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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 275 Thermochemie des Selens. IIII) Die Urnwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen Von G. GATTOW und G. HEINRICH*) Mit 4 Abbildungen Inhaltsubersicht Die Warmeinhalte von glasigem, rotem amorphen und schwarzem amorphen Selen wurden mit Hilfe der ,,drop"-Methode zwischen -180" und + 100°C bestimmt und aus den Versuchsergebnissen die spezifischen Wlirmen und Entropien mit den entsprechenden allgemeinen Temperaturfunktionen ermittelt. Glasiges Selen besitzt neben dem sogenannten Glastransformationspunkt bei + 30" f 1°C zwei weitere endotherm reversible Umwandlungspunkte bei -145" f 2" und + 11" f 1 "C und geht > 75 "C exotherm irreversibel in die hexagonale Modifikation uber. Die Um- wandlungsenthalpien betragen : AH, = 40 f 20 cal/g-At. bei -145 "C, AH, = 30 & 20 cal/g-At. bei + 11 "C, AH, = 0 f 20 cal/g-At. bei + 30 "C. Das rote amorphe Selen durchltiuft zwei endotherm reversible Transformationen bei -134' f 2" und + 10" f 1°C mit AH, = 160 f 20 cal/g-At. bei -134"C, AH, = 60 & 20 cal/g-At. bei + 10 "C. Oberhalb + 30 "C geht es irreversibel in das schwarze amorphe Selen uber, das sich seinemeits > 80 "C irreversibel in die hexagonale Modifikation umwandelt. - Das schwarze amorphe Selen stellt keine eigene Selen-Modifikationdar. Die Umwandlungen der amorphen Selen-Arten werden unter Zugrundelegung thermo- dynamischer MeBergebnisse und strukturchemischer Uberlegungen diskutiert. Summary The thermodynamics of vitreous, red amorphous, and black amorphous selenium have been determined calorimetrically by the drop-method between 90" and 370°K. The heats of transformation were calculated (data see ,,Inhaltsiibersicht"). The transformations of these Se-modifications are discussed. 1) 11. Mitteilung: G. GATTOW u. G. HEINRICH, Z. anorg. itllg. Chem. 331,256 (1964), siehe 2) Teil der Staatsexamensarbeit G. HEINRICR, Gottingen 1963. auch Vortragsreferat: G. GATTOW, Angew. Chem. 75, 1110 (1963).

Thermochemie des Selens. III. Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 275

Thermochemie des Selens. IIII)

Die Urnwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen

Von G. GATTOW und G . HEINRICH*)

Mit 4 Abbildungen

Inhaltsubersicht Die Warmeinhalte von glasigem, rotem amorphen und schwarzem amorphen Selen

wurden mit Hilfe der ,,drop"-Methode zwischen -180" und + 100°C bestimmt und aus den Versuchsergebnissen die spezifischen Wlirmen und Entropien mit den entsprechenden allgemeinen Temperaturfunktionen ermittelt.

Glasiges Selen besitzt neben dem sogenannten Glastransformationspunkt bei + 30" f 1°C zwei weitere endotherm reversible Umwandlungspunkte bei -145" f 2" und + 11" f 1 "C und geht > 75 "C exotherm irreversibel in die hexagonale Modifikation uber. Die Um- wandlungsenthalpien betragen :

AH, = 40 f 20 cal/g-At. bei -145 "C, AH, = 30 & 20 cal/g-At. bei + 11 "C, AH, = 0 f 20 cal/g-At. bei + 30 "C.

Das rote amorphe Selen durchltiuft zwei endotherm reversible Transformationen bei -134' f 2" und + 10" f 1°C mit

AH, = 160 f 20 cal/g-At. bei -134"C, AH, = 60 & 20 cal/g-At. bei + 10 "C.

Oberhalb + 30 "C geht es irreversibel in das schwarze amorphe Selen uber, das sich seinemeits > 80 "C irreversibel in die hexagonale Modifikation umwandelt. - Das schwarze amorphe Selen stellt keine eigene Selen-Modifikation dar.

Die Umwandlungen der amorphen Selen-Arten werden unter Zugrundelegung thermo- dynamischer MeBergebnisse und strukturchemischer Uberlegungen diskutiert.

Summary The thermodynamics of vitreous, red amorphous, and black amorphous selenium have

been determined calorimetrically by the drop-method between 90" and 370°K. The heats of transformation were calculated (data see ,,Inhaltsiibersicht").

The transformations of these Se-modifications are discussed.

1) 11. Mitteilung: G. GATTOW u. G. HEINRICH, Z . anorg. itllg. Chem. 331,256 (1964), siehe

2) Teil der Staatsexamensarbeit G. HEINRICR, Gottingen 1963. auch Vortragsreferat: G. GATTOW, Angew. Chem. 75, 1110 (1963).

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276 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

Wahrend im 11. Teil l) unserer Untersuchungen iiber die Thermochemie des Selens 3, die Umwandlungen und thermodynamischen Daten der kri- stallinen Selen-Modifikationen behandelt wurden, sol1 in der vorliegenden Arbeit iiber die Transformationen und thermodynamischen KenngroBen der amorphen Selen-Arten berichtet werden.

Neben den Arbeiten von TAMMANN e t al.&)5) und ANDERSON~) an glasigem SeIen liegen keine moderneren Untersuchungen thermodynamischer Art vor (iiber altere Publikationen vgl.7)8)); von rotem bzw. schwarzem amorphen Selen sind bislang noch keine WLrmein- halte, spezifische Wiirmen usw. bestimmt wordens). - AlIgemein anerkannt ist die Tatsache, daB sich die amorphen Modifikationen beim Erhitzen irreversibel in hexagonales Selen um- wandeln7) 8). Mittels Differentialthermoanalyse konnte gezeigt werden, daB weitere Trans- formationen bei < 50°C (Beginn: 30 "C) stattfinden 9).

Zur exakten Festlegung der thermodynamischen Daten und zur Klarung der fiage, ob die nichtkristallinen Selen-Arten weiteren reversiblen, Um- wandlungen unterworfen sind, wurden die Warmeinhalte nach der ,,drop"- Methode zwischen -180" und+ 100 "C bestimmt und aus den Versuchser- gebnissen die spezifischen Warmen und Entropien errechnet.

Die Bestimmungsmethode der Warmeinhalte, der Aufbau und die Eichung des Calori- meters, sowie die Auswertung und Fehlerdiskussion der MeBwerte und die Berechnung der thermodynamischen KenngroBen sind bereits ausfiihrlich beschrieben wordenl) ; die Reini- gung des Selens erfolgte nach einem friiher mitgeteilten Verfahrenl).

I. Versuchsergebnisse 1. Thermodynamische Daten von glasigem Selen

Das als Ausgangssubstanz hergestellte, gereinigte Selen') wurde getrocknet und ge- schmolzen, die Schmelze in diinnem Strahl langsam in Eiswasser eingegossen und die er- haltenen Kiigelchen nach Abtrennung des Wassers und Vortrocknung mit Filtrierpapier solange im Vakuum iiber P,05 getrocknet, bis eine Probe beim Erhitzen auf 150°C keinen Gewichtsverlust mehr zeigte. Rontgenographische Untersuchungen ergaben, daIj das Selen in einer amorphen Form vorliegt ; Anteile an hexagonalem Selen konnten nicht nachgewie- sen werden.

3, Uber die Umwandlungswlrmen der Selen-Modifikationen siehe G. GATTOW, Z . anorg. allg. Chem. 317, 245 (1962); vgl. d a m auch A. SCHNEIDER u. G. GATTOW, Z. anorg. allg. Chem. 277, 37 (1954). Uber Dampfdruckmessungen an fliissigem Selen vgl. G. GATTOW u. A. SCHNEIDER, Angew. Chem. 71, 189 (1959).

4, G. TAMMANN u. A. KOHLHAAS, Z. anorg. allg. Chem. 182, 49 (1929). 5, G. TAMMANN u. H. ELSNER V. GRONOW, Z. anorg. allg. Chem. 192, 193 (1930). &) C. T. ANDERSON, J. Amer. chem. SOC. 59, 1036 (1937). ') GMELINS Handbuch der Anorganischen Chemie, Syst.-Nr. 10 (Se; Teil A), Wein-

8) NPhere Einzelheiten bei2) und in den folgenden Kapiteln. 9) G. GATTOW, Z. anorg. allg. Chem. 317, 245 (1962).

heim 1953.

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 277

Die Warmeinhalte von glasigem Selen wurden irn Temperaturbereich von -176 "C his + 93 "C bestimmtlo). Die Ergebnisse, die aus 58 Einzel- bestimmungen erhalten wurden, sind den Abb. 1 und 2 zu entnehmen11). Aus dem Verlauf der Warmeinhaltskurven ist ersichtlich, da13 glasiges Selen drei reversible Umwandlungspunkte bei -145 5 2 "C, + 11 f 1 "C und + 30 & 1 "C besitzt und > 75 "C in die hexagonale Modifikation iibergeht.

,'

20 +50 +?OO 'E loo 150 200 250 300 350 4oaTx1 Abb. 1. Warmeinhalte von glasigem Selen'z)

Abb. 2. Wiirmeinhalte von glasigem Selen12) im Bereich der Umwandlungstemperaturen (a) bei -145 "C; (b) bei

+ 11 "C und + 30 "C

Die Warmeinhalte LIH~'*~~ (in cal/g-At.), von glasigem Selen konnen durch folgende Temperaturfunktionen beschrieben werden (T in OK ; Genauigkeit :

10) Es wurde mit Einwaagen von 10,5 bis 18,5 g Se gearbeitet; der Anteil des glasigen

11) Aus riiumlichen Griinden konnten nicht alle MeBpunkte auf der Abbildung einge- Selens am ,,Gesamtwiirmeinhalt" betrug je nach Einwaage etwa 20 bis 50% (vgl.1)).

eeichnet werden.

Page 4: Thermochemie des Selens. III. Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen

2 78 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

& 20 d /g-At . ) 12) :

Von -180" bis -15OOC: AH? = -1840,8 + 6,635. T,

von -140" bis + 10°C: AH?' = -1765,2 + 3,916. T + 55,8. 10-4T2 + 279,6. l o 2 T-1,

von + SO" bis +30°C: d H y = 24732,O - 176,55 - T + 3140,6 . 10-4 T2,

von + 30" bis + 8OOC: dHT2 = 3091,8 - 27,244. T + 568,8. 10-4 T2.

Tabelle 1 S p e z i f i s c h e W a r m e n von g l a s i g e m Selen

Temperatur ("C)

-180 -S70

- 150 -160

-140 -S30 -120 -s10 -100 - 90 - 80 - 70 - 60 - 50 - 40

CP (cal/'g-At.)

6,34 6 3 4 6,73 6,93

4,06 4,23 4,4s 4,59 4,77 4,96 5,s5 5,35 5,54 5,74 5,93

Temperatur ("C)

- 30 - 20 -so 1 . 0

+I5 + 20 + 25 +30

+ 30 + 40 + 50 + 60

+ 80 +70

~

CP (cal/Og-At.)

6,13 6,33 6,53 6,74

4,20 5,98 8,69

54,94

6,97 8,41 9,54

10,39 10,97 11,32

Fur die spezifischen Wirmen C, (in call "g-At.), deren ausgeglichene Werte im 5"- und lO"-Intervall der Tab. 1 zu entnehmen sind, lassen sich folgende Gleichungen aufstellen (T in O K ; Genanigkeit : & 0,4 eal/"g-At.) l3) :

Von-180" bis--150°C: Cp = 4,53 + 0,0195. T,

von -140" bis

von + 15" bis + 30 "C: C, = 2939,5 - 20,56. T + 360.

von + 35" bis + SOT: C, = 273,9 - 0,36. T - 478,3 . 102 T-I.

Die Entropien ST (in cal/"g-At.) konnen unter Zugrundelegung einer extrapolierten Nullpunktsentropie von So = 5,2 j, 2 cal/"g-At. 14) in erster Kaherung durch die nachfol-

12) Fur 298,2 OK gleich ,,Null'' gesetzt (= Bezugspunkt); AH?' = H, - H29a,2. l3) Die allgemeinen Gleichungen der spezifischen Warmen bzw. Entropien wurden BUS

14) Von ANDERSON~) bzw. G u ~ z o w 15) wurde die Nullpunktsentropie von glasigem Selen

l5) I. GUTZOW, Z. phgsik. Chem. 221, 153 (1962).

& 0°C: Cp = 0,671 + 0,0212. T + 0,754. lo2 T-l,

TZ,

den C,- bzw. ST-Kurven abgeleitet (nahere Einzelheiten siehe l ) 2)).

zu 0,66 & 0,4 bzw. 0,78 cal/'g-At. abgeschatzt.

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 270

genden Be~iehungen'~) (T in OK; Genauigkeit : 2 cal/"g-At.) wiedergegeben werden:

Von 0" bis 120°K: ST = 0,06246. T - 0,814. T2 + 0,022 . T3,

von 128" bis 280°K: S, = 3,50 + 0,0261 ' T.

Fur das glasige Selen erhalt man als Standardwerte bei 25 "C :

c,

C, Szss,z = 11,5 & 2 cal/"g-At.

= 0,110 f 0,005 cal/"g

= 8,6, & 0,4 cal/"g-At.

I m Kurvenverlauf der Warmeinhalte des glasigen Selens (Abb. 1 und 2) erkennt man je einen Sprung bei - 145 & 2 "C und + 11 f 1 "C und einen Knick bei + 30 f 1 "C. Es handelt sich hierbei um endotherme reversible Obergange ; die entsprechenden Umwandlungsenthalpien betragenl6) :

AH, = 40 & 20 cal/g-At. bei -145 "C,

AH, = 30 & 20 cal/g-At. bei + 11 "C,

AH, = 0 & 20 cal/g-At. bei + 30 "C.

Oberhalb 75 "C knickt die Warmeinhaltskurve ab und naherbsich der fiir das hexagonale Selen l) aufgenommenen. Dieses entspricht der exothermen irreversiblen Transformation, die sich in den Differentialthermodiagram- men9) widerspiegelt. Die Enthalpie dieses Uberganges kann wegen der Irre- versibilitat des Vorganges (und der Relativwerte !) 12) nicht direkt aus den Warmeinhalten entnommen werden ; mit Hilfe calorirnetrischer Differenz- messungen konnte sie jedoch bei 25,O"C zu AH, = -1,3 & 0,4 kcal/g-At. ermittelt werdeng).

Ein Vergleich der neu bestimmten thermodynamischen KenngroBen mit den in der Literatur angegebenen Daten ist - wie bereits ausfiihrlich be- schriebenl) - schlecht moglich, da bei den friiheren Messungen4-') mit un- reinen Praparaten, die z. T. noch verunreinigt waren bzw. in undefiniertem Zustande vorlagen, gearbeitet wurde und auBerdem die MeBintervalle der einzelnen Autoren stark differierten bzw. relativ groB waren. Zusatzlich kann noch an der MeBmethodik friiherer Beobachter einige Kritik geubt werden (vgl. auch KELLEY 17), sowiel)).

Der bei + 30 f 1 "C gefundene, endotherm reversible Umwandlungs- punkt des glasigen Selens wird in der Literatur als Glastransformationspunlit,

~

le) Fur die Transformationen bei -145°C und +11"C errechnen sich die Umwand-

1 7 ) K. K. KELLEY, U. S. pep. Interior, Bur. Mines, Bull. 684 (1960). lungsentropien zu A S , = 0,31 & 0,15 cal/"g-At. und A S , = 0,11 f 0,07 cal/'g-At.

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280 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

Einfriertemperatur oder auch Erweichungspunkt bezeichnet la) und konnte mittels verschiedener physikalischer MeBgroSen bestatigt werden : z. B. Warmeleitfahigkeit 4)5)19)20)21): elektrische Leitfahigkeit 22)23), Dielektrizitats- konstanteZ2), spezifisches V o l ~ r n e n 4 ) ~ ~ ) , thermische Ausdehnung 24)25), iso- therme Volumenkontraktion26), Plastizitat 4) , Harte 27) und Differentialther- moanalyse ".

SHEPLEY und B E S T U L ~ ~ ) beschreiben eine merkliche Erhohung der Warmekapazitat beim Erhitzen iiber den Glastransformationspunkt T,. Nach unseren Messungen nimmt die WarmekapazitLt zwar zu, jedoch bei Temperaturen wenig oberhalb T, nur sehr geringfugig, um dann anschlieBend steiler anzusteigen. Auch konnten die Bemerkungen von ORTHMANN

beruhen, und von J E N C K E L ~ ~ ) *5), daB > T, die spezifische Warme hoher sei als < Tg30),

nicht bestiitigt werden. Dicht oberhalb von T, sinkt sie nach unseren Messungen stark ab; anschlieBend steigt sie zwar wieder, erreicht aber nicht mehr den kurz unterhalb von T, erhaltenen Wert. Der Angabe von TAMMANN und KOHLHAAS4), da13 sich das Anwachsen der spezifischen Wiirme nur auf dae Erweichungsintervall von 30" bis 42 "C beschrznkt, konnen wir ebenfalls nicht zustimmen.

und UEBERREITERl9), die aUf Messungen von BORELIUS e t a1.23) und TAMMANN et d 5 )

2. Thermodynamische Daten von rotem amorphen Selen Das als Ausgangsprodukt vorliegende, hochgereinigte Selenl) wurde in HNO, gelost,

die Losung eingedampft, uberschussige HNO, abgeraucht und das SeO, umsublimiert31). Nach Losen des SeO, in H,O und Ansauern mit HCl erfolgte die Reduktion des SeOi-

1s) Uber allgemeine Behandlungen des Glastransformationspunktes siehe z. B. A. EI- SENBERG, J. Polymer Sci., Par t B 1 , 1 7 7 (1963); J. physic. Chem. 67,1333 (1963); A. EISEN- BERG u. A. V. TOBOLSKY, J. Polymer Sci. 61, 483 (1962); A. V. TOBOLSHY, G. D. T. OWEN u. A. EISENBERG, J. Colloid Sci. 17, 717 (1962); B. WUNDERLICH, J. physic. Chem. 64, 1052 (1960); J. chem. Physics 37, 1203, 1207, 2429 (1962); siehe auch5)'9)20).

19) H. J. ORTHMANN u. K. UEBERREITER, Kolloid-Z. 147, 129 (1956); vgl. auch K. UEBERREITER, Kolloid-Z. 102, 272 (1943).

2") E. JENCKEL, Z. anorg. allg. Chem. 216, 349 (1934). 21) G. TAMMANN, Z. Elektrochem. angew. physik. Chem. 36, 665 (1930). 22) G. TAMMANN, Z. anorg. allg. Chem. 197, 1 (1931).

24) P. MONDAIN-MONVAL u. P. GALET, C. R. hebd. SBances Acad. Sci. 190, 121 (1930);

25) E. JENCEEL, Z. Elektrochem. angew. physik. Chem. 43, 796 (1937); Glastechn. Ber.

za) T. SEKIQUTI, Sci. Pap. Inst. physic. chem. Res. [Tokyo] 64, 281 (1960); 55, 148

27) G. TAMMANN u. R. KLEIN, Z. anorg. allg. Chem. 192, 161 (1930). 28) L. C. SHEPLEY u. A. B. BESTUL, J. chem. Physics 39, 680 (1963). 29) G . BORELIUS u. K. A. PAULSON, Ark. Mat., Astronomie Fysik Ser. A 33, Nr. 7

30) Das Ansteigen der spezifischen Warme wird durch das Freiwerden von Molekul-

31) NLhere Einzelheiten siehe beil).

R. MARC, Z. anorg. Chem. 48, 393 (1906).

P. MONDAIN-MONVAL, Ann. Chimie [ll] 3, 22 (19353.

16, 191 (1938); Kolloid-Z. 54, 268 (1938).

(1961); vgl. auch A. J. KOVACS, J. Polymer Sci. 30, 131 (1958).

(1946).

energien begrundet, die ihrerseits eine hohere Energie bewirken.

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 281

mittels Hydrazinhydratlosung unter standigem Riihren und Wasserkiihlung im Dunkeln. Es muBte streng darauf geachtet werden, daB die Temperatur der Losung 20 "C nicht iiber- stieg; die exotherme Reaktion war nach 24 Stunden beendetS1). Das abfiltrierte rote Selen w u d e unter Kiihlung sorg faltig gewaschen (Clk-frei!) und < 20 "C im Vakuum iiber P,O, im Dunkeln solange ge- trocknet, bis eine Probe beim Erhitzen auf 150 "C keinen Ge- wichtsverlust mehr ergab. - Rontgenaufnahmen bewiesen den amorphen Charakter. Das rote amorphe Selen mu13 im Dunkeln aufbewahrt werden, da es sich unter Bnderung der Struktur der AuBenschicht s2) in die schwarze amorphe Modi- fikation 9) 33) umwandelt.

Die Bestimmung der Warrneinhalte von rotem amorphen Selen erfolgte im Temperaturbereich von -168" bis + 89 0C34). Die Ergebnisse, die aus 90 Einzelbestimmungen erhalten wurden, sind in den Abb. 3 und 4 wieder- gegebenll). Aus dem Ver- lauf der Warmeinhalte folgt, da13 das rote amor- phe Selen zwei reversible Umwandlungspunkte bei -134*2'C und +10

7UO I50 ZbO 250 3 Abb. 3. Warmeinhalte von rotem SelenI2)

Abb. 4. Warmeinhalte von rotem amorphen Selen12) im Bereich der Umwandlungstemperatuen (a) bei -134 "C;

(b) bei + 10 "C und > 30 "C

f- 1 "C besitzt und > 30 "C eine irreversible Transformation durchlauft, ehe es in die hexagonale Modifikation ubergeht.

Durch folgende Temperaturfunktionen lassen sich die Wiirmeinhalte i l H ~ g s ~ 2 (in cal/g-At.) von rotem amorphen Selen beschreiben (T in OK; Ge-

52) Vgl. D. BLET-TALBOT, Publ. sci. techn. Ministere Air (France), Notes Techn., No.

35) A. SCHNEIDER u. G. GATTOW, 2. anorg. allg. Chem. 277,37 (1954). 34) Die Einwaagen betrugen 4,9 bis 5,4 g Se, der Anteil des roten amorphen Selens am

N. T. 106 (1962); zitiert nach Chem. Abstr. 67, 2972 (1962).

,,GesamtwLrmeinhalt" je nach Substanzmenge etwa 10 bis 30% (vg1.I)).

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282

nauigkeit : f 20 cal/g-At.) 12) :

Von-170" bis -14OOC: = -1560,8 + 3,5276. T,

yon -135" bis + 10 OC: AH?'' = 747,6 - 11,866 . T + 349,4 , 10-4 T2 - 955,7 . 10-2 T-1,

von + 10" bis + 29 OC: d e " = 13070,l- 97,475 . T + 1800.

Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

T2.

Fur die spezifischen Wkirmen C, (in cal/"g-At.), deren ausgeglichene Werte im 5"- und 10"-Interval1 der Tab. 2 zu entnehmen sind, gelt,en folgende Gleichungen (T in OK; Genauigkeit : i 0,4 cal/"g-At.) 13) :

Von -170" bis -14OOC: C, = 3,43,

von -130" bis

von + 15" bis

O'C: C, = -77,3 + 0,373. T - 4,78. T2 + 62,5. lo2 T-1,

+ 30 'C: C, = 9030,5 - 61,875. T + 1060. T2.

Tabelle 2 Spez i f i sche W a r m e n v o n r o t e m a m o r p h e n S e l e n

Temperatur ("C)

-170 - 160 -150 -140

-130 -120 -110 -100 - 90 - 80 - 70

CP (cal/"g-At.)

3,43 3,43 3,43 3,43

2,88 2,93 3,Ol 3,27 3,64 4,09 4,58

Temperatur ("C)

- 60 - 50 - 40 - 30 - 20 -10

+ 15 + 20 + 25 + 30

CP (cal/"g-At.)

5,11 5,65 6,19 6,72 7,22 7,70 8,14

6,08 7,11 9,71

19.58

Unter Verwendung einer extrapolierten Nullpunktsentropie von So = 6,O f 2 cal/"g-At. konnen die Entropien S, (in cal/"g-At.) in erster Naherung durch folgende Beziehungenls) wiedergegeben werden (T in O K ; Genauigkeit: f 2 cal/Og-At.):

Von 0" bis 130 O K : S, = 0,06246 . T - 0,814.

von 140" bis 280°K: ST = 5,G3 + 0,0041. T + 0,48.

Als Standardwerte ergeben sich fur das rote amorphe Selen bei 25 "C:

= 0,123 & 0,005 cal/"g

= 9,7, & 0,4 cal/"g-At.

T2 + 0,022 . T3,

T2.

cp

C, Szsa,2 = 12,5 f 2 cal/'g-At.

Aus den Abb. 3 und 4 ist ersichtlich. da13 die Warmeinhalte in ihrem Ver- lauf als Funktion der Teniperatur zwei 'Sprunge bei - 134 f 2 "C und

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 283

+ 10 f 1 "C aufweisen, die endothermen reversiblen Transformationen ent- sprechen ; die Umwandlungsenthalpien betragen 35) :

AH, = 160 f 20 cal/g-At. bei -134"C,

AH, = 60 f 20 cal/g-At. bei + 10 "C.

Oberhalb 30°C beginnen die MeBwerte stark zu streuen, obgleich die Zeiten fur die Gleichgewichtseinstellung stark erhoht wurden. Zwar lassen sich die Ergebnisse jeder ein- zelnen Probe reproduzieren, doch weichen sie zwischen den einzelnen MeSreihen stark von- einander ab, so daB eine exakte Festlegung der Teniperaturfunktionen der Warmeiuhalte, spezifischen Warmen und Entropien nicht moglich war. Ebenfalls andert sich > 30°C das Aussehen der Probe: das rote Selen wird unter sichtbarer Volumenabnahme (Schiittvolu- men) schwarz; die Substanz erscheint metallisch kristallin. Rontgenaufnahmen unter va- riablen Bedingungen ergaben, daB das schwarze Selen in einer amorphen Form vorliegt. Der Ubergang SerOt + Seschwars amorph ist irreversibel; die endotherme Umwandlungs- wiirme konnte mit Hilfe indirekter Methoden bei 25,O"C zu AHt = 0,l & 0,l kcallg-At. ermittelt werdeng) 36).

Auf eine mogliche Transformation bei etwa 30 "C weisen elektrische Untersuchungen yon LOCEENVITZ und R I B E ~ ~ ) sowie von GOMBAY e t aL3'3) und unter Umstanden auch opti- sche Messungenas) kin.

Im Gegensatz zu den differentialthermoanalytischen Ergebnissen 9 ,

konnte bei etwa 80 "C kein scharfer Ubergang in die hexagonale Modifikation gefunden werden 40). Die Warmeinhalte der einzelnen Proben nLhern sich mit starker Streuung den Werten fur das hexagonale Selen '). Hierbei war weder eine bestimmte Umwandlungstemperatur noch eine Gssetzmafligkeit in der Umwandlungszeit festzustellen. Mit Hilfe von Differenzmessungen konnten die exothermen Enthalpien der Umwandlungen Serot amorDh Sehex und Seschwarzamorph --f Sehex bei 25,O"C zu AH, = -3,l f 0,4 und - 3 , 2 & 0,5 kcallg-At. bestimmt werden 9)36).

35) Die entsprechenden Umwandlungsentropien errechnen sich zu AS, = 1,15 0,14 cal/"g-At. bei -134 "C und AS, = 0,21 f 0,07 cal/Og-At. bei + 10 "C.

36) Die Enthalpie der irreversiblen Umwandlung kann auch in diesern Falle nicht di- rekt aus den Warmeinhaltskurven abgelesen werden, da alle Warmeinhalte auf 25,O "C be- zogen und somit Relativwerte sind.

n) A. E. LOCKENVITZ u. K. H. RIBE, Bull. Amer. physic. SOC. 26, 12 (1951); Physic. Rev. [2] 85, 746 (1952); vgl. auch A. E. COWAN u. A. E.LOCKENVITZ, Physic. Rev. [2] 94, 809 (1954).

3&) L. GOMBAY, J. GYULAI, J. KISPETER u. J. LANC, Acta Univ. Szegediensis, Sect. Sci. natur. Acta chern. physics. 8, 30 (1962).

39) H. STECMANN, Naturwissenschaften 44, 108 (1957). 40) Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der Wiirmeinhaltsmessungen und den

differentialthermoanalytischen Untersuchungen 9) ergeben sich aus den bei der Differential- thermoanalyse vorliegenden Ungleichgewichten, die durch die vorgegebene zeitliche h d e - rung der Temperatur bedingt sind.

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2 84 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

11. Die Urnwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen Durch vorliegende Warmeinhaltsmessungen konnte gezeigt werden, dalJ

sowohl glasiges als auch rotes amorphes Selen neben dem bekannten Glas- transformationspunkt und der exotherm irreversiblen Transformation in die hexagonale Modifikation weitere endotherm reversible Umwandlungs- punkte besitzen. Es handelt sich unseres Wissens hierbei urn die ersten nach- gewiesenen Faille in der anorganischen Chemie, daB amorphe Modifikationen endotherm reversibel ineinander iibergehen konnen.

Eine Deutung der reversiblen Ubergange ist auf Grund des vorliegenden Untersuchungsmaterials sehr schwierig und ungewiJ3, obgleich die t,hermody- namischen MeIJergebnisse - mit Ausnahme der des schwarzen amorphen Selens - eindeutig reproduzierbar sind. Zusatzliche Erschwerung tritt noch durch die Tatsache ein, daB die Rontgenaufnahmen 1edigIich amorphe Beu- gungsbilder zeigen.

1. Umwandlungen des glasigen Selens Aus den experimentell bestimmten Warmeinhalten folgt (siehe Abb. 1

und a ) , daf3 das glasige Selen drei reversible Umwandlungspunkte bei - 145 f 2 "C, + 11 & 1 "C und + 30 & 1 "C besitzt und > 75 "C irreversibel in die hexagonale Modifikation iibergeht, die bei 221 1°C schmilztl). Rontgenaufnahmen bei - 160 "C, - 60 "C und + 20 "C zeigten keine h d e - rung des amorphen Charakters.

uber die Struktur des glasigen SeIens existieren unterschiedhhe Angaben : WIhrend RICHTER et al. 41) ein Nebeneinandervorliegen von See-Ringen, Schichtstruktur und Teilen eines ,,normalen" Selen-Gitters annehmen, ist nach KREBS und Mitarbeite~m~~) diese Selen-Art zu etwa 60 Gew.-% aus hochmolekularen (etwa Se,,,-Se,,,, nach KREBS 4 7 "") und zu etwa 40 Gew.-oh aus niedermolekularen Ringen (vorwiegend Se,) aufgebaut. Fur die letztere Annahme sprechen auch die Beobachtungen von BRIEQLEB~~) uber die Loslich- keit von glasigem Selen in Schwefelkohlenstoff.

Aus Elektronenbeugungsuntersuchungen an dunnen Schichten von glasi- gem Selen bei 20 "C und 70 "C leiten ANDRIEVSKII e t al. 45) ab, daB bei 20 "C

41) H. GRIMMINGER, H. GRUNER u. H. RICHTER, Naturwissenschaften 42, 256 (1955); H. RICHTER u. F. HERRE, Naturwissenschaften 44, 31 (1957); siehe auch H. RICHTER, Z. Naturforsch. 138, 32 (1958).

42) H. KREBS u. F. SCHULTZE-GEBHARDT, Acta crystallogr. [Copenhagen] 8,412 (1955); H. KREBS u. R. STEFFEN, Z. anorg. allg. Chem. 327, 224 (1964).

43) H. KREBS, Z. anorg. allg. Chem. 265, 156 (1951); vgl. auch H. KREBS, Z. Metall- kunde 40, 34 (1949); Z. Physik 125, 768 (1949); H. KREBS u. W. MORSCH, Z. anorg. allg. Chem. 263, 305 (1950).

44) G . BRIEGLEB, Z. physik. Chem., Abt. A 144, 321 (1929). 45) A. I. ANDRIEVSKII, I. D. NABITOVICH u. YA. V. VOLOSHCHUK, KpmTannorpa@m

[Kristallographie] UdSSR 6, 369 (1960); nach Soviet Phys. Crystallogr. 5, 349 (1960).

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G. GATTOW u. 0. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 285

Se-Ringe, bei 70°C jedoch Ketten von Selen vorliegen. ORTHMANN und UEBERREITER") schlieoen aus Messungen der Temperaturleitfahigkeit zwi- schen & 0 "C und + 50 "C, daB in glasigem Selen, das als anorganiache hoch- polymere Substanz aufzufassen ist, unterhalb der Einfriertemperatur von + 30 "C die schraubenformige K e t t e n m ~ l e k e l ~ ~ ) praktisch linear polarisierte transversale Schwingungen ausfuhrt. Oberhalb des Glastransformations- punktes ist eine amorphe polymere Substanz im Zustande einer ,,Fliissigkeit mit fixierter Struktur", weil die Einheiten der Kettenmolekeln zu Drill- schwingungen angeregt sind4'), woraus eine Verringerung der zwischenmole- kularen Kopplung resultiert . AnschlieBend sol1 dann eine thermische Depoly- merisation stattfinden.

Ubereinstimmend mit unseren fruheren Untersuch~ngen~) kann ange- nommen werden, daB am Glastransformationspunkt bei 30 "C eine Lockerung des Gesamtgefuges unter teilweiser Ringaufspaltung der hohermolekularen Ringe eintritt. Eirie vollstandige Aufspaltung der Ringe48) mit partieller Parallellagerung der Ketten ist nicht sehr wahrscheinlich, da die niedermole- kularen Ringe eine Umorientierung der Ketten erschweren, wenn nicht sogar verhindern. Hieraus erklart sich auch der relativ langsame Ubergang 40)

(exotherm irreversibel) bei > 75 "C in die hexagonale Modifikation. Die Energie, die bei der Orientierung und Verknupfung der Selen-Ketten frei wird62), wird anfanglich zur Aufsprengung der Selen-Ringe benotigt. Eine endgiiltige Kristallisation in das hexagonale Selen erfolgt erst dann, wenn alle Ringe aufgespalten sind. Hierdurch wird auch verstandlich, da13 die Umwandlung von der Temperatur und der Zeit, bzw. von der Aufheiz- geschwindigkeit bei den differentialthermoanalytischen Messungen ab- hangt 9).

46) H. J. ORTHMANN u. K. UEBERREITER~~) geben keine Auskunft dariiber, ob die

47) K. UEBERREITER u. S. NENS, Kolloid-Z. 123, 92 (1951). 4'3) Verschiedene Reagenzien erleichtern die Ringaufspaltung ( Alkalimetalle, Halogene'g),

TlS'J), Te, S usw.)) und katalysieren die Kristalli~ation~~), wLhrend andere (z. B. As, P) die Kristallisationsgeschwindigkeit hemmenq3). Der die Geschwindigkeit der Kristallisation bestimmende Schritt ist ein Dissoziationsvorgang und nicht eine Reaktion radikalartiger freier Enden43).

49) vgl. [Nachr. Akad. Wiss. Aserbaidshan SSR] 1957, 9; F. ECHART, Z. Naturforsch. 16b, 469 (1961); T. ARAHI, Bull. chem. SOC. Japan 36, 247 (1963).

50) z. B. H. P. HEMPEL, H. LAUCKNER u. H. THUMANN, Z. Naturforsch. 16a, 1402 (1961).

51) L. MOENKE-BLANHENBERU, Jenaer Jb. 1959, I, 211; dort auch weitere Literatur- hinweise.

52) Die Geschwindigkeit der Kristallisation iat in Richtung der c-Achse des hexagonalen Selens am groBten; G. BORELIUS, Ark. Fysik 1, 305 (1949). 20

Ketten freie Endgruppen besitzen oder lange, endgruppenfreie R i ~ ~ g e ~ ~ ) sind.

Z. B. M. I. ALIJEW, m3BeCTEIR AxaReMm HayK Acep6a&~xa€1c~o~ CCP

Z. anorg. all& Chemie. Bd. 331.

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2 86 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 331. 1964

Uber die reversiblen Ubergange bei den tieferen Temperaturen lassen sich keine end- giiltigen Aussagen machen. Aus der GroBe der Umwandlungsenthalpien und der Lage der Transformationspunkte kann wahrscheinlich gemacht werden, daB 5 - 145 "C Schwingun- gen in den hochmolekularen Selen-Ketten und 5 + 11 "C Ringschwingungen der Sea ein- frieren.

Das glasige Selen wird von verschiedenen Autoren (z. B. 7)41)42)43)53)) als ,,eingefrorene Schmelze" bezeichnet. Diese Benennung beruht im wesent- lichen auf den MeBergebnissen von KLEMM et al.53) und MONDAIN-MONVAL~~). Nach KLEMM et al. 53) fuhrt eine Extrapolation der Volumenkurve von ge- schmolzenem Selen auf das Volumen dep glasigen S e l e n ~ ~ ~ ) . Aus den Warme- inhaltsmessungen von MONDAIN-MONVAL 54) folgt , daI3 eine lineare Extra- polation der Werte des glasigen Selens direkt in die Warmeinhaltskurve des flussigen Selens einmiindet. Diese Extrapolation ist jedoch mit einiger Kritik behaftet, da von dem Autor54) lediglich zwei Messungen (bei 63 "C und 85 "C) mit der glasigen Modifikation durchgefiihrt wurden, von denen die bei 85 "C wegen bereits einsetzender Kristallisation mit Sicherheit nicht richtig ist 56).

Fuhrt man eine lineare Extrapolation der neu ermittelten Warmeinhalte in Richtung Schmelzpunkt durch. so erhalt man Werte, die bei der Schmelz- temperatur um etwa 300 cal/g-At. hoher als die des geschmolzenen Xelens sind. Diese 1inea.re Extrapolation hat jedoch wenig Wahrscheinlichkeit, da die der spezifischen Warmen sehr gut auf die entsprechende Kurve des flussi- gen Selens hinlauft. Daraus resultiert eine Zunahme der Steigung der Warme- inhaltskurve uber den linearen Extrapolationsbereich hinaus ; d. h. die tat- sachlichen Abweichungen werden um ein TTielfaches groBer. Aus den thermo- dynamischen Untersuchungen kann man somit folgern, dalj die Bezeichnung ,,eingefrorene Schmelze" fur das glasige Selen nicht ganz richtig ist.

Zu dem gleichen Ergebnis kommt man bei folgenden uberlegungen: I m heragonalen Selen liegen unendlich lange, schraubenformige Ketten vor, die beim Schmelzen auseinan- derbrechens?), wobei mit steigender Temperatur die Kehtenlange immer kurzer wird58) (2. B. Abnahme der Visko~itatd~)). Wird die Schmelze abgeschreckt, dann lagern sich die Bruchstucke - in Ubereinstimmung mit den Vorstellungen von K R E B S ~ ~ ) 43) 58) - so anein- ander, daD hochmolekulare Ringe (und vielleicht auch lange Ketten) entstehen; die Wahr- scheinlichkeit zur Bildung kleinerer Ringe ist relativ gering. Es ist zu erwarten, daS bei gleichen, extrem scharfen Abschreckbedingungen aber verschiedener Temperatur der Schmelze auch verschiedene Abschreckprodukte entstehen, die sich in den Warmeinhalten

53) W. KLEMM, H. SPITZER u. H. NIERMANN, Angew. Chem. 72, 985 (1960). 54) P. MONDAIN-MONVAL, Bull. SOC. chim. France [4] 39, 1349 (1926). 5 5 ) Vgl. auch '9. 5e) Wegen der bereits teilweise eingetretenen Umwandlung in die hexagonale Modifi-

57) I. N. STRANSKI, R. KAISCREW u. L. KRASTENOW, Z. Kristallogr., Mineralog., Pe-

5 8 ) H. KREBS, Angew. Chem. 50, 615 (1956); Z. Naturforsch. 12b, 795 (1957).

kation wurde ein zu kleiner Warmeinhalt bestimmt (vgl. Abb. 1).

trogr. 88, 329 (1934).

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G. GATTOW u. G. HEINRICH, Die Umwandlungen der amorphen Selen-Modifikationen 287

auf Grund ihrer variablen ,,Kettenlangen" unterscheiden miibten. Unsere thermodynami- schen Bestimmungen zeigten jedoch, da13 dieses nicht der Fall ist. Unabhangig von der Temperatur des fliissigen Selens waren die Messungen eindeutig reproduzierbar. Aus diesen Ergebnissen ist zu schlieBen, da13 das glasige Selen einen definierten, bis zu etwa 76 "C ther- modynamisch stabilen Atomaufbau hinsichtlich der Verteilung von hoher- und niedermole- kularen Ringen (und Ketten) besitzt59) und als eigene Selen-Art zu betrachten ist. Nur im weiteren Sinne kann das glasige Selen als ,,eingefrorene Schmelze" aufgefabt werden.

2. Urnwandlungen des roten amorphen Selens Im Kurvenverlauf der Warmeinhalte des roten amorphen Selens (siehe

Abb. 3 und 4) erkennt man zwei Spriinge bei - 134 & 2 "C und + 10 & 1 "C, die reversiblen Umwandlungen entsprechen. Oberhalb 30 "C findet eine irre- versible Transformation in das schwarze amorphe Selen statt ; anschlieDend tritt der ebenfalls irreversible Ubergang in die hexagonale Modifikation ein. Rontgenographische Untersuchungen bei - 160 "C, - 60 "C und - 20 "C bewicsen den amorphen Chrakater dieser Selen-Art.

LOCKENVITZ und R I B E ~ ~ ) beobachteten eine hde rung der dielektrischen Eigenschaften von rotem amorphen Selen oberhalb 25 "C und fiihrten diese auf eine Umwandlung in das monokline a-Selen zuriick. Dieser Ubergang ist nicht moglich, wie sich mit Hilfe von Ront- genaufnahmen zeigen laOt60). Ebenfalls konnte die von STEGMANN 39) beschriebene Trans- formation in ein ,,glasiges rotes" Selen bei etwa 50°C nicht bestiitigt werden (vgl.9)).

Der Umwandlungspunkt des roten amorphen Selens bei 30 "C tiegt bei der gleichen Temperatur wie der Glastransformationspunkt der glasigen Modifi- kation ; jedoch ist der erstere irreversibel, wahrend der letztere reversibel ist. Dieser Unterschied 1aDt sich mit Hilfe einer Diskussion uber den strukturel- len Aufbau erklaren: Bei dcr Darstellung des roten amorphen Selens aus waBriger Losung bei _< 20 "C (siehe Kapitel I 2 ) treten zunachst kleine :,Par- tikelchen" auf, die dann relativ langsam weiterwachsen. Es jst anzunehmen, da13 im roten amorphen Selen kiirzere Ketten, die zu Ringen geschlossen sein konnen, als im glasigen Selen neben Selen-Ringen (vermutlich Se,) el) vor- liegen. Oberhalb 30 "C findet eine sichtbare Volumenabnahme unter Farb- anderung 62) (rot --f metallisch schwarz) und Beibehaltung des amorphen Charakters statt. In Ubereinstimmung mit friiheren Untersu~hungen9)~~)

59) Zu den gleichen Ergebnissen kommt man auch, wenn man die Tatsache beriicksich- tigt, dab sich glasiges Selen iiber die Gasphase durch Kondensation auf gekiihlte Fliichen herstellen labt; vgl. z. B. die Strukturuntersuchungen von ANDRIEVSKII u. a.45).

60) A. E. LOCKENVITZ u. K. H. R I B E ~ ~ ) haben die Transformation von rotem amorphen in das schwarze amorphe Selen erfaBt.

61) Wegen der besseren Loslichkeit des roten amorphen Selens in CS, kann gefolgert werden, dab der niedermolekulare Ringanteil grober ist als in der glasigen Modifikation.

62) Die Farbe des roten amorphen Selens helllt sich beim Abkiihlen auf tiefe Tempera- turen reversibel auf : bei + 20 "C leuchtend rot, bei -150 "C hellrot bis orange. Eine Ab- stufung der Farbung bei - 134 "C ist nicht zu erkennen.

20* as) Vgl. a ~ c h * ~ ) und A. P. SAUNDERS, J. physic. Chem. 4, 423 (1900).

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und den an glasigem Selen gewonnenen MeBergebnissen kann gefolgert wer- den, daB 2 30 "C eine Lockerung des Gefiiges durch Ringschwingungen (reversibel) mit gleichzeitiger Parallellagerung der Ketten stattfindet. Die Parallellagerung der wesentlich kiirzeren Ketten ist verstandlicherweise irre- versibel ; ferner wird hierdurch auch die Farbanderung und die Volumenab- nahme erklart. Auch die Streuung der MeBwerte findet so eine zwangloee Deutung, denn die Ausrichtung geht sicherlich in ,,Stufen" vor sich. Wenn sich dann die geordneten Teilbereiche mit steigender Temperatur zu groBeren Verbanden zusammenschlieBen und die kleineren Ringe aufgespalten sind, ist der Ubergang zur hexagonalen Modifikation erreicht40). So zeigt z. B. eine auf 89 "C erhitzte Probe zwar einerseits deutlich die etwas unscharfen Re- flexe 64) des hexagonalen Selens, andererseits aber auch noch eine betracht- liche Loslichkeit in Schwefelkohlenstoff.

Aus diesem Zusammenhang konnen auch die bei tieferen Temperaturen auftretenden Umwandlungen erklart werden: Bei 5 -134 "C frieren vermutlich die Schwingungen in den hohermolekularen Ringen (oder Ketten) ein. Diese Ringe sind kleiner (SeKc500- 10oo)), die Schwingungsenergien und somit die Umwandlungsenthalpie (AH, = 160 20 cal/g-At.) groBer als die im glasigen Selen (Se500-looo42)43)); AHt = 40 f 20 cal/g-At.). Bei <_ $. 10 "C frieren Ringschwingungen (Se,) ein. Auffallig ist bei fast gleicher Ubergangstemperatur die weit groBere Umwandlungswarme (AH, = 60 f 20 cal/g-At.) gegenuber der des glasigen Selens (AH, = 30 f 20cal/g-At.). Dieser Befund erklart sich aus der Tatsache, daB der Se,-Ringanteil im roten amorphen Selen groBer ist als der in der glasigen Modifikation.

Aus den thermodynamischen Untersuchungen und den strukturellen Uberlegungen folgt, daB das schwarze amorphe Selen keine definierte Phase darstellt und somit nicht als eigene Modifikation zu bezeichnen ist. Das schwarze amorphe Selen stellt einen Ubergangstyp zwischen rotem amorphen und hexagonalem Selen dar.

Eine exakte Deutung der Umwandlungen der verschiedenen Selen-Arten ist mit Hilfe von Infrarotaufnahmen bei verschiedenen Temperaturen mog- lich. Entsprechende Untersuchungen und Warmeinhaltsmessungen von Selen, in dem die Ketten durch Zusatz von Fremdionen eine definierte GroBe erhalten, befinden sich in Vorbereitung.

Fur die Bereitstellung von Institutsmitteln danken wir sehr Herrn Professor Dr. 0. GLEMSER. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Fonds der Chemischen Indu- strie gilt unser Dank fur die groBzugige Unterstutzung unserer Arbeit.

64) H. KREBS, Fortschr. Mineralog. 26, 74 (1947); K. W. PLESSNER, Proc. physic. SOC., Sect. B 64, 671 (1951).

G o t t ingen , Anorganisch-chemisches Institut der Universitat . Bei der Redaktion eingegangen am 4. Dezember 1963.