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Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II www.zeit.de/schulangebote Inhalt: 2   Einleitung: Thema und Lernziele 3 Arbeitsblatt 1: Die Welt als Reportage 6 Aufgaben 10  Internetseiten zum Thema Thema im Februar 2019: Der Fall Relotius – Journalismus zwischen Fakt und Fiktion Mit atmosphärisch dichten, stimmungsvollen Reportagen hat Claas Relotius Journalistenpreise und eine große Leserschaft gewonnen. Bis er aufflog und sich herausstellte: Weite Passagen seiner Beiträge wa- ren erfunden, verfälscht und manipuliert. Ein Einzelfall und ein Verrat an allen Kolleginnen und Kollegen, die hart und ehrlich arbeiten. Dennoch bleiben Fragen: Hätte man ihn nicht schon viel früher entlarven können? Oder wollte man es nicht so genau wissen, weil die »Ware« sich gut verkaufte? Wer trägt die Verantwortung in dieser Fälschungsgeschichte? Und: Sollte man einige Entwicklungen im deutschen Journalismus überdenken? In der vorliegenden Unterrichtseinheit beschäftigen sich Ihre Schülerinnen und Schüler mit ihren Vor- stellungen von gutem Journalismus und erörtern, welche Entwicklungen im Medienbetrieb dazu führen, dass Fake-Geschichten unentdeckt bleiben. Sie analysieren einen Beitrag von Claas Relotius, gleichen ihn mit dem Faktencheck von ZEIT ONLINE ab und schreiben zum Abschluss selbst eine Reportage – völlig unverfälscht. Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für Lehrkräfte der Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch pas- sende Arbeitsanregungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht. www.facebook.com In Zusammenarbeit mit:

Thema im Februar 2019: Der Fall Relotius – Journalismus … · 2019-02-04 · Und: Sollte man einige Entwicklungen im deutschen ... welche Hohn- und Hämespuren die neue »Spiegel«-Affäre

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Page 1: Thema im Februar 2019: Der Fall Relotius – Journalismus … · 2019-02-04 · Und: Sollte man einige Entwicklungen im deutschen ... welche Hohn- und Hämespuren die neue »Spiegel«-Affäre

Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II

www.zeit.de/schulangebote

Inhalt:

2   Einleitung: Thema und Lernziele

3 Arbeitsblatt 1: Die Welt als Reportage

6 Aufgaben

10  Internetseiten zum Thema

Thema im Februar 2019: Der Fall Relotius – Journalismus zwischen Fakt und FiktionMit atmosphärisch dichten, stimmungsvollen Reportagen hat Claas Relotius Journalistenpreise und eine große Leserschaft gewonnen. Bis er aufflog und sich herausstellte: Weite Passagen seiner Beiträge wa-ren erfunden, verfälscht und manipuliert. Ein Einzelfall und ein Verrat an allen Kolleginnen und Kollegen, die hart und ehrlich arbeiten. Dennoch bleiben Fragen: Hätte man ihn nicht schon viel früher entlarven können? Oder wollte man es nicht so genau wissen, weil die »Ware« sich gut verkaufte? Wer trägt die Verantwortung in dieser Fälschungsgeschichte? Und: Sollte man einige Entwicklungen im deutschen Journalismus überdenken?

In der vorliegenden Unterrichtseinheit beschäftigen sich Ihre Schülerinnen und Schüler mit ihren Vor-stellungen von gutem Journalismus und erörtern, welche Entwicklungen im Medienbetrieb dazu führen, dass Fake-Geschichten unentdeckt bleiben. Sie analysieren einen Beitrag von Claas Relotius, gleichen ihn mit dem Faktencheck von ZEIT ONLINE ab und schreiben zum Abschluss selbst eine Reportage – völlig unverfälscht.

Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für Lehrkräfte der Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch pas-sende Arbeitsanregungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht.

www.facebook.com

In Zusammenarbeit mit:

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»ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Der Fall Relotius – Journalismus zwischen Fakt und Fiktion 2

Man nennt sie »Edelfedern«: jene Journalistinnen und Journalisten, die besonders atmosphärisch dichte und erlebbare Geschichten schreiben und ihrer Leserschaft das Gefühl geben, ganz »nah dran« an den lebendig geschilderten Menschen und Schauplätzen zu sein. Claas Relotius war eine solche Edelfeder. Er genoss Ansehen bei seiner Leserschaft, in der Redaktion nicht nur des »Spiegels« und gewann mehrere Medienpreise für seine Reportagen. Dann wurde er entlarvt. Im Herbst 2018 wurde offenbar, dass Relotius’ Artikel zahlreiche Fälschungen enthalten: Personen, die es nicht gibt, Schauplätze, an denen er niemals ge-wesen war, erdichtete Weltanschauungen, die er seinen Protagonisten unterschob, Konferenzen, die nie-mals stattfanden, oder Interviewpartnerinnen und -partner, mit denen er nicht einmal gesprochen hatte.

Der Fall Relotius hat großes Aufsehen erregt und die Medienwelt zutiefst verunsichert. Ist es vorher nie-mandem aufgefallen, dass etwas nicht stimmt mit diesen Berichten? Dass sie einfach zu perfekt sind, um wahr zu sein? Dass die Realität niemals so ist, wie Publikum und Jurys sie haben wollen? Doch, es gab Hinweise auf Ungereimtheiten – aber sie blieben folgenlos. Vielleicht blieben sie folgenlos, weil im Medienbusiness bisweilen eine »gute Story« wichtiger als eine »richtige Story« ist. Der Relotius-Stil hat sich ja gut verkauft. Möglicherweise stehen Journalistinnen und Journalisten unter so starkem Druck, eben-jene Edelfeder-Geschichten zu schreiben, dass sie der Versuchung erliegen, ihre Texte etwas mehr zu »designen«, als die Fakten hergeben. Relotius wäre dann der Extremfall einer unterschwelligen Tendenz. Wir, die Leserinnen und Leser, wollen es schließlich so. Und auch die Jurys für Journalistenpreise wollen es so, wenn sie den Stil und nicht den Faktenreichtum journalistischer Arbeit auszeichnen. Die Verlierer dabei sind letztlich wir selbst, wenn wir Dichtung statt Wahrheit lesen. Verlierer sind auch all die Journalistinnen und Journalisten, die hart recherchieren und weniger perfekte Geschichte liefern können, einfach weil sie sauber arbeiten und nichts dazudichten. Sie stehen, obwohl unschuldig, ebenfalls unter Verdacht.

Vor dem Hintergrund der Lügenpresse-Vorwürfe der vergangenen Jahre ist der Fall Relotius ein Rück-schlag für den Journalismus in Deutschland. Der Betrug eines Einzelnen fällt auf die gesamte Branche zurück. Gerade begannen viele Verlage ihre Strukturen zu reformieren. Sie stärken die Abteilungen für investigative Recherche, stellen Teams für die Faktenrecherche auf oder machen ihre Arbeit für die Le-serinnen und Leser transparenter, um wieder Vertrauen zu gewinnen. Jetzt wird deutlich: Es gibt noch einiges zu tun.

Mithilfe dieses Arbeitsblattes gehen die Schülerinnen und Schüler all diesen Fragen nach. Zunächst beant-worten sie einen Fragebogen und besprechen ihre Erwartungen an guten Journalismus. In einem zweiten Schritt recherchieren sie Hintergrundinformationen zum Fall Relotius als Vorbereitung für die weitere Arbeit an dem Thema. Anschließend interpretieren sie den Kommentar des ZEIT-Redakteurs Thomas Assheuer und erörtern, welche Verantwortung die verschiedenen Akteure im Medienbetrieb für die Fälschungen tragen.

In einem zweiten Schritt analysieren die Schülerinnen und Schüler einen Artikel von Claas Relotius auf ZEIT ONLINE und gleichen ihre Arbeitsergebnisse mit der Faktenüberprüfung der ZEIT ONLINE-Redaktion ab. Zum Abschluss sollen die Schülerinnen dann selbst eine Reportage verfassen. Die Herausforderung dabei ist, eine interessante Geschichte zu schreiben, ohne dabei Fakten allzu subjektiv gefärbt wiederzugeben.

Einleitung: Thema und Lernziele

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Arbeitsblatt Die Welt als ReportageIm Journalismus gibt es das fatale Bedürfnis, die Wirklichkeit erzählerisch passend zu machen. Solche Texte wollen nicht aufklären, sondern Trost spenden.

Der Reporter Claas Relotius, der dem »Spiegel« den größten Skandal seiner Geschichte eingebrockt hat, passte perfekt zum Hamburger Nachrichtenmagazin. Seine Textmanufaktur lief blendend, und die Waren-produktion ließ keine Wünsche offen. Doch wenn eine journalistische Marke so störungsfrei funktioniert, muss man fragen, wie ein System beschaffen sein muss, damit Lug und Trug nicht weiter auffallen. Die Erklärung liefert der »Spiegel« diesmal selbst. In der ersten Stellungnahme nach dem Skandal bekannte Ullrich Fichtner, der designierte Vize-Chefredakteur: »Als Ressortleiter, der solche Texte frisch bekommt, spürt man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern freut sich über die gute Ware. Es geht um eine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien, um Dramaturgie, um stimmige Sprachbilder, es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt?«

Dieser Satz klingt so, als hätte Claas Relotius ihn frei erfunden. Tatsächlich ist er wahr und spektakulär ehrlich. Denn was zählte für die Redaktion bei der Warenanlieferung? Es zählte die »Stimmigkeit«. Doch Stimmigkeit ist eine ästhetische Kategorie; sie meint die innere Vollkommenheit eines Kunstwerks, das widerspruchsfreie Verhältnis der Teile zum Ganzen. Stimmig ist eine Komposition, wenn es ihr gelingt, die Welt harmonisch zur Einheit zu bringen.

Ganz anders eine Reportage. Sie erhebt den Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen über die Welt zu berichten. Wie jeder journalistische Text wählt sie einen Ausschnitt; über die Perspektive darf man strei-ten, über Bewertungen erst recht. Doch die Tatsachen, die sich in einem Weltausschnitt zeigen, sind keine Erfindungen, sie sind – Tatsachen. Sie müssen nicht stimmig sein. Sie müssen stimmen.

Die Ware, mit der Relotius seine Redaktion und das Preisverleihungsgewerbe glücklich machte, hat die Wahrheit durch die Wahrheitsanmutung ersetzt. Der Superstar war kein Berichterstatter; er war ein Dich-tergott, der seine Figuren durch die eigene Schöpfung spazieren führte, gern auch unter falschem Namen. Und weil er sich mit seiner Schöpfung auskannte, konnte der Weltbaumeister sie wunderschön erzählen. Im irdischen Theater des Claas Relotius gab es gute Menschen und schlechte Menschen, es gab Täter und Opfer. Hier war ein Paradies und dort eine Hölle. Alles zusammen bildete ein Großes und Ganzes. Es be-rührte das Herz. Es war stimmig.

Schon seit längerer Zeit beobachten Kulturwissenschaftler einen Funktionswandel journalistischer Texte. Journalisten versuchen, die Realität nicht mehr bloß zu beschreiben, sondern sie zu erzählen – und zwar so, dass der Text eine geschlossene Welt entstehen lässt, in die der Leser eintauchen kann, die ihn abholt und umfängt. Das Fachwort heißt »Atmosphäre«, und es hat auch in der Werbung Karriere gemacht. Jede Ware muss eine Atmosphäre verbreiten und eine lebendige Geschichte erzählen.

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Solange im Journalismus Fiktionen nicht mit Fakten verwechselt werden, ist gegen Atmosphäre nichts einzuwenden. Doch Relotius hat diese Technik pervertiert. Er unternahm erst gar nicht den Versuch, sich einer unbekannten Wirklichkeit zu nähern; stattdessen erzeugte er atmosphärische Räume und Erlebnis-Höhlen, die perfekt ins gefühlte Beuteschema der liberalen Öffentlichkeit passten.

Gemessen an ihrem Erfolg, erfüllten die Geschichten, die Relotius narrativ eingespeichelt hatte, die Erwar-tungen von Redaktion, Lesern und Juroren vollkommen. Sie sorgten für Schaudern und Entzücken, denn sie enthielten genau die Klischees, genau die Stereotype, Fantasmen und Deutschmythen, die alle beim Publi-kum vermuteten. Wie in einem bösen Märchen wurde das amerikanische Städtchen Fergus Falls, in dem viele Bürger Trump gewählt haben, bei Relotius von einem dämonischen Zauber heimgesucht, nur ein, zwei Mu-tige leisten Widerstand, und auch die Seele des Stadtverwalters ist noch nicht ganz verloren. »Er weiß mehr über das Deutsche Kaiserreich als die meisten Deutschen in seinem Alter.« Sogar Mutter Natur ist vom Bö-sen verhext. Der dunkle Wald, schreibt der Märchenerzähler, sehe aus, als lebten Drachen darin – mythische Wesen, die in früheren Zeiten vermutlich in deutschen Eichenwäldern gehaust haben, nun aber nach Trump-Land ausgewandert sind. In Wahrheit gibt es in Fergus Falls weit und breit keinen Wald. Es gibt nur Steppe.

Nicht die Wahrheit, sondern die ästhetische Performance zählt

Der Goldjunge des »Spiegels«, so viel weiß man nun, reiste nicht in die Fremde, er reiste ins Eigene. Er ist ein Genie der Einfühlung, denn wo gerade keine passende Wirklichkeit auffindbar war, imaginierte er sich eine. Seine Welt, und das ist schon unheimlich, hatte kein Außen, sie bestand aus Wille und Vorstellung, aus Fiktionen. Relotius klebte der Realität die Embleme an, die er selbst mitgebracht hatte. Dem »Spiegel« reichte es. »Sagen, was ist.«

Wenn man die Sache höher hängt, sieht man, dass in der Relotius-Affäre zwei Theorieschulen eine späte Blüte erleben, die konservative und die postmoderne. Die konservative Schule behauptet, man könne den Selbstlauf der modernen Gesellschaft nur ertragen, indem man ihre Modernisierungsschäden durch tröstende Erzählungen kompensiere. Die postmoderne Denkschule behauptet, die Realität existiere gar nicht, sie sei ein Konstrukt – und Konstrukte solle man besser nicht anrühren, denn am Ende mache man sie noch kaputt.

Erst dieser Hintergrund erklärt, warum Erzählformen im Medienkapitalismus stark nachgefragt werden. Es ist eine Textsorte, die den Leser nicht als politisches Subjekt anspricht, sondern als einen existenziell Trostbedürftigen – als einen Menschen, der die Kontrolle über seine Fantasien verloren hat. Anders gesagt: Die Fakt-Fiktion-Synthesen dienen der pastoralen Daseinsberuhigung und wirken wie eine Therapie. Sie stabilisieren Gefühle und bringen Ordnung ins Chaos. Sie machen das Komplizierte einfach und schaffen Vertrautheit mit einer skandalös unverständlichen Realität. Polkappenschmelze, Flüchtlingstrecks, IS-Ter-ror, Aufrüstung, Trump, Putin – die Menschheit ist verrückt geworden, doch solange ein Reporter sich in diesem objektiven Wahn subjektiv zurechtfindet, kurz: solange er sie zu einem ästhetischen Gesamtkunst-werk aufbereiten kann, so lange scheint nicht alles verloren. Der Schrecken ist gebannt.

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Das ist der Grund, warum bei der journalistischen Weltvereinfachungsprosa eines Claas Relotius nicht die Wahrheit zählt, sondern die ästhetische Performance. Die Geschichten müssen fantastisch schön ge-schrieben sein, denn Schönheit ist der warme Quell der Stimmigkeit. Sie legt einen ästhetischen Zauber über die Dinge und versichert dem Leser, dass es Sinn gibt hinter dem Sinnlosen, sogar Sinn hinter Elend und Unheil. Deshalb scheint die Devise zu lauten: Wir müssen die Welt nicht erkennen, wir müssen sie ästhetisieren, nur so können wir sie ertragen. »An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond, verlässt eine kleine zierliche Frau ihr Haus, um einen Mann, den sie nicht kennt, sterben zu sehen.« Warum machte Relotius das? Weil er die Wirklichkeit längst als so schockierend fiktiv empfindet, dass er darauf nur mit einer Meta-Fiktion antworten kann? Dann wäre es Literatur, aber keine gute. Gute Literatur zeigt ihre Risse, ihre Grenzen, ihre Brüchigkeit.

Man kann sich an fünf Fingern abzählen, welche Hohn- und Hämespuren die neue »Spiegel«-Affäre in den politischen Lagern hinterlassen wird. Die völkische Rechte schreit nun erst recht »Lügenpresse«; die Lin-ken werden sagen, dass die Systempresse keine Nachrichten verbreitet, sondern gefühlte Wirklichkeiten für den betreuten Leser. Anstatt Machtstrukturen zu analysieren (oder vor dem nächsten Finanzcrash zu warnen), theatralisiert sie die Wirklichkeit. In der Gesellschaft des Spektakels sind Medien die Agenten der Entpolitisierung.

Auch wenn der »Spiegel« längst nicht mehr die Fabel vom heilsamen Kapitalismus erzählt – der postmo-derne Journalismus erlebt jetzt sein größtes Debakel. Er hat nicht über die Wirklichkeit aufgeklärt, sondern sie in schönen Geschichten aufgelöst und in einen suggestiven Glanz getaucht. Er hat dafür gesorgt, dass der Leser sich keine andere Gesellschaft vorstellen kann als die, die es schon gibt.

Thomas Assheuer, DIE ZEIT Nr.1/2019, https://www.zeit.de/2019/01/journalismus-reportagen-wirklichkeit-aufklaerung-claas-relotius

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Aufgaben

Einstieg

Beantworten Sie den Fragebogen, und besprechen Sie die Ergebnisse in der Klasse. Die Fragen beziehen sich allein auf Textformen, also journalistische Online- oder Print-Artikel (Zeitung/Zeitschrift) – nicht audiovisuelle Beiträge.

1. Welche journalistische Darstellungsform lesen Sie am liebsten? � Nachricht/Bericht: sachlich/informativ, faktenzentriert, auf den Punkt gebracht � Interview: Dialog, neutraler Befrager, subjektive Sicht der Gesprächspartner � Reportage: Berichterstattung vor Ort, anschaulich schildernd, audiovisuelle Eindrücke und Stim-

mungen eingefangen � Kommentar/Rezension: subjektiv, meinungszentriert, Position des Autors/der Autorin � Analyse: sachlich/informativ, faktenzentriert, ausführlich dargestellte und recherchierte Hinter-

grundinformationen.

2. Welche der folgenden Textpassagen motiviert Sie am ehesten, den gesamten Beitrag zu lesen?* Begründen Sie Ihre Entscheidung.a) Der Islamische Staat rekrutiert minderjährige Kriegswaisen und bildet sie zu Kindersoldaten und

Selbstmordattentätern aus. Experten schätzen, dass rund 1.500 Jungen der Terrororganisation dienen …

b) Sayyid ist erst acht. Er läuft gebeugt, weil er die Last seiner Kalaschnikow kaum tragen kann. Zit-ternd zeigt er Fotos von seinen Eltern: »Sie wurden vor meinen Augen erschossen. Jetzt kämpfe ich für Gerechtigkeit.« …

c) Erst gibt’s Süßigkeiten, dann lernen sie das Töten: IS-Terrormilizen verschleppen systematisch Waisenkinder! Wie Sayyid (8) zum Gotteskrieger wurde …

4. Gibt es einen journalistischen Artikel, der Ihnen in besonderem Maße im Gedächtnis geblieben ist und Sie beeindruckt hat? Beispielsweise, weil der Sachverhalt sie verblüfft, geistig angeregt oder emotional bewegt hat, weil Sie Inhalte oder den Stil des Beitrags herausragend gut oder auch schlecht fanden oder weil er besonders unterhaltsam war? Schildern Sie kurz das Beispiel:

5. Beenden Sie den Satzanfang:a) Meiner Meinung nach ist der Journalismus in Deutschland …b) Journalistinnen und Journalisten sollten endlich aufhören …c) Von einer guten journalistischen Berichterstattung erwarte ich …

* Es handelt sich um für Unterrichtszwecke konstruierte Formulierungen, keine Medienzitate.

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Basis-Aufgaben

1. Hintergrundwissen zum Fall Relotius recherchierena) Im Herbst 2018 wurde aufgedeckt, dass der mehrfach ausgezeichnete Journalist Claas Relotius

seine Reportagen im großen Stil manipulierte. Er erfand Schauplätze, Gespräche, Details und bis-weilen ganze Geschichten, um seine Artikel interessanter zu gestalten. Recherchieren Sie weitere Hintergrundinformationen zum Fall, und halten Sie wichtige Aspekte schriftlich fest: Beispiele für Fälschungen, wie Relotius entlarvt wurde sowie bemerkenswerte Meinungen und/oder Schuldzu-schreibungen in der Berichterstattung.

b) Formulieren Sie zu diesem Thema einen eigenen Kommentar, der Ihre Sicht auf die Vorfälle zu-sammenfasst.

2. Das Textverständnis klären und Thesen des Autors erläutern Lesen Sie den Kommentar: »Die Welt als Reportage« von Thomas Assheuer.a) Legen Sie dar, warum der der Autor den Wunsch nach »Stimmigkeit« in Reportagen ablehnt. b) Erläutern Sie die Bedeutung folgender Textpassagen:

• »Schon seit längerer Zeit beobachten Kulturwissenschaftler einen Funktionswandel journalis-tischer Texte.« (Zeile 30).

• »(Relotius) erzeugte atmosphärische Räume und Erlebnis-Höhlen, die perfekt ins gefühlte Beuteschema der liberalen Öffentlichkeit passten.« (Zeile 37)

• »Gemessen an ihrem Erfolg, erfüllten die Geschichten, die Relotius narrativ eingespeichelt hatte, die Erwartungen von Redaktion, Lesern und Juroren vollkommen.« (Zeile 40)

• »Es ist eine Textsorte, die den Leser nicht als politisches Subjekt anspricht, sondern als einen existenziell Trostbedürftigen.« (Zeile 66)

• »In der Gesellschaft des Spektakels sind Medien die Agenten der Entpolitisierung.« (Zeile 90)

3. Rhetorik und Stilmittel des Artikels interpretieren.a) Der Autor verwendet ungewöhnliche Umschreibungen für die journalistische Arbeit von Claas

Relotius: statt »Manuskript/Text« oder »Artikel«/»Werk« heißt es beispielsweise »Textmanu-faktur« (Zeile 2), »journalistische Marke« (Zeile 3), »Ware« (Zeile 7, 22), »Warenanlieferung« , »Schöpfung« (Zeile 25) oder »Weltvereinfachungsprosa«, (Zeile 75). Erläutern Sie, welche Kritik der Autor an Claas Relotius und der Medienwelt durch diese Wort-wahl zum Ausdruck bringt.

b) Der Autor hat ebenso für Claas Relotius selbst anstelle seines Namens oder Begriffe wie »Autor« oder »Journalist« weitere prägnante Umschreibungen gewählt. Tragen Sie diese zusammen. Erklären Sie, was der Autor damit intendiert.

c) Suchen Sie im Text nach weiteren auffälligen Stilmitteln und rhetorischen Figuren (Alliteration, Parallelismus, Antagonismus/Antithese, Wortspiele etc.), und interpretieren Sie ihre Wirkung auf die Leserschaft und die Absicht des Autors.

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Weiterführende Aufgaben

4. Die Frage nach der Verantwortung beim Fall Relotius erörterna) Der Autor Thomas Assheuer bezieht sich in seinem Kommentar nicht allein auf Claas Relotius,

sondern kritisiert verschiedene Akteure des »Medienkapitalismus«: Journalistinnen und Journa-listen, Jurys von Journalistenpreisen, Leserinnen und Leser sowie Redaktionen und Medienverla-ge. Stellen Sie die Fehlentwicklungen bei den Akteuren der Medienwelt in Form einer MindMap aus Sicht des Autors dar. Erweitern Sie das Schaubild anschließend durch eigene Überlegungen, und besprechen Sie die einzelnen Punkte.

b) Erörtern Sie folgende Fragen nach der Verantwortlichkeit im Fall Relotius:• Handelt es sich lediglich um einen Einzelfall und eine individuelle Verfehlung?• Sind Relotius’ Fälschungen die Folge struktureller Missstände in der Medienwelt? • Führt der Leserwunsch nach literarisch anmutenden Erzählformen im Journalismus dazu,

dass die Autorinnen und Autoren unter Druck stehen, eher eine perfekte Geschichte als gut recherchierte Fakten zu liefern?

c) Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang folgendes Zitat: »Journalisten sind keine Literaten. Es geht um Relevanz und Information, nicht darum, den Leser in den Text hineinzuziehen. « Konstantin Richter, Die deutsche Reporterfreiheit, ZEIT ONLINE, 27. 12. 2018, https://www.zeit.de/kul-

tur/2018-12/amerikanischer-journalismus-claas-relotius-fakten-stil-recherche-betrug

5. Einen Relotius-Artikel analysierena) Lesen Sie einen Artikel von Claas Relotius, und nehmen Sie eine klassische Sachtextanalyse vor.

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf Mittel, die die Authentizität, Empathie und Spannungsmomente der Geschichte erhöhen. Beiträge von Claas Relotius auf ZEIT ONLINE*• Reportage aus einem italienischen Dorf, das Flüchtlingen eine Heimat bot (13. November

2012), https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-11/italien-dorf-riace-fluechtlinge-zuhause

• Reportage über ein Dorf für Demenzkranke in den Niederlanden (11. Oktober 2011), https://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/06/Demenz-Siedlung-Niederlande

• Beitrag über ein Hamburger Ehepaar, das sich entschlossen hat, ein Trisomie-21-Kind nicht abtreiben zu lassen, obwohl es bereits ein behindertes Kind hat (15. Juli 2011), https://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-07/down-syndrom-familie

• Interview mit dem Filmemacher Austin Lynch (11. März 2011), https://www.zeit.de/kultur/

film/2011-03/lynch-interview-project

• Eine Reportage von der Müllkippe Bordo Poniente in Mexiko (12. November 2010) https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-11/ueberleben-muellkippe-mexiko

* Für ZEIT ONLINE und ZEIT WISSEN hat Claas Relotius in der Zeit von 2010 bis 2012 als freier Autor ins-gesamt sechs Beiträge verfasst. Relotius’ Texte bleiben aus Transparenzgründen online. Diese werden nun auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Der Transparenz-Blog »Glashaus« dokumentiert den aktuellen Wissensstand.

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b) Bilden Sie Arbeitsgruppen. Markieren Sie in einem Artikel von Relotius Textstellen, die Ihnen intu-itiv falsch vorkommen. Vielleicht ist etwas zu typisch, zu erwartbar oder zu sehr ausgeschmückt? Erscheinen Ihnen Zusammenhänge seltsam konstruiert? Diskutieren Sie Ihre Verdachtsmomente. Die Redaktion von ZEIT ONLINE überprüft die Faktenlage der Beiträge von Claas Relotius. Hier können Sie anschließend nachlesen, welche Fehler und Unstimmigkeiten bisher gefunden wur-den. Gleichen Sie Ihre Vermutungen mit dem Faktenchek der Redaktion ab. Blog Glashaus, ZEIT ONLINE, https://blog.zeit.de/glashaus/2018/12/20/unser-wissensstand-zu-den-bei-

traegen-von-claas-relotius-auf-zeit-online-und-in-zeit-wissen

6. Eine Reportage schreibena) Reportagen gelten als Königsdisziplin des Journalismus. Sie sind deswegen so schwierig zu

schreiben, weil man als Autorin oder Autor leicht die Balance zwischen anschaulicher Schilde-rung und Faktenvermittlung sowie subjektiver Wahrnehmung und objektiver Informationsver-mittlung verlieren kann. Sind Reportagen zu nüchtern, gelingt es nicht, Schauplätze und Situa-tionen erfahrbar, lebendig und authentisch zu schildern. Sind sie zu atmosphärisch und subjektiv, besteht die Gefahr, statt einer Berichterstattung eine Fiktion zu schreiben. Recherchieren Sie, welche Merkmale eine gute Reportage als journalistische Darstellungsform aufweisen muss, was man beim Abfassen einer Reportage beachten muss und wie sie sich von einem Bericht, einer Analyse oder einem Kommentar abgrenzt. Erstellen Sie eine Checkliste.

b) Schreiben Sie eine Reportage. Wählen Sie das Thema frei. Am besten wäre eine lokale Veran-staltung in Ihrem Umfeld (Sport-/Schulfest, Jahrmarkt, Flohmarkt), die mehrere in Ihrer Klasse aufsuchen können, damit man später die unterschiedlichen Perspektiven vergleichen kann. Dokumentieren Sie auch den Entstehungsprozess Ihres Werkes: Wie und warum haben Sie sich für den gewählten Schwerpunkt entschieden? Was fiel Ihnen besonders schwer, was ging leicht? Besprechen Sie Ihre Texte anschließend gemeinsam. Arbeiten Sie an den Textbeispielen Merkma-le für gute journalistische Arbeit heraus.

7. Ein Fazit aus dem Fall Relotius ziehen Fassen Sie zusammen, welche Lehren Redaktionen, Jurys, die Leserschaft und Sie ganz persönlich aus der Beschäftigung mit diesem Fall ziehen können: • Was könnten Redaktionen beitragen, um sicherzustellen, dass die Fakten in den Beiträgen der

Journalistinnen und Journalisten wirklich stimmen?• Mit welcher Erwartungshaltung sollten Rezipienten, Jurys wie auch die Leserinnen und Leser an

gute journalistische Arbeit herangehen? Was können sie einfordern, wo müssen sie Abstriche in Kauf nehmen?

• Welche Konsequenzen hat die Debatte um den Relotius-Fall für Sie persönlich?

Erörtern Sie diese Fragen auch im Kontext der Lügenpresse-Vorwürfe gegen die Medien. Recherchieren Sie hierfür gegebenenfalls Thesen und Hintergründe.

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IMPRESSUMProjektleitung: Franziska Sachs, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Projektassistenz: Jannike Möller, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt

ZEIT ONLINE: Wir wären blind für die Welthttps://www.zeit.de/kultur/2018-12/reportagen-claas-relotius-spiegel-journalimus-standards-fakten-pruefung

ZEIT ONLINE: Claas Relotius: Alles steht kopf https://www.zeit.de/2019/01/claas-relotius-journalismus-spiegel-reporter-faelschung-artikel-konsequen-zen

ZEIT ONLINE: Medienjournalismus: Spiegel-Bild USA https://www.zeit.de/2019/01/medienjournalismus-claas-relotius-luegenreportage-auswirkungen-demo-kratie

ZEIT ONLINE: Die deutsche Reporterfreiheithttps://www.zeit.de/kultur/2018-12/amerikanischer-journalismus-claas-relotius-fakten-stil-recherche-betrug

Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Verschwörungstheorien – Lügenpressehttp://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/medienpaedagogik/272545/verschwoerungstheorie-lue-genpresse

Internetseiten zum Thema: Der Fall Relotius – Journalismus zwischen Fakt und Fiktion

Das kostenlose ZEIT-Angebot für Schulen Die Unterrichtsmaterialien für das Schuljahr 2018 / 19 »Medien verstehen« und »Schule, und was dann?« sowie DIE ZEIT für drei Wochen im Klassensatz können Sie kostenfrei bestellen. Alle Informationen unter: www.zeit.de/schulangebote