlag befasst hatte. Ferner hat es im Falle einer kantonalen Abstimmung über drei Vorlagen die Tatsache, dass hinsichtlich der von einer dieser Vorlagen betroffenen Liegenschaft in einer früheren Abstimmung ein Kredit für einen Umbau verworfen worden war, und die Befürchtung des Regierungsrates, dass der Stimmbürger für die Teilnahme an der Abstimmung zuwenig motiviert sein könnte, nicht als triftige Gründe anerkannt, um die durch den Regierungsrat eine Woche vor dem Urnengang in zwei Zeitungen veröffentlichte Informationsseite über die in Frage stehenden Vorlagen zu rechtfertigen (...).

BGE vom 9.7.2003 (1P.1/2003), E.4.2: «Art. 34 Abs. 2 BV schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe der Stimmberechtigten. Er gewährleistet damit die in der Rechtsprechung des Bundesgerichts als ungeschriebenes verfassungsmässiges Recht anerkannte Wahl- und Abstimmungsfreiheit. (…). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung haben die Behörden im Vorfeld von Urnengängen hinsichtlich öffentlicher Informationen allgemein Zurückhaltung zu üben, weil die Willensbildung den gesellschaftlichen und politischen Kräften vorbehalten bleiben soll. Andererseits kommt den Behörden, namentlich bei Sachentscheiden, eine gewisse Beratungsfunktion zu; in Einzelfällen ergibt sich aus Art. 34 Abs. 2 BV eine Informationspflicht der Behörden (…).» Vgl. zu den Informationen im Bereich von Einbürgerungsverfahren, die der Abstimmung unterliegen Erw. 4.3.

e) Interventionsverbot Privater

BGE 119 Ia 271: «Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung können auch private Informationen im Vorfeld von Sachabstimmungen in unzulässiger Weise die Willensbildung der Stimmbürger beeinflussen. Von einer unzulässigen Einwirkung wird namentlich dann gesprochen, wenn mittels privater Publikation in einem so späten Zeitpunkt mit offensichtlich unwahren und irreführenden Angaben in den Abstimmungskampf eingegriffen wird, dass es dem Bürger nach den Umständen unmöglich ist, sich aus andern Quellen ein zuverlässiges Bild von den tatsächlichen Verhältnissen zu machen (BGE 118 Ia 262, 117 Ia 47 f., 456 f. mit Hinweisen). Einflüsse dieser Art vermögen indessen nur ausnahmsweise die Aufhebung einer Abstimmung zu rechtfertigen. Verstösse von privater Seite gegen die guten Abstimmungssitten und die Verwendung von falschen und irreführenden Angaben im Abstimmungskampf lassen sich, so verwerflich sie auch immer sein mögen, nicht völlig ausschliessen und sind in gewissem Ausmasse in Kauf zu nehmen. Denn die

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Teilnahme von Einwohnern, Parteien, Abstimmungskomitees und anderen privaten Personen-gruppen an der Meinungsbildung ist grundsätzlich uneingeschränkt zulässig. Ihre Äusserungen stehen unter der Meinungsäusserungs- und der Pressefreiheit. Den Stimmbürgern darf zugetraut werden, zwischen verschiedenen bekundeten Meinungen zu unterscheiden, offensichtliche Übertreibungen als solche zu erkennen und sich aufgrund ihrer eigenen Überzeugung zu entscheiden. Eine Aufhebung einer Abstimmung kann daher nur mit grösster Zurückhaltung in Betracht gezogen werden. Eine Wiederholung einer Abstimmung kann nur bei ganz schwerwiegenden Verstössen verlangt werden und unter der Voraussetzung, dass die Auswirkung des Mangels auf das Abstimmungsergebnis ausser Zweifel steht oder zumindest als sehr wahrscheinlich erscheint (BGE 118 Ia 263/4, 117 Ia 47, 456/7, 116 Ia 469 E. 4d, je mit Hinweisen). d) Dem einzelnen Mitglied einer Behörde kann weder die Teilnahme am Abstimmungskampf noch die freie Meinungsäusserung zu einer Gesetzes- oder Sachvorlage untersagt werden (BGE 112 Ia 335 E. 4c mit Hinweis; Urteil des Bundesgerichts vom 4. Oktober 1989, in ZBl 91/1990 S. 120 E. 5c; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i.S. D. gegen den Kanton Zürich vom 18. November 1992 E. 6a). Es ist üblich, dass Behördemitglieder bei der Unterzeichnung von Aufrufen als Mitglieder von Abstimmungskomitees oder bei persönlichen Interventionen ihren Namen mit der amtlichen Stellung versehen, um ihre besondere Sachkunde und ihr Engagement für öffentliche Interessen hervorzuheben. Hingegen ist nicht zulässig, dass sie ihrer Intervention einen amtlichen Anstrich geben und den Anschein erwecken, es handle sich um eine offizielle Verlautbarung einer Behörde. Ob Inhalt und Form (etwa Verwendung amtlichen Briefpapiers oder amtlicher Insignien) ihrer Stellungnahme geeignet sind, einen solchen Anschein zu erwecken, entscheidet sich nach der Wirkung, die sie auf den Adressaten, den durchschnittlich aufmerksamen und politisch interessierten Stimmbürger, ausübt. Eine unzulässige Beeinflussung der Meinungsbildung könnte sodann in Verlautbarungen, deren privater Charakter unklar bleibt, in Betracht gezogen werden, wenn das Behördemitglied eine bewusst falsche oder täuschende Sachdarstellung geben würde, die wegen der Autorität seines Amtes nicht ohne weiteres als solche erkannt würde (vgl. ZBl 91/1990 S. 120 E. 5c), besonders wenn sie von der Gegenseite nicht mehr richtiggestellt werden könnte (BGE 98 Ia 624 ff. E. 4b).»

Vgl. ferner BGE 125 I 441 ff: Tessiner Regelung, welche die Finanzierung des Wahlkampfes eines Kandidaten durch einen Dritten auf Fr. 50'000 begrenzt.

f) Abstimmungs- und Wahlgeheimnis

BGE 121 I 138 ff., 148 f. (Landsgemeinde): «Die mit der vorliegenden Beschwerde im Vorfeld der Landsgemeinde vorgebrachten Rügen vermögen ebenfalls nicht zu überzeugen. Es ist zwar durchaus einzuräumen, dass die Institution der Landsgemeinde mit gewissen, bereits erwähnten systembedingten Unzulänglichkeiten verbunden ist. Es leuchtet durchaus ein, dass ... wegen der Offenheit der Abstimmungen Beeinflussungen möglich sind und die Mehrheitsverhältnisse nicht immer eindeutig abzuschätzen sind. Diese Umstände aber führen nicht schon für sich alleine zu Abstimmungs- und Wahlergebnissen, die den freien Willen der Stimmbürger nicht zuverlässig wiedergeben würden. (...) Es kann abstrakt auch nicht gesagt werden, dass eine freie Willens-äusserung trotz denkbarer Beeinflussungen zum vornherein nicht möglich sein sollte; denn es kann nicht bestimmt werden, in welcher Weise, ob zugunsten oder zuungunsten einer bestimmten Vorlage sich solche auswirken würden. (...) All diese Rügen und Bedenken sind aus der Sicht der Versammlungsdemokratie gewissermassen systembedingt. Sie haben sich gegenseitig überschneidende und kompensierende Auswirkungen und sind demgemäss in bezug auf die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen neutral (...)».

g) Korrekte Durchführung von Wahlen und Abstimmungen und korrekte

Ermittlung des Ergebnisses

BGE 121 I 138, E. 4a: «Wird im kantonalen Recht vorgesehen, dass das Abstimmungsergebnis an der Landsgemeinde lediglich durch Schätzung bestimmt wird, so ist die das Mehr feststellende Behörde zu grosser Sorgfalt verpflichtet; die kantonalen Vorschriften zur Ermittlung des

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Abstimmungsergebnisses sind im Lichte des bundesrechtlichen Grundsatzes auszulegen und anzuwenden, damit kein Ergebnis zustande kommt, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Unter diesen Gesichtspunkten beurteilte das Bundesgericht Beschwerden in bezug auf die Ermittlung des Stimmenverhältnisses durch Handmehr und Abschätzung (BGE 100 Ia 362) und betreffend die unmittelbare Wiederholung einer Landsgemeinde-Abstimmung (BGE 104 Ia 428).»

h) Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot (Neutralitätspflicht)

BGE 124 I 55 ff., 57: «Das ... Bundesverfassungsrecht der Wahl- und Abstimmungsfreiheit räumt dem Stimmbürger allgemein den Anspruch darauf ein, dass kein Abstimmungs- und Wahlergebnis anerkannt werde, welches nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (...). Daraus folgt, dass jeder Stimmbürger bei gegebenen Voraussetzungen mit gleichen Chancen als Wähler oder Kandidat an einer Wahl soll teilnehmen können.»

V. Rechtsschutz

1. Auf Bundesebene a) Die Rechtsmittel

• «Stimmrechtsbeschwerde» (Frage der Stimmfähigkeit, Stimmrechtsausübung)

Art. 77 Abs. 1 lit. a BPR, Art. 80 BPR

• Abstimmungsbeschwerde (Unregelmässigkeiten bei Abstimmungen)

Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR, Art. 81 BPR

• Wahlbeschwerde (Unregelmässigkeiten bei Vorbereitung/Durchführung der

Nationalratswahlen) Art. 77 Abs. 1 lit. c BPR, Art. 82 BPR

• Zustandekommen Initiative/Referendum (Verfügung Bundeskanzlei)

Art. 80 Abs. 2 BPR

b) Die Rechtsmittelfrist

c) Der Beschwerdeentscheid

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2. Auf kantonaler und kommunaler Ebene Im Bereich der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten steht auf Bundesebene die Stimmrechtsbeschwerde an das Bundesgericht zur Verfügung. a) Anwendungsfeld

b) Rügegründe

Mit der Stimmrechtsbeschwerde kann die Verletzung sämtlicher Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen gerügt werden, die im Zusammenhang mit politischen Rechten stehen.

BGE 123 I 41 ff 46 (Herabsetzung der Mitgliederzahl in der Bezirksschulpflege): « Gemäss Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen, aufgrund sämtlicher einschlägiger Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechts und des Bundesrechts. Darüber hinaus kann mit der Stimmrechtsbeschwerde auch die Verletzung von kantonalem Gesetzes- und Verordnungsrecht gerügt werden, welches politische Rechte garantiert, deren Umfang normiert oder sonst mit diesen in Zusammenhang steht (...). Indessen kann nicht jede kantonale Regelung, welche indirekt Auswirkungen auf die politischen Rechte hat, Gegenstand einer Stimmrechtsbeschwerde bilden. So ist die Rüge, eine von der Regierung erlassene Verordnung widerspreche inhaltlich dem Gesetz bzw. sei vom Gesetz nicht abgedeckt, nicht mit Stimmrechtsbeschwerde, sondern mit Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Gewaltenteilung geltend zu machen (...). Ebensowenig ist die Stimmrechtsbeschwerde zulässig, wenn die inhaltliche Rechtmässigkeit oder Zulässigkeit eines von der Stimmbürgerschaft genehmigten Erlasses oder Entscheides zur Diskussion steht (...). Hingegen kann gegenüber einem Erlass, der selber das politische Stimmrecht regelt, mit Stimmrechtsbeschwerde geltend gemacht werden, er verletze durch seinen Inhalt höherstufig garantierte politische Rechte (...).»

c) Rechtsmittelfrist

d) Beschwerdeentscheid

BGE 129 I 185, E.8.1: «Stellt das Bundesgericht Verfahrensmängel fest, so hebt es Wahlen nur auf, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Der beschwerdeführende Stimmbürger muss in einem solchen Falle allerdings nicht nachweisen, dass sich der Mangel auf das Wahlergebnis entscheidend ausgewirkt hat; es genügt, dass nach dem festgestellten Sachverhalt eine derartige Auswirkung im Bereiche des Möglichen liegt. Mangels einer ziffernmässigen Feststellung der Auswirkung eines Verfahrensmangels ist nach den gesamten Umständen und grundsätzlich mit freier Kognition zu beurteilen, ob der gerügte Mangel das Wahlergebnis beeinflusst haben könnte. Dabei ist insbesondere auf die Grösse des Stimmen-unterschiedes, die Schwere des festgestellten Mangels und dessen Bedeutung im Rahmen der gesamten Wahlen abzustellen (Urteil 1P.141/1994 vom 26. Mai 1995, E. 7a, publ. in: ZBl 97/1996 S. 233; BGE 119 Ia 272 E. 7a S. 281; 118 Ia 259 E. 3 S. 263, je mit Hinweisen).»

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VI. De lege ferenda: E-voting

Vgl. Bericht des Bundesrats vom 9. Januar 2002 über den Vote électronique – Chancen, Risiken und Machbarkeit elektronischer Ausübung politischer Rechte (BBl 2002 645 ff.):

Inhalt

Dieser Bericht gibt eine erste Auslegeordnung über Chancen, Risiken, Probleme und Lösungsmöglichkeiten für die Einführung eines Vote électronique und unterbreitet Vorschläge zu dessen etappenweiser Einführung.

Übersicht

Ausgangslage

Mit diesem Bericht kommt der Bundesrat einem Auftrag der Richtlinienmotion «Nutzung der Informationstechnologie für die direkte Demokratie» nach, die einen vertieften Bericht über die Vor- und Nachteile eines Vote électronique verlangt. Weitere parlamentarische Vorstösse haben den Bundesrat aufgefordert, den Übergang zur Informationsgesellschaft und insbesondere die Nutzung der Informationstechnologie für die halbdirekte Demokratie in der Schweiz voranzutreiben. Was heisst Vote électronique? Unter Vote électronique wird in diesem Bericht verstanden:

– die Möglichkeit, elektronisch abzustimmen und zu wählen;

– die Möglichkeit, Referenden und Initiativen auf elektronischem Weg zu unterzeichnen;

– elektronische Wahl- und Abstimmungsinformation durch Behörden.

Der Vote électronique kann schrittweise eingeführt werden. Auch ohne die Einführung des elektronischen Abstimmens und Wählens und ohne Einflussmöglichkeiten der Behörden werden die elektronischen Kommunikationsmittel in Zukunft vermehrt bei Wahl- und Abstimmungskampagnen eingesetzt und deren Dynamik verändern. Chancen Elektronische Kommunikationsmittel erleichtern den Zugang zu Informationen und schaffen neue Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten. Für die Demokratie bringt dies Chancen auf verschiedenen Ebenen:

– politische Verfahren werden den neuen gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst;

– die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen wird erleichtert;

– die herkömmlichen Formen der Demokratie werden durch attraktive neue Formen der Teilnahme ergänzt;

– die Stimmbeteiligung kann möglicherweise gesteigert werden;

– das demokratische Prinzip «eine Person – eine Stimme» kann gegen klassische Missbräuche besser geschützt werden;

– die Übernahme einer Vorreiterrolle beim Vote électronique ermöglicht der Schweiz, bei der Verhinderung von Missbrauchsmöglichkeiten Massstäbe zu setzen;

– bei einem Vote électronique lassen sich mit Zustimmung der Stimmberechtigten die Motive der Stimmabgabe leichter ergründen.

Risiken und Herausforderungen

Die Einführung neuer Kommunikationstechnologien bringt auf allen Ebenen Veränderungen, die neue Herausforderungen an die Politik und teilweise Risiken enthalten:

– der Abstimmungsvorgang bedarf neuer Formen;

– die raumgebundenen föderalistischen Strukturen (Ständemehr, Wahlkreise) werden möglicherweise verwischt;

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– durch die möglichen Beschleunigungen der Abläufe können Meinungsbildungsprozesse beeinträchtigt werden;

– der digitale Graben zwischen Menschen mit und ohne Zugang zum Internet könnte Ungleichheiten bei der Teilnahme am politischen Leben schaffen;

– das Zustandekommen von Volksinitiativen und Referenden darf nicht so stark erleichtert werden, dass es die ordentliche Rechtsetzung blockiert;

– es gibt Missbrauchsgefahren, gegen die Lösungen gefunden werden müssen. Dritte könnten die neuen Technologien missbrauchen und in das Abstimmungsgeschehen eingreifen. Der gegenwärtige Stand der Informatik lässt es beispielsweise zu, dass irgendjemand ein Programm entwickelt, welches eine bestimmte Anzeige auf dem Bildschirm erscheinen lässt, etwas Abweichendes speichert und wieder etwas anderes ausdruckt. Allfällige technische Pannen und Fehlerquellen sind bei der elektronischen Stimmabgabe schwieriger zu eruieren als bei herkömmlichen Verfahren, und die öffentliche Kontrolle über Nachzählungen wird erschwert. Auch die elektronische Stimmabgabe und Unterzeichnung von Initiativen, Referenden und Nationalratswahlvorschlägen bieten erhebliche technische Sicherheitsprobleme;

– auch wenn heute viele der technischen Probleme bekannt sind, bedeutet dies noch nicht, dass diese auch gelöst werden können. Können grundlegende Zweifel der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Zuverlässigkeit der elektronischen Ausübung der politischen Rechte nicht aus dem Weg geräumt werden, gefährdet dies das Funktionieren des demokratischen Systems.

Der Vote électronique erfordert umfassende Begleitmassnahmen

Ein Konzept, in dem der Vote électronique lediglich als kleine technische Erweiterung des bisherigen Systems verstanden wird, müsste scheitern. Notwendig ist vielmehr die Einbettung in ein umfassendes Konzept von Begleitmassnahmen vor allem auf Informationsebene: Die Bürgerinnen und Bürger müssen informiert werden und sich selbst über Themenportale, Anfragemöglichkeiten oder Mailinglisten informieren können.

Etappierung

Die Einführung des Vote électronique ist ein komplexes Vorhaben. Falls es realisiert werden soll, wird deshalb eine Etappierung in der folgenden Reihenfolge vorgeschlagen:

– Harmonisierung der Stimmregister bzw. Schaffung eines einheitlichen eidgenössischen Stimmregisters;

– Ermöglichung elektronischer Abstimmungen;

– Ermöglichung elektronischer Wahlen;

– Ermöglichung elektronischer Unterzeichnung von Referenden und Initiativen;

– Ermöglichung elektronischer Einreichung von Wahlvorschlägen für Nationalratswahlen.

Zu einigen technischen Fragen werden Lösungsvarianten dargestellt und bewertet. Alle Etappen müssen begleitet sein von Massnahmen zur Sensibilisierung der Bevölkerung.

Realisierbarkeit

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Einführung des Vote électronique ein ehrgeiziges Vorhaben ist. Es setzt allerdings die Lösung komplexer und schwieriger Sicherheitsprobleme und daher auch den politischen Willen und die Mitarbeit aller Beteiligten auf der Ebene von Bund, Kantonen und

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Gemeinden voraus. Der Staat muss zudem die nötigen Rahmenbedingungen auf rechtlicher, finanzieller und politischer Ebene schaffen.

Vgl. ferner http://www.admin.ch/ch/d/egov/ve/projekte/projekte.html: PILOTPROJEKTE

Die Pilotprojekte mit verschiedenen Kantonen dienen der vertieften Behandlung technischer und organisatorischer Herausforderungen. Der Bund hat alle Kantone eingeladen, eigene Projekte vorzuschlagen. Genf, Neuenburg und Zürich kamen dieser Einladung nach. Mit diesen Kantonen führt die Bundeskanzlei Pilotversuche durch, die im Hinblick auf eine gesamtschweizerische Lösung wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse liefern. Der Bund beteiligt sich mit einem namhaften Beitrag an den Kosten dieser Pilotprojekte.

Der Kanton Genf hat im Juni 2002 einen BETA-Test seines elektronischen Abstimmungssystems erfolgreich durchgeführt. Beim Pilotprojekt Genf werden die üblichen Abstimmungszettel mit einem persönlichen Code ausgestattet. Der Code muss frei gerubbelt werden. Damit können die Bürger zu einem zentralen System im Internet gelangen und ihre Stimme abgeben.

Das Pilotprojekt des Kantons Neuenburg verfolgt das Ziel, die elektronische Unterschrift von Initiativen und Referenden zu ermöglichen. Während Neuenburg bereits über ein zentralisiertes Stimmregister verfügt, will der Kanton Zürich ein zentral einsehbares Register im Rahmen seines Pilotprojektes erstellen.

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§ 10 Soziale Grundrechte

I. Allgemeiner Überblick

Siehe oben (§ 6 III).

II. Rechtsgrundlagen und Rechtsnatur

1. Rechtsquellen

• Bundesverfassung

Art. 12 BV (Hilfe in Notlagen)

Art. 19 BV (Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht)

Andere? (z.B. Art. 29 Abs. 3 BV, Art. 28 BV oder Art. 11 Abs. 1 BV)

• UN-Pakt I

BGE 125 III 277 ff., 281: « Das Bundesgericht hat wiederholt entschieden, dass die darin enthaltenen Bestimmungen programmatischen Charakter haben, sich an den Gesetzgeber richten und grundsätzlich keine subjektiven und justiziablen Rechte des Einzelnen begründen (...). Immerhin hat es anerkannt, dass einzelne Bestimmungen dieses Pakts unmittelbar anwendbar («self-executing») sein können, namentlich Art. 8 Abs. 1 lit. a betreffend des Rechts, Gewerkschaften zu bilden und einer solchen nach freier Wahl beitreten zu können (...). Verschiedene Autoren bejahen unter Hinweis auf Wortwahl und Entstehungsgeschichte die Justiziabilität von Art. 8 des Pakts I (KÜNZLI/KÄLIN, Die Bedeutung der Pakte für die Schweiz, in: KÄLIN/MALINVERNI/ NOWAK [Hrsg.], Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2. Aufl., S. 123 mit Hinweisen). Andere Autoren lehnen diese Auffassung ab, melden Zweifel an oder lassen die Frage offen (BÉATRICE AUBERT-PIGUET, L'exercice du droit de grève, AJP 12/96, S. 1497 f., 1501; JEAN FRITZ STÖCKLI, Das Streikrecht in der Schweiz, BJM 1997, S. 169 f., 172 und 173, je mit Hinweisen). Der vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen zwecks internationaler Überwachung des Paktes I eingesetzte Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte («Sozialausschuss») hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 Ziff. 5 zum Pakt I die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 8 - nebst anderen Bestimmungen des Paktes I - bejaht (abgedruckt in KÄLIN/ MALINVERNI/NOWAK, a.a.O., S. 458).

• Europäische Sozialcharta (1961)

Bisher von der Schweiz noch nicht ratifiziert!

2. Rechtsnatur

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III. Die sozialen Grundrechte im Einzelnen

1. Das Recht auf Existenzsicherung a) Allgemeines

• Anerkennung als unbeschriebenes verfassungsmässiges Recht (BGE 121 I 367 ff.)

• Neue BV: Art. 12

b) Inhalt

BGE 121 I 367 E. 2: «Die Sicherung elementarer menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Obdach ist die Bedingung menschlicher Existenz und Entfaltung überhaupt. Sie ist zugleich unentbehrlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen und demokratischen Gemeinwesens. (…). Es ist als solches auf ein grundrechtsgebotenes Minimum (Hilfe in Notlagen) ausgerichtet. Die damit verbundenen Staatsausgaben sind aufgrund der Sozialhilfegesetzgebung in den Kantonen anerkannt; sie bedürfen keiner finanzpolitischen Grundentscheidung mehr. Was unabdingbare Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens darstellt, ist hinreichend klar erkennbar und der Ermittlung in einem gerichtlichen Verfahren zugänglich. In Frage steht dabei allerdings nicht ein garantiertes Mindesteinkommen. Verfassungsrechtlich geboten ist nur, was für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar ist und vor einer unwürdigen Bettelexistenz zu bewahren vermag. Es ist in erster Linie Sache des zuständigen Gemeinwesens, auf Grundlage seiner Gesetzgebung über Art und Umfang der im konkreten Fall gebotenen Leistungen zu bestimmen. Dabei kommen sowohl Geldleistungen wie auch Naturalleistungen in Betracht (...). Lediglich dann, wenn das einfache Gesetzesrecht im Ergebnis dem verfassungsrechtlichen Minimalanspruch nicht zu genügen vermag, ist unmittelbar darauf abzustellen.»

c) Rechtsträger

d) Einschränkung?

BGE 122 II 193 ff., 198 f.: «Das bundesverfassungsmässige Recht auf Existenzsicherung begründet einen Anspruch auf positive staatliche Leistungen. Als solcher ist er zwar unmittelbar gerichtlich durchsetzbar (...), doch wird er in der Regel durch ausführende Bestimmungen konkretisiert. Soweit diese Bestimmungen den Anspruch bloss umschreiben, müssen sie jedenfalls von Bundesrechts wegen nicht in der Form eines formellen Gesetzes ergehen, solange die gewährten Leistungen noch oberhalb dessen liegen, was bundesverfassungsrechtlich als Minimum staatlicher Leistung geboten ist. Die Frage der formellgesetzlichen Grundlage stellt sich erst dann, wenn - wie vorliegend - in diesen Mindestbereich eingegriffen wird (...). Es ist anerkannt, dass selbst ohne gesetzliche Grund-lage ein vollständiger Leistungsentzug zulässig ist, wenn sich die unterstützte Person rechtsmiss-bräuchlich verhält (...), da das Rechtsmissbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz in der gan-zen Rechtsordnung herrscht, auch ohne dass es ausdrücklich angeordnet sein müsste (...). Eine formellgesetzliche Grundlage für den Entzug von Fürsorgeleistungen ist daher insoweit entbehrlich, als die Entzugsgründe sich als Konkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots darstellen. Als solche Konkretisierungen sind diejenigen Kürzungsgründe zu betrachten, die an die Verletzung von Obliegenheiten anknüpfen, welche die unterstützte Person aufgrund der Natur des Fürsorge-verhältnisses erfüllen muss, um Leistungen beanspruchen zu können, auch wenn sie nur teilweise ausdrücklich gesetzlich festgehalten sind (...). Das betrifft zumindest die lit. a-d von Art. 10b der Asylverordnung 2.»

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2. Das Recht auf unentgeltlichen Grundschulunterricht a) Allgemeines

aa) Rechtsgrundlage Art. 19 BV (vgl. auch Art. 62 Abs. 2 BV) Als Konkretisierungshilfen dienen ausserdem Art. 41 Abs. 1 lit. f BV sowie Art. 13 UN-Pakt I bb) Korrelat zur Grundschulpflicht b) Inhalt

aa) Unentgeltlicher Grundschulunterricht

Entscheid des Bundesrates vom 17.2.1999, in: VPB 64.56, E. 4: «Art. 27 Abs. 2 BV verpflichtet die Kantone, für einen genügenden und unentgeltlichen Primarschulunterricht an den öffentlichen Schulen zu sorgen. Darunter ist die Grundschulpflicht mit dem Zwecke einer regelmässigen Vermittlung von Grundkenntnissen während einer bestimmten Anzahl Jahre zu verstehen (...). In ständiger Rechtsprechung des Bundesrates ist aus dieser Verfassungsbestimmung der Grundsatz abgeleitet worden, die Kantone hätten auch dafür zu sorgen, dass der Besuch der Volksschulen ohne unzumutbaren Aufwand für den Schulweg erfolgen könne. Primarschüler haben demnach in ihren Wohnsitzgemeinden nicht nur Anspruch auf unentgeltlichen Unterricht, sondern darüber hinaus auch darauf, dass der Schulweg für sie keine unzumutbare Erschwerung des Schulbesuches bedeutet. Ist der Weg zur Schule für Primarschüler allzu weit, zu mühsam oder mit unzumutbaren Gefahren verbunden, so haben die Kantone und Gemeinden Abhilfe zu schaffen.»

bb) Ausreichender Grundschulunterricht

BGE 129 I 35 E. 7 S. 38 f.: «Art. 19 BV gewährleistet einen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Dieses soziale Grundrecht verleiht einen individuellen subjektiven Anspruch auf eine staatliche Leistung, nämlich auf eine grundlegende Ausbildung. Es dient insbesondere der Verwirklichung der Chancengleichheit, indem in der Schweiz alle Menschen ein Mindestmass an Bildung erhalten, das nicht nur für ihre Entfaltung, sondern auch die Wahrnehmung der Grundrechte unabdingbar ist (…). Nach Art. 62 BV sorgen die für das Schulwesen zuständigen Kantone für den ausreichenden, allen Kindern offen stehenden, an öffentlichen Schulen unentgeltlichen obligatorischen Grundschulunterricht. (…). Die Anforde-rungen, die Art. 19 BV an den obligatorischen Grundschulunterricht stellt ("ausreichend"), belässt den Kantonen bei der Regelung des Grundschulwesens einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Die auf Grund von Art. 19 BV geschuldete Grundschulung ist daher grundsätzlich durch ein Gesetz festzulegen (…). Die Ausbildung muss aber auf jeden Fall für den Einzelnen angemessen und geeignet sein (BGE 117 Ia 27 E. 6a) und genügen, um die Schüler angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten; dies bedingt auch eine Mindest-dauer der Schulpflicht, wobei sich die Kantone auf eine Mindestdauer von neun Jahren geeinigt haben (Art. 2 lit. b des Konkordates vom 29. Oktober 1970 über die Schulkoordination, vom Bundesrat genehmigt am 14. Dezember 1970, dem der Kanton St. Gallen 1971 beigetreten ist [SR 411.9]). Der Unterricht muss grundsätzlich am Wohnort der Schüler erteilt werden; die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Schulort darf den Zweck der ausreichenden Grundschulausbildung nicht gefährden. Behinderte Kinder haben ebenfalls Anspruch auf eine kostenlose, ihren Fähigkeiten angepasste Schulung (…). Damit ergibt sich aus Art. 19 BV ein Anspruch auf eine den individuellen Fähigkeiten des Kindes und seiner Persönlichkeitsentwicklung entsprechende

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unentgeltliche Grundschulbildung (vgl. BGE 117 Ia 27 E. 5b, 6). Der Anspruch wird verletzt, wenn die Ausbildung des Kindes in einem Masse eingeschränkt wird, dass die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt ist bzw. wenn es Lehrinhalte nicht vermittelt erhält, die in der hiesigen Wert-ordnung als unverzichtbar gelten (BGE 119 Ia 178 E. 8a S. 194 f.). 7.4 Art. 19 BV bezieht sich nur auf die (öffentliche) Grundschule (d.h. Mittelschulen [bspw. Untergymnasium] ausgenommen) während der obligatorischen Schulzeit (vgl. Urteil 1P.277/2000 vom 26. Oktober 2000, E. 3b; …). Nicht vom verfassungsrechtlichen Anspruch erfasst werden die an die obligatorische Schulzeit anschliessenden Bildungsstufen beispielsweise an Mittelschulen oder Seminarien (…). Art. 19 BV gewährleistet somit jedem Kind eine unentgeltliche, seinen Fähigkeiten entsprechende Grund-schulbildung während der obligatorischen Schulzeit von mindestens neun Jahren (…).»

Vgl. Art. 62 Abs. 2 BV und dazu Botschaft BV (BBl 1997 I 277): «Die Kantone haben folgende bundesrechtliche, auf Gesetzesstufe nicht näher bestimmte Anforderungen zu beachten: - Der Unterricht muss qualitativ und räumlich/organisatorisch ausreichend sein. Für Behinderte

ist eine ihren Fähigkeiten angepasste Schulung vorzusehen. - Der Grundschulunterricht an öffentlichen Schulen muss, da diese Schulen ein Zweig der

kantonalen Verwaltung sind, ausschliesslich unter staatlicher Leitung und Aufsicht stehen. Die Leitung privater Schulen (nicht jedoch die Aufsicht) kann dagegen für den obligatorischen Grundschulunterricht privat sein. Mit dieser Präzisierung gegenüber dem geltenden Recht wird einer Forderung zahlreicher Vernehmlasser entsprochen; es besteht kein staatliches Schulmonopol

- Mit dem Grundschulobligatorium (Grundpflicht) wird sichergestellt, dass jedes Kind (unabhängig von den Wünschen der Eltern) in den Genuss einer Grundschulbildung kommt. Die flächendeckende Qualitätssicherung dient zugleich der Funktionstüchtigkeit der Demokratie.

- An öffentlichen Schulen ist der Schulbesuch für alle Einwohnerinnen und Einwohner unabhängig von der Staatszugehörigkeit unentgeltlich. Mit diesem egalitären Element wird die Chancengleichheit in der grundlegenden Ausbildung sichergestellt. Dieses „kleine Sozialrecht“ ist justiziabel und verpflichtet das Gemeinwesen zu einer positiven Leistung.

- Der Schuljahresbeginn für die obligatorische Schulpflicht ist verbindlich auf den Herbst festgelegt.»

c) Grundrechtsträger

d) Schranken

BGE 129 I 35, E 9.1: «Auf Grund des Obligatoriums des Grundschulunterrichts besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einem geordneten Schulbetrieb und der regelmässigen Erfüllung der Schulpflicht. Dieses öffentliche Interesse überwiegt in aller Regel die privaten Interessen der einzelnen Schüler und rechtfertigt gewisse Einschränkungen, insbesondere Disziplinarmassnahmen. Dabei sind nicht nur Disziplinarmassnahmen zulässig, die zum Ziel haben, einen geordneten Schulbetrieb unmittelbar sicherzustellen; sie können auch präventiv-erzieherische Zwecke verfolgen. Sie dürfen jedoch nicht dazu dienen, schlechte Leistungen der Benutzer zu ahnden (BGE 129 I 12 E. 8.3 S. 22). Die Schule erbringt ihre Leistungen nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse der Schüler. Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben hat eine öffentliche Schule von einer Gesamtsicht auszugehen. Sowohl in der Vermittlung des Lehrstoffes als auch bei ihrer Organisation muss sie sich an einen möglichst breiten gemeinsamen Nenner halten, und sie hat die Kohärenz der Schulklassen und des Unterrichts zu gewährleisten. Die Berücksichtigung von Interessen einzelner Schüler findet daher dort ihre Schranken, wo ein geordneter und effizienter Schulbetrieb nicht mehr aufrechterhalten werden kann und dadurch der Ausbildungsauftrag der Schule in Frage gestellt wird. Die Ausübung des Anspruches auf einen den individuellen Fähigkeiten entsprechenden Grundschulunterricht durch einen Schüler wird insoweit durch den entsprechenden Anspruch der anderen Schüler begrenzt. Wird der geordnete Schulbetrieb durch einen Schüler derart gestört, dass dadurch der Bildungsauftrag der Schule

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gegenüber anderen Schülern der Klasse oder des betreffenden Schulhauses in Frage gestellt wird, liegt der vorübergehende Ausschluss des Störers vom Unterricht sowohl im öffentlichen Interesse als auch im (überwiegenden) privaten Interesse der übrigen Schüler an einer genügenden unentgeltlichen Schulbildung (BGE 129 I 12 E. 8.4 S. 23).»

3. Andere soziale Grundrechte?

• Recht auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV)?

Siehe oben § 8 Ziff. V-2d.

• Recht auf Koalitionsfreiheit/Streik (Art. 28 BV)?

Siehe oben § 7 Ziff. VII-2b.

• Kinder und Jugendliche (Art. 11 Abs. 1 BV)?

Siehe oben § 7 Ziff. II-5a.

Diese Grundrechte bzw. Grundprinzipien werden zwar häufig auch im Kontext mit dem Prinzip der Sozialstaatlichkeit genannt. Nach dem hier vertretenen Verständnis werden sie aber unter die Verfahrensgarantien (Art. 29 Abs. 3 BV) bzw. die Freiheitsrechte (Art. 28 BV) eingereiht. Ausserdem vermag Art. 11 Abs. 1 BV wohl keine selbständigen verfassungsmässigen Rechte zu begründen.

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