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Semesterarbeit Florian Pfoh 1. Semester MA Musikwissenschaft 120 LP Matrikelnummer 211239558 Wintersemester 2011/12 MA-Modul: Musikalische Interpretation und Editionspraxis (mus.04060.02) Seminar: Geschichte der Aufführungspraxis Dozentin: Cordula Timm-Hartmann Abgabe: 8. Mai 2012 Thema: Aufführungspraktische Aspekte in Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen

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Semesterarbeit

Florian Pfoh 1. Semester

MA Musikwissenschaft 120 LP Matrikelnummer 211239558

Wintersemester 2011/12

MA-Modul: Musikalische Interpretation und Editionspraxis (mus.04060.02) Seminar: Geschichte der Aufführungspraxis

Dozentin: Cordula Timm-Hartmann Abgabe: 8. Mai 2012

Thema: Aufführungspraktische Aspekte in Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen

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Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG ...................................................................................................................... 1 2. VON DEN MANIEREN ...................................................................................................... 2

2.1 VON DEN VORSCHLÄGEN .................................................................................................. 2 2.2 VON DEN TRILLERN........................................................................................................... 4

2.2.1 Der ordentliche Triller .............................................................................................. 5 2.2.2 Der Triller von unten................................................................................................. 5 2.2.3 Der Triller von oben.................................................................................................. 5 2.2.4 Der Prall-Triller........................................................................................................ 6

2.3 VON DEM DOPPELSCHLAGE............................................................................................... 6 2.4 VON DEM MORDENTEN ..................................................................................................... 6 2.5 VON DEM ANSCHLAGE. ..................................................................................................... 6 2.6 VON DEN SCHLEIFERN UND VOM SCHNELLER SOWIE VON DEN VERZIERUNGEN DER FERMATEN .............................................................................................................................. 7

3. PROBLEME IN DER ÜBERLIEFERUNG VON AUFFÜHRUNGSPRAKTIKEN DES 18. JAHRHUNDERTS .................................................................................................... 8

3.1 DIE WIEDERBELEBUNG EINER UNTERBROCHENEN TRADITION .......................................... 8 3.2 MEHRDEUTIGKEITEN UND GESTALTUNGSFREIHEITEN ....................................................... 9

4. ÄSTHETIK UND STIL BEI CARL PHILIPP EMANUEL BACH.............................. 12

5. DIE TASTENINSTRUMENTE ZUR ZEIT CARL PHILIPP EMANUELS............... 13 6. DIE BEDEUTUNG DES VERSUCHS IM SPÄTEN 18. UND IM 19. JAHRHUNDERT ................................................................................................................... 14 7. AUFFÜHRUNGSPRAXIS HEUTE UND MÖGLICHE KÜNFTIGE ENTWICKLUNGEN ............................................................................................................. 18

7.1 DER SPEZIALIST FÜR ALTE MUSIK IM UNTERSCHIED ZU DEN ANDEREN „KLASSISCHEN“ MUSIKERN............................................................................................................................. 18 7.2 NORM UND ABWEICHUNG IN DER ARTIKULATION ........................................................... 19 7.3 AUFFÜHRUNGSPRAXIS IN DER ZUKUNFT.......................................................................... 20

8. MÖGLICHE SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE (KLAVIER-)PÄDAGOGIK .. 21

9. EINORDNUNG: MEHR ALS EINE KLAVIERSCHULE............................................ 22

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Aufführungspraktische Aspekte in Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen

1. Einleitung Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war ein Referatbeitrag über Carl Philipp Emanuel

Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen1 im Rahmen des Seminars Ge-

schichte der Aufführungspraxis im Wintersemester 2011/12 am musikwissenschaftlichen In-

stitut der Martin-Luther-Universität Halle. Neben Beiträgen über die weiteren einflussreichen

deutschen Vortragslehren des 18. Jahrhunderts wie die von J.J. Quantz2 und Tosi/Agricola3

dienten im Seminar Referate über Michael Praetorius’ Syntagma musicum4, Johann Matthe-

sons Vollkommenen Capellmeister5, Stimmungen und Stimmtöne, Tasteninstrumente, Vokal-

stimmenbesetzungen sowie aufführungspraktische Erörterungen an Kompositionen von Ge-

org Friedrich Händel und Wolfgang Amadeus Mozart dazu, einen umfassenden Überblick

über die im 18. Jahrhundert verbreiteten Begebenheiten und Lehrmeinungen bezüglich deut-

scher Aufführungspraxis zu gewinnen.

Wie Agricolas Anleitung zur Singkunst für den Gesang, Quantz’ Versuch einer Anweisung,

die Flöte travesière zu spielen für das Flötenspiel und Mozarts Versuch einer gründlichen

Violinschule6 für das Violinspiel, gilt Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch als wichtigstes

und einflussreichstes Lehrwerken der Zeit für das Spiel auf besaiteten Tasteninstrumenten.7

Über ihre instrumentalspezifische Bedeutung hinaus übermitteln die genannten Werke „ästhe-

tische Maximen“8 des 18. Jahrhunderts. Eine hervorragende Bedeutung in Bachs Versuch

erhält die ausführliche Behandlung der Manieren, welche den größten Platz im 1753 in Ham-

burg erschienenen ersten Teil des Versuchs einnimmt. Der Schwerpunkt der vorliegenden

Arbeit liegt auf Carl Philipp Emanuel Bachs ebendieser Behandlung der Manieren. Deshalb

1 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 2 Bde. I und II, Berlin 1753 und 1762. 2 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung, die Flöte traviersière zu spielen, Berlin 1752. 3 Pier Francesco Tosi / Johann Friedrich Agricola, Anleitung zur Singkunst, Berlin 1757. 4 Michael Praetorius, Syntagma musicum, 3 Bde. I-III, Wittenberg 1614/15, Wolfenbüttel 1618 und 1619. 5 Johann Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739. 6 Leopold Mozart, Versuch einer gründlichen Violinschule, Augsburg 1756. 7 Vgl. Dieter Gutknecht, Zur Rezeptionsgeschichte von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch in den Verzie-rungslehren des 19. Jahrhunderts, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 195–203, hier: S. 200. 8 Günther Wagner, Anmerkungen zur historischen Aufführungspraxis am Beispiel von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch [...]. In: Carl Philipp Emanuel Bach. Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. v. Heinrich Poos. Mainz 1993, S. 41–52, hier: S. 46.

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soll zunächst ein auswahlartiger Blick auf die neun „Abtheilungen“ des „Zweiten Haupt-

stücks. Von den Manieren“9 geworfen werden (2. Kapitel).

Weitere Betrachtungen des Versuchs fokussieren verschiedene Bedeutungsaspekte. Nament-

lich wollen diese einen Einblick in die Probleme bei der Vermittlung von Aufführungspraxis

des 18. Jahrhunderts anhand Bachs Versuch (3. Kapitel), und in die Ästhetik und den Stil bei

Carl Philipp Emanuel Bach (4. Kapitel) geben. Wesentliches über die im Versuch genannten

und relevanten Tasteninstrumente wird im 5. Kapitel zusammengefasst, über einige bedeuten-

de Rezeptionsformen des Carl Philipp Emanuel Bachschen Versuchs im späten 18. und im 19.

Jahrhundert wird das 6. Kapitel berichten. Des weiteren folgen Erörterungen zur historischen

Aufführungspraxis heute und mögliche künftige Entwicklungen auf diesem Gebiet in Kapitel

7, sowie hypothetische Schlussfolgerungen für eine moderne (Klavier-)Pädagogik im Sinne

Carl Philipp Emanuels heute (Kapitel 8). Die Arbeit schließt mit dem Versuch einer umfas-

senden, allgemeinen Einordnung und Charakterisierung des Lehrwerks.

2. Von den Manieren Vor der eigentlichen Ausführung einzelner Verzierungsarten formuliert Bach einige grund-

sätzliche Anmerkungen zum Sinn und Zweck der Manieren (§ 1)10 und zum rechten Maß

beim Einsatz derselben (§ 2).11 Als besonders fähig erachtet Carl Philipp Emanuel Bach dabei

Spieler, die Manieren auch mit der linken Hand (§ 28)12 auszuführen in der Lage sind:

„so verbiete ich [...] der lincken ganz und gar nicht […]“. Die Fähigkeit, Ornamente auch an

Mittelstimmen, insbesondere der linken Hand auszuführen, fände sich zwar bei nur wenigen

Spielern, Carl Philipp Emanuel schätzt es umso höher, wenn jemand auch diese Fähigkeit

beherrscht.

2.1 Von den Vorschlägen Als erste der Manieren widmet sich Carl Philipp Emanuel den Vorschlägen.13 Diese seien

„eine der nöthigsten Manieren. Sie verbessern so wohl die Melodie als auch die Harmonie. Im erstern Falle erregen sie eine Gefälligkeit, indem sie die Noten gut zusammenhängen; [...] Im andern Falle verändern sie die Harmonie, welche ohne diese Vorschläge zu simple würde gewesen seyn“ (§ 1).14

Im zweiten Paragraphen erläutert er zwei Arten der Darstellung:15

9 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Bd. I, S. 51–114. 10 Ebd., S. 51. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 61. 13 Ebd., S. 62–70. 14 Ebd., S. 62f. 15 Ebd., S. 63.

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„Die Vorschläge werden theils andern Noten [1] gleich geschrieben und in den Tackt mit ein-getheilt [= ausnotiert], theils werden sie [2] durch kleine Nötgen besonders angedeutet [= mit Vorschlagnote], indem die grössern ihre Geltung den Augen nach behalten, ob sie schon bey der Ausübung von derselben allezeit etwas verlieren.“ Aus dem vierten Paragraphen geht am Beispiel der Vorschläge hervor, dass der Notentext zur

Entstehungszeit des Versuchs nicht immer eindeutig bestimmt, wie genau die Ornamente ge-

lesen und interpretiert werden sollen, in diesem Fall, ob verschiedene oder kurze Ausführun-

gen gemeint sind:

„Diese kleinen Nötgen sind entweder in ihrer Geltung verschieden, oder sie werden allezeit kurz abgefertiget.“16 Auch Notationskonventionen unterliegen kurzfristigen Wandlungen der Zeit, wie aus § 5 er-

sichtlich wird. Carl Philipp Emanuel Bach gibt hier Bericht von einem neuen Trend in der

Ausführung von Vorschlägen, der sich folglich auch in der Notation niederschlägt:

Vor „nicht gar langer Zeit“17 habe man alle Vorschläge als Achtel-Noten notiert. Neuerdings

führt man die Vorschläge jedoch in unterschiedlichsten Längen aus und notiert sie demnach

auch unterschiedlich.

Fig. I zeigt erst seit kurzem mögliche unterschiedliche Notenwerte bei den Vorschlagnoten

Wichtiges gemeinsames Merkmal aller Vorschläge ist die Bindung zwischen Vorschlag- und

Hauptnote. Der Übergang von der Vorschlagnote hin zur Hauptnote ist immer gebunden zu

spielen „... es mag nun der Bogen darbey stehen oder auch nicht“ (§7)18

16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 64.

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Im zwölften Paragraphen bemängelt Carl Philipp Emanuel oft vorkommende Notationswei-

sen, die aber „nicht die richtigsten“19 seien.

Fig. VII: Die notierten Pausen meinen eigentlich keine Pausen, sondern sind so auszuführen wie im jeweils zweiten Takt der mit einem großen Bogen zusammengefassten Beispiele angezeigt.

Im 16. Paragraphen weist Carl Philipp Emanuel Bach auf Vorschläge hin, die länger als die

Hauptnoten andauern können.

Vorschläge, länger als ihre Hauptnoten (XIIa). Vorsicht hingegen vor verdeckten (XII b) oder direkten Quinten bzw. Oktaven (XIII), die entstehen können, wenn der vorschlagende Ton länger als die Hälfte des Gesamtwerts liegenbleibt! Hier ist zur Findung der wahren Ausführung theoretisches Wissen und/oder ein geschultes Gehör notwendig.

2.2 Von den Trillern Das Kapitel von den Trillern20 öffnet mit der Feststellung: „Die Triller beleben den Gesang, und sind also unentbehrlich.“21 §1 stellt die Fälle, in denen ihr Gebrauch gut möglich ist, in einer Zusammenschau vor:22

a) nach einem Vorschlage b) bei Wiederholung der vorigen Note c) bei lang gehaltenen Noten d) über Fermaten e) bei Tonfortschreitungen ohne Vorschlag f) bei Tonfortschreitungen mit Vorschlag

19 Ebd., S. 65. 20 Ebd., S. 71–84. 21 Ebd., S. 71. 22 Vgl. ebd.

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Carl Philipp Emanuel unterteilt vier Arten von Trillern (§3):23 Den ordentlichen, den von un-

ten, den von oben und den halben oder Prall-Triller.

2.2.1 Der ordentliche Triller Der ordentliche Triller wird durch ein m dargestellt, welches sich je nach Dauer der Note ver-

längert. (Fig. XXIII a und b)

Beispiele für sogenannte „m“ in unterschiedlicher Länge (a und b).

Der ordentliche Triller beginnt stets in der Sekunde über der Hauptnote (§5)24 und Bach hält

ihn für „die schwereste Manier“ (§7).25

Weil der Triller die schwerste Manier sei, soll dieser in der Jugend besonders fleißig geübt

werden; er muss gleichmäßig und geschwinde sein, kann laut und leise vorkommen, und darf

nur bei traurigen Stücken langsam gespielt werden (§7).26

2.2.2 Der Triller von unten Der Triller von unten (§22) kann auf dreierlei Weise angezeigt werden.27

Fig. XXXIV: Drei Arten der Darstellung eines Trillers von Unten

2.2.3 Der Triller von oben Der Triller von oben (§27) kann auf zweierlei Weise angezeigt werden.28

Der Triller von oben kann (muss nicht!) besonders angezeigt werden. Wenn, dann kann er auf zwei Arten kennt-lich gemacht werden: wie bei Fig. XLI oder wie bei XLI(*). 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd., S. 72. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 79. 28 Vgl. ebd., S. 80f.

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2.2.4 Der Prall-Triller

Der Prall-Triller wird durch ein n bezeichnet (anstatt eines m beim ordentlichen Triller,

§30).29

Pralltriller: Der Triller wird nur sehr kurz und schnell ausgeführt und bleibt für die verbleibende Dauer auf der Hauptnote liegen.

2.3 Von dem Doppelschlage

Fig. L: Unterschiedliche Ausführungen des Doppelschlages in unterschiedlichen Zeitmaßen.

Den Doppelschlag30 nennt Bach „eine leichte Manier [und] in der Wirkung angenehm und

glänzend“ (§1).31

Je nach Zeitmaß muss er unterschiedlich ausgeführt werden (§2, Fig. L).32

2.4 Von dem Mordenten Auch die Mordente33 kommen in unterschiedlicher Länge vor (§1).34 Sie werden mit einem n

dargestellt, welches am Anfang (bei längerer) oder in der Mitte (bei kürzerer Ausführung)

einen senkrechten Strich erhält.

Fig. LXXII, a und b: Darstellungsmöglichkeiten für den Mordent.

2.5 Von dem Anschlage. Beim Anschlag35 wird die vorige Note wiederholt und von dort eine Sekunde über den Ziel-

ton gesprungen, um von dort in den Zielton zu gleiten.

29 Ebd., S. 81. 30 Kapitel vom Doppelschlag ebd., S. 85–98. 31 Ebd., S. 85. 32 Vgl. ebd. 33 Kapitel vom Mordenten ebd., S. 98–103. 34 Ebd., S. 98.

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Fig LXXX: Der Anschlag

2.6 Von den Schleifern und vom Schneller sowie von den Verzierungen der

Fermaten

Ähnlich genau wie die vorigen Manieren zeigt Bach auch die Schleifer36 und die Schneller37

in jeweils eigenen Kapiteln. Im Kapitel von den Verzierungen der Fermaten38 gibt Bach Bei-

spiele für weitläufigere Verzierungen wie sie unter Fermaten ganz nach Belieben des Interpre-

ten ausgeführt werden können (§5).39 Hier wird anschaulich, wie viel neue Gestaltungsfreiheit

dem Interpreten – je nach Betrachtung – einerseits eingeräumt, andererseits zugemutet wird.

Sechs Ausführungsvorschläge für Fermaten (Fig. XCVI, 1–6); jeweils zuerst die Notierung, nach dem Doppel-strich eine mögliche Variante der Ausführung.

35 Kaptitel vom Anschlag ebd., S. 103–106. 36 Kapitel von den Schleifern ebd. S. 107–111. 37 Kapitel von dem Schneller ebd. S. 111f. 38 Ebd., S. 112f. 39 Vgl. S. 113.

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3. Probleme in der Überlieferung von Aufführungspraktiken des 18. Jahrhunderts Vieles kann durch Lektüre erlernt werden. Aus dem Titel Versuch über die wahre Art das

Clavier zu spielen alleine geht noch keine Aussage darüber hervor, ob und wie weit man

durch eine bloße Lektüre des Versuchs einen Fortschritt als Interpret von Klavierstücken er-

zielen kann. Zunächst könnte es vielleicht präziser heißen: als Interpret von Klavierstücken

des 18. Jahrhundert oder, noch genauer: von Klavierstücken nord- und mitteldeutscher Prove-

nienz aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Bewusstsein darüber, dass ein Unter-

fangen, alles „über die wahre Art ... zu spielen“ schriftlich festhalten zu wollen, nur ein Ver-

such bleiben kann, deutet sich bei Carl Philipp Emanuel Bachs Wahl für den Titel seines

Lehrwerks ebenso an wie bei den Titeln der Lehrwerke Quantz’ und Mozarts.

Die Grenzen schriftlicher Vermittlung sind „Carl Philipp Emanuel sehr wohl bekannt gewe-

sen“.40 Sich dessen bewusst rät er dem Leser, sich fortwährend auch selbst zu bilden, indem

er sich Konzerte reifer Meister anhöre, fähige Lehrer nach Möglichkeit auch persönlich kon-

sultiere und sich in Nachahmung übe.41

3.1 Die Wiederbelebung einer unterbrochenen Tradition Vermutlich existieren bis in die heutige Zeit viele direkte Ahnenlinien von Lehrern auf Schü-

ler, die bis zu manchen Koryphäen des 18. Jahrhunderts zurückreichen; es gibt also heute aller

Wahrscheinlichkeit nach zahlreiche Künstler, die bei Enkelschülern, Urenkelschülern usf.

berühmter Meister ihres Fachs musikalische Unterweisung erhalten haben. Diese Ahnenlinien

weisen jedoch, was die Pflege der Aufführungspraxis im Sinne der Versuche des 18. Jahr-

40 Ebd., S. 42. 41 Oder mit den Worten Günther Wagners: „Im Zusammenhang mit spezifischen Fragestellungen greift er zu einem Hilfsmittel, das den Rahmen der verbalen Information sprengt: Er verlässt die Ebene sprachlicher Ver-mittlung und verweist auf die Musizierpraxis seiner Zeit. Das Vormachen und Nachspielen, ein in der pädagogi-schen Diskussion unserer Zeit verächtlich als „Affenmethode“ desavouiertes Lernverfahren, suspendiert die sprachliche Ebene und den Bereich auf Sprache basierender, logischer Argumentation zugunsten einer unmittel-baren Vermittlung; unmittelbar deshalb, weil der musikalische Raum, die musikalische Sprache und Logik zu keinem Zeitpunkt verlassen werden. Und genau dieses Verfahren hält Carl Philipp Emanuel Bach für unver-zichtbar. Das Hören von Musik ist, seiner Meinung nach, ein unbedingt erforderliches Mittel im Lernprozess. Dies bedeutet in letzter Konsequenz nichts anderes, als dass Carl Philipp Emanuel Bach der Überzeugung war, dass sein Lehrwerk allein zur Ausbildung am Klavier nicht genüge oder, allgemeiner formuliert, dass die Aus-bildung zum Musiker ausschließlich über die verbale Vermittlung nicht betrieben werden kann. (Für einen Zeit-genossen des aufgeklärten Zeitalters eine bemerkenswerte Position.) Die logische Konsequenz aus dieser Prä-misse hat zur Folge, dass auf der Basis der Lektüre dieses oder eines ähnlichen Lehrwerkes (Quantz, Marpurg, Leopold Mozart, Tosi/Agricola), eine vollständige Unterrichtung über die Musiziervorstellung der Zeit nicht erfolgen kann. Das schriftlich niedergelegte Lehrwerk bedarf der Ergänzung durch das Hören von Musik.“ Ebd., S. 42f.

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hunderts betrifft42, langjährige und mehrere Generationen umfassende Lücken auf. Die heuti-

gen auf Alte Musik spezialisierten Sänger und Instrumentalisten befinden sich lediglich erst

in erster, zweiter, dritter oder maximal wohl vierter Schülergeneration von Musikausübenden

in der Tradition von historisch umfassend informierter Aufführungspraxis. Nicht von aktiven

Lehrern, sondern durch Studium der Quellen angeleitet, haben die Pioniere der ersten Genera-

tion einen neuen Zugang zur Musik vor 1800 experimentell erkundet. Eine exakte zeitliche

Festlegung des Beginns dieser Generation fällt nicht sehr leicht. Eine immer wieder begeg-

nende Möglichkeit einer zeitlichen Verortung ist die Nennung von Namen wie dem der Cap-

pella Coloniensis (gegründet 1954) und deren Leiter August Wenzinger, aber auch bedeuten-

der Personen vor und nach ihm. Mit Blick speziell auf die historischen Tasteninstrumente

sind sicherlich auch schon die Polin Wanda Landowska, später der Amerikaner Ralph Kirk-

patrick, der Saarländer Fritz Neumeyer oder auch der Niederländer Gustav Leonhardt als rich-

tungweisende Interpreten zu nennen, die auf ihre jeweils spezielle Art wichtige Impulse zur

Etablierung einer bis heute wachsenden Gruppe hoch spezialisierter Instrumentalisten, die ihr

Wirken ausschließlich auf die professionelle Ausübung Alter Musik konzentrieren, gesetzt

haben. Die nachfolgenden Musiker heute blicken jedoch auf eine lediglich einige Jahrzehnte

währende Tradition der Musikausübung zurück. Eine aufführungspraktisch ‚originale‘ Linie

bis zurück in die Zeit Carl Philipp Emanuel Bachs existiert nicht.43

3.2 Mehrdeutigkeiten und Gestaltungsfreiheiten Dies führt zu dem Problem, dass der tatsächliche Klang der Musik des 18. Jahrhunderts un-

wiederbringlich verloren ist und es besonderer Bemühungen bedarf, eine dem damaligen

Klang möglichst ähnliche Musik wiedererstehen zu lassen.44 Auch die Möglichkeit, aus Ori-

ginal-Handschriften zu musizieren, ändert daran wenig. Die

„Notenschrift [beinhaltet] nur eine Handlungsanweisung, die unterschiedlich weitreichende, aber nicht vollständige Hinweise für die Klanggestalt geben kann. Die Bandbreite unter-schiedlicher Ausführungen ist groß, und schon kleine Abweichungen haben oftmals eine gro-ße Wirkung.“45 Ein bedauernder Blick auf die genannten Umstände jedoch wäre für die Menschen im 18.

Jahrhundert kaum nachvollziehbar gewesen. Günther Wagner gibt diesbezüglich zu beden-

ken,

„ob hier nicht eine spätere ästhetische Überzeugung – nämlich die der Romantik – zu Unrecht an die Wiedergabe einer früheren Musik herangetragen wird. Wenn wir bedenken, dass der 42 Vgl. Kapitel 2. 43 Zur Rezeption und Interpretation Carl Philipp Emanuel Bachscher Werke im 19. Jahrhundert siehe Kapitel 6 dieser Arbeit. 44 Vgl. Günther Wagner, a.a.O., S. 43. 45 Ebd.

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Historismus eine Frucht des 19. Jahrhunderts ist, so müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass ein historisch getreues Musizieren älterer Musik für den Musiker des 18. Jahrhunderts nicht zur Diskussion stand, Die Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung verbot eo ipso ein In-teresse an zurückliegender Musik.“46 Eine weitere nicht ganz leicht zu beantwortende Frage ist die nach der Anwendbarkeit der im

Versuch zusammengestellten Paragraphen in Hinblick auf den Stilwandel im 18. Jahrhundert.

„Einmal stellt sich die Frage, ab wann wir die Angaben Carl Philipp Emanuels in Anwendung bringen können, und zum andern, ab wann sie ihre Gültigkeit verlieren.“47

Lässt sich alles auch auf die Interpretation von Musik des Vaters Johann Sebastian Bach an-

wenden? Und wie steht es darum bei späteren Werken, etwa von Haydn, Mozart, Schubert

oder Beethoven? Wagner zufolge müssen solche Erörterungen

„auch eine Frage nach der lokal unterschiedlichen Tradition zwischen Norddeutschland und Süddeutschland/Österreich“48

mit einschließen. Exakte Antworten darauf können kaum gegeben werden.49

Sollte man einmal zu dem Schluss kommen, dass Carl Philipp Emanuels Empfehlungen oder

Anweisungen für ein gegebenes Werk anwendbar sind, ergäben sich dennoch nicht immer

eindeutige Schlüsse: beispielsweise die beiden gegensätzlichen Möglichkeiten der Behand-

lung von im Notentext ausgelassenen Vortragsanweisungen, einerseits das Varietas-Prinzip,

andererseits das Simile-Verfahren, zwingen den auf eine eindeutige Spielanweisung zielenden

Herausgeber oder den Interpreten, sich für die Anwendung des einen oder des anderen Prin-

zips zu entscheiden.50

„Ein melodischer Gedanke (Motiv, Satz) hat eine bestimmte Vorgabe, wie die einzelnen Töne angeschlagen werden sollen; dadurch wird die Artikulation bzw. Phrasierung vorgegeben. In der Folge wird dieser Gedanke nun, sei es in tongetreuer Wiederholung, in Sequenzierung oder in variierter Form, erneut vorgetragen, ohne dass Angaben zur Anschlagsart gegeben wären, so dass simile oder variierend verfahren werden kann.“51

46 Ebd., S. 44. 47 Ebd., S. 45. 48 Ebd. 49 „Die These vom einschneidenden Epochenwechsel im 18. Jahrhundert und eine damit verbundene Trennung der Generation um Johann Sebastian Bach und der seiner Söhne und Schüler hat dazu geführt, den aufführungs-praktischen Ausführungen Carl Philipp Emanuels im Versuch […] für die Musik seines Vaters die Gültigkeit und historische Zuständigkeit abzusprechen. Eine sorgfältige Lektüre des Versuchs […] lässt jedoch deutlich werden, dass Johann Sebastian durchaus in diesen Zeitraum mit einzubeziehen ist; jedenfalls sieht Carl Philipp Emanuel dies so. Auf der anderen Seite sollte nicht übersehen werden, dass eine Reihe von Vorgaben und Vor-stellungen, wie sie im Versuch […] anzutreffen sind, im späteren 18. Jahrhundert, wenn nicht außer Kurs ge-setzt, so doch an den Rand gedrängt werden. Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, lautet: Ist das Kla-vierwerk der musikalischen Klassik, also die Klaviermusik Haydns, Mozarts und Beethovens, auf der Basis der Angaben Carl Philipp Emanuel Bachs zu musizieren oder ist der Versuch […] hier, in Teilen jedenfalls, schon überholt?“ Ebd. 50 Vgl. ebd., S. 46 und bei Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Teil I, Berlin 1753, S. 126 (§ 18). 51 Günther Wagner, a.a.O., S. 46.

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Es scheint also weder möglich noch beabsichtigt, für die Interpretation eine einzig wahre und

‚richtige‘ Art der Ausführung vorzuschreiben, auch bezüglich der Manieren:

„Am Beispiel der Manieren, die neben dem Fingersatz von Carl Philipp Emanuel im Versuch […] sehr ausführlich abgehandelt werden, kann beispielsweise gezeigt werden, in welch schwierigem Terrain man sich bewegt, wenn Fragen der historischen Aufführungspraxis für den Musiker eindeutig und verbindlich beantwortet werden sollen. Zum einen müssen wir den Ausführungen Carl Philipp Emanuels entnehmen, dass die Frage, wie die Manieren richtig auszuführen seien, auch in seiner Zeit selbst unterschiedlich beantwortet wurden und ihre Realisierung durch die Musiker teilweise recht unbefriedigend war. Er beklagt den Mangel an systematischer Ordnung der Zeichen ebenso wie deren falsche Ausführung. Die Uneinheit-lichkeit ergibt sich nicht nur auf der Basis unterschiedlicher lokaler Gepflogenheiten (italieni-scher Stil, französischer Stil und vermischter deutscher Stil), sondern resultiert aus einer of-fensichtlich unterschiedlichen Handhabung durch die verschiedenen Instrumentalisten und Sänger, […] Aufgrund dieser Situation beschränkt er sich darauf, einerseits allgemeine Hin-weise zu geben und andererseits am Beispiel einiger Verzierungen präzis zu beschreiben, wie die Ausführung im einzelnen gehandhabt werden kann.“52

Vom Auffinden geeigneter Manieren

„wichtig ist der übergeordnete Zusammenhang, innerhalb dessen die Manieren zu begreifen sind. Sie sind nämlich auf den Inhalt des Tonstückes, das heißt auf dessen Affekt und Inhalt zu beziehen. Ihre Auswahl und ihre Ausführung leitet sich vom übergeordneten musikali-schen Inhalt des jeweiligen Musikstückes ab. Sie dienen – pointiert ausgedrückt – einer Ver-deutlichung des Inhaltes. Darüber hinaus stellen sie durch ihre Funktion des Variierens ein belebendes Element dar. Neben dieser allgemeinen Bestimmung macht Carl Philipp Emanuel eine Reihe weiterer Ausführungen, die nur relative Auskünfte darstellen und am konkreten Notenbeispiel nur sehr bedingt und eingeschränkt Hilfestellung geben können. So wird davor gewarnt, zu viele Verzierungen zu verwenden. Bach vergleicht die Manieren mit Zierathen, womit man das beste Gebäck überhäufen kan bzw. mit einem Gewürtze, womit man die be-sten Speisen verderben kann. Die Manieren werden bevorzugt im langsamen oder mäßigen Zeitmaß verwendet, eher bei langen Notenwerten als bei kurzen und bevorzugt in der Oberstimme (Melodiestimme). Der Spieler ist keinesfalls daran gebunden, ausschließlich die Manieren zu verwenden, die Carl Philipp Emanuel im Versuch […] anführt. Vielmehr kann er wenn er Geschicklichkeit besitzt und wenn dem Affekt des Stückes keine Gewalt angetan wird, andere Verzierungen spielen. Bei der Ausführung müssen Regeln des Generalbasses und der Harmonie hinlänglich betrachtet werden.“53 Eine Vielzahl von Parametern also, die nur aus der Erfahrung und dem Gefühl heraus festleg-

bar sind, prägen letztendlich ein Klangresultat, das den zahlreichen im Versuch postulierten

Dikta gehorcht.54

Immerhin kommt es aber auch vor,

„dass in Teilbereichen auch konkrete und eindeutig beziehbare Auskünfte möglich sind. So ist zum Beispiel der Hinweis zu werten, dass die Verzierungen zu Lasten des Wertes der Folge-note gehen, also nicht vom vorangehenden Ton abgezogen werden. Dies hat zur Folge, dass

52 Ebd., S. 46f. Vgl. zur Uneinheitlichkeit der Bedeutung der Zeichen auch Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O. Bd. I, S. 56/57 (§ 15). 53 Günther Wagner, a.a.O., S. 47. 54 Vgl. die entsprechenden Verweise auf Carl Philipp Emanuel Bachs Paragraphen im Versuch bei Günther Wagner, ebd.

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der Beginn der Verzierung zusammen mit dem Basston der entsprechenden Zählzeit er-klingt.“55

4. Ästhetik und Stil bei Carl Philipp Emanuel Bach Besonders in den Aussagen über die Manieren tritt das besondere Wesen des deutschen ver-

mischten Stils zu Tage, welcher aus französischen und italienischen Einflüssen seinen eige-

nen, originalen Charakter synthetisiert. Der vermischte Stil beginnt schon ab ca. 1700 sich zu

entwickeln und beinhaltet zur Zeit Carl Philipp Emanuel Bachs ein erweitertes Repertoire von

Stilelementen, welches sich inzwischen nicht mehr nur aus den Elementen italienischer und

französischer Vorbilder zusammensetzen lässt:

„Was die Verzierungen betrifft, verweist C.P.E. Bach darauf, daß der neue Stil seiner Zeit mit dem Vorrat der französischen Manieren, wie sie in den Lehrwerken von d’Anglebert (1689), Rameau (1706), Dieupart, vor allem François Couperin (1713) aufgeführt sind, nicht mehr auskommen konnte. Johann Sebastian Bachs Tabelle im Clavier-Büchlein vor Wilhelm Frie-demann Bach enthält dreizehn unterschiedliche Manieren, die auf französische Traditionen verweisen.“56 Einen dementsprechend beträchtlichen Raum nimmt die Beschäftigung mit den Manieren im

ersten Teil des Versuchs von 1753 ein. Dieser umfasst 135 Seiten; auf insgesamt 64 Seiten

davon beschäftigt sich C. P. E. Bach allein mit den Manieren. Über den allgemeinen Sinn und

Zweck der Manieren gibt Bach an:

„Es hat wohl niemand an der Nothwendigkeit der Manieren gezweifelt. [... Die Manieren] hängen die Noten zusammen [...und verleihen dem jeweiligen Abschnitt], besondere[n] Nachdruck und Gewicht, [... sie sind] gefällig [... und ...] erwecken […] Aufmerksamkeit“57

Bemerkenswert, dass die Musik vor allem auch „gefällig“ sein soll und die Manieren das ihre

dazu beitragen. Neuerdings habe sie sich „nicht das Gotteslob, sondern die ‚Befriedigung‘ der

Zuhörer“58 zum primären Ziel zu setzen:

„so ist ein Musikus also auch schuldig, so viel ihm möglich ist, allerley Arten von Zuhörern zu befriedigen“59,

55 Ebd. 56 Dieter Gutknecht, Tradition und Fortschritt in C. P. E. Bachs Versuch über die Wahre Art das Clavier zu spie-len. In: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanu-el Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg. Frankfurt (Oder) 1998, S. 341–350, hier: S. 344. Zur 57 Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 51 (§ 1). 58 Joachim Kremer, „Lehrmeister der Dilettanten“ oder schlechter Kantor? Carl Philipp Emanuel Bach als Musikpädagoge und Lehrer. In: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 95–118, hier: S. 108. 59 Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 123 (§ 14).

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das heißt, dem Geschmack und der Mode der Zeit möglichst gut zu entsprechen. Den Weg

dorthin vollständig in Worte zu fassen, scheint unmöglich. Wie schon im vorigen Kapitel er-

wähnt, stößt Carl Philipp Emanuel Bach hier an die Grenzen des Möglichen:

„Die Ästhetik Carl Philipp Emanuel Bachs und seiner Zeitgenossen, die von der musikali-schen Darstellung rasch wechselnder Affekte, Stimmungen und Gefühle lebt, kann diese nicht bis ins Detail beschreibend vorgeben, sondern ist auf eine allgemeine Vorgabe im Notentext und eine freie Übersetzung durch den Interpreten angewiesen. Trauer und Mattigkeit oder Freude und Entzücken können musikalisch auf verschiedene Weise oder mit unterschiedlicher Akzentuierung hervorgebracht werden. Das Hören von Musik darf so gesehen auch nicht missverstanden werden, als ob hier die vorbildliche, einzig richtige und gültige Fassung eines Musikwerkes vorgestellt würde, die möglichst genau nachgeahmt werden muss, sondern ist vielmehr zu begreifen als Vorgabe einer Möglichkeit neben anderen. Am Beispiel einer er-klingenden Aufführung lernen heißt nicht, ein verbindliches Vorbild der Interpretation zu übernehmen, sondern will zur Ausbildung des individuellen und persönlichen Geschmacks beitragen. Der vergleichsweise größere Freiraum des Interpreten im 18. Jahrhundert ver-schärft das skizzierte Problem, weil die unterschiedlichen Aufführungsvarianten natürlich auf der Basis der mündlichen Tradition, im Rahmen des zeitbedingt Gültigen und Selbstverständ-lichen gestaltet wurden, die für uns heute entweder verschüttet oder aber lediglich intellektu-ell gebrochen zugänglich sind.“60

5. Die Tasteninstrumente zur Zeit Carl Philipp Emanuels Zur Zeit Carl Philipp Emanuels waren

„Clavichord und Cembalo […] bautechnisch ausgereifte Instrumente […]. Ganz anders dage-gen das Fortepiano, das noch am Beginn seiner Entwicklung stand.“61

Carl Philipp Emanuel bezieht sich in seinem Versuch zunächst zwar generell auf alle drei In-

strumententypen, gibt aber den Rat, dass jeder Spieler

„von Rechtswegen einen guten Flügel und auch ein gutes Clavichord haben [solle], damit er auf beyden allerley Sachen abwechselnd spielen könne.“62

60 Günther Wagner, a.a.O., S. 43f. 61 Ebd., S. 48. 62 Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 10f. (§ 15). Günther Wagner fasst zusammen: „In den beiden Teilen des Versuchs […] finden sich zur Verwendung des jeweiligen Saiteninstrumententyps (Cembalo, Clavichord oder Hammerflügel), zu den spezifischen Vorzügen und Mängeln, Hinweise. Deren Lektüre zeigt, dass nicht davon ausgegangen werden kann, sich für das eine und gegen das andere Instrument zu entscheiden, sondern dass den drei „Clavierinstrumenten“ jeweils ihr ganz besonderer Platz zuerkannt werden muss.62 Das Cembalo war von allen dreien das lauteste Instrument. Deswegen findet es vorwiegend bei stark besetzten musikalischen Veran-staltungen oder bei Freiluftdarbietungen Verwendung. Sein rauschender Klang lässt es zusätzlich für dramati-sche Gattungen besonders geeignet erscheinen, so dass es sich für Opernaufführungen auch aus diesem Grunde anbietet. Seine relativ große Lautstärke ist mit ein Grund, weshalb mit diesem Instrument das Ensemble geleitet wurde. Demgegenüber ist das Clavichord das intime Instrument zum Spiel allein in der Kammer. Es diente dem solistischen Spiel; es war das ideale Übe- und Reiseinstrument, in der Regel wohl auch das Instrument, an dem komponiert wurde; letzteres können wir gerade im Falle Carl Philipp Emanuel Bachs belegen. Aber auch Mo-mente des nationalen Geschmacks spielen herein. Im deutschen Raum war das Clavichord viel häufiger anzutref-fen als in Frankreich und Italien. Und schließlich spielte auch die stilistische Entwicklung im 18. Jahrhundert bei der Auswahl des Musikinstrumentes eine Rolle. Der starre, rauschende Cembaloklang kam dem barocken Ideal, der kalten Pracht, der Affektschilderung entgegen, während der modulierfähige, leise, aber nachklingende und gestaltungsfähigere Ton des Clavichords dem neuen, empfindsamen Stil mehr entsprach. Auch dieser Umstand wird im Versuch […] deutlich angesprochen.“ Günther Wagner, a.a.O., S. 48f.

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So werde der Spieler für alle Anforderungen bestens gewappnet, die an einen universal ein-

setzbaren Tastenspieler (auf Saiteninstrumenten) gestellt werden, denn

„wer mit einer guten Art auf dem Clavicorde spielen kann, wird solches auch auf dem Flügel zuwege bringen können, aber nicht umgekehrt. Man muß also das Clavicord zur Erlernung des guten Vortrags und den Flügel, um die gehörige Kraft in die Finger zu kriegen, brau-chen.“63

Bachs generelle Ausführungen im Versuch beziehen sich also auf die beiden ausgereiften In-

strumente Clavichord und Cembalo. Das langsam erst beliebter werdende Hammerklavier

vereint einige Vorzüge der beiden (Clavichord und Cembalo) etablierten Instrumente. Das

Hammerklavier erhält im ersten Teil des Versuches (1753) keine größere Aufmerksamkeit.

Lediglich in der Einleitung findet es anerkennende Erwähnung. Gut zehn Jahre später (1762),

als der zweite Teil des Versuchs erscheint, wird dem neuartigen Instrument bereits eine größe-

re Bedeutung zugemessen.64 So hat die technische Fortentwicklung des Fortepianos mit der

Weiterentwicklung des Zeitgeschmacks gewissermaßen harmoniert:

„Dieses moderne Instrument hatte gegenüber seinen älteren Geschwistern von vorneherein Vorteile, die sich im Laufe der baulichen Entwicklung noch vergrößerten: Es war lauter als das Clavichord und es hatte im Gegensatz zum Cembalo einen klanglich und dynamisch ge-staltungsfähigeren Ton. Beiden Momenten kam durch die stilistische Entwicklung im 18. Jahrhundert wachsendes Gewicht zu.“65

6. Die Bedeutung des Versuchs im späten 18. und im 19. Jahrhun-dert Nach dem Tode Carl Philipp Emanuel Bachs im Jahre 1788 war der Einfluss seines Versuchs

auf die Stil und Epoche prägenden deutschen Tonkünstler nach ihm nicht immer gleich prä-

sent, sowohl was die Art als auch was den Umfang des Einflusses betrifft.

63 Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 11 (§ 14). 64 Im ersten Teil werden die Vorzüge noch unter Vorbehalten erwähnt: „Die neuern Forte piano, wenn sie dauer-haft und gut gearbeitet sind, haben viele Vorzüge, ohngeachtet ihre Tractirung besonders und nicht ohne Schwie-rigkeit ausstudiret werden muß. Sie thun gut beym allein spielen und bey einer nicht gar zu starck gesetzten Music, ich glaube aber doch, daß ein gutes Clavicord, ausgenommen daß es einen schwächern Ton hat, alle Schönheiten mit jenem gemein und überdem noch die Bebung und das Tragen der Tone voraus hat, weil ich nach dem Anschlage noch jeder Note einen Druck geben kann.“ Eb., S. 8. Im zweiten Teil stellt Carl Philipp Emanuel Bach schon vorbehaltlos auf eine Qualitätsstufe mit dem Clavichord: „Das Fortepiano und das Clavicord unterstützen am besten eine Ausführung, wo die grösten Feinigkeiten des Geschmackes vorkommen.“ Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch […], II. Teil, Berlin 1762, S. 2. an anderer Stelle wird den beiden Instrumenten ihr unbedingter Vorzug attestiert: „Dieser Erfindung ungeachtet behält das Clavicord und das Fortepiano wegen der mancherley Art, die Stärcke und Schwäche allmählich vor-zutragen, vor den Flügeln und Orgeln vieles voraus.“ Ebd., S. 245 (§ 6). Schließlich erklärt C.P.E. Bach das Fortepiano für die Interpretation von Fantasien – einen Geschickten Umgang mit dem Nachklingen voraussetzend – gar zum Favoriten: „Das Clavicord und das Fortepiano sind zu unserer Fantasie die bequemsten Instrumente […] Das ungedämpfte Register des Fortepiano ist das angenehmste, und, wenn man die nöthige Behutsamkeit wegen des Nachklingens anzuwenden weiß, das reizendeste zum Fantasi-ren.“ Ebd., S. 327 (§4). 65 Günther Wagner, a.a.O., S. 50.

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Hartmut Grimm berichtet, dass der Herausgeber der Leipziger Allgemeinen Musikalischen

Zeitung Johann Friedrich Rochlitz sowie einige seiner Autoren, darunter der Stettiner Pastor

Karl Friedrich Triest, der Leipziger Universitätsmusikdirektor Gottfried Wilhelm Fink oder

auch der Musiker und Musikschriftsteller Gustav Schilling, sich „um eine angemessene Aus-

einandersetzung mit der Klaviermusik Bachs“ bemüht haben, und das

„in einer Zeit – gemeint ist 1830 –, in der man sich, wie Rochlitz bekümmert feststellen muss-te, ‚nicht im geringsten‘ um C.P.E. Bach und sein Werk bemühte.“66

Um dem Geschmack der Gegenwart gerecht zu werden, forderte Rochlitz „einen historisch

aktualisierenden Umgang mit den Klavierwerken C. P. E. Bachs.“67 „Manche veralteten Figu-

ren und Passagen“ und „auch manche Stelle, die für unsere Gewöhnung harmonisch zu leere

klingt“ bedurften seiner Meinung nach einer Anpassung, die „unserer Zeit mehr entspricht,

aber dasselbe aussagt“.68

Auch schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts haben sowohl Kompositionen als auch der Ver-

such Carl Philipp Emanuel Bachs einige Aktualisierungen unterschiedlicher Art erfahren.

Daniel Gottlob Türk beispielsweise, obgleich hochachtungsvoll auf Bachs Versuch Bezug

nehmend, verändert in seiner 1789 in Leipzig erschienenen Klavierschule die Ausführungs-

anweisungen Carl Philipp Emanuel Bachs69 auf seine Art. Hartmut Grimm weiß gar zu be-

haupten, dass es unter kaum noch einem der auf den Versuch Bezug nehmenden Klavierschu-

lenautoren „noch einen Autor, dessen Ausführungsanweisungen für die Doppelschläge den

Intentionen Bachs gerecht werden“70, gebe.

Dass auch anerkannte berühmte Meister wie Muzio Clementi sich die Freiheit genommen

hatten, Veränderungen an den Bachschen Ausführungsvorschlägen vorzunehmen, führte da-

zu, dass bald diese, bald jene Neudefinition von Bachschen Ornamenten ihren Weg in die

Musikpraxis bzw. -pädagogik der Zeit um 1800 fand. Neuausgaben Emanuel Bachscher So-

naten legen darüber Zeugnis ab.71 Dezidiert zu den Manieren in Carl Philipp Emanuels Ver-

such lässt

66 Hartmut Grimm, Problem mit den Doppelschlägen. Zur Rezeption von Carl Philipp Emanuel Bachs Klavier-musik und Klavierschule im 19. Jahrhundert, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 187–194, hier: S. 187. 67 Ebd., S. 188. 68 Johann Friedrich Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832, S. 276. 69 Vgl. Hartmut Grimm, a.a.O., S. 189 und Daniel Gottlob Türk, a.a.O., Vorerinnerung, S. 2. 70 Ebd. 71 Vgl. ebd., S. 189.

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„Peter Johann Milchmeyer 1797 in seiner Klavierschule mit dem beziehungsreichen Titel Die wahre Art das Piano-Forte zu spielen [verlauten], dass die Bachschen Manieren ‚nicht zu den Hauptgedanken‘ eines Komponisten gehörten und man deshalb ‚alle musikalischen Stücke ohne dieselben spielen und lehren kann‘“.72 Und

„Selbst Carl Czerny, der von Beethoven noch nach der Klavierschule Bachs unterrichtet wur-de, bildet keine Ausnahme. Seine – für das 19. Jahrhundert wohl gewichtigste – Klavierschule behandelt in der Vortragslehre (1839) drei Doppelschlagtypen (der prallende Doppelschlag fehlt), die alle dieselbe rhythmisch gleichförmige 32tel-Struktur aufweisen, und er fügt als Generalanweisung hinzu, dass ‚auf jeden Fall die kleinen Noten alle gleich geschwind‘ vorzu-tragen seien und man ‚auf keiner von denselben stehen bleiben darf.‘“73

Der Einfluss des Emanuel Bach auf das Musikleben des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts

braucht deshalb dennoch nicht unterschätzt werden.

Alle bedeutenden Klavierschulen, die im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit erschienen

sind, wie zum Beispiel die von Clementi, Hummel oder John Field, hatten, wenn überhaupt

sich auf Vorgänger stützend, im Wesentlichen Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch als Vor-

bild im Sinn.74

Im Jahr 1862 erscheint Hans von Bülows Ausgabe von sechs Sonaten Carl Philipp Emanuel

Bachs. Hartmut Grimm Bericht darüber gibt ein Beispiel dafür, wie kontrovers teilweise Pu-

blikationen diskutiert wurden, die in irgendeiner Verbindung zum Werk Carl Philipp Emanuel

Bachs standen.75 Möglicherweise spielen in solchen und ähnlichen Streits auch Ränke wie

jene um die Neue Deutsche Schule mit eine Rolle, Anschauungen und Interessen, bei denen

Bemühungen um historische Aufführungspraxis im heutigen Sinne offensichtlich keine Be-

deutung hatten, auch nicht im Kontext der gegensätzlichen Ästhetischen Anschauungen.

Weitere Namen stehen im Zusammenhang mit Neueditionen Carl Phlipp Emanuel Bachscher

Klavierwerke: Ernst-Friedrich Baumgart, der die Sammlungen für Kenner und Liebhaber neu

auflegte, und diese mit Zitaten aus dem Versuch kommentierte, eine zu dieser Zeit sicherlich

untypische, im Sinne des 18. Jahrhunderts jedoch umso authentischere Neuerung in der Editi-

onspraxis, die Hartmut Grimm als „Wende zu einem echten historisch-kritischen Denken“76

wertet, Ernst David Wagner, der eine Verzierungslehre unter dem Titel Musikalische Orna-

mentik herausgab, welches sich laut Gutknecht als „animierender Faktor einer sich notwendig

72 Ebd. 73 Ebd, S. 190. 74 Vgl. Ebd., S. 188. 75 „Bülows Zusätze und Veränderungen in Dynamik, Artikulation, Harmonik und eben bei den Manieren sind zwar durchaus strukturell motiviert, sodass er sich von der Verballhornisierung des Bachschen Geistes, die er Gustav Schillings Ausgabe des Versuchs attestierte, stolz abzugrenzen berechtigt fand.“ Ebd. 76 Ebd., S. 193.

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formierenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Verzierungsfragen darstellt“.77 Im

Vorwort des Wohltemperierten Claviers der Bach-Gesamtausgabe zeigt auch Franz Kroll

„kritisches Bewusstsein“ bei seinen Ausführungen etwa zum Pralltriller, „wie C. P.E. Bach

ihn dargestellt wissen wollte.“78 Heinrich Germers, Ludwig Klee und Edward Dannreuther

wären als namhafte Verzierungsforscher, des späten 19. Jahrhunderts zu nennen, die C. P.E.

Bachs Versuch als wesentlichen Ausgangspunkt ihrer Arbeiten verwendeten.79

Eine weitere Linie des Fortlebens Emanuel Bachscher Ideen existiert im Schaffen und Wirken

Ludwig van Beethovens, der den Begleitern seines neuen, damals zehnjährigen Schülers Carl

Czerny, nach einem ersten Treffen verkündet:

„Der Knabe hat Talent. Ich selber will ihn unterrichten und nehme ihn als meinen Schüler an. Schicken Sie ihn wöchentlich einige Male zu mir. Vor allem aber verschaffen Sie ihm Ema-nuel Bachs Lehrbuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, das er schon das nächste Mal mitbringen muß.“80

Nicht von ungefähr rührt die Empfehlung Beethovens an seine Schüler, sich den zu allererst

den Versuch zu besorgen. Bis in seine späte Schaffensphase hinein muss Beethoven sich auch

selbst immer wieder dem Studium des Versuchs gewidmet haben, wie aus dessen Briefen an

den Verlag Härtel und Breitkopf sowie aus den Konversationsheften der letzten Jahre hervor-

geht.81 Demnach scheint es fast so, als ob Beethoven, neben ihm nützlich erscheinenden No-

tenausgaben von Werken Johann Sebastian Bachs, Haydns und Mozarts, eventuell sogar meh-

rere Exemplare des Versuchs auf Vorrat hielt, um stets entweder selbst darauf zurückgreifen

oder sie mit größter Überzeugung über deren Nutzen an Schüler und Freunde weitergeben zu

können. Sich selbst soll Beethoven beispielsweise bei der Komposition seiner Missa solemnis

vom Versuch inspiriert haben lassen, indem er Passagen daraus zunächst einfach abgeschrie-

ben haben soll.82

77 Dieter Gutknecht, Zur Rezeptionsgeschichte von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch in den Verzierungsleh-ren des 19. Jahrhunderts, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 195–203, hier: S. 198. Vgl. zu Wagners Musikalischer Ornamentik auch Adolf Beyschlag, Die Ornamentik der Musik. Leipzig 1908, S. 281. 78 Dieter Gutknecht, 2005, a.a.O., S. 198. 79 Vgl. Ebd. S. 198–200. 80 Peter Schleuning, Carl Philipp Emanuel Bachs berühmtester Schüler – Ludwig van Beethoven, in: Carl Phil-ipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandi-navien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 151–166, hier: S. 152. 81 Vgl. hierzu ebd., S. 152ff. 82 Vgl. ebd., S. 153.

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7. Aufführungspraxis heute und mögliche künftige Entwicklungen

7.1 Der Spezialist für Alte Musik im Unterschied zu den anderen „klassi-

schen“ Musikern

War der aufführungspraktische Ideenhintergrund des 18. Jahrhunderts, so wie Carl Philipp

Emanuel Bach ihn beschreibt, primär und ausdrücklich auf Originalität und Klangrede abge-

stellt83, so hat der heutige Berufsmusiker zahlreichen weiteren Interpretationsansprüchen, die

sich nach dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben, zu genügen. Will er sich nicht ganz und

ausschließlich der historischen Aufführungspraxis mit allen Konsequenzen hingeben84, wird

es ihm schwer fallen bzw. eigentlich unmöglich sein, bei der Interpretation von Werken aus

dem frühen 19. Jahrhundert oder früherer Zeit im Grade der Authentizität mit einem auf Alte

Musik spezialisierten Interpreten Schritt zu halten. Zu vielfältig sind die Spielarten und Stile

geworden, die er heute beherrschen muss, als dass er sich für alle vorkommenden optimal

rüsten könnte. Dies unterscheidet den Berufsmusiker von heute vom Berufsmusiker des 18.

Jahrhunderts (Gleiches gilt folgerichtig auch für den ambitionierten Laienmusiker). Musik

vergangener Epochen diente lediglich für den Komponisten des 18. Jahrhunderts eine Rolle

(als Vorbild für satztechnische Studien), nicht für den Aufführenden. Dieser beschäftigte sich

ausschließlich mit der Produktion der jeweils zeitgenössischen Musik und hat aus der Mode

gekommene Stile ignoriert, da das Publikum stets Neues zu hören gewohnt war. Dies wandel-

te sich im 19. Jahrhundert. Unter die zahlreichen Kompromisse, die der heutige Musiker ein-

gehen muss (Spiel von Musik unterschiedlicher Epochen und Stile auf meist modernen In-

strumenten und in gleichschwebend temperierten Stimmungen) gesellt sich laut Meinung

Günther Wagners mitunter auch seine gewohnheitsmäßige Tendenz, aus einer Notenausgabe

spielen zu wollen, die keine wesentlichen interpretatorischen Fragen offen lässt. Wagner sieht

hier ein Dilemma zwischen den Möglichkeiten des edierenden Musikwissenschaftlers und

den Ansprüchen des ausführenden Musikers:

„Der Musiker […] erwartet vom Wissenschaftler einen eindeutigen und autorisierten Text. Wenn er aufs Podium geht, will er eine definitive, „richtige“ Fassung anbieten können, von

83 „Zwar frey, iedoch in steter Pflicht: Gebunden; aber knechtisch nicht.“ Was Johann Mattheson dichterisch über seine Meinung vom wahren Komponieren kurz und knapp verlauten lässt, hätte sich gewiss auch Carl Philipp Emanuel Bachs im Hinblick auf sein Verständnis von der wahren Art das Clavier zu spielen bereitwillig in den Mund legen lassen. Johann Mattheson, a.a.O., Hamburg 1739, S. 241 (2. Teil, 14. Kapitel, §33). 84 Zu nennen wären hier vor allem: ein ausführliches Studium der historischen Verzierungs-, aber auch der Kon-trapunktlehren, die Beschränkung auf ein historisches oder historisch nachgebildetes Instrumentarium, sowie das fast ausschließliche Musizieren in historischen Stimmtonhöhen und Stimmungen.

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der er überzeugt sein will; fatal für seine Situation wäre ein Nebeneinander gleichwertiger Varianten“.85 Die Erfolge der Bemühungen, spezialisierte Musiker für Alte Musik auszubilden, die sich in

Ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten von denen anderer klassischer Musiker absetzten, die

also zugleich virtuos und fachkundig interpretieren können, betrachtet Wagner offensichtlich

allgemein als eher mäßig:

„Auch neue Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte, die ausgelöst wurden durch eine intensi-vere Beschäftigung mit Fragen historischer Aufführungspraxis, und die in gewissem Umfang eine neue, „alternative“ Musikszene geschaffen haben, konnten nach anfänglichen Anzeichen eines glücklicheren Wechselspiels den gewachsenen Zustand nicht entscheidend verändern. Ein ausgewogenes und befruchtendes Verhältnis zwischen historischer Sachkenntnis und souveräner Musikausübung hat sich lediglich in seltenen Ausnahmefällen eingestellt.“86 Allzu selten scheint sich es Wagner nach also zu ereignen, unter den auf Alte Musik speziali-

sierten Musikern echte „Musici“ anstelle von bloßen „Cantores“ anzutreffen.87 Dies mache

sich auch an anderer Stelle bemerkbar. Echte Musikalität, die die Fähigkeit zur Improvisation

und Spontaneität mit einschließe, lasse sich hier wie dort, im Bereich der Alten wie auch im

Bereich der Neuen Musik, nicht immer finden:

„Es ist bezeichnend, dass das Improvisationsmoment aleatorischer Musik unserer Zeit immer wieder dadurch unterlaufen oder ad absurdum geführt wurde, dass der Interpret schon in der Vorbereitungsphase des Einstudierens sich auf eine definitive Fassung festgelegt und somit den intendierten Improvisationscharakter suspendiert hat. (Am Beispiel der Stockhausenschen Klavierstücke konnte dies immer wieder festgestellt werden.)“88

7.2 Norm und Abweichung in der Artikulation Stellt man nicht näher mit Vortragsanweisungen bezeichnete Passagen von Werken Carl Phil-

ipp Emanuel Bachs mit solchen von in späteren Epochen komponierten Werken gegenüber,

ergibt sich die Frage, ob eine solche Passage zu allen Zeiten gleich artikuliert werden wollte,

ob sich eine Art „normales Spiel“ überhaupt zu irgendeiner Zeit ausmachen lässt, ob es so

etwas wie „neutrales“ Spiel gibt, welches sich vielleicht auch mit der Zeit verändert, oder ob

nicht näher bezeichnete Stellen vielleicht stets einen Freibrief zur beliebigen Gestaltung durch

den Interpreten bedeuten. Günther Wagner äußerst sich zu diesen Fragen wie folgt:

„Die vorherrschende Anschlagsart beim Klavierspiel heutzutage ist das Legato; wenn im No-tentext keine speziellen Angaben vorliegen, geht der Pianist vom Legato aus; jede andere An-schlagsart erfordert entsprechende Hinweise. Dies verhält sich offensichtlich im Falle Carl Philipp Emanuel Bachs und seiner Zeit anders, obwohl dies nicht grundsätzlich und detailliert ausgeführt wird. Mehr zufällig und rückschließend machen die Ausführungen des dritten 85 Günther Wagner, a.a.O., S. 41. 86 Ebd. 87 Vgl. die Unterscheidung Guidos von Arezzo („Musicorum et cantorum magna est distantia ...) z.B. bei Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. München 1996, S. 15. 88 Günther Wagner, a.a.O., S. 41.

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Hauptstückes deutlich, dass die überwiegende Anschlagsart, die keiner besonderen Kenn-zeichnung im Notentext bedarf, eine Art non legato, bzw. leggiero ist. Der Hinweis Carl Phil-ipp Emanuels, dass die Achtel- und Viertelnoten im gemäßigten und langsamen Zeitmaß ohne zusätzliche Kennzeichnung zu spielen seien ([…] mit Feuer und gantz gelinden Stosse […]), ist kaum anders zu deuten.“89

7.3 Aufführungspraxis in der Zukunft Die Aufführungspraxis Alter Musik, deren Entstehung in Kapitel 3.1 skizziert wurde, initiier-

te zahlreiche wirkungsmächtige Entwicklungen auf dem Musikmarkt, im Konzert- und

Opernwesen sowie in der Musikausbildung. Genannt seien hier beispielsweise die Verdrän-

gung des Cembalos aus den Aufführungen von Opern des 18. Jahrhunderts durch das Ham-

merklavier, in jüngster Zeit immer häufiger die Verdrängung von Altistinnen durch Alti bzw.

Countertenöre, die beträchtliche Zahl an erfolgreichen spezialisierten Ensembles wie z.B.

dem Concentus Musicus Wien, dem Freiburger Barockorchester, Les Arts Florissants oder

der Akademie für Alte Musik Berlin. Neben und zwischen den das Repertoire der Alten Mu-

sik dominierenden Spezialisten gibt es jedoch bis heute immer wieder noch prominente Aus-

nahmen. Jüngstes Beispiel für eine Aufführung mit großer Reichweite, in der ein gemischtes

Ensemble zusammenwirkte, war die Aufführung der Matthäuspassion am Gründonnerstag

2012 in der Leipziger Thomaskirche: inmitten der auf ihren modernen Instrumenten musizie-

renden Musiker des Gewandhausorchesters fanden sich Spezialisten der Alten Musik wie der

Bassist Klaus Mertens oder der Gambist Thomas Fritzsch.90

Dies könnte ein Anzeichen dafür sein, dass sich auch in Zukunft keine strenge Trennung von

alter und neuer Musikpraxis vollziehen wird. Mit Blick auf die Ausbildung an Tasteninstru-

menten könnte es dennoch möglich sein, dass – bei ausreichender Aufrechterhaltung der Neu-

investitionsmittel an Musik(hoch)schulen, das Ausbildungsangebot speziell an historischen

Tasteninstrumenten sich noch vergrößern bzw. dort, wo dies bis jetzt nicht angeboten wurde,

begonnen werden wird. Eher unwahrscheinlich erscheint jedoch die Möglichkeit, dass die

„gewöhnliche“ Klavierausbildung standardisierend um das Spiel auf historischen Instrumen-

ten erweitert wird. Dagegen sprechen vor allem zwei Gründe: Zum einen sollte ein speziali-

sierter Tastenspieler von Alten Instrumenten in der Lage sein, sein Instrument selbst zu stim-

men und zum anderen sind hochwertige Instrumente, die stets per Handarbeit, und nicht wie

moderne Klaviere in Massenproduktion, gefertigt werden, sehr anfällig für Beschädigungen

durch unachtsamen Umgang. Das eine erfordert eine zeitintensive Schulung im Stimmen der

Instrumente nach den verschiedenen fürs Ensemblespiel erforderlichen Stimmungssystemen.

89 Ebd., S. 44. 90 Vgl. Thomaskirche Eventcalendar, URL: http://www.thomaskirche.org/f-Pdf-d-default.html?year=2012&lang=en, abgerufen am 25. April 2012, S. 18.

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Das andere eine mindestens ebenso gewissenhafte Schulung im Umgang mit den Instrumen-

ten, angefangen bei der Bedienung derselben bis hin zur Sicherstellung des erforderlichen

Raumklimas.

8. Mögliche Schlussfolgerungen für die (Klavier-)Pädagogik Unabhängig davon, auf welchem Instrument musiziert und gelehrt wird, kann es lohnend sein,

sich mit den Argumenten, die Carl Philipp Emanuel Bach in seinem Versuch hervorbringt,

auseinanderzusetzen. Dies gilt in besonderem Maße für den Fingersatz. Günther Wagner kon-

statiert:

„Ein veränderter Fingersatz kann einem musikalischen Gedanken einen anderen Sinn ge-ben oder, vom anderen Ende her betrachtet: Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist nur mit einem bestimmten Fingersatz optimal auszudrücken.“91 Er bezieht sich dabei unter anderem auf den 5. Paragraphen im Kapitel von der Fingerset-

zung:

„Aus dem Grunde, daß jeder neue Gedancke bey nahe seine eigene Fingersetzung habe […]“92

Dem entgegen scheint allerdings eine andere, weitere Behauptung Wagners zu stehen, die für

eine strenge „Fingersatzerziehung“ plädiert:

„Im Rahmen der Ausbildung am Klavier erfolgt die Vermittlung bestimmter Fingersatzregeln bereits zu einem frühen Zeitpunkt. Nicht umsonst wählen gewissenhafte Klavierlehrer die Ausgaben der zu erarbeitenden Literatur für ihre Schüler auch unter dem Gesichtspunkt der Fingersatzangaben sorgfältig aus. Denn über die erste ernsthafte Erarbeitung der jeweiligen Literatur prägt sich auch der Fingersatz in der für ein Werk besonderen Weise, aber auch in allgemeiner Form ein. Und diese manuell erworbene Technik des Fingersatzes ist wie alle körperlich erworbenen Fähigkeiten nur sehr schwer wieder abzustreifen. In aller Regel beglei-tet den Pianisten der Fingersatz seiner ersten Einstudierung ein Leben lang [Mutmaßung!, Anm. d. Verf.]. Wenn wir diesen Umstand gebührend berücksichtigen, so müssen wir zugeben, dass Fragen des Fingersatzes, auch soweit sie in Fragen der historischen Auffüh-rungspraxis übergehen, primär im Klavierunterricht und nicht im Hörsaal einer musiktheoreti-schen Vorlesung vermittelt werden müssten. Für einen Klavierlehrer, der einen historisch fundierten Unterricht anbieten will (etwa auch in Form einer kompakten Kursveranstaltung), wäre es sicherlich eine reizvolle Aufgabe, Fingersatzfragen am Text der einschlägigen Para-graphen aus dem Versuch […], der dazugehörigen Tabelle und konkret literaturbezogen am Beispiel der 18 Probestücke in Sechs Sonaten, die ja mit sehr ausführlichen Fingersätzen vom Komponisten versehen wurden, zu erarbeiten. Wenn ein junger Pianist so – und im Bereich der Manieren ähnlich – vorbereitet an ein Klavierkonzert des zweiten Bach-Sohnes oder an seine solistische Klaviermusik heranginge, so hätte dies ganz bestimmt positive Auswirkun-gen auf das Klangresultat.“93

91 Günther Wagner, a.a.O., S. 45. 92 Carl Philipp Emanuel Bach a.a.O., I, S. 16 (§ 5). 93 Günther Wagner, a.a.O., S. 45f.

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Selbstverständlich sollten Fragen des Fingersatzes im Klavierunterricht vermittelt werden,

dies wird wohl auch von den allermeisten Klavierpädagogen getan. Unverfänglicher als die

fast drohend wirkende Warnung vor Vernachlässigung einer vermeintlich lohnenden Einstu-

dierung Bachscher Fingersätze erscheint der Hinweis, dass eine jegliche Veränderung des

Fingersatzes eine nicht unwesentliche Veränderung der Klanggestalt mit sich bringt und sich

somit auch der Sinngehalt einer Passage verändern kann. Gegen die These von der Nützlich-

keit Bachscher Fingersätze zur Heranbildung eines weitgehend automatisierten, für alle Spiel-

arten nützlichen Fingersatzschemas spricht jedoch die Tatsache, dass der heutige Spieler bzw.

der heutige Schüler auf Instrumenten spielt, die sich in ihrer Bedienung erheblich vom Bach-

schen Clavichord, aber auch dem Cembalo und dem Hammerklavier unterscheiden. Dies be-

trifft sowohl die Abmaße als auch die Gewichtungen der Tasten. Letztere weichen sogar in-

nerhalb der modernen Klaviere erheblich voneinander ab. Eine für alle Instrumente und alle

Repertoires generalisierende Heiligsprechung der Bachschen Fingersatzvorschläge erscheinen

dem Verfasser deshalb eher fragwürdig.

Als Quelle der Inspiration für einen modernen Klavierunterricht ermittelt dagegen Michael Heinemann im Kontext der Originalität als Erziehungsziel:94 „mehr oder weniger explizit begleitet seine Ausführungen stets der Verweis auf das eigene Urteilvermögen, das zu schulen sei um einen selbständigen Standpunkt gegenüber den ver-trauten Inhalten zu gewinnen. So kann denn auch alles Gegenstand des Unterrichts werden, sofern von Reflexion flankiert: fast leidenschaftlich plädiert Carl Philipp Emanuel Bach für einen Eklektizismus, der erforderlich sei, um möglichst viel kennenzulernen; dieses Reservoir ist die Voraussetzung, um die eigene Lesart begründen und gegenüber konkurrierenden Auf-fassungen verteidigen zu können.“

9. Einordnung: mehr als eine Klavierschule Gemeinsam mit den einleitend genannten Lehrwerken (s. Kapitel 1) zählt Bachs Versuch aus

heutiger Sicht zu den wichtigsten und einflussreichsten Quellen abendländischer Musikpra-

xisforschung überhaupt. Die Gültigkeit vieler seiner Grund- und Lehrsätze bleibt – obgleich

dies vielleicht gar nicht beabsichtigt war – selbst für die Interpretation späterer Stile in vielen

Fällen erhalten. Auch heute und wohl auch zukünftig wird es sich für den jungen Instrumenta-

listen lohnen, zur Vervollkommnung seines Talentes möglichst vielen verschiedenen Mei-

stern zuzuhören, – auch bei Erarbeitung von Werken des 16., 17., 19. und bei vielen des 20.

Jahrhunderts – „singend zu denken“.95

94 Michael Heinemann, Originalität als Erziehungsziel, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbrei-tung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frank-furter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 41–50, hier: S .45. 95 Vgl. §12 bei Carl Philipp Emanuel Bach, a.a.O., S. 121f.

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In allererster Linie jedoch bleibt Bachs Versuch ein wertvolles Zeitzeugnis jener Epoche, die

als Ausgangspunkt für mannigfaltige Fortentwicklungen der deutschen und europäischen

Kunstmusik gelten darf. Die Meisterwerke des späten 18. und des 19. Jahrhunderts gehorchen

in vielem den stilistischen und ästhetischen Vorgaben des 18. Jahrhunderts und entwickeln,

von diesen ausgehend, ihre jeweils eigene Tonsprache. So reicht die vom Versuch ausgehende

Strahlkraft weit über den Bereich der 18. Jahrhundert-Klavierpädagogik hinaus: als Kompen-

dium allen niederschreib- und überlieferbaren Wissens erhielt und erhält es bis heute die

Aufmerksamkeit von Komponisten, Theoretikern, Herausgebern, Musikwissenschaftlern,

Pädagogen und Interpreten.

Literaturliste Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 2 Bde. I und II, Berlin 1753 und 1762.

Adolf Beyschlag, Die Ornamentik der Musik. Leipzig 1908. Hartmut Grimm, Problem mit den Doppelschlägen. Zur Rezeption von Carl Philipp Emanuel Bachs Klaviermusik und Klavierschule im 19. Jahrhundert, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 187–194.

Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. München 1996. Dieter Gutknecht, Tradition und Fortschritt in C. P. E. Bachs Versuch über die Wahre Art das Clavier zu spielen. In: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg. Frankfurt (Oder) 1998, S. 341–350. Ders., Zur Rezeptionsgeschichte von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch in den Verzierungslehren des 19. Jahrhunderts, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 195–203. Michael Heinemann, Originalität als Erziehungsziel, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 41–50. Joachim Kremer, „Lehrmeister der Dilettanten“ oder schlechter Kantor? Carl Philipp Emanuel Bach als Musikpädagoge und Lehrer. In: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 95–118.

Johann Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739. Leopold Mozart, Versuch einer gründlichen Violinschule, Augsburg 1756.

Michael Praetorius, Syntagma musicum, 3 Bde. I-III, Wittenberg 1614/15, Wolfenbüttel 1618 und 1619.

Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung, die Flöte traviersière zu spielen, Berlin 1752.

Johann Friedrich Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832.

Peter Schleuning, Carl Philipp Emanuel Bachs berühmtester Schüler – Ludwig van Beethoven, in: Carl Philipp Emanuel Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik Carl Philipp Emanuel Bachs in England und Skandinavien. Bericht über das internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus im Rahmen der 36. Frankfurter Festtage der Musik und der X. Internationalen Musik-Begegnungen „Ost-West“ Zielona Góra. Frankfurt (Oder) 2005, S. 151–166. Pier Francesco Tosi / Johann Friedrich Agricola, Anleitung zur Singkunst, Berlin 1757.

Günther Wagner, Anmerkungen zur historischen Aufführungspraxis am Beispiel von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch [...]. In: Carl Philipp Emanuel Bach. Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. v. Heinrich Poos. Mainz 1993, S. 41–52. Thomaskirche Eventcalendar, URL: http://www.thomaskirche.org/f-Pdf-d-default.html?year=2012&lang=en, abgerufen am 25. April 2012.