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 Walter Benjamin:

Zur politisch-gesellschaftlichen Problematik 

 visueller Medien

Magister-Hausarbeit im Fach Politische Wissenschaft

Erstprüfer: Prof. Dr. Theo Stammen

Zweitprüfer: Prof. Dr. Hans-Peter Balmer

  Abgegeben von: Tobias Bevc

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis................................................................................2 

Zitierweise............................................................................................4 

I. Einleitung.........................................................................................5 

II. Ein Paradigmenwechsel: Die technische Reproduzierbarkeit vonKunstwerken.................................................................................. 12 

1. Original - Reproduktion.............................................................................................13 2. Die Aura und ihre Zertrümmerung .........................................................................15 3. Vom Kult- zum Austellungswert: Folgen technischer Reproduzierbarkeit......16 

4. Ist der Film Kunst? .....................................................................................................20 5. Geschichtliche Wendezeiten bedingen einen Wandel der Apperzeption..........24 

III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins ...............27 

1. Aura: Ein sonderbares Gespinst...............................................................................27 

1.1: Die Erfahrung der Aura durch das Subjekt........................................................................28  1.2. Auraerfahren als menschliches Handeln...............................................................................29  1.3. Einmaligkeit und Dauer: Das Paradox des erfüllten Augenblicks.......................................31 1.4. Aura und Mythos...............................................................................................................33 1.5. Verfall der Aura................................................................................................................37  

2. Benjamins Theorie der Erfahrung............................................................................41 

2.1. Erfahrungsarmut und Positives Barbarentum ......................................................................42  2.2. Erfahrungsverlust durch Information ...................................................................................44 2.3. Berlin - Paris – London: Die Menge und ihre Wahrnehmung..............................................54 2.4. Konkrete Unerfüllbarkeit und abstrakte Unendlichkeit .......................................................58  2.5. Mémoire involontaire...........................................................................................................60 2.6. Die Chockerfahrung als Erfahrungsmodus der Menschen in der Moderne .............................65  

2.6.1. Parallele Erscheinung der Chockerfahrung in der Industriearbeit ................................66  2.6.2. Chockerfahrung als Erfahrungsabwehr.......................................................................69  

2.7. Theorie des Eingedenkens - Erfahrung durch Allegorie ........................................................72  

IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins............................ 88 

1. Benjamins Kritik am Historismus ............................................................................89 

1.1. Der erste Stoß muß gegen die Idee der Universalgeschichte geführt werden..............................90 1.2. Exkurs: Der Fortschrittsglaube der Sozialdemokratie. Benjamins Kritik am.......................93 sozialdemokratischen Evolutionismus..........................................................................................93 1.3. Die zweite Position ist, die Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse ................................96  1.4. Die dritte Position stellt sich als die ‚Einfühlung in den Sieger ‘ dar ......................................96  

2. Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum .................................101 

2.1. Die „kopernikanische Wendung “ in der Geschichtsphilosophie...........................................104 

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Inhaltsverzeichnis

2.2. Erinnerung ist vor allem Erinnerung an die Tradition der Unterdrückten ..........................107  2.3. Der dialektischen Umschlag führt zum Tigersprung unter dem freiem Himmel ...................115  

 V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medienin Benjamins Gesellschaftstheorie ...............................................122 

1. Ausgangslage für die Interpretation des Films durch Benjamin.......................125 

2. Benjamins Begriff der Technik ...............................................................................129 

3. Tendenz ......................................................................................................................136 

3.1. Die Aufgabe des Intellektuellen – Die Besetzung des Bildraumes.......................................140 3.1.1. Operierender Schriftsteller...............................................................................................144 3.1.2. Routinier – revolutionärer Schriftsteller...........................................................................149  3.2. Das epische Theater – Benjamin und Brecht......................................................................154 3.2.1. Die Funktionsweise des epischen Theaters und sein Modellcharakter für den Film...........155  3.2.2. Erkenntnismöglichkeiten durch den Film........................................................................160 

 VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung...............................163 

1. Es gilt, die Selbst- und Klassenerkenntnis der Massen zu ermöglichen..........165  

2. Faschismus, Kapitalismus oder Revolution: Die Indienstnahme der Technik ..........................................................................................................................................173  

 VII. Literaturverzeichnis...................................................................181  

1. Primärliteratur............................................................................................................181 

2. Sekundärliteratur: ......................................................................................................184 

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Zitierweise

Zitierweise

Benjamins Schriften werden zitiert nach: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften in 7.

Bde., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am

Main 1991. = GS

Die römische/arabische Ziffer (z.B.: II.2) gibt den Band, die arabische Ziffer (z.B.: 683)

die Seitenzahl an. Bei häufig zitierten Schriften Benjamins verwende ich im Text

die folgenden Siglen: z.B.: Der Autor als Produzent, Seite 688 = (AAP: 688); bei

den Thesen Über den Begriff der Geschichte gebe ich zusätzlich die Nummer der The-

se an. Für die neunte These ergibt sich folgendes: (Thesen: IX, 697f.)

 AAP: Der Autor als Produzent , in: GS II.2, 683 – 701.

EA : Erfahrung und Armut , in: GS II.1, 219 – 231.

Einbahnstraße: Einbahnstraße , in: GS IV.1, 83 – 148.

EOS: Erwiderung an Oscar H. Schmitz, in: GS II.2, 751 – 755.

Fuchs: Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker, in: GS II.2, 465 – 505.

KR2: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zweite Fassung , in: GS

 VII.1, 350 – 384.

KR3: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Dritte Fassung , in: GSI.2, 471 – 508.

PSE: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: GS I.2, 511 - 604.

PW: Passagenwerk, in: GS V.1 und V.2.

Thesen: Über den Begriff der Geschichte , in: GS I.2, 691 – 704.

ÜMB: Über einige Motive bei Baudelaire , in: GS I.2, 605 - 653.

Ursprung: Ursprung des deutschen Trauerspiels , in: GS 1.1, 203 - 430.

WET: Was ist das epische Theater? (1), in: GS II.2, 519 - 531.

ZP: Zentralpark, in: GS I.2, 655 - 690.

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I. Einleitung 

dern, da sie jeweils gesellschaftlich bedingt sind. Anders ausgedrückt heißt das, daß die

Lebensbedingungen konstituierend für die Wahrnehmung der Menschen sind und von

deren Entwicklungsstand, d. h. der Produktionsmittel und Produktionsverhältnissen

abhängen, aber auch von dem zeitgleich mit dieser Entwicklung der neuen Techniken

stattfindenden Prozeß der Zusammenballung der Menschen in den Städten und deren

Proletarisierung. Diese Vorgänge kann man als Teil des Prozesses der Moderne be-

zeichnen, und ihnen sind die Wahrnehmungsstrukturen aus der Zeit vor diesem Prozess

nicht mehr angemessen.

 Walter Benjamin zeichnet in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen 

Reproduzierbarkeit nach, wie vor allem der Film von Kapitalismus und Faschismus in den

Dienst genommen wird. Beide versuchen, den Film jeweils für ihre Sache möglichst

dienstbar zu machen. Benjamin dagegen untersucht zuallererst die Folgen dieses neuen

Mediums und seine Zusammenhänge mit der Moderne, d. h. Verstädterung, Industriali-

sierung, Proletarisierung der Menschen und deren zunehmende Selbstentfremdung.

Nicht zuletzt untersucht er auch die Möglichkeit, die dieses neue Medium für die Be-

freiung der Menschen aus der Unterdrückung durch den Faschismus bzw. Kapitalismus

bietet. Er setzt am Ende des Kunstwerkaufsatzes der „Ästhetisierung der Politik“ durch

den Faschismus die „Politisierung der Kunst“ durch den Kommunismus entgegen

(KR2: 384).Ziel dieser Arbeit ist es, Walter Benjamins Einschätzung der visuellen Medien, also

Photographie und – vor allen Dingen – Film, dahingehend zu untersuchen, welche ge-

sellschaftlich-politischen Auswirkungen diese visuellen Medien haben können. Als Ben-

jamin seinen Kunstwerkaufsatz verfaßt hat, 1936, wurde der Film von den Faschisten in

Deutschland schon erheblich zu Propagandazwecken genutzt. Der Film diente im Fa-

schismus dazu, „ein Volk in seiner Willenskraft zu erziehen, lenken und zu stärken.“ 1 

Für den Faschismus wäre es nicht denkbar gewesen, am „Film vorbeizugehen“, denn

der „nationalsozialistische Staatsgedanke [...] schließe die totale politische Willensg e s t-

a l t u n g des deutschen Volkes in sich.“2 Aufgrund dessen, so dieser Zeitungsbericht,

sei es nach der Machtübernahme für die Nationalsozialisten unmöglich gewesen, sich

1 Joseph Goebbels zitiert in einem Bericht der BZ am Mittag  vom 11.3.1939. Zitiert nach: Joseph Wulf, Theater und Film im Dritten Reich, Reinbek bei Hamburg 1966, 320.

2 Bericht der BZ am Mittag vom 11.3.1939, ebd., 319f. Hervorhebung von mir.

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I. Einleitung 

nicht des Films zu bemächtigen. Diese Evaluation des Films durch den Nationalsozia-

lismus wurde bereits 1933 vorgenommen.3 

Die Bedingungen, unter denen Benjamin einen Teil seiner Erfahrungen mit dem

Film machen mußte, gilt es immer in seinen Einschätzungen über die Instrumentalisier-

barkeit der visuellen Medien mit zu berücksichtigen.

Die Vorgehensweise dieser Arbeit ergibt sich aus der im zweiten Kapitel Ein Paradig- 

menwechsel: Die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken  vorgenommen   Analyse von

Benjamins Kunstwerkaufsatz . Die aus dieser Analyse sich evozierenden, eingangs schon

angesprochenen Problemstellungen sind zum einem eine Begriffliche, nämlich die des

Begriffs der  Aura . Zum anderen erheben sich Fragen hinsichtlich Benjamins Theorie

der Erfahrung und Apperzeption, und daraus folgend die Frage nach seiner Geschichts-

philosophie. Diese Problemstellungen werden in Kapitel III. Rekonstruktion der Medienthe- 

orie Walter Benjamins behandelt. Bei der Aura handelt es sich um einen zentralen Begriff 

Benjamins, der in Zusammenhang mit echten Kunstwerken und menschlicher Erfah-

rung fällt. Denn die echten Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine Aura

haben. Technisch reproduzierte Kunstwerke besitzen keine Aura, d. h. mit ihrem Auf-

kommen verfällt sie. Welche Bedeutung die Aura in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht

hatte, und wie sie sich bemerkbar machte, geht aus Kapitel III.1.  Aura: Ein sonderbares 

Gespinst hervor. Wie Benjamin im Zusammenhang mit den neuen Medien darstellt, wur-den schon echte, auratische Kunstwerke nämlich im Namen von Kulten und der Kirche

instrumentalisiert. Gleichzeitig ist die Aura aber auch eine menschliche Erfahrung, die

dem Individuum zukommen kann, und die grundsätzlich an jeglichen Gegenständen

erfahrbar ist. Die Erfahrung von Aura ist an menschliches Handeln in kontemplativer

 Versunkenheit gebunden. Das bedingt ihren Zerfall in der Moderne mit ihren technisch

reproduzierten Kunstwerken, da diese definitionsgemäß immer in einer Vielzahl vor-

kommen und in der Menge und einem Zustand der Zerstreuung rezipiert werden.

Mit dem Verfall der Aura ist eine Möglichkeit von Erfahrung verlustig gegangen.

 Auch andere Formen der Erfahrung wie Tradition, Erzählung und Überlieferung ver-

schwinden in der Moderne durch das Aufkommen der Massenmedien und der Verdrän-

gung der Erfahrung durch Information. Dieser Vorgang und dessen Konsequenzen sind

 Thema des Kapitels III.2. Benjamins Theorie der Erfahrung . Zunächst werden die Gründe

und Konsequenzen des Verlusts der Erzählung und damit einhergehend des Verlusts

3 Ebd.

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I. Einleitung 

 von Erfahrung und Tradition erläutert. Ebenso wird Benjamins Kritik an der sie erset-

zenden Information dargestellt.

Die besondere Form der Wahrnehmung der Massen, wie sie damals erstmalig in Er-

scheinung getreten ist, wird anhand von drei Städtebeschreibungen deutlich gemacht.

Daraus und aus Benjamins Filmanalyse aus dem Kunstwerkaufsatz geht seine Konzeption

der Chockerfahrung hervor, die eine Form der Erfahrung ist, die dem alltäglichen Le-

bensumfeld der Großstadt, der Industriearbeit und des Freizeitvergnügens entspricht.

 Von besonderer Bedeutung zum Verständnis der Chockerfahrung ist aber Benjamins

 Verwendung der Proustschen mémoire involontaire . Diese ist bei Proust eine nur private

Erfahrung und erntet daher Benjamins Kritik, da er auf der Suche nach einem kollekti-

 ven Erfahrungsbegriff ist. Die mémoire volontaire Prousts entspricht allerdings der Cho-

ckerfahrung, die aber nur dem Erlebnis, also der einzigen Form der „Erfahrung“ in der

Moderne, gleicht und dementsprechend untauglich ist für Benjamins Suche nach einem

Modell für echte Erfahrung. Die Chockerfahrung ist, wie Benjamin letztendlich feststel-

len muß, wie auch die Industriearbeit, gegen Erfahrung abgedichtet. Daher kommt er zu

dem Schluß, daß die Chockerfahrung nur eine Erfahrungsabwehr ist, um die alltäglich

auf die Menschen in der Moderne einströmende Reizflut abzuwehren. Nachdem dieses

Modell für einen kollektiven Begriff der Erfahrung, der echte Erfahrung zuläßt, als ge-

scheitert gelten darf, wendet sich Benjamin dem Begriff der Allegorie und der Methodedes Eingedenkens zu. Erfahrung durch Eingedenken wird das Modell, dem Benjamin

zutraut, echte, kollektive Erfahrung der Menschheit in der Moderne zu ermöglichen.

Baudelaire ist für Benjamin der moderne Allegoriker. Die moderne Allegorie unter-

scheidet sich von der barocken dadurch, daß für erstere das Andenken die Schlüsselfigur

ist, für letztere die Leiche. Hauptmerkmal der allegorischen Anschauungsweise ist, daß

sie immer auf einer entwerteten Dingwelt aufbaut, so daß die kapitalistische Umwelt in

der Moderne keinen starken Einfluß mehr auf die Erfahrung haben kann. Dies wird sich

als bedeutend insofern herausstellen, als dieses Erfahrungsmodell für den Kapitalismus

nicht tauglich ist, stellt doch eine entwertete Dingwelt das System des Kapitalismus an

sich in Frage. Aber auch für den Faschismus ist ein solches Modell der Erfahrung nicht

zu instrumentalisieren, da es zum einen echte Erfahrung vermittelt und keine falsche

und konstruierte auf hanebüchenen Kulten und Traditionen beruhende Erfahrung zu-

lassen würde, zum anderen beruht es auf einer völlig anderen Geschichtskonzeption.

Das vierte Kapitel Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins dient dazu, die fehlende Lücke

in Benjamins Erfahrungstheorie zu schließen, sowie darzustellen, wie Benjamin sich

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I. Einleitung 

gegen andere Formen der Geschichtsschreibung wendet. Das macht Benjamins Beweg-

gründe deutlich, warum er ein dialektisches Erfahrungsmodell anderen vorzieht und wie

dies in der Praxis auszusehen hat. Der historische Materialist der Geschichtsthesen ist als

Pendant des revolutionären Intellektuellen, der im Bildraum aktiv ist, zu sehen. Da nicht

alle Menschen zu Allegorikern taugen ist es der historische Materialist, der hier eine

  vermittelnde Praxis anzutreten hat. Er muß das Zeitkontinuum aufsprengen und die

 verlorengegangene Erfahrung allen wieder ermöglichen bzw. eröffnen. An Benjamins

Kritik des Historismus ist deutlich abzulesen, daß dessen Geschichtsschreibung nicht

dazu geeignet ist, Erfahrung für die Massen herzustellen, da der Historismus immer eine

Einfühlung in den Sieger betreibt, die unzähligen anderen Geschichten, die Erfahrung 

erst ausmachen, aber in Vergessenheit geraten läßt. Die Sozialdemokratie und ihr Fort-

schrittsglaube werden gesondert behandelt. Das ist durch Benjamins beißende Kritik an

ihr gerechtfertigt, wirft er der Sozialdemokratie doch vor, daß sie durch ihren Fort-

schrittsglauben und Evolutionismus mitschuldig ist an der Katastrophe des Faschismus,

den Benjamin zur Zeit der Niederschrift der Geschichtsthesen in seinem ganzen Schrecken

miterleben mußte.

Hauptanliegen der Geschichtsphilosophie Benjamins ist es, der offiziellen Ge-

schichtsschreibung, d. h. der der jeweils Herrschenden, eine Geschichtsschreibung ge-

genüberzustellen, die die Vergangenheit, wie sie wirklich war, bewahrt, und somit denMenschen die Möglichkeit bietet, aus ihrer Entfremdung herauszutreten, um durch ei-

gene Einsicht den dialektischen Sprung unter dem freiem Himmel der Geschichte anzu-

treten.

Die visuellen Medien, von denen in dem Titel dieser Arbeit die Rede ist, werden

schließlich im fünften Kapitel Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien in 

Benjamins Gesellschaftstheorie auf ihre Möglichkeiten zur Umsetzung von Benjamins Vor-

stellungen hin untersucht. Das geschieht erst am Ende dieser Arbeit, da die Fragestel-

lung ohne die vorangegangenen Erläuterungen nicht sinnvoll zu beantworten gewesen

 wäre. Spannend ist die Frage, ob und inwieweit vor allem der Film noch den Ansprü-

chen genügt, die Benjamin ihm im Kunstwerkaufsatz zugesprochen hat. Im Kunstwerk-

aufsatz, also als Benjamin noch das Modell der Chockerfahrung als das für die Moderne

entsprechende gehalten hat, ist für ihn das Filmpublikum grundsätzlich ein kritisches,

bedingt durch die Form des Films und die Rezeptionsbedingungen. Später verwirft er

diese Ansicht jedoch, so daß die Frage nach den Möglichkeiten des Film sich neu stellt.

Grundsätzlich wird sich feststellen lassen, daß die Frage nach den visuellen Medien zu

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I. Einleitung 

einer Frage der technisch am weitesten fortgeschrittenen Medien wird. Benjamin ist der

 Ansicht, daß Intellektuelle, die revolutionär wirken wollen, also die Arbeiterklasse aus

ihrer Selbstentfremdung befreien wollen, stets eine Frage der richtigen Indienstnahme

der Massenmedien voraussetzt, wobei der Film zu seiner Zeit die neueste technische

Errungenschaft darstellt. Auch in diesem Kapitel steht wiederum die Problematik im

 Vordergrund, wie im Gegensatz zu der Indienstnahme der jeweils neuesten Techniken

durch Kapitalismus und Faschismus die Techniken in den Dienst der unterdrückten

Klasse zu stellen Sind. Nachdem die vorangegangenen Kapitel schon beantwortet ha-

ben, worauf es letztendendlich ankommt in der Frage nach dem, was man der Arbeiter-

klasse vermitteln muß, so legt dieses Kapitel besonderen Wert auf die Aufgabe der revo-

lutionären Intellektuellen, wie diese vorgehen müssen, und worauf sie bei diesem Vor-

gehen zu achten haben.

 Vor allem beruft sich Benjamin in seiner Bewertung des Films auf Brechts episches

 Theater, das schon viele Filmtechniken wie Schnitt, Montage und Wiederholung vor-

 weggenommen hat und die Benjamin als wichtigen Bestandteil der Aufgabe sieht, die

 Apperzeptionsstrukturen der proletarischen Massen anzusprechen. Wesentlich in die-

sem Kontext ist grundsätzlich, egal welches Medium von den revolutionären Intellektu-

ellen verwendet wird, die prinzipielle Beachtung der Verschmelzung von Produzenten

und Rezipienten, was Benjamin in der sowjetrussischen Produktion von Zeitungen,Zeitschriften und Filmen schon gewährleistet sieht. Denn es ist dieses Merkmal, wo-

durch eine demokratische Verwendung der Medien deutlich wird. Demokratisch ist

auch das Stichwort für Benjamins Technikbegriff. Es gibt zwei Techniken, die vor allem

ein unterschiedliches Verhältnis der Mensch – Technik Beziehung auszeichnet. Wäh-

rend die erste auf eine Beherrschung des Menschen durch die Technik abzielt, hat es die

zweite auf ein Zusammenspiel beider abgesehen. Anhand der Technik eines Werks wird

dessen gesellschaftlich-praktische Funktion deutlich. Die Knechtung der Menschheit

durch die Filmkamera, durch ihre Vergewaltigung im Faschismus bzw. durch ihre In-

dienstnahme durch Kapitalinteressen, wird der Befreiung der Menschheit durch die

Filmkamera erst dann Platz machen, „wenn die Verfassung der Menschheit sich den

neuen Produktivkräften angepaßt haben wird, welche die zweite Technik erschlossen

hat.“ (KR2: 360).

Um ein vollständiges Bild von Benjamins Einschätzung der visuellen Medien auf ihre

gesellschaftlich-politischen Auwirkungen hin zu untersuchen ist es also notwendig, von

dem einem, mit dem Themenkomplex der visuellen Medien sich beschäftigenden Auf-

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I. Einleitung 

satz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit , auszugehen, um dann

alle in diesem Aufsatz angesprochenen Problemstellungen, die sich mit dem Themen-

komplex visuelle Medien ergeben, im einzelnen zu untersuchen. Erst nachdem diese

Problemstellungen aufgelöst sind, läßt sich die eigentliche Frage nach den gesellschaft-

lich-politischen Auwirkungen der visuellen Medien sinnvoll beantworten. Somit ist der

letzte Teil des fünten Kapitels Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien in 

Benjamins Gesellschaftstheorie, V.3. Tendenz als Summe der Ergebnisse der vorangegangenen

Kapitel zu sehen, die die Intellektuellen, die im Sinne Benjamins Philosophie gesell-

schaftlich handeln wollen, zu inkorporieren haben.

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II: Ein Paradigmenwechsel

II. Ein Paradigmenwechsel: Die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken

Der wohl bekannteste Aufsatz Walter Benjamins, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni- 

schen Reproduzierbarkeit , bietet eine Reihe von Überlegungen zum Verhältnis von visueller

Kommunikation und Politik, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen. Diese

Überlegungen „verankern die Geschichte der Kunst im neunzehnten Jahrhundert in der

Erkenntnis ihrer gegenwärtig von uns erlebten Situation.“4 Mit dieser Situation meint

Benjamin den Faschismus, der sich zur Zeit der Entstehung des Kunstwerkaufsatzes im

dritten Jahr nach seiner Machtergreifung befindet. Auf diese gesellschaftlich-politischen

Rahmenbedingungen reagierend, formuliert Benjamin zu Beginn seines Aufsatzes die

 Anforderungen, denen die Thesen, die er entwickeln will, genügen müssen. Er stellt fest,

daß die Umwälzung des Überbaus - bedingt durch die kapitalistische Produktionsweise -

mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht hat, „um auf allen Kulturgebieten die Verän-

derungen der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen.“ (KR2: 350). Um sei-

nen Ausführungen „Kampfwert“ zu geben, müssen sie gewisse prognostische Forde-

rungen erfüllen. Deswegen reiche es nicht, wenn sie von der Kunst des Proletariats nach

der Machtergreifung handeln. Sie sollen vielmehr „über die Entwicklungstendenzen der

Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“ aufklären (KR2: 350). Da derFaschismus sich einer Vielzahl von Begriffen aus dem Bereich der Kunst bedient - wie

z. B. Schöpfertum und Genialität - sind diese weiterhin nicht mehr zu gebrauchen.

„Die im folgenden neu in die Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheidensich von geläufigeren dadurch, daß sie für die Zwecke des Faschismus vollkom-men unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forde-rungen in der Kunstpolitik brauchbar.“ (KR2: 350).

 Anders formuliert heißt das, daß die Kunsttheorie gegen den Faschismus „imprägniert“

 werden soll, indem neue terminologische Werkzeuge entwickelt werden.

Da das Kunstwerk bereits seit den Anfängen der menschlichen Verfertigung von Arte-

fakten den Gesetzen der Reproduzierbarkeit unterworfen war, beschreibt Benjamin die

Genese des Films aus der Photographie, um die spezielle historisch-soziologische Kon-

4 So Benjamin in einem Brief vom 23. Oktober 1935 an Gershom Scholem, in: Gershom Scholemund Theodor W. Adorno (Hg.), Walter Benjamin. Briefe, 2 Bde., Frankfurt am Main 1966, 695. Im

folgenden zitiert als: Briefe, Seitenzahl.

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II: Ein Paradigmenwechsel

textualität und technische Differenz dieser neuen Entwicklung besser verständlich zu

machen. Prinzipiell jedoch gilt, daß das „Kunstwerk grundsätzlich schon immer repro-

duzierbar gewesen“ ist (KR2: 351).

1. Original - Reproduktion

Die Beschreibung der Genese der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken

fällt sehr kurz aus, hat sie doch auch nur den Zweck, das Besondere und Revolutionäre

an der Erfindung der Photographie hervorzuheben. Die Erfindung der Photographie ist

es, die zum ersten Mal „die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion (...) von den wich-

tigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet.“ (KR2: 351). Diese kommen nun dem

 Auge allein zu, d. h. es ist das durch das Objektiv blickende Auge, das bestimmt, was auf 

dem entstehenden Bild zu sehen sein wird. Die Hand hat nur noch die Aufgabe, mit

einem Tastendruck alles vom Auge Erfaßte auf einmal festzuhalten. Der Augenblick 

bekommt von dem Apparat - ausgelöst durch einen Fingerdruck - einen „posthumen

Chock.“ (ÜMB: 630, vgl. KR3: 474f.). Demzufolge, so Benjamin, wird der Prozeß der

künstlerischen Produktion enorm beschleunigt, nicht nur, weil „das Auge schneller er-

faßt, als die Hand zeichnet“, sondern gerade, weil es mit dem „Sprechen mithalten“

kann (KR2: 351). Benjamin wagt gar eine Prognose über das in der Photographie Ver-

borgene: in ihr ist virtuell der Tonfilm enthalten (KR2: 351).5 

Diese kurz skizzierte qualitative Veränderung der Möglichkeiten der technischen Re-

produzierbarkeit bleibt nicht ohne Folgen für Kunst und Gesellschaft:

„Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard er-reicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zuihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu un-

terwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Ver-fahrungsweisen eroberte. Für das Studium dieses Standards ist nichts aufschluß-reicher, als wie seine beiden verschiedenen Manifestationen – Reproduktion desKunstwerks und Filmkunst – auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt zu-rückwirken.“ (KR2: 351f.).

Mit „Reproduktion des Kunstwerks“ ist hier die Photographie gemeint, spricht Benja-

5 Eigentlich müßte es „retrospektive Prognose“ heißen, gab es doch schon den Tonfilm, als Benja-

min den Kunstwerkaufsatz schrieb.

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II: Ein Paradigmenwechsel

min doch von einem Standard um „neunzehnhundert“. Nicht gemeint sind die unzähli-

gen anderen Verfahren der Reproduktion, die es seit der Erfindung der Prägung in der

  Antike gibt (KR3: 474). Diese sind keine „reflexiven Reproduktionen“, es sind aus-

schließlich Vervielfältigungstechniken eines Originals, im Gegensatz zur Photographie.

Die Photographie kann dagegen Kunstwerke sich zum Objekt machen, d. h. sie ist eine

„reflexive Reproduktion“.

Mit der Einführung des Begriffs der Reproduktion werden weitere Begriffe notwen-

dig. Die Begriffe der „Echtheit“ und der „Aura“ werden eingeführt.6

Beide sind eng 

miteinander verbunden. Der Begriff der „Echtheit“ eines Originals ist an dessen „Hier

und Jetzt“ gekoppelt. Auf ihm liegt „die Vorstellung einer Tradition, welche dieses Ob-

jekt bis auf den heutigen Tag als ein Selbes und Identisches weitergeleitet hat“, begrün-

det (KR2: 352). Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der Reproduzierbarkeit.

 An diesem Punkt unterscheidet Benjamin nun zwischen manueller und technischer Re-

produktion. Während die manuelle Reproduktion nicht die Echtheit eines Kunstwerkes

angreift, das Kunstwerk also seine Autorität bewahrt, verliert das Kunstwerk im Falle

der technischen Reproduktion seine Echtheit. „Der Grund ist ein doppelter. Erstens

erweist sich die technische Reproduktion dem Original gegenüber als selbständiger als

die manuelle.“ (KR2: 352). Dies rührt daher, daß z.B. die Photographie Ansichten des

Originals durch dem Auge nicht zugängliche Perspektiven und Vergrößerungen hervor-zuheben imstande ist, die der „natürlichen Optik“ sich schlichtweg entziehen. Der zwei-

te Grund ist, daß die technische Reproduktion das Original in Situationen versetzen

kann, die ihm selbst nicht erreichbar sind (KR2: 352f.).7 Dadurch wird der empfindlichs-

te Kern des Kunstwerks berührt, eben seine Echtheit (KR2: 353). Die Echtheit einer

Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen

Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft, d. h. sie ist das „Hier und Jetzt“ der

Überlieferung. In der Reproduktion entfällt das Tradierbare, da sich der Gegenstand

dem Menschen entzogen hat. Somit gerät auch die „geschichtliche Zeugenschaft“ des

Kunstwerks ins Wanken, d. h. die „Autorität der Sache“, „ihr traditionelles Gewicht“.

6 Vgl. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: GS II.1, 368 – 385, 378. Der Beg-riff der Aura wird in Zusammenhang mit der Reproduktion schon im Photographieaufsatz einge-führt. Hier hält Benjamin plötzlich in seinen Überlegungen inne, um zu fragen: „Was ist eigentlich Aura?“ Dann folgt eine fast wortgleiche Beschreibung wie im Kunstwerkaufsatz . Vgl. Kapitel II.2: Aura und III.1: Aura.

7 Nur um ein Beispiel zu nennen: Die Aufnahme einer Symphonie auf einer Schallplatte. Somit hat

das ganze Symphonieorchester in einem Zimmer Platz.

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II: Ein Paradigmenwechsel

Zusammengefaßt heißt dies: Was mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst-

 werks verkümmert, ist seine Aura (KR2: 353). Benjamin macht jedoch eine Ausnahme,

nämlich die der frühen Potraitphotographie, aus ihr winkt die Aura zum letzten

Mal (KR2: 360).8

 

Benjamin ist der Auffassung, daß die Reproduktionstechnik das Reproduzierte aus

dem Bereich der Tradition ablöst und an die Stelle des einmaligen Kunstwerks das mas-

senweise Vorkommende setzt. Das Reproduzierte wird dadurch aktualisiert, daß die

Reproduktionstechnik der Reproduktion erlaubt, dem Rezipienten in seiner jeweiligen

Situation entgegenzukommen. „Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Er-

schütterung des Tradierten - einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der

gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist.“ (KR2: 353) Beide, so Benja-

mins Behauptung, stehen aufs Engste mit den Massenbewegungen der damaligen Zeit

in Zusammenhang. Der Film ist der macht- und bedeutungsvollste Träger dieser Bewe-

gungen und „nicht ohne seine destruktive Seite“ denkbar: „Die Liquidierung des Tradi-

tionswertes am Kulturerbe.“ (KR2: 354).

Da sich, so Benjamin, innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume mit der Daseins-

 weise auch die Wahrnehmung der menschlichen Kollektiva verändert und sowohl die

 Art und Weise dieser Wahrnehmung als auch ihr Medium menschlich und geschichtlich

bedingt sind, lassen sich die gesellschaftlichen Umwälzungen zeigen, die in

„dieser Veränderung der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden. [...] Und wenndie Veränderung im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind,sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftlicheBedingungen aufzeigen.“ (KR2: 354).

2. Die Aura und ihre Zertrümmerung

Einmal Aura als Begriff eingeführt, definiert ihn Benjamin sogleich.9 Sie ist ein „sonder-

bares Gespinst aus Raum und Zeit“, eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah

sie sein mag.“ (KR2: 355). Es werden somit bereits zwei Dimensionen der Aura deut-

lich: die der Zeit und die der Räumlichkeit. Weiter heißt es über die Aura:

8 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: GS II.1, 368 – 385, 376.

9 Vgl. Kapitel III.1. Aura.

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II: Ein Paradigmenwechsel

„Die Einzigkeit eines Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zu-

sammenhang der Tradition“, stellt Benjamin fest und behauptet zugleich, daß dies etwas

Lebendiges sei, wie er anhand einer antiken Venusstatue deutlich macht. War diese bei

den Griechen ein Gegenstand des Kults, so erblickten mittelalterliche Kleriker „einen

unheilvollen Abgott“ in ihr (KR2: 355). Dennoch trat beiden in gleicher Weise ihre Ein-

zigartigkeit entgegen: ihre Aura (KR2: 356). Der einzigartige Wert des „echten“ Kunst-

 werks hat seine Fundierung immer im Ritual. Dies beschreibt Benjamin wie folgt:

„Die ursprüngliche Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, imDienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Esist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des

Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst.“ (KR2: 356).Selbst nach dem Eintreten der Kunst in den „profanen Schönheitsdienst“, wie es in der

Renaissance geschah, ist das Kunstwerk noch als „säkularisiertes Ritual“ erkennbar. Erst

das Aufkommen der Photographie läßt diese Fundierung ins Wanken geraten. Die Pho-

tographie ist das erste „wirklich revolutionäre Reproduktionsmittel“, das „gleichzeitig 

mit dem Anbruch des Sozialismus“ die Kunst das Nahen einer Krise spüren läßt. Diese

reagiert mit dem l’art pour l’art, die Benjamin als eine Art „Theologie der Kunst“ be-

zeichnet, die wiederum die Idee der „reinen Kunst“ zur Folge hat, „die nicht nur jede

soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vor-

  wurf ablehnt.“ (KR2: 356). Diese Zusammenhänge bereiten eine entscheidende Er-

kenntnis vor: Durch die technische Reproduzierbarkeit emanzipiert sich das Kunstwerk 

erstmals in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual (KR2: 356);

autonome Kunst wird somit erstmals möglich.

Da aber das technisch reproduzierbare Kunstwerk immer mehr eine Reproduktion

eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks ist, macht die Frage nach dem

Echten keinen Sinn mehr. Dieser Augenblick, an dem der Maßstab der Echtheit versagt,

markiert den Punkt, der die gesamte soziale Funktion der Kunst umwälzt. An die Stelle

des Rituals tritt eine andere Fundierung, die Fundierung der Kunst auf Poli-

tik (KR2: 357). Die religiösen und magischen Gebilde, die im Dienst des Rituals stehen,

haben ihre Bedeutung einzig darin, „daß sie vorhanden sind, nicht aber, daß sie gesehen

 werden.“ (KR2: 358). Benjamin verdeutlicht dies an Götterfiguren, die nur dem Priester

zugänglich sind, und Madonnenbildern, die fast das ganze Jahr über verhangen sind.

Erst mit der Emanzipation einzelner Kunstwerke von dem Ritual wächst die Gelegen-

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II: Ein Paradigmenwechsel

heit zu ihrer Ausstellung. Vor allem die Reproduktion der Kunstwerke läßt ihre Aus-

stellbarkeit so stark wachsen,

„daß die quantitative Verschiebung zwischen seinen beiden Polen ähnlich wie in

der Urzeit in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt. Wie nämlich inder Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwertlag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das abso-lute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganzneuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenigesich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.“ (KR2: 358).

Zu dieser Erkenntnis gibt uns der Film die brauchbarste Handhabe, meint Benjamin.

Die Kunst im Dienste der Magie, die nach den Erfordernissen der Gesellschaft abgebil-

det wurde, bediente sich der Techniken, die „nur erst verschmolzen mit dem Ritual exis-

tierten.“ (KR2: 359) Benjamin nennt diese Techniken, die „erste Technik“. Sie ist im

Kontext magischer Prozeduren und kultischer Rituale entstanden.  Im Unterschied zur

maschinellen Technik war diese primitiv, doch kommt es auf einen anderen, den ten-

denziellen Unterschied zwischen maschineller Technik und primitiver Technik an. Letz-

tere hat ihre Großtat im Menschenopfer, für sie gilt das „ein für allemal“, das „Niewie-

dergutzumachende“. Für die maschinelle Technik gilt das „einmal ist keinmal“, denn sie

hat es „mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanord-nung zu tun.“ (KR2: 359). Der Ursprung der „zweiten Technik“, also der maschinellen,

liegt im Spiel. Auch zielt sie nicht, wie die erste, auf Naturbeherrschung. Vielmehr rich-

tet sie sich „auf ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Mensch-

heit.“ (KR2: 359). Sie soll das „Schema der Naturbeherrschung transzendieren.“ (Lind-

ner 1992: 231). Die Funktion des Films ist es, die Einübung des Zusammenspiels der

 Apperzeption und Reaktion zu üben, die durch den Umgang mit einer Apparatur be-

dingt ist, deren Rolle im Leben der Menschen fast täglich zunimmt. Auch wird dieseÜbung an der Apparatur den Menschen lehren, „daß die Knechtung in ihrem Dienst

erst dann der Befreiung durch sie Platz machen wird, wenn die Verfassung der Mensch-

heit sich den neuen Produktivkräften angepaßt haben wird, welche die zweite Technik 

erschlossen hat.“ (KR2: 360).

Der Kultwert wird mit dem Aufkommen der Photographie nun fast vollständig vom

 Ausstellungswert verdrängt. Jedoch weicht ersterer nicht vollständig. In der Portraitpho-

tographie, die in der frühen Photographie im Mittelpunkt stand, findet der Kultwert

„seine letzte Zuflucht“, und mit ihm auch die Aura, die zum letzten Mal „im flüchtigen

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II: Ein Paradigmenwechsel

 Ausdruck eines Menschengesichts“ winkt (KR2: 360). Erst mit dem Zurückweichen der

Menschen aus der Photographie, wie Benjamin am Beispiel der Bilder Atgets zeigt,

schwindet die Aura und mit ihr der Kultwert. Dadurch, daß die Bilder von Atget begin-

nen, „Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden“, haben sie eine verborgene poli-

tische Bedeutung. Diese menschenleeren Bilder Atgets sind es auch, die vom Betrachter

eine andere Art der Rezeption fordern. Sie erlauben keine „freischwebende Kontempla-

tion“ mehr, vielmehr sucht der Betrachter nach Direktiven. Sie sind es, die die Beschrif-

tung, das Aufstellen von Wegweisern obligat machen, die dann im Film noch gebieteri-

scher werden, wo jedes Bild „durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben

erscheint.“ (KR2: 360). Anhand der Portraitphotographie zeigt sich deutlich, daß der

 Verlust der Aura nicht ausschließlich technisch bedingt ist,10 sondern auch durch die -

bereits oben erwähnten - Merkmale technisch reproduzierter Kunstwerke, wie den Tra-

ditionsverlust und den Verlust der geschichtlichen Zeugenschaft. Der Film, zu Benja-

mins Zeit die vorerst letzte Entwicklung der technischen Reproduzierbarkeit, ist das

erste Kunstwerk, das in seinem Kunstcharakter durchgängig von seiner Reproduzier-

barkeit bestimmt ist. Benjamin setzt den Film diametral der klassischen Kunst entgegen.

Die Kunst der Griechen beispielsweise war, so Benjamin, darauf angewiesen, Ewig-

keitswerte zu produzieren. Das bedeutet auch, daß für die Griechen die Qualität eines

Kunstwerks sich durch ganz andere Kriterien bemaß, als dies im Zeitalter des Filmsgeschieht. Dieser habe nämlich ein ausschlaggebendes Qualitätskriterium, das für die

Griechen völlig unbedeutend gewesen ist: die Verbesserungsfähigkeit (KR2: 361f.). Die-

se Qualität verdeutlicht er anhand von Chaplins Film Opinion Publique . Dieser Film ist

„3000m lang“, doch hat Chaplin „125000m drehen lassen.“ Daraus schließt Benjamin:

„Der Film ist also das verbesserungsfähigste Kunstwerk. Und diese seine Verbesse-

rungsfähigkeit hängt mit seinem radikalen Verzicht auf den Ewigkeitswert zusam-

men.“ (KR2: 362).

10 Rolf H. Krauss, Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie, Ostfildern 1998, 33.

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II: Ein Paradigmenwechsel

4. Ist der Film Kunst?

Die Frage, ob Photographie und Film Kunstwerke sind, wurde bisher immer falsch ge-

stellt, sei es doch entscheidender, ob der Gesamtcharakter der Kunst durch die Erfin-dung von Film und Photographie sich verändert hat. Für den Film sei dies noch schwie-

riger zu beantworten als für die Photographie (KR2: 362). Benjamin beschreibt, was an

den jeweiligen Reproduktionen die Dimension des Kunstwerks ausmacht. Bei der Pho-

tographie ist das Reproduzierte das Kunstwerk und nicht die Produktion. Beim Film

hingegen ist weder das Reproduzierte noch der Akt der Produktion das Kunstwerk.

Beim Film entsteht das Kunstwerk „erst auf Grund der Montage.“ (KR2: 364). Es bleibt

zu fragen, was die im Film reproduzierten Vorgänge sind, die erst zusammen den Film,

das Kunstwerk ausmachen. Benjamin meint, daß die Antwort von der Leistung des

Filmdarstellers ausgehen muß. Der Filmdarsteller ist stets einem Test unterzogen: er

spielt vor einer Apparatur und muß den Bedingungen des Mikrophons und der Jupiter-

lampen genügen.

„Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit derLeistung selbst einen Test macht. [...] Sie darstellen heißt, im Angesicht der Appa-ratur seine Menschlichkeit beibehalten.“ (KR2: 365).

Die Massen unterlaufen täglich einen gleichen Test während ihrer Arbeit. Denn dort

sind sie gezwungen, vor einer Apparatur ihrer Menschlichkeit sich zu entäußern. Diesel-

ben Massen sind es, die abends die Kinos füllen,

„um zu erleben, wie der Filmdarsteller für sie Revanche nimmt, indem seineMenschlichkeit (oder was ihnen so erscheint) nicht nur der Apparatur gegenübersich behauptet, sondern sie dem eigenen Triumph dienstbar macht.“ (KR2: 365).

Für den Film kommt es nicht darauf an, daß der Filmdarsteller dem Publikum einen

anderen darstellt, sondern darauf, daß er der Apparatur sich selbst darstellt. Somit

kommt der Mensch zum ersten Mal in die Lage, „mit seiner gesamten lebendigen Per-

son, aber unter Verzicht deren Aura wirken zu müssen“, die - wie bereits oben darge-

stellt - an sein „Hier und Jetzt“ gebunden ist, und von der es kein Abbild geben

kann (KR2: 366). Dies ist vor allem im Gegensatz zur Schaubühne zu sehen, denn die

 Aura dort, die um „Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das leben-

dige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt.“ (KR2: 366). Im Gegensatz

zum Schauspieler auf der Bühne kann sich der Filmdarsteller sehr oft nicht in eine Rolle  versetzen. Seine Leistung ist eine aus vielen Einzelleistungen zusammengeschnittene,

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II: Ein Paradigmenwechsel

 wobei diese Einzelleistungen immer die elementaren Notwendigkeiten der Maschinerie

beachten müssen, so daß sie montierbar bleiben. Das Gesamtwerk muß unter Berück-

sichtigung vieler Einzelmomente wie Ateliermiete, Dekor, Verfügbarkeit der Schauspie-

ler etc. zustandekommen. Nichts zeigt deutlicher, resümiert Benjamin, „daß die Kunst

aus dem Reich des ‚schönen Scheins‘ entwichen ist, das solange als das einzige galt, in

dem sie gedeihen könne.“ (KR2: 368). Die Selbstentfremdung des Menschen hat durch

seine Darstellung durch die Apparatur eine „höchst produktive Verwertung erfah-

ren.“ (KR2: 369) Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur ist vergleichbar mit

dem Befremden des Menschen vor dem eigenen Spiegelbild. Durch die Apparatur wird

dieses Spiegelbild vom Menschen ablösbar und transportabel. Der Filmdarsteller hat

dies ständig im Bewußtsein, d. h. daß er es immer, wenn er vor der Apparatur steht, mit

der Masse zu tun hat, die ihn wiederum kontrolliert. Diese den Schauspieler kontrollie-

rende Masse ist aber weder sichtbar noch schon vorhanden, während der Schauspieler

im Angesicht der Apparatur seine Leistung absolviert. Dadurch wird die Autorität der

Kontrolle gesteigert. Doch weist Benjamin darauf hin, daß die politische Auswertung 

dieser Kontrolle noch lange auf sich warten lassen wird (KR2: 370). Bis dahin bleibt die

Kontrolle eine gegenrevolutionäre, und der vom Filmkapital geförderte Starkultus

„konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher schon allein im

fauligen Schimmer ihres Warencharakters besteht, sondern sein Komplement, derKultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, dieder Faschismus an die Stelle ihrer klassenbewußten zu setzen sucht.“ (KR2: 370).

Um die Anteilnahme der Massen an ihren Produkten zu sichern, hat die Filmindustrie

einen „gewaltigen publizistischen Apparat in Bewegung gesetzt“ wie zum Beispiel „Ple-

biszite“ und „Schönheitskonkurrenzen“, um dadurch das

„berechtigte Interesse der Selbst- und somit auch der Klassenerkenntnis – auf 

korruptivem Weg zu verfälschen. Es gilt daher vom Filmkapital im besonderen, was vom Faschismus im allgemeinen gilt: daß ein unabweisbares Bedürfnis nachneuen sozialen Verfassungen insgeheim im Interesse einer besitzenden Minderheitausgebeutet wird.“ (KR2: 372).

 Auf diese Art und Weise verwandelt der Kapitalismus die revolutionären Möglichkeiten

der Kontrolle in ihr Gegenteil. Das ist ein Phänomen, das für Benjamin auch in der Kri-

se der Demokratien zu sehen ist, denn diese Krise läßt sich als „eine Krise der Ausstel-

lungsbedingungen des politischen Menschen verstehen.“ Dies führt zu einer Auslese,

„einer Auslese vor der Apparatur, aus der der Champion, der Star und der Diktator alsSieger hervorgehen.“ (KR2: 369, Fn. 11).

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II: Ein Paradigmenwechsel

 Wie beim Sport wohnt das Publikum beim Film dem Ereignis als halber Fachmann bei.

 Ähnlich wie im Zuge der Literarisierung und des sich ausdehnenden Pressewesens die

Unterscheidung zwischen Autor und Publikum fiel, verhält es sich heute mit dem

Film (KR2: 371). Das verdeutlicht Benjamin anhand des russischen Films. Die Darstel-

ler im russischen Film sind nicht Darsteller im eigentlichen Sinn, sondern Leute, die sich

in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß darstellen. Dies wird in Westeuropa durch die

kapitalistische Verwertung des Films verhindert. Erst nach der Befreiung des Films von

seiner kapitalistischen Ausbeutung können die revolutionären Chancen dieser Kontrolle

durch die Masse zum Tragen kommen, d. h. das Interesse der Massen an ihrer Selbst-

und Klassenerkenntnis wird gestillt werden können. Darum ist die Expropriation des

Filmkapitals „eine dringende Forderung des Proletariats“ (KR2: 372), um eine Verwer-

tung des Films im Sinne des russischen Films und des brechtschen Theaters zu erlangen

und somit die Krise der Demokratie zu überwinden.11 

 Was dem Film allerdings als Verdienst gutgeschrieben werden kann, solange das Ka-

pital den Ton angibt, ist, daß er eine Kritik an der überkommenen Vorstellung von

Kunst befördert. Die Filmaufnahme bietet einen zuvor nie denkbaren Anblick. Darge-

stellt wird in ihr ein Vorgang, dem kein Standpunkt mehr zugewiesen werden kann, von

dem aus man nicht die der Aufnahme zugehörige Apparatur sehen können müßte. Das

heißt, daß die illusionäre Natur des Films eine Natur zweiten Grades ist, da der vomFremdkörper Apparatur freie Aspekt ein Ergebnis von Schnitt und Montage ist. Der

apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu einem künstlichen geworden und „der An-

blick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Tech-

nik.“ (KR2: 373).

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der

Masse zur Kunst. Einem Picasso gegenüber noch das rückschrittlichste Publikum, wird

es das fortschrittlichste angesichts eines Films von Chaplin. Die Malerei ist nicht geeig-

net zur Kollektivrezeption - wie zum Beispiel früher das Epos oder schon immer die

 Architektur und heute der Film (KR2: 374f.). Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe

des Films ist es, das Gleichgewicht zwischen Mensch und Apparatur herzustellen. Dies

geschieht nicht nur durch die Art wie der Mensch sich der Apparatur zur Aufnahme

11 Das Gleiche gilt natürlich auch für den Faschismus. Erst wenn der Film der faschistischen Propa-gandamaschinerie entrissen ist, ist es möglich, daß die Massen ihre Selbst- und Klassenerkenntnis-

se stillen können.

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II: Ein Paradigmenwechsel

stellt, sondern wie er „mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt.“ (KR2: 375). Zeitlupe,

Zoom, Führung des Objektivs sind Mittel des Films, Einsichten in Zwangsläufigkeiten

zu ver-mehren, die unser Dasein regieren, und uns andererseits einen ungeahnten Spiel-

raum zu sichern. So erfahren wir durch die Kamera erst jetzt vom Optisch-

Unbewußten, wie uns das Triebhaft-Unbewußte durch die Psychoanalyse erschlossen

  wurde. Zwischen beiden Arten des Unbewußten bestehen, so Benjamin, die engsten

Zusammenhänge.

„In die alte heraklitische Wahrheit - die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam,die Schlafenden jeder eine für sich - hat der Film eine Bresche geschlagen. Undzwar viel weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der Schöpfung von Fi-guren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus.“ (KR2: 375).

Schon in seinem Aufsatz Erfahrung und Armut hat Benjamin das Dasein von Micky-Maus

als einen solchen Traum bezeichnet. Ihr Dasein ist voller Wunder, allesamt ohne Ma-

schinerie improvisiert, „Natur, Technik, Primitivität und Komfort sind hier vollkommen

eins geworden und vor den Augen der Leute (...) erscheint erlösend ein Da-

sein.“ (EA: 218).12 

Benjamin geht es hier um die therapeutische Funktion des Films, die auf dessen Fä-

higkeiten beruht, individuelle Grenzerfahrungen wie Psychosen und Alpträume - her-

 vorgerufen durch die Technisierung der Umwelt - in Kollektiverfahrungen zu verwan-deln.13 So erzeugt die Technisierung in großen Massen Spannungen, die in bestimmten

Konstellationen psychotischen Charakter annehmen können. Doch dieselbe Technisie-

rung ist es, die sich durch gewisse Filme die Möglichkeit der psychischen Impfung der

Massen gegeben hat. Diese Filme nehmen Massenpsychosen – wie „sadistische Phanta-

sien“ oder „masochistische Wahnvorstellungen“ -– vorweg und verhindern das Reifen

solcher Psychosen durch ihren vorzeitigen Ausbruch im kollektiven Gelächter der Rezi-

pienten (KR2: 377). Somit ist ein weiterer Verdienst des Films, daß er ein Gegengift zu

den Massenpsychosen der Moderne ist: „Die amerikanischen Groteskfilme und die Fil-

me Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten.“ (KR2: 377).14 

12 Vgl. Kapitel III.2.1 Erfahrungsarmut und Positives Barbarentum.13 Miriam Hansen, Of Mice and Ducks: Benjamin and Adorno on Disney, in: The South Atlantic

Quarterly, 92, 1, 1993, 27 – 62, 31.14 In einer zu dieser Feststellung dazugehörigen Fußnote macht Benjamin allerdings darauf aufmerk-

sam, daß man bei einer allseitigen Untersuchung dieser Filme auch zu dem Ergebnis kommenkann, daß „die Neigung, Bestialität und Gewalttat als Begleiterscheinung des Daseins gemütlich in

Kauf zu nehmen,“ in diesen Filmen zu Tage tritt. (KR2: 377, Fn. 14).

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II: Ein Paradigmenwechsel

5. Geschichtliche Wendezeiten bedingen einen Wandel der Apperzeption

Eine jede neue Kunstform hat einen Vorgänger, der das Bedürfnis für die kommende

 weckt und das Publikum auf neue Rezeptionsformen vorbereitet. Für den Film war diesder Dada, denn der Dadaismus habe versucht, „die Effekte, die das Publikum heute im

Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu erzeugen.“ (KR2: 378).

Die Dadaisten legten auf die „merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke“ viel weniger

Gewicht als darauf, daß ihre Kunstwerke als Gegenstände kontemplativer Versenkung 

unverwertbar seien.

„Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzli-

che Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind ‚Wortsalat‘, sieenthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache.Entsprechend ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten.

 Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rüchsichtslose Vernichtung der Au-ra ihrer Hervorbringung, denen sie mit Mitteln der Produktion das Brandmal ei-ner Reproduktion aufdrücken.“ (KR2: 379).

Somit wurde das dadaistische Kunstwerk zu einem Geschoß, anstatt einen „lockenden

 Augenschein“ oder ein „überredendes Klanggebilde“ zu bilden. „Es gewann eine takti-

sche Qualität“, und so begünstigte es die Nachfrage nach dem Film, „dessen ablenken-

des Element ebenfalls in erster Linie ein taktisches ist.“ (KR2: 379). Dieses taktische

Element des Films, das der Dadaismus noch in seiner „Emballage“ verpackt

hielt (KR2: 380), ist die Chockwirkung, der hektische Wechsel zwischen Schauplätzen

und Einstellungen, welche „stoßweise auf den Beschauer eindringen.“ (KR2: 379). Die

Chockwirkung des Films beruht darauf, daß der Rezipient sich keinem freien Assoziati-

onsablauf überlassen kann, denn er wird ständig durch die Veränderung des zu Rezipie-

renden unterbrochen. Daraus wird ersichtlich, folgert Benjamin, daß der Film die „der

betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform“ ist. Auch

entspricht er den

„tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen wiesie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im

 weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsord-nung erlebt.“ (KR2: 379f, Fn. 16).

Die Masse ist für Benjamin die Quelle, aus dem „alles gewohnte Verhalten Kunstwerken

gegenüber neugeboren hervorgeht.“ (KR2: 381). Während der Einzelne sich in Kunst- werke versenkt, versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich. Als Bei-

  24

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II: Ein Paradigmenwechsel

spiel dafür vergleicht Benjamin die Rezeption von Bauwerken, die die Menschen seit

jeher begleiten. Die Rezeption von Bauten erfolgt durch Gebrauch und Wahrnehmung,

oder anders formuliert: taktisch und optisch (KR2: 381).15 Die taktische Rezeption er-

folgt auf dem Wege der Gewohnheit, und bei der Rezeption von Architektur bestimmt

diese sogar die optische. Dies trifft nun auch auf den Film zu, da

„in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat [Auf-gaben] gestellt werden, [die] auf dem Weg der bloßen Optik, also der Kontempla-tion, gar nicht zu lösen [sind]. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilenRezeption, durch Gewöhnung bewältigt.“ (KR2: 381).

Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute; mehr noch: Gewisse Aufgaben in der Zer-

streuung zu bewältigen heißt, daß sie zu lösen eine Gewohnheit geworden ist. In ge-

schichtlichen Wendezeiten erwachsen neue Aufgaben für die Apperzeption. Wie weit

diese zu lösen sind, wird durch die Zerstreuung, wie Kunst sie zu bieten hat, kontrol-

liert, indem sie sich der Kunstform zuwendet, wo sie die Massen mobilisieren kann: dem

Film. Denn am Film hat die Rezeption in der Zerstreuung, die ein Sympton von tiefgrei-

fenden Veränderungen in der Apperzeption ist, ihr eigentliches Übungsfeld. In seiner

Chockwirkung kommt der Film dieser Rezeptionsform entgegen. Dadurch, daß der

Film das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt und dadurch, daß diese begut-

achtende Haltung Aufmerksamkeit nicht einschließt, drängt der Film den Kultwert zu-rück (KR2: 381). In der dritten Fassung des Kunstwerkaufsatzes geht Benjamin noch wei-

ter, indem er der Masse eine kritische Haltung attestiert: „Das Publikum ist ein Exami-

nator, doch ein zerstreuter.“ (KR3: 505).

Proletarisierung der Menschen und Formierung der Massen sind zwei Seiten eines

Geschehens. Der Faschismus versucht, die Massen zu organisieren, ohne jedoch die

Eigentumsverhältnisse zu verändern. Er sucht sein Heil darin, die Massen zu ihrem

 Ausdruck kommen zu lassen. Anstatt die Massen zu ihrem Recht kommen zu lassen – 

also die Eigentumsverhältnisse zu ändern –, sucht er ihnen einen Ausdruck in deren

Konservierung zu geben. Daher läuft der Faschismus auf eine Ästhetisierung des politi-

schen Lebens hinaus (KR2: 382). „Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines

Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der

Herstellung von Kultwerten dienstbar macht.“ (KR3: 506). Die Ästhetisierung der Poli-

tik mündet im Krieg. Nur dieser macht es möglich, unter Beibehaltung der Besitzver-

 

15 Taktisch im Sinne von taktil.

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II: Ein Paradigmenwechsel

hältnisse den Massen ein Ziel zu geben. Aus technischer Sicht ist es der Krieg, der es

ermöglicht – wiederum unter Beibehaltung der Besitzverhältnisse – sämtliche techni-

schen Möglichkeiten der Gegenwart auszuschöpfen. Der Faschismus ist auf diese Art

des technischen Fortschritts angewiesen, weil er nicht imstande ist, sich des Wider-

spruchs zwischen Produktionsmitteln und Produktivkräften auf andere Weise zu entle-

digen. Der Faschismus erwartet also die Befriedigung der durch die Technik veränderte

Sinneswahrnehmung durch den Krieg. Die Menschheit wird zum Schauobjekt für sich

selbst, ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung 

als ästhetischen Genuß erleben läßt. „So steht es um die Ästhetisierung der Politik, wel-

che der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung 

der Kunst.“ (KR2: 384).

 Was dieser dieser programmatische Schlußsatze des Kunstwerkaufsatzes zu bedeuten

hat, sowie die zwei Alternativen, die eintreten, wenn dieses „Programm“ nicht Realisie-

rung findet, soll zum Schluß dieser Arbeit beantwortet werden. Im Folgenden soll Ben-

jamins Erfahrungstheorie dargestellt werden, die mit dem Verfall der Aura notwendig 

 wird.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter BenjaminsOder: Wie ist Erfahrung möglich? 

1. Aura: Ein sonderbares Gespinst

 Walter Benjamins Aurabegriff ist ein schillernder, der der näheren Beschreibung bedarf.

Obwohl es im Kunstwerkaufsatz primär um den Verfall der Aura im Zeitalter der techni-

schen Reproduktion von Kunstwerken geht, ist es unerläßlich, zuerst den Aurabegriff 

selbst in seiner Ambiguität darzustellen. Aus diesem Grund beginne ich mit einem Zitat

aus den Protokollen zu Drogenversuchen ,  geschrieben im März 1930, in denen die Aura

erstmals näher beschrieben ist:

„Erstens erscheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an bestimmten, wiedie Leute sich einbilden. Zweitens ändert sich die Aura durchaus und von Grundauf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kanndie echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strahlenzauber ge-dacht werden, als den die vulgären mystischen Bücher sie abbilden und beschrei-ben. Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine orna-mentale Umzirkung in der das Ding fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt.“16 

 Wie aus der Zusammenfassung des Kunstwerkaufsatzes schon zu entnehmen war, lauteteine weitere Defintion wie folgt:

„Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: eine ein-malige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmit-tag ruhend einen Gebirgszug am Horizont oder einen Zweig folgen, der seinenSchatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zwei-ges atmen.“ (KR2: 355).

 Worin aber liegt die Aura eines Kunstwerks? In seiner Geschichtlichkeit, in der zeitli-

chen Spaltung, „mit der es dem Betrachter als gegenwärtiges Zeugnis einer Vergangen-

heit entgegensteht.“17 Jedes Kunstwerk, das im Sinne Benjamins „echt“ ist, zeichnet sich

durch ein Geheimnis aus.

16 Walter Benjamin, Protokolle zu Drogenversuchen, in: GS VI, 558 – 618, 588.17 Alexander Pivecka, Die künstliche Natur. Walter Benjamins Begriff der Technik, Frankfurt am

Main u.a. 1993, 91.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

„Alle Schönheit hält wie die Offenbarung geschichtsphilosophische Ordnungen insich. Denn sie macht nicht die Idee sichtbar, sondern deren Geheimnis.“18 

1.1: Die Erfahrung der Aura durch das Subjekt 

 Aus diesen zwei eben angeführten Zitaten geht hervor, daß die Aura eine universelle

Erfahrung ist, die an „allen Dingen“ vorkommen kann. Dies macht Benjamin auch an-

hand der Aura der Erfahrung der „Berge“ oder des „Zweigs“ deutlich, woraus ersicht-

lich wird, daß sie nicht nur Kunstwerken vorbehalten ist, sondern allen Dingen. Auch

suggeriert die Allgemeinheit dieser Beschreibung, daß der Akzent der hier beschriebe-

nen auratischen Erscheinung völlig auf der Objektseite, den äußeren Bedingungen und

Gegebenheiten ruht.19 Jedoch verhindert diese Hülle einer besonderen Atmosphäre, daß

„sie auf den puren Objektcharakter reduziert werden können.“20 In der dritten Fassung 

des Kunstwerkaufsatzes spricht Benjamin auch davon, „den vorgeschlagenen Begriff der

  Aura an einem Begriff der Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrie-

ren.“ (KR3: 479). Dann folgt das obenstehende Zitat „Was ist eigentlich Aura...“. Das

heißt, daß Benjamin mit diesem Bild der impersonalisierten Subjektivität die Aura als

einen Modus der Wahrnehmung in Verbindung zu natürlichen Objekten definiert. Doch

er macht dies anhand einer Beschreibung einer historischen Entwicklung: den Verfall

der Aura am traditionellen Kunstwerk.21 Wenn die Wahrnehmung der Aura sich also zu

einer bestimmten Erscheinung der Natur in potentiell allen Objekten bezieht, dann ist

die Wahrnehmung „also conceptualized, from the start, as dependent upon the social

conditions of perception, as contingent upon historical change.“22 

 Auch unterliegt die Aura grundsätzlich der Wandelbarkeit, sie ändert sich durchaus

und „von Grund auf mit jeder Bewegung“, d. h. sie ist einerseits von dem Objekt, andem sie erscheint, abhängig, andererseits wird ihr Bedeutungsgehalt bestimmt durch das

18 Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: GS I.1, 123 - 201, 196.19 Marleen Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche. Zur Sprache und Erfahrung bei Walter Ben-

jamin, München/Wien 1983, 48.20 Burkhardt Lindner, Benjamins Aurakonzeption. Anthropologie und Technik, Bild und Text, in:

 Walter Benjamin. 1892-1940. Zum 100. Geburtstag, herausgegeben von Uwe Steiner, Bern u.a.1992, 217 – 248, 232.

21 Miriam Hansen, Benjamin, Cinema and Experience: The Blue Flower in the Land of Technology,in: New German Critique, 40, 1987, 179-224, 187.

22 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

betrachtende Subjekt. Denn daß der Akt des Auravernehmens ein kontemplativer ist,

geht aus dem zweiten Zitat hervor, in dem die Betonung zweimal auf dem Stillstand des

Subjekts liegt: „[...] ruhend einen Gebirgszug [...] folgen, der seinen Schatten auf den

Ruhenden wirft.“ Ist dieser Akzent „indirekter Hinweis auf den wahren Ort der aurati-

schen Erscheinung in der Vorstellung des Subjekts, so ist dieses zugleich in seiner rein

kontemplativen, passiven Rolle als Medium charakterisiert.“23

Das Subjekt ruht beim

Betrachten. Durch das „Atmen“ tritt das Subjekt aus seiner ruhenden Rolle heraus, es

 wird „im emphatischen Sinn Subjekt“, denn das „Atmen der Aura ist unabdingbar an

die Gegenwart des Subjekts gebunden.“24

Die Aura enthüllt und erfüllt ihren ethymolo-

gischen Sinn, als „Hauch“, der stellvertretend für Leben steht, indem das Subjekt die

 Aura der Dinge atmet. In ihrem Anderen – also dem, was an empirischen Gegenständen

 wie an einem Zweig oder einem Berg als Aura erscheinen kann – dessen Medium Sub-

jekt und Objekt geworden sind, verbinden sie sich „zur lebendigen Einheit, zur Utopie

einer herrschaftsfreien Beziehung.“25 Naturbeherrschend „werden wir der Sache hab-

haft: in der Aura bemächtigt sie sich unser.“(PW: 560; vgl.: KR2: 359).

1.2. Auraerfahren als menschliches Handeln 

Grenz verweist darauf, daß dieses „Ruhen“ während des Betrachtens menschliches

Handeln ist. Der auraerfahrende Ruhende ruht über das hinaus, was er an Freizeit benö-

tigt, um seine Arbeitskraft zu regenerieren. Das Ruhen, das über das Notwendige hi-

nausgeht, sei die Erfahrung der Aura selbst. Ruhe ist somit bei Benjamin nicht angefüll-

te Nichtarbeitszeit, denn der, der die Aura atmet, „folgt“ den Gegenständen, d. h. er ist

somit auch beschäftigt.26 So argumentiert Grenz: „Ruhe ist Beisichsein. Ruhen können

nur Subjekte. Subjekte ruhen in sich. Deshalb kann sich ihr Blick auf Gegenstände rich-

ten und sie bleiben lassen, was sie sind. Ruhen ist menschliches Handeln.“27

 

23 Marleen Stoessel, Aura, 48.24 Ebd.25 Ebd.26 Friedemann Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsproble-

me, Frankfurt am Main 1974, 208.

27 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Des weiteren geht aus dem zweiten Zitat hervor, daß die Aura mehrere Dimensionen

besitzt, namentlich eine Raum– und eine Zeitdimension. Diese Raum– und Zeitdimen-

sion beschreibt Benjamin wie folgt:

„Die Definiton als ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘ , stelltnichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Katego-rien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das

 wesentliche Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqua-lität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ‚Ferne so nah es sein mag‘. DieNähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Ab-bruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt.“ (KR3: 480, Fn. 7).

Demnach ist mit Ferne kein räumlicher Abstand gemeint, sondern die Erfahrung einer

unüberwindbaren Distanz. Es wird deutlich, daß es hier um den „Gefühlswert der Dis-

tanz, um das Bewußtsein des Unerreichbaren“ geht, ganz gleich wie weit entfernt bzw.

 wie nah der Gegenstand der Betrachtung ist.28 Also bezeichnet die Ferne das, was Ben-

jamin in Über einige Motive bei Baudelaire den „kultischen Charakter des Phänomens“ der

 Aura nennt. (ÜMB: 647) Ein Berühren des auratischen Gegenstands kann zwei Konse-

quenzen zur Folge haben. Entweder die Aura verschwindet, oder aber der Berührende

erfährt, daß die Aura nichts Gegenständliches ist, also nicht berührt werden kann. Die

ästhetische Distanz wird durch die Berührung in letzterem Fall nicht aufgehoben, der

Berührende kann aber durch die Berührung versuchen, „sich allenfalls für das ganze

 Werk empfänglicher zu machen; als Ganzes bleibt es aber entrückt und kann nur da-

durch wirken.“29 So ist also die Nah - Fern Metaphorik „eine einmalige Erscheinung 

einer Ferne, so nah sie sein mag“ (KR2: 355), ein Vergegenwärtigen eines Anderen

durch die Erscheinung eines Gegenstandes, der selbst wiederum als ein Anderer er-

scheint, als ein von seiner empirischen Identität Unterschiedener.30 Die Ferne steht für

eine Zeitstruktur, mit anderen Worten: die Vergangenheit, zeitliche Distanz. Die Nähe

steht für eine Raumstruktur. So ist die Aura der „Berge“ und die des „Zweiges“ nichtidentisch. Es muß sich um mehr als eine Aura handeln, denn es heißt „die Aura dieser

Berge, dieses Zweiges“, anstatt daß die Aura der Berge und des Zweiges mit einem ‚und‘

 verbunden sind, denn dann würde es sich um nur eine Aura handeln, so Grenz.31 Die

28 Birgit Recki, Aura und Autonomie, 16.29 Ebd., 17.30 Marleen Stoessel, Aura, 45f.

31 Friedemann Grenz, Adornos Philosophie, 207.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

„Berge“ und der „Zweig“ sind zwei unterschiedlich weit entfernte Gegenstände, von

denen man den einen berühren könnte, sei es unter Zuhilfenahme eines Werkzeugs,

 wohingegen der andere, die Berge, das Fernste sind, was der ruhende Betrachter sehen

kann, sie sind also am Horizont selbst Horizont. Hier wird deutlich, daß die dem ruhen-

den Betrachter erscheinende Ferne nichts mit der empirischen Ferne des Gegenstandes

zu tun hat. Demzufolge muß die Ferne eines auratischen Gegenstandes mit einem ande-

ren Parameter gemessen werden. Das ist der der Zeit. Somit ist Aura die Erscheinung 

einer zeitlichen Ferne an einem Gegenstand der Erfahrungswelt.32

Im Kunstwerkaufsatz  

heißt es, das Kunstwerk unterscheidet sich von der Reproduktion durch die enge Ver-

schränkung von „Einmaligkeit und Dauer“ (KR2: 355), ja es ist durch diese Verschrän-

kung festgelegt.

1.3. Einmaligkeit und Dauer: Das Paradox des erfüllten Augenblicks 

Neben der Verschränkung von Einmaligkeit und Dauer ist das Kunstwerk auch durch

sein „Hier und Jetzt“ bestimmt, denn:

„Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetztdes Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.

 An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschich-te, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahin rechnen so-

 wohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Strukturerlitten hat, wie die wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag.Die Spur des ersteren ist nur durch die Analysen chemischer oder physikalischer

 Art zu fördern, die sich an der Reproduktion nicht nachvollziehen lassen; die derzweiten Gegenstand einer Tradition, deren Verfolgung vom Standort des Origi-nals ausgehen muß.“ (KR2: 352).

Die „Verfolgung vom Standort des Originals“ bekommt ihre Bedeutung dadurch, daßdie Echtheit einer Sache „der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren“

ist (KR2: 353). Das ist bedeutend, da für Benjamin die „Echtheit einer Sache“ konstitu-

ierend ist für das Dasein der Aura, denn

„was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verküm-mert, das ist seine Aura.“ (KR2: 353).

32 Ebd., 207f. Vgl., Marleen Stoessel, Aura, 45f. Stoessel kommt zu dem gleichen Ergebnis, jedoch

sprachphilosophisch argumentierend. Mir erschien die Argumentation von Grenz einleuchtender.

31

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Das hat zur Folge, daß die empirische Singularität, das „einmalige Dasein“, entschei-

dend ist für die Echtheit einer Sache, wie auch notwendigerweise für das Vorhandensein

der Aura. Es ist diese empirische Singularität, auf der die Vorstellung einer „Tradition“

beruht. Diese Tradition läßt sich, in ihrem materiellen Bestand, durch Analysen „chemi-

scher oder physikalischer Art“ nachweisen, wie etwa die Patina an einer Bron-

ze (KR3: 476), oder durch den „Nachweis, daß eine bestimmte Handschrift des Mittelal-

ters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahrhunderts stammt.“ (KR3: 476). Dieses ein-

malige Dasein, das Benjamin so sehr hervorhebt, ist jedoch „nichts anderes als die nu-

merische Bestimmung eines materiellen Substrats.“33 Das weitaus gewichtigere an dieser

Einmaligkeit des Originals, dem durch diese Analyse ein raum-zeitlich eindeutiger Pa-

rameter zugewiesen werden kann, ist allerdings das „Eingebettetsein in den Zusammen-

hang einer Tradition“ (KR2: 355), das identisch ist mit seiner „Einzigkeit“. Die Traditi-

on unterliegt dem Wandel und ist etwas durchaus Lebendiges. Anhand des Beispiels

einer Venusstatue macht Benjamin dies deutlich. War diese bei den Griechen ein Ge-

genstand des Kults, so erblickten mittelalterliche Kleriker „einen unheilvollen Abgott“

in ihr (KR2: 355). Dennoch trat beiden in gleicher Weise die Einzigartigkeit der Statue

entgegen: ihre Aura (KR2: 356). Durch seine Einzigartigkeit wird das Kunstwerk als

unverwechselbares Individuum Gegenstand von Beachtung und – trotz der Wandelbar-

keit – Wertschätzung und wird somit zu einem Element der Tradition. „Allein dadurch wird es auch zum Träger einer ganz singulären, nur einmal vorkommenden Geschich-

te.“34 

Im Gegensatz zur Reproduktion sind im Kunstwerk „Einmaligkeit und Dauer“ eng 

  verschränkt (KR2: 355). Benjamin macht sich die doppelte Bedeutung des Begriffs

Einmaligkeit zunutze. Die objektive Bedeutung ist immer die numerische Bedeutung 

einer Erscheinung. Die zweite Bedeutung ist die prioritäre, qualitative Bedeutung, der

mit „Bezug auf einen Sinnanspruch einzigartig dastehende Charakter einer Gegeben-

heit.“35 Diese Einmaligkeit läßt sich sehr anschaulich an Benjamins Illustration der Er-

fahrung bei der Betrachtung einer Berglandschaft deutlich machen. Die Betrachtung 

eines Gebirgszugs an einem Sommernachmittag ist eine weit verbreitete Erfahrung, un-

ter der sich jeder etwas vorstellen kann. Die Einmaligkeit der auratischen Erfahrung 

33 Birgit Recki, Aura und Autonomie, 18.34 Ebd., 19.

35 Ebd., 20.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

besteht hier nicht darin, daß es sich um einen bestimmten Berg handelt, sondern viel-

mehr in der Auszeichnung durch ein ganz bestimmten unwiederbringlichen Augenblick 

im Leben des Betrachters. Dementsprechend kann die Verbindung von Einmaligkeit

und Dauer zweierlei bedeuten: historisch-materialistisch kennzeichnet die Formel „die

 Abhängigkeit des Traditionsbewußtseins von der Identität der Sache.“  36 Dies macht es

möglich, im Verlauf der Geschichte – das ist die Dauer - die Sache auch als faktisch sich

durchhaltende - also Einmaligkeit – festzustellen, denn insofern die Überlieferung des

bestimmbaren Unikats verbürgt ist, ist es eben das Unikat, in dem Einmaligkeit und

Dauer aufeinander beruhen. „Für eine Bestimmung der ästhetischen Erfahrung dagegen

indiziert sie das Paradox des erfüllten Augenblicks“, d. h. den Widerspruch ästhetischen

 Wahrnehmens in einem bestimmten Augenblick, der im Zeitkontinuum festgelegt ist

und alleine deshalb keine Dauer haben kann, der jedoch als erfüllter Augenblick wie

„ein Stillstand erfahren“ wird. 37 

1.4. Aura und Mythos 

Es sind die bisher besprochenen Elemente Einmaligkeit und Distanz sowie die Raum-

Zeit Struktur der Aura, die Benjamin veranlassen, mythische Elemente in die Defintion

der Aura hineinzunehmen:38 

„Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipert dieses zum ers-ten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. [...] Indem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion ver-sagt, hat sich die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle derFundierung aufs Ritual hat ihre Fundierung auf eine andere Praxis zu treten: näm-lich ihre Fundierung auf Politik.“ (KR2: 356f.).

Die Kunst im Dienste der Magie, die nach den Erfordernissen der Gesellschaft abgebil-

det wurde, bediente sich der Techniken, die nur verschmolzen mit dem Ritual existier-

ten (KR2: 359). Wie auch schon der Zusammenfassung des Kunstwerkaufsatzes zu ent-

nehmen war, sind die ältesten Kunstwerke im Dienst eines Rituals entstanden, und die

auratische Daseinsweise des Kunstwerks löst sich niemals völlig von seiner Ritualfunk-

36 Ebd.37 Ebd.

38 Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1973, 108.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

tion. Also ist der einzigartige Wert des „echten“ Kunstwerks im Ritual fundiert. Darin

hatte es seinen originären und ersten Gebrauchswert (KR2: 356). Dadurch, daß ein

Kunstwerk im Dienst eines Rituals steht, bekommt es Kultwert. Der Kultstatus von

Gegenständen wird durch die Bewahrung von Distanz hergestellt. So schreibt Benjamin

in dem Fragment Traumkitsch : „Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom

Körper entfernt.“39

Und im Baudelaire -Aufsatz stellt er fest: „Das wesentlich Ferne ist

das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbil-

des.“ (ÜMB: 647). Diese Feststellungen manifestieren sich deutlich im Kunstwerkaufsatz .

Für die Gebilde, die im Dienst des Kults stehen, ist es wichtiger, daß sie existieren, als

daß sie gesehen werden. So waren es in der Steinzeit die Höhlenzeichnungen, die zwar

gesehen werden konnten, aber hauptsächlich für die Geister bestimmt waren. Heute, so

fährt Benjamin fort, scheint der Kultwert als solcher „geradezu darauf hinzudrängen,

das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester

in der cella zugänglich“ (KR2: 358), oder gewisse Madonnenbilder, die „fast das ganze

  Jahr über verhangen“ sind, bzw. Skulpturen an mittelalterlichen Domen, die für den

Betrachter vom Boden aus nicht zu sehen sind (KR2: 358).

 Wenn das Kunstwerk sich säkularisiert, was mit seinem Eintreten in den profanen

Schönheitsdienst in der Renaissance beginnt, werden zwar die Vorstellungen der Einma-

ligkeit der im Kultbild waltenden Erscheinung unbestimmter, doch dafür tritt an ihreStelle die Vorstellung der empirischen Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden

Leistung. „Mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des

Kultwerts.“ (KR3: 481, Fn.8). Doch es bleibt dabei:

„Der einzigartige Wert des Kunstwerks hat seine Fundierung immer im Ritual.Diese mag so vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profansten For-men des Schönheitsdiensts als säkularisiertes Ritual erkennbar.“ (KR2: 356).

Erst in dem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire kommt eine weitere Dimension des Verhältnisses Werk – Betrachter hinzu.

„Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem ersich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, aneinen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.[...]Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschli-

 

39 Walter Benjamin, Traumkitsch, in: GS II.2, 620 – 622, 622.

34

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

chen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebtenoder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubendeschlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem

 Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. Die Funde der mémoire involon-

taire entsprechen dem“ (ÜMB: 646f.).

40

  Aus diesem Zitat geht hervor, daß der Ursprung auratischer Erscheinungen jeweils in

einer Aktivität des Subjekts liegt. Waren früher die Gegenstände in künstliche und

natürliche geordnet, an denen die Aura erscheint, ist es nun die Beziehung, konstituiert

durch den Blick zwischen Subjekt und Objekt, „in dem die Aura sich herstellt oder ver-

liert: die Wahrnehmung der Aura als Erfahrung.“41 In diesem Kontext deutet der Ver-

 weis auf die mémoire involontaire an, daß der nun auf das Subjekt übertragene Begriff 

der Aura, den Benjamin noch im Kunstwerkaufsatz „an einem Begriff der Aura von natür-lichen Gegenständen“ illustrierte (KR3: 479), auf ein „gesellschaftlich – geschichtliches

 Verhältnis, auf ein Vorgeschichtliches verweist, das sich nicht wie Geschichte auf Arbeit

und Aneignung beziehen läßt.“42 Das Vorgeschichtliche ist dementsprechend an unbe-

  wußte Erinnerung gebunden, die nicht absichtlich sich hervorrufen läßt, und welche

Benjamin in Anlehnung an Proust mémoire involontaire nennt. Als deren Data dienen

Benjamin die correspondances von Baudelaire. Der Begriff der correspondances bei

Baudelaire ist nichts anderes als die Erfahrungen aus einer anderen Epoche, über die

Baudelaire selbst noch verfügte.43 Die correspondances selbst sind wiederum „die Data

des Eingedenkens“, keine geschichtlichen, „sondern Data der Vorgeschich-

te.“ (ÜMB: 639). Die Funde der mémoire involontaire, so Benjamin,

„sind übrigens einmalig: der Erinnerung, die sie sich einzuverleiben sucht, entfal-len sie. Damit stützen sie einen Begriff der Aura, der die ‚einmalige Erscheinung einer Ferne‘ in ihr begreift.“ (ÜMB: 647).

 Was aber macht die auratische Wahrnehmung zu einer unverzichtbaren für die Erfah-

rung? Die Wahrnehmung der Aura in natürlichen Gegenständen beruht auf der „Projek-

 

40 Es ist fraglich, ob Benjamin die Erscheinung einer Aura erst nach oder schon vor dem Kunstwerk- aufsatz mit der Bedingung koppelt, daß man „sie mit dem Vermögen belehnen [muß], den Blick aufzuschlagen“, um sie erfahren zu können. Dazu Rolf Tiedemann in den Anmerkungen zumBaudelaire - Aufsatz: „Das Ganze gehört in den Zusammenhang der Pariser Passagen, an dem Ben-jamin seit 1927 bis zu seinem Tod 1940 arbeitete.“ (GS I.3: 1064).

41 Marleen Stoessel, Aura, 32.42 Ebd., 33.43 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik, Düsseldorf 1974, 147. Vgl. Kapitel III.2.8 Theorie des

Eingedenkens - Erfahrung durch Allgorie.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

tion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen auf die Natur: der Blick wird

erwidert.“ (ZP: 670). Diese Erfahrung wird antizipiert in der Erwiderung des Blicks, wie

eben gerade beschrieben.

 Vor allem erinnert Benjamin hier an die romantische Metapher von dem Augenauf-

schlagen der Natur. Der Ausdruck des „Belehnens“ impliziert zweierlei: zum einen eine

bestimmte Form der Aufmerksamkeit bzw. der Rezeptionshaltung im Sinne der

menschlichen Fähigkeit, auf einen Blick zu „antworten“, zum anderen

„the actualization of this intersubjective experience in the relationship with non-human nature. Hence the experience of the aura in natural objects is neither im-mediate or ‚natural’ (in the sense of mystical) but involves a sudden moment of transference, a metaphoric activity.“44 

Der Blick, den uns die Natur scheinbar erwidert, spiegelt nicht das Subjekt in seiner

Gegenwart, seine bewußte Identität, sondern er konfrontiert uns mit einem anderen

Selbst, das wir nie zuvor in wachem Zustand gesehen haben. Diese an Freud erinnernde

Konnotation suggeriert, daß die „einmalige Erscheinung einer Ferne“, die sich in einer

 Wahrnehmung räumlich gegenwärtiger Objekte manifestiert, eine zeitliche Erscheinung 

ist, „marking the fleeting moment in which the trace of the unconscious, ‚prehistoric‘

past is actualized in a cognitive image.“45

 

Das bedeutet, daß auratische Erfahrung die Wahrnehmbarkeit eines Gegenstandes von einer reziproken Aufmerksamkeit abhängig macht.46 Maßgeblich an dieser Definiti-

on des Auraerfahrens, die das Intentionslose intentional macht, ist, „daß die ‚Individuali-

tät‘ des Erfahrungsobjekts eine unausschöpfliche Distanz (Unnahbarkeit) zwischen sich

und dem wahrnehmenden Individuum entstehen läßt.“47 Die Aura erzeugt eine Einsicht

im Zustand des Ähnlichseins, aber keine Identität. In der Kunst macht sie sich als unwi-

derrufliche Wirkung des Schönen geltend. Die auratische Erfahrung beruht dement-

sprechend auf „der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufi-

44 Miriam Hansen, Benjamin, Cinema and Experience, 188.45 Ebd.46 Burkhard Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno. Über Veränderungen der Kunstproduktion im

  wissenschaftlich-technischen Zeitalter, in: Bertolt Brecht I. Sonderband aus der Reihe Text+Kritik, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, München 1972, 14 – 36, 29.

47 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

gen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Men-

schen.“48 Durch die technologischen Veränderungen, wie in der Zusammenfassung des

Kunstwerk-  Aufsatzes skizziert, verliert diese Übertragung ihre Basis. Dies wird anhand

 von Benjamins Ausführungen zur Chockerfahrung noch zu sehen sein.49 

Die Erwiderung des Blicks nennt Lindner das „Paradigma der auratischen Erfah-

rung.“ Dieses Paradigma enthält zweierlei zugleich: „das verschmelzende Eintauchen

und die körperliche Distanz, die suchende Nachahmung des Angeblickten und die

Schwelle der taktilen Einverleibung.“50

Beide konstituierenden Elemente dieses Para-

digmas entfallen mit der technischen Reproduzierbarkeit und sind somit mitverantwort-

lich für den Verfall der Aura.

1.5. Verfall der Aura 

Mit dem Wandel der Kunst zur technisch reproduzierbaren, dem Aufkommen der Mas-

sen und dem damit zusammenhängenden Wandel in der Apperzeption der Menschen

  verfällt die Aura. Wichtig für diesen Sachverhalt ist der Wandel der Kunstwerke zur

 Ware.

Zum einem tritt das (technisch reproduzierte) Kunstwerk aus seinem „parasitären

Dasein am Ritual“ heraus. Allerdings machen die Kunstwerke das nicht in jenem positi-

 ven Sinn, daß sie den Kult „jeweils transzendieren, um ihr immanentes Gesetz zu finden

und ihm zu folgen“51, d. h. um zweckfreie Kunstwerke zu werden. Wichtig ist es, hier

nochmals an die Ausführungen des Abschnitts II.3: Vom Kult- zum Austellungswert: Folgen 

technischer Reproduzierbarkeit  zu erinnern, in dem die Gründe und Konsequenzen des

  Wandels vom Kult- zum Ausstellungswert beschrieben sind. Mit den verschiedenen

Methoden technischer Reproduktion hat sich die Ausstellbarkeit des Kunstwerks derart

 vergrößert, „daß die quantitative Verschiebung zwischen seinen Polen ähnlich wie in derUrzeit in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt.“ (KR3: 484). Benjamin

 vergleicht nun das Kunstwerk der Urzeit, dessen absolutes Gewicht auf seinem Kult-

 wert lag, und das somit „in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde“, das man

48 Ebd.49 Vgl., Kapitel III.2.6. Die Chockerfahrung als Erfahrungsmodus der Menschen in der Moderne50 Burkhardt Lindner, Benjamins Aurakonzeption, 232.

51 Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 109.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

als Kunstwerk erst später erkannte, mit dem technisch reproduzierten Kunstwerk. Des-

sen absolutes Gewicht liegt auf dem Ausstellungswert und wird dadurch „zu einem Ge-

bilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische sich als

diejenige abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.“ (KR2: 484). Benja-

min zitiert an dieser Stelle Brecht, der analoge Überlegungen anstellt:

„Ist der Begriff Kunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wennein Kunstwerk zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behut-sam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen“. (KR2: 484, Fn. 12).

Somit ist also, was Kultgegenstand war, Ware geworden. Bereits die auratischen Kunst-

  werke hatten diesen Warencharakter, doch war der Tauschwert hinter der Aura und

dem Kultwert verschleiert. Dieser Schleier wird umso durchsichtiger, je mehr der

 Austellungswert sich durchsetzt. Benjamin ratifiziert nun diese offen zutage getretene

 Veränderung. Tiedemann resümiert, daß egal, ob auf das Interesse von Mäzenen verei-

digt, ob im Hochkapitalismus den Gesetzen des Marktes unterworfen, „ist doch buch-

stäblich noch kein Kunstwerk der Verdinglichung im Tauschverkehr entgangen.“52 Es

ist also festzuhalten, daß die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken und der

gleichzeitige Wandel von Gesellschaft und Ökonomie nicht den Warencharakter der

Kunst neu schaffen, sondern ihn verändern. Um mit Adorno/Horkheimer die Sache auf 

den Punkt zu bringen: „Nur daß er [der Warencharakter] heute geflissentlich sich einbe-kennt, und daß Kunst ihre eigene Autonomie abschwört, sich stolz unter die Konsum-

güter einreiht.“53 

Benjamin definiert Aura auch als „Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire

beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben.“ (ÜMB:

644). Die Aura bezieht sich eher auf eine unendliche Reihe von correspondances und

 Wechselbeziehungen, die durch ein Objekt erzeugt werden, als auf ein bestimmtes fi-

xiertes Bild dieses Objekts. Dadurch wird deutlich, daß Photographie und Film einedestruktive Auswirkung auf die Aura haben, im Gegensatz zu Gemälden, die die Aura

sorgsam und getreu bewahren. Denn Film und Photographie fixieren das Bild eines

Objekts in einem bestimmten Augenblick.54 Bewußt wird bei der Photographie die As-

 

52 Ebd., 109f.53 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno. Ge-

sammelte Schriften, Bd. 3, herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel A-dorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultze, Frankfurt am Main 1997, 180.

54 Nota bene: Der Film ist nur eine schnelle Aneinanderreihung einzelner Photographien.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

soziation mit dem Photographierten eingefroren. „Die ständige Bereitschaft der willent-

lichen, diskursiven Erinnerung, die von der Reproduktionstechnik begünstigt wird, be-

schneidet den Spielraum der Phantasie.“ (ÜMB: 645). Hier wird nun schon Benjamins

Umkehrung seiner im Kunstwerkaufsatz  einseitig positiven Evaluierung der neuen Tech-

niken der mechanischen Reproduzierbarkeit deutlich, insoweit er die Photographie ex-

plizit mit „der willentlichen, diskursiven Erinnerung“ in Verbindung bringt. Diese Form

der Erinnerung, wie später noch deutlich wird, hat Benjamin – Prousts Konzept der

mémoire involontaire folgend – abgelehnt.55

Das technisch reproduzierbare Kunstwerk 

ist per se nicht auratisch, da es nicht in der Lage ist, den Blick zu erwidern, ganz im Ge-

gensatz zu Gemälden:

„Nonmechanically reproduced art – especially paintings – qualifies as auratic be-cause it is already humanized; that is, its contours have already been thoroughly shaped and fashioned by the human subject, and so, when viewed by the subject,it always stands ready to return what the subject has previously objectivated the-rein.“56 

 Was die Photographie vom Gemälde trennt, und weshalb es keine gemeinsamen Gestal-

tungsprinzipien für beide geben kann,

„ist also klar: dem Blick, der sich an einem Gemälde nicht sattsehen kann, bedeu-

tet eine Photographie viel mehr das, was die Speise dem Hunger ist, oder der Trank dem Durst.“ (ÜMB:645).

Nicht nur die Assoziation des Photographierten wird eingefroren, auch stellen sie die

Zeit still. Der, der sie anblickt, wird nichts weiter sehen, als die Spur eines vergangenen

Lebens, welches der Gegenwart völlig fremd erscheint, während „echte“ Bilder durch

ihre Fähigkeit des „Blick erwiderns“ in den betrachtenden Subjekten jeweils Aktualitäts-

bezüge herstellen, seien sie noch so vermittelt. Diese Entfremdung der „technischen

Bilder“ vom eigenem Leben kennzeichnet das 20. Jahrhundert. „Menschen, [...], die

gewohnt sind, ihrer Gegenwart in technischen Bildern zu begegnen, verlieren die Fähig-

keit ein Gedächtnisbild der Gegenwart zu bewahren, in dem ein aus der Vorgeschichte

stammender, vergessener Wunsch fortlebt.“57 Davon ist aber auch ein für die Kunst

bedeutender Aspekt berührt: ihre Zeit in Bildern für die Nachwelt aufzuheben. Tech-

55 Vgl. Kapitel III.2.5. Mémoire involontaire.56 Richard Wolin, Redemption, 238.

57 Alexander Pivecka, Die künstliche Natur, 92.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

nisch festgehaltene Bilder der Gegenwart werden nur noch als im Moment ihrer Wahr-

nehmung verschwindende wahrgenommen, die nur als das Immergleiche der Reproduk-

tion wiederkehren. Das schließt die lebendige Erfahrung eines erfüllten Wunsches aus,

somit wird also der verletzlichste Kern der Kunst zerstört: die Wahrnehmung ihrer aus

der Erwartung, nicht vergessen zu werden, entspringende Geschichte.

Daraus folgt für die Moderne, mit den in ihr vorherrschenden technisch reproduzier-

ten Bildern, daß sie den ewigen Kreis der Wiederkehr des Immergleichen nie sprengen

kann. Doch eben genau das ist das Entscheidende für Benjamin an Ästhetik, daß das

Kunstwerk sich eben nicht auf den Gegenstand beschränkt. Die historisch veränderliche

 Weise seiner Wahrnehmung ist zugleich sein Entstehungsort. Diese Wahrnehmung ist

abhängig von den „medialen Bedingungen des geschichtlichen Erscheinens von

Kunst.“58 Diese Bedingungen wiederum werden durch die technischen Fortschritte in

den Medien revolutioniert, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen, welche

„mit der zunehmenden Bedeutung der Massen im heutigen Leben zusammenhängen.“

(KR3: 479).

Hiermit ist der Verfall der Aura endgültig geklärt. Er beruht auf zwei Umständen.

„Nämlich: Die Dinge sich ‚näherzubringen‘ ist ein genauso leidenschaftliches An-liegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des

Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion dar-stellt.“ (KR2: 355).

Der Verfall der Aura durch die technischen Fortschritte, also Photographie und Film,

und die Veränderungen in der Apperzeption der Menschen in der Moderne verlangen

nach einer neuen Theorie der Erfahrung, die die neuen Formen der Wahrnehmung in-

korporiert. Diese Theorie der Erfahrung muß auch die durch den Verlust der Aura ver-

loren gegangene Möglichkeit eines Erlebens bzw. Erfahrens von Tradition gewährleis-

ten. Diese Theorie der Erfahrung Benjamins, ist Thema des folgenden Kapitels.

58 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

2. Benjamins Theorie der Erfahrung

 Wie schon aus der Zusammenfassung des Kunstwerkaufsatzes hervorging, verbindet Ben-

jamin mit dem Aufkommen der neuen Medien Film und Photographie eine grundlegen-de Veränderung der Erfahrung, auf die er mit der Konzeption des „positiven Barbaren-

tums“ antwortet. Benjamin reagiert auf den von ihm festgestellten Verlust der Erfah-

rung mit dem Konzept der „Chockwirkung“, das nicht nur durch die neuen Medien

hervorgerufen wird, sondern ganz allgemein ein Phänomen der Moderne ist. Die

„Chockwirkung“ beruht auf der Unterbrechung des Assoziationsablaufs durch ständige

 Veränderungen in dem Wahrgenommenen, wie es der Rezipient eines Films ebenso wie

der Passant im Großstadtverkehr erlebt. Jede Chockwirkung will durch gesteigerte Geis-

tesgegenwart aufgefangen sein (KR2: 379f., Fn. 16).

„Der Film ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entspre-chende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzepti-onsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Pas-sant im Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfergegen die heutige Gesellschaft erlebt.“ (KR2: 379f., Fn. 16).

Hinter diesem Konzept Benjamins steht sein Vorhaben, „dem Film eine Utopie einer

neuen Erfahrung“ zu geben.59

Er ist der Auffassung, daß das Massenpublikum kritischsein kann, obwohl es zerstreut ist, wie aus der folgenden, auch schon oben zitierten Stel-

le aus der dritten Fassung des Kunstwerkaufsatzes hervorgeht: „Das Publikum ist ein E-

xaminator, doch ein zerstreuter.“ (KR3: 505). Diese zwei Merkmale, die das Publikum

charakterisieren und durch die die Wahrnehmung in der Moderne gekennzeichnet ist,

unterscheiden sich diametral von den Wahrnehmungsbedingungen vor der Moderne.

 Waren die letzteren durch das singuläre Individuum, das in der Kontemplation versun-

ken Kunstwerke apperzepiert hat, charakterisiert, so sind es die ersteren durch die Mas-se und die Zerstreutheit.

59 Gérard Raulet, Chockerlebnis, mémoire involontaire und Allegorie. Zu Benjamins Revision seinerMassenästhetik in Über einige Motive bei Baudelaire , in: Zeitschrift für kritische Theorie,

2/1996, 5 - 28, 5.

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2.1. Erfahrungsarmut und Positives Barbarentum 

Der Anfang des Jahres 1933 geschriebene Aufsatz Erfahrung und Armut beschreibt das

Konzept des „positiven Barbarentums“.60

Benjamin beginnt diesen Aufsatz mit derFeststellung, daß die Erfahrung am verschwinden ist, d. h. die Überlieferung von „Er-

fahrenem“ von einer Generation auf die nächste, und das, obwohl eine Generation he-

ranwächst, die „eine der ungeheuersten“ Erfahrungen gemacht hat, die Generation des

ersten Weltkriegs (EA: 214). Wie auch später im Kunstwerkaufsatz verknüpft Benjamin

diesen Verlust an Erfahrung an die „ungeheure Entfaltung der Technik über die Men-

schen“, deren Kehrseite die Wiederbelebung von „Astrologie und Yogaweisheit, Cristi-

an Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus“

ist, die „unter – oder vielmehr über – die Leute kam.“ (EA: 214). Es ist aber keine Wie-

derbelebung, die hier stattfindet, sondern Galvanisierung. Daher fragt Benjamin, eine

negative Antwort vorwegnehmend, was denn dieses Bildungsgut wert sei, wenn nicht

Erfahrung uns mit ihm verbinde. Deswegen fordert Benjamin, daß man es sich einge-

stehe: „Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten sondern an Mensch-

heitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum.“ (EA: 215).

Daraus ergibt sich für ihn die Forderung, von neuem anzufangen, ein positives Bar-

barentum einzuführen, denn die Menschen sehnen sich nicht nach Erfahrung, im Ge-

genteil, sie sehnen sich danach, von ihr freizukommen, „sie sehnen sich nach einer

Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und

deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas anständiges dabei heraus-

kommt.“ (EA: 218). Man kann zwar nicht sagen, daß die Menschen unerfahren oder

unwissend sind, doch haben sie die „Kultur“ und den „Menschen“ satt, sie sind dessen

müde. „Auf Müdikeit folgt Schlaf“ so Benjamin, und der Traum während dieses Schla-

fes entschädigt für die Traurigkeit und Mutlosigkeit des Tages, er zeigt verwirklicht „dasganz einfache aber großartige Dasein, zu dem im Wachen die Kraft fehlt. Das Dasein

 von Micky-Maus ist ein solcher Traum“ heutiger Menschen, denn dieses Dasein ist vol-

ler Wunder, allesamt ohne Maschinerie improvisiert, „Natur, Technik, Primitivität und

Komfort sind hier vollkommen eins geworden und vor den Augen der Leute [...] er-

scheint erlösend ein Dasein.“ (EA: 218). Auch hier wird die Parallele zum Kunstwerkauf- 

 

60 Auch geschieht dies im Kunstwerkaufsatz, allerdings nur implizit.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

satz deutlich, denn dort heißt es, daß die zweite Technik es auf ein Zusammenspiel zwi-

schen Natur und Menschheit“ abgesehen hat und es die Funktion der Kunst, insbeson-

dere des Films, ist, dieses Zusammenspiel zu befördern (KR2: 359).

Benjamin stellt also einen objektiven und irreversiblen Verfall sowohl des „ganzen Bil-

dungsguts“ als auch der „Erfahrung“ fest. „Arm sind wir geworden“, beginnt Benjamin

den letzten Absatz dieses Aufsatzes, Stück für Stück Menschheitsgeschichte hat man für

die „kleine Münze des Aktuellen“ hingeben müssen,  und die Wirtschaftskrise steht vor

der Tür, hinter ihr „ein Schatten, der kommende Krieg.“ (EA: 215). Der von Benjamin

geforderte Begriff des „neuen, positiven Barbarentums“, der eingeführt werden soll, um

„von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen“, erfordert daher den destruktiven

Charakter, der es mit der Krise aufnehmen kann (EA: 215). „Der destruktive Charakter

kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach

frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.“61 Er soll die Überlieferung 

nach Zerstörungswürdigem absuchen. Das von Grund auf Neue muß auf Verzicht be-

gründet werden, wie bei Loos, Klee und Brecht:

„In deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf  vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben. Und was die Hauptsache ist, sietut es lachend. Vielleicht klingt dieses Lachen hie und da barbarisch. Gut. Mag doch der Einzelne bisweilen ein wenig Menschlichkeit an jene Masse abgeben, diesie eines Tages ihm mit Zins und Zinseszins wiedergibt.“ (EA: 219).

Erfahrungsarmut bedeutet also, einen Strich unter das bisherige zu ziehen, den Beteue-

rungen des Humanismus, „ ‚des Menschen‘ und ‚der Kultur‘ zu mißtrauen und den Rea-

litäten der Masse und Technik ins Auge zu sehen.“62 Mit anderen Worten heißt Erfah-

rungsarmut, dem kulturgeschichtlichen Ballast, der über die Jahrhunderte angesammelt

 wurde und in den Händen der Bourgeoisie faulig geworden ist, zu entsagen. Positives

Barbarentum wurzelt in den Enttäuschungen und der Beharrlichkeit des destruktiven

Charakters, wie Benjamin sie an Loos, Klee und Brecht festgestellt hat.63

Sie haben die

Krise nicht durch eine abermalige schöpferisch-geistige Erneuerung zu bewältigen ge-

sucht, sondern

61 Walter Benjamin, Der destruktive Charakter, in: GS IV.1, 396-398, 396.62 Burkhardt Lindner, Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins „positives

Barbarentum“ im Kontext, in: Walter Benjamin im Kontext, herausgegeben von Burkhardt Lind-ner, 2. erw. Auflage, Königsstein i. Ts. 1985, 180-223, 184.

63 Ebd., 184.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

„stoßen vom hergebrachten, feierlichen, edlen, mit allen Opfergaben der Vergan-genheit geschmückten Menschen ab, um sich den nackten Zeitgenossen zuzu-

 wenden, der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln derEpochen liegt.“ (EA: 216).

Es tritt hier deutlich Benjamins Forderung an den bürgerlichen Intellektuellen zu Tage:

dieser soll seine Lage und Tätigkeit innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesell-

schaft und Produktionsverhältnissen überdenken, auf daß er sich schließlich gegen sie

 wendet, d. h. sie verrät:

„Dieser Verrat besteht [...] in einem Verhalten, das ihn aus einem Belieferer desProduktionsapparates zu einem Ingenieur macht, der seine Aufgabe darin erblickt,diesen den Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen.“ (AAP: 701;

 vgl., SÜ: 309).

64

  Wie aber begründet Benjamin seine These des Zerfalls der Erfahrung? Dies läßt sich

sehr gut an der in diesem Kapitel zitierten Metapher von der „kleine[n] Münze des Ak-

tuellen“ darstellen.

2.2. Erfahrungsverlust durch Information 

 Vor allem in seinem kurz nach dem Kunstwerkaufsatz geschriebenen Aufsatz Der Erzähler.Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows konstatiert Benjamin den Verfall des Erzählens.

Er stellt diesen Verfall „über den Gegensatz von Romancier und Erzähler“ dar,65 d. h.

über den Kontrast des epischen Elements der Erzählung, ihrer oralen Tradition, zu der

 Tatsache, daß der Roman weder von oralen Tradition kommt noch in sie eingeht. 66 Da-

bei kommt es Benjamin darauf an zu zeigen, inwieweit Erfahrung und unsere Kapazität,

Erfahrungen wiederzugeben, im modernen Leben am verschwinden ist.67 Dies hängt

damit zusammen, daß die Struktur von Erfahrung in der modernen Welt sich radikalund nachhaltig verändert hat. Die Erfahrung fällt im Kurs, und es scheint, so Benjamin,

daß sie ins Bodenlose fällt. Das erweist jeder Blick in die Zeitung, und auch zeigt sich

64 Irving Wohlfahrt, Dialektischer Spleen. Zur Ortsbestimmung der Adornoschen Ästhetik, in: Mate-rialien zur ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstuktion der Moderne, herausgegeben vonBurkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Frankfurt am Main 1980, 310-347, 333.

65 Briefe, 711.66 Allerdings werde ich auf diesen Gegensatz nur so weit eingehen, wie es für das in diesem Kapitel

dargestellte Thema fruchtbar ist.

67 Richard Wolin, Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption, New York 1982, 218.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

aus ihm, „daß nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt

über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt.“ (ENL: 439).

„Über Nacht“ heißt für Benjamin, daß diese tiefgreifenden Veränderungen mit dem

Ersten Weltkrieg sich vollzogen haben. Bei der folgenden eindringlichen Beschreibung 

dieser Veränderungen bleibt Benjamin dem marxistischen Prinzip treu, kulturelle Phä-

nomene in ihrem Entstehungskontext materieller Lebensbedingungen zu verstehen.68

 

„Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, standunter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben warals die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Exp-losionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“ (ENL: 439).

Hervorzuheben ist hier, daß Benjamin eine Art Medienarchäologie betreibt, wenn er die

Formen der Informationsspeicherung und -übermittlung seiner eigenen Zeit reflektiert.

Diese Reflexion wird gefördert durch zwei historische Entwicklungen: „Die Erfahrung 

als Schatz bisheriger Selbstverständlichkeit wird angesichts der Kontingenzerfahrung 

und des Krisenbewußtseins durch Katastrophen fragwürdig. Mit dem Scheitern des

liberalen Bürgertums verschwindet aber gleichzeitig das kohärente Kommunikations-

monopol Schrift als Ort dieses gespeicherten Wissens. Erfahrung und Trägermedium

kommen gleichermaßen in die Krise.“69 

 Jedes Massenmedium – hier also die visuellen Medien – ist das technische Symptomeiner neuen Wirklichkeit. Die Moderne kennzeichnet das Objektiv der Kamera als eine

  Wirklichkeit, „dergegenüber niemand die Verantwortung persönlicher Stellungnahme

eingehen kann. Man appelliert an das Objektiv.“ (PW: 833). Der Erste Weltkrieg und

seine Nachwirkungen in der Weimarer Republik machen deutlich, was hiermit gemeint

ist. Die persönliche Stellungnahme ging im Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs verlo-

ren, die persönliche Verantwortung hat in der Inflation Konkurs angemeldet. Mit dem

 Weltkrieg haben also die Massenmedien die Stelle der Erfahrung und Erinnerung einge-

nommen.70 

Die Kunst des Erzählens ist eine Gattung, die zwischen das antike Epos und den

Roman der Moderne fällt, jedoch deutlich Affinitäten zu der „epischen Seite der Wahr-

 

68 Ebd., 218.69 Heiko Reisch, Das Archiv und die Erfahrung. Walter Benjamins Essays im medientheoretischen

Kontext, Würzburg 1992, 22.70 Norbert Bolz, Die Schrift des Films, in: Diskursanalysen 1. Medien, herausgegeben von Friedrich

 A. Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber, Opladen 1987, 26 – 34, 26.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

heit“ hat, obwohl sie dem Roman deutlich näher steht. „It is an art form in which mea-

ning is unquestionably immanent to and transparent in life.“71 So sind der „handeltrei-

bende Seemann“ und der „seßhafte Ackerbauer“ die archaischen Stellvertreter der

Gruppen, denen Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, da beide Geschichten von Inte-

resse zu erzählen hatten (ENL: 440). Die Erzählung des Seemanns genoß eine Aura von

 Autorität, kam sie doch aus fernen Gefilden; die des Ackerbauers erlangte ihre Autorität

durch die Erfahrung des Erzählers, der die Geschichten aus der eigenen Region be-

  wahrt. Schließlich, so Benjamin, fand das Erzählen im Handwerkerstand seine hohe

Schule. „In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach

Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften

sich anvertraut.“ (ENL: 440).72 

Die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Kulturen ist die Voraussetzung für das Erzählen

überhaupt, wobei den Erfahrungen, die in verschiedenen Kulturräumen – ob zeitlich

oder räumlich – gemacht werden, etwas Kontinuierliches anhaftet. Dies muß so sein,

 weil ansonsten „die Kette mündlicher Mitteilungen abbrechen [würde], das Erzählbare

  wäre nicht länger mitteilenswert.“73 Da das mündlich Tradierbare, im Gegensatz zur

Schrift, ein instabiles Medium ist, muß es bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit es

seine ständige Tradierungskraft beibehält. Beispielweise muß das Erzählte so geschaffen

sein, daß jederzeit ein Aktualitäts- bzw. Sinnbezug dazu hergestellt werden kann. So istdas Aufkommen des Romans ein frühes Anzeichen für den Niedergang des Erzählens.

 Am Ende dieses Prozesses steht der Verlust der Erzählung, die an ihrer statt durch die

Information ersetzt wird.

Zwei entscheidende Unterschiede zwischen Erzählung und Roman sind festzustellen.

Zum einem ist der Roman auf das Buch angewiesen, zum anderen ist es die singuläre

Rezeption des Buches. Beides trifft auf die Erzählung nicht zu, ist sie doch bestimmt

durch die orale Tradition – Geschichten werden erzählt und von den Zuhörern weiter-

erzählt – und durch die kollektive Rezeption. Hinzu kommt, daß das mündlich Tradier-

bare, das Gut der Epik, von anderer Beschaffenheit ist als das, was den Roman aus-

macht (ENL: 443). Mit dem Erzählen verschwindet der praktische Nutzen der Erzäh-

 

71 Richard Wolin, Redemption, 219.72 Eine interessante Parallele zur Aurakonzeption läßt sich hier am Beispiel des Handwerkerstands

feststellen: Er ist ‚Fern’ durch seine Wanderungen, aus denen er seine Erzählungen speist, und‚Nah’ zugleich qua Erzälender. Die Aura wird definiert als „Ferne, so nah sie auch sein mag“. Die-se Nähe zur Auradefinition kann die Autorität, die die Erzählung aus der Ferne hat, erklären.

73 Heiko Reisch, Archiv und Erfahrung, 134.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

lung. Dieser „mag einmal in der Moral bestehen, ein andermal in der praktischen An-

 weisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel. Auf jeden Fall ist der

Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß.“ (ENL: 442). Benjamin fährt fort, daß

dieses „Rat wissen“ sich deswegen altmodisch in den heutigen Ohren anhört, weil die

Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt. ‚Rat‘ definiert er nicht als eine Antwort auf eine

Frage, sondern vielmehr als einen Vorschlag für den weitern Verlauf einer Geschichte.

Um sich einen solchen einzuholen, müßte „man sie [die Geschichte] zuvörderst erzäh-

len können. Rat, in den Stoff des gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit.“ Somit

kommt Benjamin zu dem Schluß, daß sich die Kunst des Erzählens deswegen ihrem

Ende zuneigt, „weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“ (ENL: 442).

 Aus dem bisher gesagtem wird der Unterschied zum Roman besonders deutlich: Ein

Roman nämlich hat seine „Geburtskammer“ in der Einsamkeit des Individuums, und

einen Roman schreiben heißt, „in der Darstellung des menschlichen Lebens das In-

kommensurable auf die Spitze treiben.“ Durch die Fülle des Lebens und die Darstellung 

dieser Fülle „bekundet der Roman die Ratlosigkeit des Lebenden.“ (ENL: 443). Die

Ratlosigkeit des Individuums resultiert daraus, daß es aus den traditionellen Lebensbe-

dingungen herausgerissen worden ist, hinein in die kapitalistische Gesellschaft, in der die

Lebensbedingungen des Individuums bestimmt sind durch den bellum omnium contra om- 

nes , d.h. die Maximen der Handlungen sind durch das Eigeninteresse des Individuumsbestimmt.74 Don Quichote, „das erste große Buch der Gattung“, beschreibt sogleich,

 wie „die Seelengröße, die Kühnheit, die Hilfsbereitschaft eines der Edelsten [...] von Rat

gänzlich verlassen sind und nicht den kleinsten Funken Weisheit enthal-

ten.“ (ENL: 443).

In der sich im Prozeß der Industrialisierung befindenden Gesellschaft wurde nun die

 Weisheit der Erzählung durch die Information ersetzt. Das ist ein Vorgang der mehr ist

als lediglich eine ‚Verfallserscheinung‘, und es wäre töricht, nur eine ‚Moderne‘ in ihm

erblicken zu wollen. Er ist nämlich „eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher

Produktivkräfte, die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Re-

de entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar

macht.“ (ENL: 442).

74 Richard Wolin, Redemption, 221.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Durch die Herrschaft des Bürgertums, zu deren wichtigsten Instrumenten im Hochkapi-

talismus die Presse gehört, tritt eine neue Form der Mitteilung auf den Plan, die der Er-

zählung sehr fremd und sehr bedrohlich gegenübertritt: die Information (ENL: 444). Es

ist somit eine Korrelation zwischen dem historischen Verfall von Erzählung und Roman

und dem Aufkommen der Presse- und Medientechnologie festzustellen. Der Unter-

schied zwischen Erzählung und Information ist der, daß die Information alles gleichzei-

tig erklärt, keine Fragen offen läßt und immer plausibel klingt. Die Kunst der Erzählung 

hingegen liegt darin, die Geschichte, die man wiedergibt

„von Erklärungen freizuhalten. [...] Das Außerordentliche, das Wunderbare wirdmit der größten Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammenhang des Ge-schehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die

Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzählte eineSchwingungsbreite, die der Information fehlt.“ (ENL: 445).

Die Nachrichten, die uns jeden Morgen in der Form von z. B. Zeitungen erreichen, sind

hingegen, obwohl sie Neuigkeiten aus der ganzen Welt enthalten, arm an Geschichten,

 was daher kommt, daß uns keine Gegebenheiten mehr erreichen, die nicht schon mit

Erklärungen durchsetzt sind (ENL: 444f.). „Massen“ - Journalismus ist für Benjamin

demnach nichts anderes als eine beliebige Sabotage der Erfahrung, die sie auf eine An-

häufung von statistischen und überflüssigen Fakten reduziert, und einen Überfluß an

Informationen auf den Plan ruft, „deren Reizwirkung umso stärker ist, je mehr sie ir-

gendwelcher Wertung entzogen sind.“ (PW: 560). Die journalistische Berichterstattung 

ist ein Prozeß der Entstellung, der darauf zielt, die Fähigkeit des unabhängigen, selbst-

ständigen Beurteilens der Öffentlichkeit zu zerstören bzw. in ihr einen künstlichen Kon-

sens herzustellen, indem jeder Geschichte eine Erklärung beigeben ist, um zu suggerie-

ren, wie der Durchschnittsmensch die Ereignisse zu interpretieren hat.75 Dieses doch

sehr schroffe Urteil über die Massenpresse verdankt sich wohl auch den Umständen,

daß Benjamin seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kaum mehr Möglichkei-

ten hatte, seine Artikel in Zeitungen in Deutschland unterzubringen und daher, daß

unter dem Nationalsozialismus die Presse – und selbstverständlich nicht nur die Presse

 – einer Gleichschaltung unterlag, diese somit stark ideologisiert über die Geschehnisse

75 Ebd., 221f.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

der Zeit zu berichten hatte.76 Daß Benjamin der Presse durchaus auch positive Seiten

abgewinnen kann, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzugen stimmen, d. h. wenn die

Presse nicht mehr in den Händen des Kapitals bzw. des Faschismus liegt, werde ich in

Kapitel V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien in Benjamins Gesell- 

schaftstheorie eingehend darstellen.

„Das reale Verhältnis dieser Information zum gesellschaftlichen Dasein ist in der

 Abhängigkeit dieses Informationsbetriebs von den Börseninteressen und in seiner Aus-

richtung auf sie beschlossen.“ (PW: 560). Es ist der Anspruch auf Universalität und die

Unüberschaubarkeit der mannigfaltigen Ereignisse und Neuigkeiten, „die zu kontingen-

ten Erlebnissen des Lesers“ führen, und deren Kommentierung zu einem „erklärten

Geschehen.“77 Die Kommerzialisierung, die kurzlebigen Leseinhalte und eine Beschleu-

nigung des Wahrnehmens als Rezeptionskonstituenten erfordert, ist es also, die die alte

Form des Wahrnehmens, die Versenkung, verdrängt.

Sehr gut läßt sich die Beschreibung des Journalismus von Benjamin mit der Musils

im  Mann ohne Eigenschaften vergleichen, die beide ungefähr in der gleichen Zeit entstan-

 

76 „Einen Begriff von der Lage gibt weniger der individuelle Terror, als die kulturelle Gesamtsituati-

on. [...] Was mich betrifft, so sind es nicht diese – seit langem mehr oder minder absehbaren –  Verhältnisse gewesen, die in mir, [...] die Entschließung, Deutschland zu verlassen zur schleunigs-ten Entfaltung gebracht haben. Es war vielmehr die fast mathematische Gleichzeitig, mit der vonallen überhaupt in Frage kommenden Stellen Manuscripte zurückgereicht, schwebende, bezie-hungsweise abschlußreife Verhandlungen abgebrochen, Anfragen unbeantwortet gelassen wurden.Der Terror gegen jede Haltung oder Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos an-gleicht, hat ein kaum zu überbietendes Maß angenommen.“ Walter Benjamin in einem Brief vom20. März 1933 an Gershom Scholem, in: Briefe, 566. Diese Beschreibung der Zustände wundertkaum, wenn man Goebbels Ausführungen über „Die Aufgaben der Presse“ vom 18. März 1933liest: „Wenn wir schweigend die Erbschaft der vergangenen 14 Jahre übernehmen würden, ohnedem deutschen Volk die Ursachen des deutschen Verfalls klarzumachen, [dann würde es] unserenparteipolitischen Gegnern [...] in kurzer Zeit gelingen, die neue Regierung für diese Erbschaft, [...] verantwortlich zu machen.“ Um dies zu verhindern fordert Goebbels: „Wie ich schon betont ha-be, soll die Presse nicht nur informieren, sondern muß auch instruieren. Ich wende mich dabei vorallem an die ausgesprochen nationale Presse. Meine Herren! Sie werden auch einen Idealzustanddarin sehen, daß die Presse so fein organisiert ist, daß sie in der Hand der Regierung sozusagen einKlavier ist, auf dem die Regierung spielen kann, daß sie ein ungeheuer wichtiges und bedeutsamesM a s s e n b e e i n f l u s s u n g s instrument ist, dessen sich die Regierung in ihrer verantwortli-chen Arbeit bedienen kann.“ Zitiert nach: Joseph Wulf, Kultur im Dritten Reich, Bd. 1, Presse undFunk im Dritten Reich, Reinbek bei Hamburg 1966, 64f. Sperrung von mir. Daß Goebbels sich andie national gesonne Presse richtet ist nicht weiter verwunderlich, wurde doch jedes nicht nationalgesonnene Blatt kurzerhand verboten, oder wurde schlicht gleichgeschaltet. Vgl. Joseph Wulf,Presse und Funk im Dritten Reich, 81 – 162; und Werner Fuld, Walter Benjamin. Zwischen denStühlen. Eine Biographie, München/Wien 1979, 228f. Um das mit einem weiterem sehr bezeich-nendem Zitat Goebbels über die Aufgabe der Presse abzuschließen (16. März 1933): „Und als ihreerste Aufgabe betrachte ich, eine Gleichschaltung zwischen der Regierung und dem ganzen deut-schen Volke herzustellen.“ Joseph Wulf, ebd., 84.

77 Heiko Reisch, Archiv und Erfahrung, 136.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

den sind. Nach dem Tod von Ulrichs Vater kommt ein Journalist zu Ulrich, um ihn

 wegen eines Nekrologs zu befragen.

„Der Journalist, ein junger Mann, fragte, ob der Tod des alten Herrn nach langem

Leiden oder unerwartet gekommen sei, und als Ulrich zur Antwort gab, daß sein Vater bis zur letzten Woche seine Vorlesungen abgehalten habe, formte er daraus:in voller Arbeitsrüstigkeit und Frische. Dann flogen von dem alten Herrn dieSpäne davon bis auf ein paar Rippen und Knoten: Geboren in Protiwin im Jahre1844, die und die Schulen besucht, ernannt zum ..., ernannt am ...; mit fünf Er-nennungen und Auszeichnungen war das Wesentliche schon fast erschöpft. [...]Ulrich staunte über das kleine Häufchen Asche, das von einem Leben übrigbleibt.Der Journalist hatte für alle Auskünfte, die er empfing, sechs – und achtspännigeFormeln bereit gehabt: großer Gelehrter, geöffneter Weltsinn, [...]. Ulrich überleg-te; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hat-

te der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand neh-men wollte.“78 

Die „statistische Entzauberung“ der Person, die sie in bestimmte, aus dem Zusammen-

hang gerissene Merkmale packt,79 läßt sich genauso auf andere Ereignisse anwenden.

 Worauf es der Information, d. h. dem Journalismus ankommt, sind nicht die Geschich-

ten und Verknüpfungen, sondern die puren Fakten, die in der Moderne konstitutiv sind

für die Information (ENL: 444). Für die Erzählung wäre in diesem Fall der „Inhalt einesGlases Wasser ohne das Glas“ wichtig gewesen. Die Information liefert die Erklärung 

schon immer mit, heißt es sinngemäß bei Benjamin, und auch dazu findet sich im  Mann 

ohne Eigenschaften eine Parallele. Gleich zu Anfang des Romans beschreibt Musil einen

 Verkehrsunfall eines Lastkraftwagens mit einem Passanten. Eine Dame kam mit einem

Begleiter des Wegs und schauten sich das Opfer an. Die Dame verspürte

„etwas Unangenehmes in der Herz – Magengrube, das sie berechtigt war, für Mit-

leid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagtenach einigem Schweigen zu ihr: ‚Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwen-det werden, haben einen zu langen Bremsweg.‘ Die Dame fühlte sich dadurch er-leichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort schonmanchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auchnicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine

78 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe1978, Reinbek bei Hamburg 1997, 692f.

79 Ebd., 159.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nichtmehr unmittelbar anging.“80 

Dieses Zitat zeigt sehr gut das auf, worauf es Benjamin ankommt, wenn er die Erklä-

rung mitliefernde Information kritisiert. Die mitgelieferte Information ist hier sozusagen

der „Bremsweg“. Mit dieser technischen Information kann die Dame zwar nichts an-

fangen, nichtsdestotrotz beruhigt es sie zu „wissen“, daß dieser Unfall erklärbar ist, denn

die Information „zu langer Bremsweg“ ist gleichzeitig die Erklärung für den Unfall, ob

dieser nun schuld war oder nicht. Hinter der erklärenden Information geht aber das

Bedeutende verloren, nämlich ob der Mann nun tot ist oder nicht, oder wie es denn

 wirklich zu dem Unfall gekommen ist.81 

 Während die Erzählung, die aus der Ferne kam, wie oben dargestellt, über eine Auto-

rität verfügte, die ihr Geltung verschaffte, hat Information den Anspruch auf Überprüf-

barkeit. Die Information muß plausibel klingen, während die Erzählung auch gern vom

 Wunder borgte (ENL: 444). Im Gegensatz zur Erzählung lebt die Information nur in

dem Augenblick, in dem sie neu ist. Die Erzählung hingegen ist zeitlos und kann selbst

nach langen Zeitabständen noch Inhalte vermitteln, wie folgendes Beispiel von Mon-

taignes Bezugnahme auf Herodots Erzählung über den König Psammenitos. Psammeni-

tos wurde von Kambyses gezwungen zuzusehen, wie seine Tochter angezogen wie eine

Sklavin an ihm, zum Wasserholen, vorüberzog. Auch mußte er seinem Sohn, seinerHinrichtung entgegengehend, zusehen. Psammenitos zeigt keine Gefühlsregung bei

diesem demütigenden Schauspiel. Erst als ein alter Mann, der sein Hab und Gut verlo-

ren hatte, „einer von Psammenitos Tafelrunde“ daherkam und bei den Soldaten betteln

mußte, „da weinte er [Psammenitos] laut, rief den Freund bei Namen und schlug sich an

die Stirn.“  82 Auf die Frage, warum er erst bei dem Anblick des alten Mannes geweint

habe, antwortet Psammenitos, daß die Leiden seines Hauses zu groß seien, um über sie

zu weinen, aber die Not des Freundes verdiene sein Klagen.

83

Montaigne nimmt dieseErzählung knapp 2000 Jahre später in seinem Essay Über die Traurigkeit wieder auf und

80 Ebd., 11.81 Um diesem Unfall noch den letzten Rest eines außergewöhnlichen Ereignisses zu nehmen, erklärt

der Mann noch der Dame, daß nach „amerikanischen Statistiken“ durch Autos in den USA „jähr-lich 190000 Personen getötet und 450000 verletzt“ werden. Ebd.

82 Herodot, Historien, Buch III, Kapitel 14, 186f, Stuttgart 41971.

83 Ebd., 187.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

 vergleicht sie mit einem aktuellen Geschehen seiner Zeit in Trient.84 Dort hatte ein Fürst

innerhalb kürzester Zeit das Ableben zweier seiner Brüder zu verkraften. Beides bewäl-

tigte er „mit beispielhaften Gleichmut.“ Erst bei der Nachricht des Ablebens einer sei-

ner Vertrauten überkam ihn die Trauer: „Derart verlor er hierüber die Fassung, derart

gab er sich seinem Schmerz und seiner Wehmut hin, daß einige daraus folgerten, nur die

letzte Unglücksbotschaft habe ihn ins Mark getroffen.“85 Es verhielt sich aber so, daß

der Fürst mit Leid übervoll war, so daß das kleinste mehr an Leid ihn über die Grenzen

des Erträglichen hinaustrieb.86

Zwar decken sich die Begründungen für den erst späten

 Ausbruch der Trauer in den Erzählungen von Herodot und Montaigne nicht, doch zeigt

diese Bezugsnahme Montaignes auf Herodot sehr anschaulich, was Benjamin mit der

Zeitlosigkeit der Erzählung und ihrer Fähigkeit Inhalte zu vermitteln meint.

Einhergehend mit dem Aufkommen der Information erlangen andere Erscheinungen

der Moderne mehr und mehr Einfluß auf die Menschen. Die Teilung der Arbeit und die

zunehmende Bürokratisierung, um der zunehmenden Konzentration der Menschen in

den Städten Herr zu werden, sind Indikatoren für „the degree to which the parameters

of society have been quantitatively extended at the expense of its former integral uni-

ty.“87 Die Folge davon ist, daß man zwar mehr über alles weiß, die Qualität dieses Wis-

sens aber eine schlechtere ist, denn dieses Wissen steht in keinem Zusammenhang mehr

zu den wichtigen Fragen, die in direktem Zusammenhang mit dem „Sinn des Lebens“stehen, den zuvor die Erzählungen durchaus herstellten. Das Aufkommen der Informa-

tion steht also in direktem Zusammenhang mit der Krise der Erfahrung, die Benjamin

in einem Satz zusammenfassend formuliert: „Jeder Morgen unterrichtet uns über die

Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten

arm.“ (ENL: 444). Im Zeitalter der Information hat die Erfahrung drastisch an Wert

 verloren, die Information aber ist nur von kurzeitiger Bedeutung, die mit ihrem Aktuali-

tätsgehalt sofort an Wert verliert. Und da jede Begebenheit, die uns erreicht, schon mitErklärungen durchsetzt ist, wie oben schon erläutert, kommt fast keines dieser Ereignis-

se der Erzählung zugute (ENL: 445). Daraus resultiert, daß der fragmentarische Charak-

ter des sozialen Lebens der Moderne auf halbem Weg der planlosen Verarbeitung von

84 Michel de Montaigne, Essais, erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt amMain 1998, 11f..

85 Ebd., 11.86 Ebd., 11.

87 Richard Wolin, Redemption, 221.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Erfahrung durch den Journalismus begegnet. Dementsprechend kann die Erfahrung in

Form der Information dem Menschen nichts mehr beibringen. Erfahrung als Informa-

tion ist schlichtweg zu einem austauschbaren Aspekt modernen Lebens geworden.

 Wenn man folgenden Vergleich ziehen darf, so läßt sich feststellen, daß Benjamin in

dem Aufsatz Der Erzähler  eine Wendung um 180 Grad in der Beurteilung der durch

 Technik veränderten Strukturen vollzieht. Während in dem Aufsatz Das Kunstwerk im 

Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit  die nichtauratischen, d. h. durch technische

Hilfsmittel der Wahrnehmung des Publikums angepaßten Kunstwerke als Fortschritt

gefeiert werden, wird in dem Aufsatz Der Erzähler genau das Gegenteil behauptet, näm-

lich daß die Information, die ja Produkt der Technisierung ist, schlechterdings weniger

 wert ist als die Erzählung. Im Kunstwerkaufsatz wird das auratische Kunstwerk mehr oder

minder undialektisch verdammt, als affirmativer, konterrevolutionärer Bestandteil tradi-

tioneller Kunst. Jedoch beinhaltet es ein unverzichtbares utopisches Moment, „an yet

unfulfilled   promesse de honneur , which, if abstractely negated, forces art to degenerate to

the level of merely one more thing among things in the utilitarian mill of social life.“88 

Solange die auratische  promesse de honneur noch nicht realisiert worden ist birgt, Benja-

mins Akzeptanz des nichtauratischen technisch reproduzierten Kunstwerks die Gefahr,

eine reaktionäre und falsche Aufhebung von autonomer Kunst zu betreiben. Daher

bewertet Benjamin in dem Aufsatz Der Erzähler seine Position aus dem Kunstwerkaufsatz  neu und bedauert den durch den technischen Fortschritt betriebenen Verfall des Erzäh-

lens:

„Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertsteunter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfah-rungen auszutauschen.“ (ENL: 439).

  Technische Fortschritte auf die künstlerische Sphäre angewendet müssen also nicht

Fortschritte mit sich bringen, und sie müssen auch nicht zu einer emazipatorischen Ver-änderung der Kunst führen. Vielmehr stellt Wolin ganz richtig fest, daß

„traditional auratic art, instead of being simply reactionary, serves as the reposito-ry of the hopes and aspirations of past ages, and as such function as an importantstimulus to change in the present – the loss of which could have only the gravestconsequences.“89 

88 Ebd., 225.

89 Ebd. Vgl. Kapitel III.2.8. Theorie des Eingedenkens – Erfahrung durch Allegorie.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Das spiegelt sich auch wieder in Benjamins Konzeption der Chockerfahrung wie sie in

dem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire offenbar wird. Besonders deutlich wird, daß

Benjamin – wie schon in Der Erzähler – bei der Beschreibung dieses Erfahrungskonzeps

nicht auf traditionelle Momente verzichten will bzw. kann, diesen sogar durch die Ein-

führung sogenannter „Gedenktage“ ausdrücklich wieder einen bedeutenden Teil in sei-

ner Erfahrungskonzeption einräumt. Denn nicht zuletzt ist die Erinnerung ein konstitu-

tiver Teil der Erzählung, denn das Gedächtnis ist „das epische Vermögen vor allem

anderen“, und „Mnemosyne, die Erinnernde, war bei den Griechen die Muse des Epi-

schen.“ (ENL: 453). Erinnerung aber „stiftet die Kette der Tradition, welche das Ge-

schehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet. [...] Sie bildet das Netz, welches

alle Geschichten miteinander am Ende bilden. Es ist, mit anderen Worten das Einge-

denken, [...] das dem Gedächtnis zur Seite tritt, nachdem sich mit dem Zerfall des Epos

die Einheit ihres Ursprungs [der Erinnerung] geschieden hatte“, nämlich in das Ge-

dächtnis des Romans, das Benjamin das verewigende nennt, und das der Erzählung,

dem kurzweiligen, d. h. das der vielen zerstreuten Begebenheiten (ENL: 454).

2.3. Berlin - Paris – London: Die Menge und ihre Wahrnehmung 

In dem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire reflektiert Benjamin über die gesellschaft-

liche Ursache der Strukturveränderung der Wahrnehmung und versucht sie in drei his-

torischen Schritten darzustellen.90 Dies geschieht anhand der Beschreibungen der Menge

in Berlin, Paris und London, die jeweils stellvertretend für eine Entwicklungsstufe der

Gesellschaft und deren Wahrnehmungsform stehen.

E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster  entnimmt Benjamin die Beschreibung der

Masse in Berlin, von Edgar Allen Poes Der Mann der Menge die Londons, und Baudelaire

liefert ihm diese Beschreibung für Paris.E.T.A. Hoffmanns Stück Des Vetters Eckfenster  ist 15 Jahre vor den Beobachtungen

Poes geschrieben und „stellt wohl einen der frühesten Versuche dar, daß Straßenbild

einer größeren Stadt aufzufassen.“ (ÜMB: 628). Benjamin kontrastiert im folgenden die

Unterschiede der beiden Texte. Zum einem hebt er den Standort des Beobachters in

den jeweiligen Stücken hervor. Während bei Hoffmann dieser „in seinem Hauswesen

90 Krista R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Wal-

ter Benjamins, München 1981, 39.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

installiert ist“, sitzt Poes Beobachter in einem öffentlichen Lokal und beobachtet die

Menge von dort durch das Fenster. Daraus folgert Benjamin, daß Poes Beobachter „ei-

ner Attraktion, die ihn schließlich in den Strudel der Menge zieht“, unterliegt, während

Hoffmanns Vetter in seinem Eckfenster gelähmt ist und der Strömung selbst dann nicht

folgen könnte, „wenn er sie an der eigenen Person verspüren würde.“ (ÜMB: 628). Der

Beobachter Hoffmanns ist der Menge erhaben, er mustert sie, wie sie auf einem Wo-

chenmarkt ganz in ihrem Element ist. Mit Hilfe eines Opernglases entnimmt er ihr

„Genreszenen“. Der Benutzung dieses Instruments entspricht die „innere Haltung des

Benutzers.“ Die beobachtete Menschenmenge ist strukturiert und geht ihren Geschäften

nach, ihr fehlt alles Unheimliche, Chaotische und Wilde, das die Menschenmenge Lon-

dons in den Beschreibungen Poes hat. „Im Unterschied des Beobachtungspostens

steckt der Unterschied zwischen Berlin und London. Auf der einen Seite der Privatier;

er sitzt im Erker wie in einer Rangloge; wenn er auf dem Markt sich deutlicher umsehen

 will, so hat er seinen Operngucker zur Hand.“ (PSE: 551). Der Poesche Kaffeehausbe-

sucher ist im Gegensatz dazu der Namenlose, der Konsument, „der von dem Magneten

der Masse“ unablässig bestrichen wird und so angezogen bald das Kaffeehaus wieder

 verlassen wird (PSE: 551). Er sieht durch die Scheiben des Kaffeehauses ein hektisches

 Treiben von Menschen auf der Straße, die voranhastend Stöße austeilen und empfan-

gen, die aber nicht miteinander kommunizieren; wenn jemand redet, dann mit sichselbst.91 Die Personen in der Menge verhalten sich, „als ob sie sich gerade in der unzäh-

ligen Menge, von der sie umgeben waren, allein vorgekommen wären.“ (ÜMB: 625).

Der Meisterzug der Poeschen Erzählung liegt nach Benjamin darin, „daß er die hoff-

nungslose Isoliertheit der Menschen in ihrem Privatinteresse nicht [...] in der Verschie-

denheit ihres Gebarens sondern in ungereimten Gleichförmigkeiten, sei es ihre Beklei-

dung, sei es ihres Benehmens zum Ausdruck bringt.“ (PSE: 555f.).

Doch auch der Poesche Kaffeehausbesucher ist bald wieder Passant. „Dem Chocker-

lebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das Erlebnis des Arbeiters an der

Maschine.“ (ÜMB: 632). Poes Passanten benehmen sich so, als könnten sie wie eine

Maschine nur noch automatisch, angepaßt reagieren. Ihre Chockerlebnisse sind gegen

Erfahrung abgedichtet, wie es beim Arbeiter der Fall ist, der durch die Dressur an der

Maschine der am tiefsten entwürdigte ist (ÜMB: 632).

91 Ebd., 40.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Die Masse Londons ist „amorph und anonym“, die Berlins ist „strukturiert und indivi-

duiert.“92 Paris liegt zwischen diesen beiden Polen, es bewahrt „einige Züge aus guter

alter Zeit“. In dieser Mittelstellung ist der Typ des Flaneurs beheimatet. Für den Fla-

neur, der das Privatisieren nicht missen will, ist der Berliner Wochenmarkt gleich weit

entfernt wie die Menge Londons.

„Wo das Privatisieren den Ton angibt, ist für den Flaneur ebenso wenig Platz wieim fieberhaften Verkehr der City. London hat seinen Mann der Menge. Der E-ckensteher Nante, der in Berlin eine volkstümliche Figur des Vormärz war, stehtgewissermaßen Pendant zu ihm; der pariser Flaneur wäre das Mittel-stück.“ (ÜMB: 627f.).

Die Masse Londons mit ihren überstürzten und intermittierenden Bewegungen hat eine

höhere Wahrheit für sich:

„Die Bewegungen sind weniger die der Leute, die ihren Geschäften nachgehen,als die der Maschinen, die von ihnen bedient werden. Deren Rythmus scheintPoe, weitvorausschauend, ihren Gestus und ihrer Reaktionsweise angebildet zuhaben. Der Flaneur teilt jedenfalls solches Verhalten nicht.“ (PW: 425f.).

Somit ist die Gelassenheit des Flaneurs nichts anderes als ein unbewußter Protest gegen

das Tempo des Produktionsprozeßes (PW: 426). Der Flaneur geht in der Menge, die er

absichtlich aufsucht, seinen Privatinteressen nach. Der ostentativ zur Schau getrageneMüßiggang, der noch dadurch verstärkt gezeigt wurde, als es eine Mode war, mit einer

Schildkröte an der Leine duch die Menge zu spazieren und sich von ihr das Tempo vor-

schreiben zu lassen, ist ein Protest des Flaneurs gegen die Arbeitsteilung, die die Leute

zu Spezialisten macht (PSE: 556). Die Schildkröte isoliert den Flaneur gegen die herr-

schende Zeitlichkeit ab. Der Flaneur ist eine Figur der Moderne, doch schon auf der

Schwelle zur Zukunft stehend, der sein Protest gilt. Die Londoner Menge Poes ist diese

Zukunft, in der kein Platz für den Flaneur mehr ist. Aus ihr kann vielmehr gesehen

 werden, „was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört,

genommen ward.“ (ÜMB: 627).

Diese Ambivalenz des Flaneurs gegenüber der Menge ist die Schnittmenge, in der

sich die äußersten Pole Berlins und Londons berühren. So hat sich Berlins Beschaulich-

keit in Faszination gewandelt, in die „Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu

 verlieren“ (ÜBM: 620), doch es hat noch nicht „der gelassene Habitus einem manischen

92 Ebd.

56

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Platz gemacht.“ (ÜMB: 627).93 Baudelaire hat diesen Geist der Flanerie aufgefangen,

auch wenn Baudelaire nie die Menge explizit nennt. Doch ist die Menge der „bewegte

Schleier“, durch den Baudelaire Paris sah. Ihre Gegenwart bestimmt eines der berühm-

testen Stücke der Fleurs du mal . Zwar wird die Menge in dem Sonett  A une passante nie

beim Namen genannt, doch beruht der Vorgang allein auf ihr, „wie die Fahrt des Segel-

schiffs auf dem Wind beruht.“ (ÜMB: 622).

 A une passante 

„La rue assourdissante autour de moi hurlait.Longue, mince, en grand deuil, dolour majestueuse,Une femme passa, d’une main fastueuseSoulevant, balaçantle feston et l’ourlet;

 Agile et noble, avec sa jambe de statue.Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair ... puis la nuit! – Fugitive beautéDont le regard m’a fait soudainement renaître,Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

 Ailleurs, biens loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!“(ÜMB: 622).94 

93 Ebd., 41.94  Auf eine die Vorüberging 

Es brüllte um mich her der Straße TobenUnd schlank, in tiefer Trauer, stolzes Leid,Ging eine Frau vorüber, deren KleidDie Hände wiegend an den Säumen hoben,

Mit leichtem Schritt und Adel eines Bildes. Verkrümmter Narr wollt ich aus ihren Augen – Mit Stürmen schwangern fahlen Himmeln – saugenDie Lust, die tötet, und verzaubernd Mildes.

Ein Blitz ... dann Nacht! – O flüchtige Helligkeit,Durch deren Blick sich neu mir hob die Brust,Seh ich Dich nicht mehr vor der Ewigkeit?

 Wo anders, weit von hier! zu spät! wohl nie:

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Benjamins Interpretation dieses Sonetts soll hier in seiner vollen Länge wiedergegeben

 werden:

„Im Witwenschleier, schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im

Gewühl, kreuzt eine Unbekannte den Blick des Dichters. Was das Sonett zu ver-stehen gibt, ist in einem Satz festgehalten: die Erscheinung, die den Großstädterfasziniert – weit entfernt an der Menge nur ihren Widerpart, nur ein ihr feindli-ches Element zu haben -, wird ihm durch die Menge erst zugetragen. Die Entzü-ckung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letz-ten Blick. Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht im Augenblick der Berü-ckung zusammenfällt. So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einerKatastrophe. Sie hat aber mit dem so Ergriffenen das Wesen seines Gefühls mit-betroffen.“ (ÜMB: 623).

„Das ‚jamais’ ist der Höhepunkt der Begegnung, an dem die Leidenschaft, schein-bar vereitelt, in Wahrheit erst als Flamme aus dem Poeten schlägt. In ihr ver-brennt er; doch aus ihr steigt kein Phönix.“ (PSE: 548).

Das Sonett   A une passante   wie auch Benjamins Interpretation zeigen deutlich die

Schnittmenge zwischen Berlin und London, die der Flaneur in Paris erlebt. Die fremde

  Verschleierte ist nicht amorph, sondern individuiert, aber sie geht unter in der

  Anonymität. Daher hat das lyrische Ich nicht die Chance, den Versprechungen der

fremden Schönheit zu erliegen, vielmehr läßt dieser Vorfall „die Stigmata zum  Vorschein kommen, die das Dasein in einer Großstadt der Liebe

beibringt.“ (ÜMB: 623). Dieser Liebe ist die Erfüllung weniger versagt als vielmehr

erspart geblieben, ihr Prinzip ist der Widerspruch von konkreter Unerfüllbarkeit und

bstrakter Unendlichkeit.95 a

2.4. Konkrete Unerfüllbarkeit und abstrakte Unendlichkeit 

Dieses Motiv der konkreten Unerfüllbarkeit und abstrakten Unendlichkeit, das demFlaneur entgegentritt, wird besonders deutlich an der Figur des Spielers. Benjamin be-

tont das in einer Anmerkung zur Rauschwirkung des Spiels mit einem Zitat Gourdons:

Ich weiß nicht, wo du gehst, du nicht, wohin ich flieh...Dich hätte ich geliebt und du hast es gewußt!

Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Frankfurt am Main 1976, 140.

95 Krista R. Geffrath, Metaphorischer Materialismus, 42.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

„Ihr glaubt, ich sehe in dem Gold, das mir zufällt nur den Gewinn? Ihr irrt euch.Ich sehe darin die Genüsse, die es verschafft, und ich koste sie aus. [...] Wenn ichgeizig bin, und meine Banknoten ‚zum Spielen‘ behalte, so geschieht es, weil ichden Wert der Zeit zu gut kenne, um sie anzulegen wie andere Leute. Ein bestimm-

ter Genuß, den ich mir gönne, würde mich tausend andere Genüsse kosten ... Ichhabe die Genüsse im Geist, und will keine anderen.“ (ÜMB: 636f.).

Der Spieler ist einer Zeiterfahrung ausgesetzt, die der des Industriearbeiters entspricht,

d. h. er ist eine Parabel für die Desintegration der kohärenten Erfahrung im Leben in

der Moderne. Der Spieler hat nichts anderes im Sinn als zu gewinnen. Zu diesem Zweck 

setzt er sein ganzes Handeln und Streben einer kontinuierlichen Zeitlichkeit aus. Dem

Spiel ist nicht die Kategorie der Erfahrung zuzuordnen, da man das Bestreben des Spie-

lers „nicht einen Wunsch im eigentlichen Sinne des Wortes nennen“ sollte (ÜMB: 635).

Der Spieler ist während des Spiels in einer Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens

um die Erfahrung machen kann, „er setzt die Ordnungen der Erfahrung außer

Kraft.“ (ÜMB: 635). Der Wunsch nämlich gehört der Kategorie der Erfahrung an, wie

Benjamin an einem Wort Goethes verdeutlicht: „Was man sich in der Jugend wünscht,

hat man im Alter in Fülle.“ (ÜMB: 635). Der erfüllte Wunsch ist die Krone, die der Er-

fahrung beschieden ist, und Benjamin ist der Auffassung, daß je mehr ein Wunsch in

„die Ferne der Zeit ausgreift“, desto eher läßt sich auf dessen Erfüllung hoffen. Daher

ist die Sternschnuppe zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden. Freilich muß bei

dieser Symbolik die Ferne des Raumes für die der Zeit eintreten. Und wie bei der Stern-

schnuppe der Moment, in dem sie aufblitzt, der vollendende Augenblick der Zeit ist, hat

sie ihren Gegensatz im Spiel:

„Die Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zuoberstliegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe.“ (ÜMB: 635).

Die Zeit der Sternschnuppe ist der Gegensatz zur höllischen Zeit. Letztere ist die Zeit

derer, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen, d. h. die des

Spielers und des Industriearbeiters. Der Spieler selbst legt Hand ans Spiel, daher kommt

die Verrufenheit des Hasardspiels. Die regulative Idee des Spiels ist wie die der Lohnar-

beit das „Immer-wieder-von-vorn-anfangen.“ (ÜMB: 636). Der geglückte Coup hängt

 vom Sekundenzeiger ab. Hier greifen die Kategorien von Nähe und Ferne, die dem Au-

razerfall zugrundeliegen. Nur wendet sie Benjamin auf das Verhältnis der Zeit an. Ben-

jamin versucht hier, wie bei der Interpretation des Chockerlebnisses im Kunstwerkaufsatz ,

dem Chock des erlebten Augenblicks ein Modell der Erfahrung abzugewinnen, „dieman im Hinblick auf die Thesen über den Begriff der Geschichte  eine messianische nennen

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

kann: die Erfahrung dessen, was jederzeit das nächste sein kann.“96 Benjamin merkt hier

an, daß in einem anderen Text Baudelaires der Sekundenzeiger durch Satan selbst ver-

treten wird, und schreibt im 35. Stück von Zentralpark:

„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß esso ‚weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende son-dern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns be-

 vorstünde – sondern dieses Leben hier.“ (ZP: 683).

Solange es so weitergeht, kann nichts vollendet werden. Die Figur des Spielers verkör-

pert symbolisch die Moderne, in der es eine Befreiung von der Hölle in der Form eines

langfristigen Fortschreitens auf ein bestimmtes Ziel hin nicht geben kann. Das Neue

nämlich kann bei Baudelaire keinerlei Beitrag zum Fortschritt leisten (ZP: 687). Erlö-

sung von der Hölle ist dementsprechend nur möglich durch das Umschlagen der Hölle

in die Katastrophe. „Tag der vollendeten Zeit“ kann jeder dieser übereinstimmenden

 Augenblicke sein, doch ist diese plötzlich eintretende Veränderung nur am Extrem der

Hölle möglich, dem Extrem ihres eigenen Untergangs:

„Das Ideal des chockförmigen Erlebnisses ist die Katastrophe. So im Spiel, woder Verlierende durch immer größere Einsätze, (die) das Verlorene retten sollen,dem Ruin zusteuert.“97 

2.5. Mémoire involontaire 

Benjamin fand den Zusammenhang zwischen der Struktur des Gedächtnisses bzw. der

Zeitempfindung und Erfahrung bei Bergson und Proust angesprochen. Bergson legt in

seinem 1897 erschienen Buch Materie und Gedächtnis (  Matière et mémoire  )98 das unwillkürli-

che Gedächtnis, dort noch als ‚mémoire pure‘, der Form der ‚durée‘ zugrunde, „in der

 wir die Wirklichkeit intuitiv, nämlich von Raum und Zeit unterschieden, erfahren.“99 Bei

Proust hingegen wird dieses ‚unwillkürliche Gedächtnis’ zu einer zufällig entdeckten

Quelle seiner gesamten „Suche nach der verlorenen Zeit“. Benjamin sagt über Bergsons

Buch, daß es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für „die philosophische

96 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 18.97 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Baudelaire-Arbeiten, in: GS I.3, 1064 – 1222, 1182.98 Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991.

99 Marleen Stoessel, Aura, 34.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

[Struktur] der Erfahrung ansieht.“ (ÜMB: 608) Doch Benjamin stellt fest, daß es nicht

Bergsons Absicht ist, das Gedächtnis geschichtlich zu spezifizieren, vielmehr weist

Bergson eine geschichtliche Determinierung der Erfahrung zurück (ÜMB: 608f.). Ben-

jamin ist der Ansicht, daß Bergson sich weigert „derjenigen Erfahrung näherzutreten,

aus der seine eigene Philosophie entstanden ist, oder vielmehr gegen die sie entboten

  wurde.“ (ÜMB: 609). Diese Erfahrung, die nach Benjamin für Bergsons Philosophie

 verantwortlich ist, ist die Epoche der industriellen Revolution (ÜMB: 609). Symptoma-

tisch aber reagiert Bergson auf sie, gerade indem er sich von ihr abwendet und auf diese

 Art und Weise ein Nachbild zu detaillieren und festzuhalten sucht, das als geschichtliche

Qualität von Wahrnehmungsformen längst im Entschwinden ist (ÜMB: 609).100 Benja-

min ist der Auffassung, daß Bergson in Materie und Gedächtnis die Erfahrung in der durée

derart bestimmt, „daß der Leser sich sagen muß: einzig der Dichter wird das adäquate

Subjekt einer solchen Erfahrung sein.“ (ÜMB: 609) Dieser Dichter sei Proust in seinem

 Werk  Auf der Suche nach der verlorenen Zeit .101 So wird bei Proust aus Bergsons reinem Ge-

dächtnis (mémoire pure) die mémoire involontaire, das unwillkürliche Gedächtnis.

Proust konfrontiert dieses mit einem willkürlichen Gedächtnis, der mémoire volontaire,

das sich „in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet.“ (ÜMB: 609)

Die mémoire involontaire wie auch die mémoire volontaire beschreibt Benjamin an-

hand von Prousts Kindheitserinnerungen in  Auf der Suche nach der verlorenen Zeit . Zuerstmöchte ich kurz auf die mémoire volontaire eingehen. Die Erinnerungen an die Stadt

Combray, in der Proust viele Jahre seiner Kindheit verbracht hat, seien sehr ärmlich

gewesen, er war auf das beschränkt gewesen,

„was ein Gedächtnis ihm in Bereitschaft gehalten habe, das dem Appell der Auf-merksamkeit gefügig sei. Das sei die mémoire volontaire, die willkürliche Erinne-rung, und von ihr gilt, daß die Informationen, welche sie über das Verflossene er-teilt, nichts von ihm aufbehalten.“ (ÜMB 610).

So heißt es bei Proust:

„Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wiederheraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst.“102 

100 Ansgar Hillach, Erfahrungsverlust und chockförmige Wahrnehmung. Benjamins Ortsbestimmung im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Alternative 132/133, Berlin 1980, 110 - 118, 113.

101 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 7 Bde., Frankfurt/Main 1981.

102 Marcel Proust, In Swanns Welt, in: ders, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, 63.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Und weiter:

„Sie verbirgt sich außerhalb seines [des Menschen] Machtbereichs und unerkenn-bar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die die-ser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Ge-

genstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig  vom Zufall ab.“103 

Dieses nach Proust Zufällige, ob der einzelne ein Bild von sich bekommt, also ob er

sich seiner eigenen „Erfahrung bemächtigen kann“, ist keineswegs selbstverständlich.

Daher steht es Proust nicht zu, die Erfahrung vom Zufall abhängig zu machen. Die

Erfahrung hat nicht von Natur aus einen solch privaten Charakter, sie erhält „ihn erst,

nachdem sich für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu

 werden.“ (ÜMB: 610). Schuld daran sind, wie oben schon ausgeführt, die Ersetzung derErzählung durch die Information, deren Medium, die Presse und deren Sprachgebaren.

Proust stellt also wie Benjamin einen Verfall des Erzählens fest. Daher ist Prousts Werk 

 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein Versuch, die Figur des Erzählers zu restaurieren,

  wie Benjamin in deutlicher Anlehnung an seinen Aufsatz Der Erzähler  feststellt. Die

Schwierigkeit, der Proust bei diesem Unterfangen sich gegenübergestellt sah, war die,

daß er die elementare Aufgabe, von der eigenen Kindheit Bericht zu geben, auf ihre

Lösbarkeit hin vom Zufall abhängig gemacht hat (ÜMB: 611). In diesem Zusammen-

hang prägt Proust den Begriff der mémoire involontaire. Dieser gehört „zum Inventar

der vielfältig isolierten Privatperson.“ (ÜMB: 610).

 Vergegenwärtigen verschütteter Erfahrung, Erwachen, all das läßt die mémoire invo-

lontaire zu, wie aus einer kleine Rede über Proust, die Benjamin anläßlich seines

40. Geburtstag gehalten hat, hervorgeht:

„Ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr umBilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. Am deutlichsten ist das beijenen Bildern, auf welchen wir – genau wie in machen Träumen – selber zu sehensind. Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, dochnie vor unserm Blick, gestanden haben. Und gerade die wichtigsten – die in derDunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten – Bilder sind es, welche

 wir zu sehen bekommen. Man könnte sagen, daß unsern tiefsten Augenblickengleich jenen Päckchenzigaretten – ein kleines Bildchen, ein Photo unsrer selbst – ist mitgegeben worden. Und jenes ‚ganze Leben‘ das, wie wir so oft hören, an

103 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Sterbenden oder an Menschen die in der Gefahr zu sterben schweben, vorüber-zieht, setzt sich genau aus diesen kleinen Bildchen zusammen. Sie stellen einenschnellen Ablauf dar, wie jene Hefte, die Vorläufer des Kinematographen, auf de-nen wir als Kinder einen Boxer, einen Schwimmer oder Tennisspieler bei seinen

Künsten bewundern konnten.“

104

 Besonders eindringlich verdeutlicht Prousts Madeleine-Anekdote, wie die Erfahrung der

mémoire involontaire vorzustellen ist. Diese Anekdote soll - ihrer beträchtlichen Länge

zum Trotze - hier ausführlich zitiert werden:

 Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Dra-ma meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem

 Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß

nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtört-chen holen, die man „Madeleine“ nennt und die aussehen, als habe man als Formdafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs Muschel benutzt. Gleich darauf führteich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden,einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an dieLippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischteSchluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie ge-bannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtesGlücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt

blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle desLebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kür-ze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, wassonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Sub-stanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sieselbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.

 Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Ge-schmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie? Was bedeutete sie? Wo

konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderesdarin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenktals der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheintnachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihmist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nurauf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wieder-holen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von

104 Walter Benjamin, Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten,

in: GS II.3, 1064f., 1064.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möch-te, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen.“105 

Die Versuche des Erzählers, diese Erfahrung willentlich, „die fliehende Empfindung 

noch einmal wieder heraufzubeschwören“ mißlingen allesamt.

„Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenerMadeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vordem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer gutenMorgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen o-der Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichtsgesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich diesesGebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte unddaß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit ande-

ren, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange ausdem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich innichts aufgelöst hatte. [...] Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts e-xistiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden al-lein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig undtreu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihre Leben weiterfüh-ren, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einembeinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinne-rung unfehlbar tragen.“106 

Die Erinnerung nämlich, die den Erzähler mit einem Male erfuhr, war die seiner Jugend.

So erinnert er sich wieder an das Haus, in dem er seine Jugend verbracht hat, an tägliche

Rituale, wie das Spazierengehen vor dem Mittagessen, ja sogar die Blumen des dem

Haus zugehörigen Gartens fielen ihm wieder ein. Mit anderen Worten stieg „Combray 

und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus mei-

ner Tasse Tee.“107 

Die mémoire involontaire tritt von historischen Umständen unabhängig ein. Die Er-

fahrung ist eine Sache „der Tradition im kollektiven wie im privaten Le-ben“ (ÜMB: 608), denn wo „Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis

gewisse Inhalte

105 Marcel Proust, In Swanns Welt, 63f.106 Ebd., 66f.

107 Ebd., 67.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

der individuellen Vergangenheit mit solchen der Kollektiven in Konjunkti-

on.“ (ÜMB: 611). So stellt Benjamin gegen Proust fest, daß willkürliches und unwillkür-

liches Eingedenken auf diese Art und Weise ihre gegenseitige Ausschließlichkeit verlie-

ren, denn Benjamin ist der Ansicht, daß Kulte mit ihren Zeremonien, „deren bei Proust

 wohl nirgends gedacht sein dürfte“, die Verschmelzung zwischen diesen beiden Mate-

rien des Gedächtnisses immer von neuem durchführten (ÜMB: 611). Doch verliert die-

se Erfahrung mit dem Schwinden der mémoire involontaire ihre vorgeschichtliche Di-

mension und weicht dem in der Moderne präponderanten Erlebnis, das gegen Erfah-

rung abgedichtet ist und dem ausschließlich die vom Bewußtsein getragene mémoire

 volontaire zur Verfügung steht (ÜMB: 609).108 

Die im nächsten Kapitel beschriebene Form der Chockerfahrung, die in der Moder-

ne auftritt, wird von Benjamin in seinem Resumée des Kunstwerkaufsatzes, wie es der

Französischen Fassung vorangestellt ist, dafür verantwortlich gemacht, daß „durch

Chocks eine Form der Erinnerung [gefördert wird], die von Proust als eine mémoire

 volontaire der Bergsonschen Erinnerung entgegengesetzt wurde.“109 Auch weist Benja-

min dort daraufhin, daß die mémoire involontaire zu verkümmern bestimmt sei.110 Dies

deckt sich mit einer Notiz Benjamins zu den Baudelairearbeiten. Dort heißt es, daß die

mémoire involontaire der Erfahrung zugeordnet ist, nicht dem Erlebnis, welches ja, wie

oben angedeutet, die einzige Form der „Erfahrung“ in der Moderne ist.111

Der Erfah-rungsmodus unter den Bedingungen der Großindustrie und Informationskultur ist also

der der Chocks, der nur die mémoire volontaire und „keineswegs das Erwachen, die

 Vergegenwärtigung der verschütteten Erfahrung“ zuläßt, auf die es Benjamin schließlich

ankommt.112 

2.6. Die Chockerfahrung als Erfahrungsmodus der Menschen in der Moderne 

Benjamin ist der Auffassung, daß der technische Fortschritt „das menschliche Sensori-

um einem Training komplexer Art“ unterwirft (ÜMB: 630). So z. B. stellen die Erfin-

 

108 Marleen Stoessel, Aura, 34f.109 Max Horkheimer (Hg.), Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 8 (1939-1940), 90f. Zitiert nach:

Gérard Raulet, Chockerlebnis, 8.110 Ebd., 90f.111 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Baudelaire Arbeiten, 1183.

112 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 8.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

dung des Streichholzes und eine Reihe anderer Neuerungen eine Art Paradigmenwech-

sel in der Wahrnehmung der Menschen dar, denn diese Erfindungen erlauben es samt

und sonders, vielgliedrige Abläufe durch einen einzigen Handgriff zu ersetzen. Als be-

sonders folgenreich „unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrü-

ckens usf. wurde das Knipsen des Photographen.“ (ÜMB: 630). Von nun an genügte

„ein Fingerdruck“, um für unbegrenzte Zeit ein Ereignis festzuhalten. „Der Apparat

erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock.“ (ÜMB: 630). Diese hapti-

schen Erfahrungen, die vorher nur an Bauten gemacht werden konnten (KR3: 504f.),

 werden noch unterstützt durch die optischen Chocks, denen die Menschen ausgesetzt

sind. Unter anderem in den Inseratenteilen der Zeitungen, oder – wie oben schon ange-

deutet – im Verkehr der Großstadt. „Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den ein-

zelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den großen Kreuzungen durch-

zucken ihn [...] Innervationen in rascher Folge.“ (ÜMB: 630). Der einzelne wird somit

zu einem mit Bewußtsein versehenen Kaleidoskop. (ÜMB: 630). Das menschliche Sen-

sorium wird einem „Training komplexer Art“ unterworfen, und dem so veränderten

Reizbedürfnis entspricht der Film, da in ihm die „chockförmige Wahrnehmung als for-

males Prinzip zur Geltung“ kommt. (ÜMB: 630f.). Mit anderen Worten heißt das, daß

die Chockwirkung des Films darauf beruht, daß der Rezipient sich keinem freien Asso-

ziationsablauf überlassen kann, denn er wird ständig durch Veränderung des zu Rezipie-renden unterbrochen. So beschreibt Benjamin die „dialektische Struktur des Films“ auf 

seiner technischen Seite als diskontinuierliche Bilder die sich in kontinuierlicher Folge

ablösen. Eine Theorie des Films „müßte den beiden Daten dieser Formel gerecht wer-

den.“ (I.3: 1040).

2.6.1. Parallele Erscheinung der Chockerfahrung in der Industriearbeit 

 Aber nicht nur dem Film entspricht diese neue Form der Wahrnehmung, sondern auch

dem von Marx konstatierten Wandel hin zur Industriearbeit: „das ‚Erlebnis’ des Arbei-

ters an der Maschinerie“ entspricht „dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge

hat.“ (ÜMB: 632). Während im Handwerk und in der Manufaktur die Arbeitsmomente

noch flüssige sind und der Arbeiter sich dort noch des Werkzeugs bedient, dient er in

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

der Fabrik der Maschine.113 Dieser flüssige Zusammenhang der Arbeitsmomente im

Handwerk „tritt am Fließband dem Fabrikarbeiter verselbständigt als ein dinglicher ge-

genüber.“ (ÜMB: 631). Ohne das Zutun oder Wollen des Arbeiters gelangt das Werk-

stück in dessen Aktionsradius und tritt ebenso wieder aus diesem heraus, denn aller ka-

pitalistischen Produktion ist es gemeinsam, „daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedin-

gung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit

der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit.“114

Somit

muß der Arbeiter in der kapitalistischen Produktion, d. h. im Umgang mit der Maschine

lernen, „seine eigene Bewegung der gleichförmig kontinuierlichen Bewegung eines Au-

tomaten“ anzupassen.115

Auch hier sind wieder eindeutige Parallelen zu Benjamins The-

orie des Films erkennbar:

„Was zunächst die Kontinuität angeht, so kann nicht übersehen werden, daß daslaufende Band, welches eine so entscheidende Rolle im Produktionsprozeß spielt,im Prozeß der Consumption gewissermaßen durch das Filmband vertreten wird.Beide dürften einigermaßen gleichzeitig aufgetreten sein. Die gesellschaftliche Be-deutung des einen kann ohne die des anderen nicht voll verstanden werden.“116 

Um den im Kunstwerkaufsatz eingeführten Begriff der Übung von dem nun neu einge-

führten Begriff der Dressur zu unterscheiden, bezieht Benjamin sich auf Marx. Im Zu-

sammenhang mit der Maschinenarbeit heißt es bei Marx, daß alle Arbeit an der Maschi-ne „frühzeitige Dressur des Arbeiters“ benötigt.117 Benjamin spannt hier den Bogen zur

 Testhaltung der Zuschauer beim Betrachten eines Films bzw. der darstellerischen Leis-

tung des Filmschauspielers. Ist es beim Handwerk die Übung, die den Handwerker be-

fähigt, ein Produkt anzufertigen, so ist es nun die Dressur des Arbeiters, die der Ma-

schine erlaubt, ein (Teil-)Produkt herzustellen. Der qualitative Unterschied ist der, daß

113 Vgl., Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionspro-zeß des Kapitals, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Bd. 23, herausgegeben vom Institut fürMarxismus und Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1962, 445. (Wird im folgenden so zitiert:MEW, Bandzahl, Seitenzahl.)

114 Karl Marx, Das Kapital, 446.115 Ebd., 443.116 Walter Benjamin, Anmerkungen zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-

barkeit, in: GS I.3, 982 – 1063, 1040.117 Hier zitiere ich nach der Ausgabe des Kapitals, die Benjamin benutzte: Karl Marx, Das Kapital.

Kritik der politischen Ökonomie, ungekürzte Ausgabe nach der 2. Auflage von 1872, herausgege-ben von Karl Korsch, Bd. 1, Berlin 1932, 402. In der MEW Ausgabe des Kapitals ist von Dressurnicht mehr die Rede. Dort heißt es unter anderem: „Alle Arbeit an der Maschine erfordert frühzei-tige Anlernung.“ MEW 23, 443; und deutlicher: „Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbei-

ter selbst von Kindesbeinen in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln.“ MEW 23, 445.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

die Übung Erfahrung erfordert, wie Benjamin verdeutlicht:

„Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sichum einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt,so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die

sich am Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt.“ (ÜMB: 644).

Die Tatsache, daß die auf Dressur beruhende Arbeit keiner Übung bedarf, wird daran

deutlich, daß jeder der Handgriffe eines Arbeiters an einer Maschine ohne Zusammen-

hang ist, weil er „gerade dessen strikte Wiederholung darstellt.“ (ÜMB: 633). Die Arbeit

an der Maschine ist also gegen Erfahrung abgedichtet und von Inhalt befreit. Sie ver-

sinnbildlicht den Erfahrungsverlust des Menschen in der Moderne, der der Erfahrung 

im Chockerlebnis entspricht. Der Arbeitsprozeß hat keinen organischen Zusammen-

hang mehr, die Chocks sprengen den Arbeitsprozeß auf, und die Arbeitsmomente wer-

den voneinander unabhängig. Übung regrediert zur Dressur. Erfahrung aber hat sich

nicht so sehr verändert, als daß sie aufgehoben wurde. An die Stelle der Erfahrung tritt

ein psychischer Mechanismus, der den Menschen aus jeder Tradition ausschließt und

ihn nur mehr zu monadologischen Erlebnissen gelangen läßt.118 Anders formuliert heißt

das, daß Benjamin zwischen der zeitlichen Erfahrung des Handwerks, einer noch Erfah-

rung stiftenden Zeitlichkeit, und der der industriellen Produktion unterscheidet. Letzte-

rer kommt es nur noch auf Reflexbewegungen zum richtigen Zeitpunkt an, die nichtmehr Übung, sondern Dressur sind. Diese Dressur ist es, die Benjamin den ungelernten

 Arbeiter den am „tiefsten Entwürdigte“ nennen läßt (ÜMB: 632). Erstaunlich ist Ben-

jamins folgende Feststellung, die stark an die Adornos/Horkheimers Dialektik der Auf- 

klärung erinnert, die zehn Jahre später erschienen ist:

„Was der Lunapark in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zu-stande bringt, ist nichts als eine Kostprobe der Dressur, der der ungelernte Arbei-ter in der Fabrik unterworfen wird.“ (ÜMB: 632).

Bei Adorno und Horkheimer liest sich das – in zugespitzter Form – so:

„Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.“119 

118 Rolf Tiedemann, Die Philosophie Walter Benjamins, 104.

119 Theodor W. Adorno und Max Horkeheimer, Dialektik der Aufklärung, 158.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Der Erfahrungsmodus der Chockerfahrung entspricht also den kompletten Erfah-

rungsmöglichkeiten der Menschen in der Moderne, der massenhaften Zusammenbal-

lung der Menschen in den Großstädten, der Fabrikarbeit und letzlich sogar der Erfah-

rung, die die Menschen während ihrer Regeneration vom Alltag, d. h. in ihrer Freizeit,

machen. Die Folge daraus ist eine Art Reizüberflutung die es notwendig macht, diese

Reizflut zu verringern und zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen auszuwählen.

Mit anderen Worten heißt das, daß die Menschen in der Moderne einen Erfahrungsmo-

dus benötigen, der sie vor dieser Reizüberflutung schützt, um Erfahrung überhaupt

noch möglich zu machen, sie nicht beliebig werden zu lassen.

2.6.2. Chockerfahrung als Erfahrungsabwehr 

Dieser Erfahrungsverlust durch die Massenproduktion wird von Benjamin mit einer

Hypothese Freuds gedeutet, in der die Chockrezeption an das Bewußtsein verwiesen

 wird. Das Bewußtsein hat als eine Art Reizschutz zu fungieren, denn der Reizschutz ist

für den lebenden Organismus eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme.

„Er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muß vor allem bestrebt sein,

die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor den gleichma-

chenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen draußen arbeitenden Energien zu

bewahren.“120 Die Bedrohung durch „Energien“ ist die durch Chocks. Gelingt dem

Reizschutz die Neutralisierung, so nimmt der Vorfall, den der Chock auslöst, „den Cha-

rakter des Erlebnisses im prägnanten Sinn“ an (ÜMB: 614). Gelingt dies nicht, werden

die andrängenden Chocks also nicht vom Bewußtsein pariert, so sind traumatische Neu-

rosen die Folge.121 

Die gelungene Chockabwehr ist daher immer eine Leistung des Bewußtseins und der

ihm zu Gebote stehenden mémoire volontaire. Das bedeutet die Verdrängung dermémoire involontaire und der Gehalte, die sie ehedem speicherte und als Erfahrung 

dem Individuum zukommen ließ. Die Form der Wahrnehmung und der Inhalt des

  Wahrgenommenen korrelieren. Dadurch verkümmert, durch die „Notwendigkeit der

 Ausbildung neuer Reaktionsweisen im Sinne der Chock-Abwehr [...] der Anteil der un-

 

120 Freud, zitiert nach: ÜMB: 613.

121 Rolf Tiedemann, Philosophie Benjamins, 105.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

  willkürlichen Erinnerung, die damit ihrerseits ihre Qualität verändert.“122 Erst durch

diesen Verfall der mémoire involontaire wird dieser Anteil als solcher und zugleich als

genuin auratischer registrierbar. Erfahrung, die dem Erlebnis weicht, wird in der Wahr-

nehmung dieses Verfalls zu einer spezifisch historischen Erfahrung. (ÜMB: 643).

Die Theorie des Chocks gerät aber in eine untergeordnete Stellung. Benjamin zieht

aus Freuds Gedankengang einen Schluß, den Freud selbst so nie gezogen hätte, nämlich,

daß das Bewußtsein dazu dient, vor den Erregungen zu schützen.( ÜMB612f.) Daher

formuliert Benjamin in einer Fußnote gegen Freud: „Die Begriffe Erinnerung und Ge-

dächtnis weisen im Freudschen Essay keinen für den vorliegenden Zusammenhang we-

sentlichen Bedeutungsunterschied auf.“ (ÜMB: 612, Fn.). Benjamin findet in dieser Situ-

ation Hilfe bei Theodor Reik, den er in diesem Zusammenhang zitiert. Die Erinnerung 

 vergegenwärtigt die Erinnerungsspuren, während das Gedächtnis sie zurückhält.

Die Chockerfahrung entspricht dem Zeitalter der Moderne, da sie im Gegensatz zur

mémoire involontaire keine Erfahrung stiftet. Sie ist Erlebnis. Die mémoire involontaire

  versteht Benjamin im Gegensatz dazu „als jene besondere Form der Erinnerung, die

nicht nur unbewußt vergessene, sondern auch unbewußt erlebte Erlebnisse wachruft.“123 

 Wichtig dabei ist, daß dieses Wachrufen genauso unwillkürlich vor sich geht wie das

 Vergessen, also kein verläßlicher Erfahrungsschatz ist. Letztlich läuft Benjamins Theorie

der Chockerfahrung darauf hinaus, daß sie zu einer Theorie der Abwehr der ununter-brochen auf die Menschen der Moderne einstürzenden Chocks wird. Denn je mehr

Eindrücke das Bewußtsein neutralisieren, d. h. Reizschutz leisten muß, desto weniger

„gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnis-

ses.“ (ÜMB: 615) Darin könnte man die Leistung der Chockabwehr sehen:

„dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle imBewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Fällt sie aus,so würde sich grundsätzlich der freudige oder (meist) unlustbetonte Schreck ein-stellen, der nach Freud den Ausfall der Chockabwehr sanktioniert.“ (ÜMB: 615).

Benjamin findet diese Annahme in einem Bild der Dichtung Baudelaires wieder. Baude-

laire spricht von einem Duell, „in dem der Künstler, ehe er besiegt wird, vor Schrecken

aufschreit.“ (ÜMB: 615f.). Bei diesem Beispiel handelt es sich um ein Fechtduell (ÜMB:

122 Marleen Stoessel, Aura, 35.

123 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 12.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

618), und man kann aufgrund dieses Beispiels sich die Chockabwehr geradezu bildlich

 vorstellen, wie der abwehrende Fechter die Stöße des anderen „pariert“.

 Wie schon aus Kapitel II.6 hervorging ist die Chockwirkung das taktische Element des

Films und der Film die der heute lebenden Menschen entsprechende Kunstform. Die

Chockhafte Darstellung unserer Umwelt durch den Film mehrt die Einsichten in

Zwangsläufigkeiten unseres Daseins. So erfahren wir durch die Kamera erst jetzt vom

„Optisch-Unbewußten.“124 Allerdings scheint das „Optisch-Unbewußte“ eine ähnliche

Erfahrungsmöglichkeit in der Chockrezeption in der Menge wie die Aura in der Kon-

templation des Individuums anzubieten. Hansen verweist in ihrem Aufsatz darauf, daß

das „Optisch-Unbewußte“ zwischen einer Beschreibung technischer Innovation und

deren emanzipatorischen Möglichkeiten pendelt, zwischen historischer Analyse und

einem utopischen Diskurs der Erlösung.125 Dieses Pendeln sei aber keine methodologi-

sche Konfusion Benjamins, sondern es sei „motivated by a dialectical movement within

certain key concepts (e.g. „nature“, „history“, „aura“) and theoretical tropes (e.g. „eter-

nal recurrence“, „dreaming collective“) whose meaning depends upon the particular

constellation in which they are deployed. Thus, the recuperation of the cinema as a me-

dium of experience brings into play a constitutive ambiguity in Benjamin’s concept of 

‚shock‘, an ambiguity crucial to his endorsement of a ‚distracted‘ mode of reception.“126 

Photographie und Film sind nicht nur in der Lage, „mittels ihres Chockhaften Zugriffsin Schnitt und Montage die Befreiung eines ‚Optisch-Unbewußten‘ einzuleiten, sondern

die Befreiung von Erfahrung überhaupt.“127 Die Erfahrung ist in der modernen Gesell-

schaft zum Privileg derjenigen geworden, die die Verfügungsgewalt über die Produkti-

onsmittel selbst haben. Dadurch erst werden Photographie und Film für die Priviligier-

ten „zu möglichen Veranstaltungen, sich Erfahrungen zu bemächtigen, die als kollekti-

 ve, menschheitsgeschichtliche ‚zitierbar‘ werden im Augenblick, da infolge historischer

Pervertierung ihre wirkliche Substanz zergeht.“

128

 Da es Benjamin aber darum geht, den Menschen – d. h. allen Menschen – Erfahrung 

 wiederzugeben bzw. sie wieder zu ermöglichen und sie nicht zu einer Sache einer privili-

gierten Gruppe machen möchte, er aber gleichzeitig feststellt, daß mémoire involontaire

124 Vgl., Kapitel II.4.125 Miriam Hansen, Benjamin, Cinema and Experience, 210.126 Ebd.127 Marleen Stoessel, Aura, 161.

128 Ebd.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

und mémoire volontaire, Übung und Dressur allesamt nicht mehr angemessen sind, um

seine Utopie der Chockerfahrung zu begründen, braucht er ein drittes. Dieses Dritte ist

das Eingedenken. Da das Eingedenken einhergeht mit einer Wiederbelebung von Ben-

jamins Allegorietheorie aus dem Trauerspielbuch werde ich diese im folgenden Kapitel

erläutern. Programmatisch formuliert Benjamin das im Passagenwerk:

„Die Figur des ‚Modernen‘ und die der ‚Allegorie‘ müssen aufeinander bezogen werden. ‚Malheur à celui qui étudie dans l’antique autre chose que l’art pur, la lo-gique, la méthode général! Pour s’y trop plonger ... il abdique ... les privilègesfournis par la circonstance; car presque toute notre originalité vient de l’estampilleque le temps  imprime à nos sensations.‘ [...] Das Privileg, von dem Baudelairespricht, tritt aber, vermittelt, auch der Antike gegenüber in Kraft: Prägestempelder Zeit, der sich in sie eindrückt, treibt die allegorische Konfiguration aus ihr

hervor.“ (PW: 311f.).

2.7. Theorie des Eingedenkens - Erfahrung durch Allegorie 

Die Allegorie begleitet die Revision der Theorie des Chocks von nun an, obwohl sie in

dem Essay Über einige Motive bei Baudelaire keine explizite Rolle spielt. Benjamin gibt in

diesem Essay aber nicht seine Konzeption des Verfalls der Aura und des Verlusts der

Erfahrung preis, er revidiert vielmehr sein Urteil, daß die neuen Medien und die Tests,

denen sie ihre Akteure und Rezipienten aussetzt, eine Übung darstellen, die diesen bei

der Anpassung an die neuen Erfahrungsbedingungen hilft, indem sie dazu beiträgt, neue

 Apperzeptions- und Handlungsmöglichkeiten zu erlernen, d. h. er verwirft die Annah-

me, daß die ‚Neuen Medien‘ notwendigerweise auf eine Umwandlung der Kunst in eine

emanzipatorische und progressive Richtung hinauslaufen. Vielmehr bekommt nun auch

die traditionelle auratische Kunst die Aufgabe, als Quelle der Hoffnungen und Bestre-

bungen vergangener Jahre zu dienen, um somit als Stimulus für Veränderungen in derGegenwart zu dienen.

Daher entwirft Benjamin zum einem das Konzept der mémoire involontaire,129 die er

der Übung entgegenstellt. Die Theorie der mémoire involontaire widerspricht der des

Chocks, ist sie doch „der Erfahrung zugeordnet, nicht dem Erlebnis.“130 

129 Vgl. Kapitel III.2.5. Mémoire involontaire.

130 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Baudelaire Arbeiten, 1183.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

 Wie schon an der Bezugnahme Benjamins auf Marx zu sehen war, differenziert er

nun zwischen den Zeiterfahrungen. Die Übung des Kunstwerkaufsatzes ist nun Dressur.

Die Dressur der Industriearbeit vergleicht Benjamin mit der Übung des Handwerks, wie

oben bereits dargestellt. „Beide erweisen sich als unangemessen, um die Utopie der (um

sie als Oxymoron auszudrücken) Chock-Erfahrung zu begründen.“131 

Benjamin sucht also einen anderen Weg, um den Widerspruch der Möglicheit des Er-

langens von Erfahrung in der Moderne zu lösen, jedoch ohne sich in Gänze von den

bisher dargestellten Konzepten zu lösen. Dieser Weg ist der des Eingedenkens, der über

die Allegorie führt. Doch die moderne Allegorie, für die Baudelaire als moderner Alle-

goriker steht, unterscheidet sich entscheidend von der oben dargestellten barocken Alle-

gorie. „Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der spä-

ten Allegorie ist das ‚Andenken‘.“ (ÜMB: 689). Für Benjamin war Baudelaires Arbeit

 von großer Signifikanz, da er sie für den ersten Versuch hält, der es unternimmt, die

affirmativen Werte des bourgeoisen Ästhetizismus zu zerstören und die Imponderabi-

lien des alltäglichen Lebens in die bis dahin unbefleckten Reservate autonomer Kunst zu

inkorporieren. Ein Versuch, der paradigmatisch für den kompletten Modernismus ist.132 

„Die allegorische Anschauungsweise ist immer auf einer entwerteten Erschei-nungswelt aufgebaut. Die spezifische Entwertung der Dingwelt, die in der Ware

darliegt, ist das Fundament der allegorischen Intention der Allegorie bei Baude-laire. Als Verkörperung der Ware hat die Dirne in der Dichtung Baudelaires einenzentralen Platz. Die Dirne ist auf der anderen Seite die menschgewordene Allego-rie. [...] Der Fetisch ist das Echtheitssiegel der Ware, wie das Emblem das Echt-heitssiegel der Allegorie. [...] Diese Entwertung der menschlichen Umwelt durchdie Warenwirtschaft wirkt tief in seine geschichtliche Erfahrung hinein. Es ereig-net sich ‚immer dasselbe‘. Der Spleen ist nichts als Quintessenz der geschichtli-chen Erfahrung.“

133

 

Benjamin ist also der Überzeugung, daß Baudelaires allegorische Dichtung einen über-

aus geeigneten Ausgangspunkt darstellt, um die Notlage der selbstentfremdeten Men-

schheit im Zeitalter des Kapitalismus zu analysieren.

Daher kritisiert Benjamin an Prousts Konzept der mémoire involontaire den rein zu-

fälligen und privaten Charakter. Diesem setzt er die Gedenktage entgegen, die Proust

auch schon bei Baudelaire aufgefunden hat:

131 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 6.132 Richard Wolin, Redemption, 230f.

133 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Baudelaire Arbeiten, 1151.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

„ ‚Die Zeit’ sagt Proust, ‚ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende‘.“ (Zit. nach ÜMB: 637).

Benjamin merkt dazu an, daß diese bedeutenden Tage Tage der vollendeten Zeit sind,

also „Tage des Eingedenkens.“ Diese sind von keinem Erlebnis gezeichnet und heben

sich aus dem Verbande der anderen Tage, der Zeit, heraus. Ihr Inhalt ist in Baudelaires

Begriff der correspondances festgehalten, der unvermittelt neben dem der „modernen

Schönheit“ steht (ÜMB: 637f.). Die correspondances sind der Schlüssel für das Ver-

ständnis von Baudelaires Allegorien: „From the ruins of modern life he is able miracu-

lously to conjure forth the image of a collective past that has long since faded from

memory. Such images are intended as an antidote or counter-image to the crisis-ridden

state of modernity.“134 

Bemerkenswert an den Tagen des Eingedenkens wie den correspondances ist nun,

daß sie an einem „Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich ein-

schließt. [...] Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Er-

fahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht.“ (ÜMB: 638). Die-

se Erfahrung ist nur möglich im Bereich des Kultischen. Transzendiert sie diesen, so

stellt sich Erfahrung als das Schöne dar. „Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert

der Kunst.“ (ÜMB: 638). Wie oben bereits angeführt wurde, sind die correspondances

„Data des Eingedenkens“, und zwar sind sie keine historischen Data, sondern solcheder Vorgeschichte. Hier drängt sich nun die Parallele zur Aura auf. Echte Erfahrung ist

mit der Aura und dem Kult verbunden. Dementsprechend wiederbeleben Gedenktage

 vergangene Ereignisse, jedoch nicht nur im Ansich des Geschehnen, sondern indem sie

sich dessen Aura vergegenwärtigen und sie zu einer Trägerin von Tradition machen;

ebenso wie die Erzählung durch den Erzähler lebendig und aktuell werden konnte.

Prousts private mémoire involontaire wird durch die Gedenktage zu einer kollektiven

 Veranstaltung. Denn „wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnisgewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der Kollektiven in Kon-

junktion.“ (ÜMB: 611). Auf diese Weise führen Gedenktage zum Eingedenken zu be-

stimmten Zeiten. „Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre ge-

genseitige Ausschließlichkeit.“ (ÜMB: 611). Die Gedenktage beziehen ihren Inhalt von

dem Augenblick, an den sie erinnern, dadurch, daß sie einen fernen, vergangenen Au-

genblick durch das Eingedenken aktualisieren. Somit stellen die correspondances für die

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Menschen in der Moderne wieder eine Erfahrung her, wie sie früher, oder im „vie ante-

rieure“ wie Benjamin formuliert, möglich gewesen ist, d. h. eine vorgeschichtliche Er-

fahrung (ÜMB: 639). Baudelaire war es nur möglich, die die Moderne begleitende Er-

scheinung des Zerfalls der Erfahrung in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen, da er, als

Moderner selbst, Zeuge dieses Zerfalls war. Die durch die Gedenktage wieder möglich

gemachte vorgeschichtliche Erfahrung ist der Krise und der Entzweiung, die in der Mo-

derne zur Zerstreuung gesteigert ist, enthoben (ÜMB: 638).

Baudelaires Widerspruch „zwischen der Theorie der natürlichen Korrespondenzen und

der Absage an die Natur“ ist nur aufzulösen (ZP: 658), „wenn die Absage an die Natur

einer bewußten Strategie entspricht, die bei der Darstellung der extremsten modernen

Formen der Entfremdung und Entzweiung das Unheil steigert, um den Rückfall der

Moderne in die Naturgeschichte aufzuzeigen und das Umschlagen der Hölle in die erlö-

sende Katastrophe herbeizuführen.“135 

Dieses Konzept des Umschlagens von einem Extrem ins andere ist auch schon in

dem Konzept des „positiven Barbarentums“ zu erkennen, wie auch im in den Thesen über 

den Begriff der Geschichte aufgestellten Konzept des Messianismus und dem allegorischen

Blick des Trauerspielbuchs . So wie die Schlüsselfigur der frühen Allegorie die Leiche ist, ist

die der späten Allegorie das Andenken (ZP: 689). „Die Correspondances sind der Sache

nach die unendlich vielen Anklänge jeden Andenkens an die anderen. ‚J’ ai plus de sou- venirs que si j’avais mille ans.‘ “ (ZP: 689). Bei Baudelaire tritt die Erinnerung ganz zu-

gunsten des Andenkens zurück (ZP: 690). Im gleichen Zusammenhang verwendet Ben-

jamin zum ersten und einzigen Mal in Einige Motive über Baudelaire den Begriff Allegorie:

„Das Recueillement zeichnet gegen den tiefen Himmel die Allegorien der alten Jahre ab.“ (ÜMB: 640).

Es ist allerdings erst der Kontext, der das besondere Gewicht dieser einmaligen Ver-

 wendung des Begriffs der Allegorie aufzeigt. Denn die Stärke der Baudelairschen Positi-on wird ausgemacht durch die unergründliche Trostlosigkeit des allegorischen Blicks,

daß Wissen, daß es „für den, der keine Erfahrung mehr machen kann“ keinen Trost

gibt. Das ersehnte Ideal regt nur das Erinnerungsvermögen an, es lindert nicht den

Spleen, den Baudelaire vielmehr zum Zorn steigert. „Es ist aber nichts anderes als dieses

Unvermögen, was das eigentliche Wesen des Zornes ausmacht. Der Zornige ‚will nichts

134 Richard Wolin, Redemption, 235.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

hören‘; sein Urbild Timon wütet gegen die Menschen ohne Unterschied; er ist nicht

mehr im Stande, den erprobten Freund von dem Todfeind zu unterscheiden.“ (ÜMB:

642). Es ist dieser heroische Gestus, dem Benjamin versucht, ein Denkmodell abzuge-

  winnen. Dieses Denkmodell ist das der messianischen Rettung der Erfahrung, das

„zugleich das Chockerlebnis und die mémoire involontaire über ihre Grenzen hinaus-

treiben würde.“136

Denn im „spleen ist die Zeit verdinglicht; die Minuten decken den

Menschen wie Flocken zu. Diese Zeit ist geschichtslos, wie die der mémoire involontai-

re. Aber im spleen ist die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede Sekunde fin-

det das Be-

 wußtsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen.“ (ÜMB: 642).

 Auch die Thesen über den Begriff der Geschichte stellen einen Unterschied zwischen diesen

zwei „Zeitlichkeiten“ fest. Während die Zeit der Uhren eine leere und homogene ist, die

nur die Dauer unterschiedslos formalisiert, hält an den Gedenktagen die Zeit inne (The-

sen: XV, 701), die Jahreszahlen erhalten ihre Physiognomie wieder. (ZP: 661). Ganz

dem Duktus des Trauerspiels entsprechend, formuliert Benjamin in Einige Motive über Bau- 

delaire, daß das Eingedenken „die auseinandergesprengten Bestandstücke echter histori-

scher Erfahrung in Händen“ hält (ÜMB: 643). Das Eingedenken macht also ein neues

Modell der Erfahrung möglich, das Benjamin mit einer Kritik an Bergson deutlich

macht. Bergson hat sich

„in seiner Vorstellung der Geschichte weit mehr entfremdet. ‚Der MetaphysikerBergson unterschlägt den Tod.’ Daß in Bergsons durée der Tod ausfällt, dichtetsie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab.Bergsons Begriff der action fällt entsprechend aus. Der ‚gesunde Menschenvers-tand’, durch welchen der ‚praktische Mann’ sich hervortut, hat Pate bei ihm ge-standen. Die durée, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit ei-nes Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen. Sie ist derInbegriff eines Erlebnisses, das im erborgten Kleide der Erfahrung einherstolziert.

Der Spleen dagegen stellt das Erlebnis in seiner Blöße aus. Mit Schrecken siehtder Schwermütige die Erde in einen bloßen Naturzustand zurückgefallen. KeinHauch von Vorgeschichte umwittert sie. Keine Aura.“ (ÜMB: 643f.).

Die Spannung zwischen Geschichte und Vorgeschichte ist für diesen Blick nicht zu

überwinden, denn für Baudelaires Produktion ist die entscheidende Grundlage das

Spannungsverhältnis, „in dem bei ihm eine aufs höchste gesteigerte Sensitivität zu einer

135 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 20.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

aufs höchste konzentrierten Kontemplation steht. Es reflektiert sich theoretisch in der

Lehre von der Allegorie.“ (ZP: 674). Warum die Spannung zwischen Spleen und Ideal

bei Baudelaire trotz aller Korrespondenzen in keiner Aura zur Ruhe kommt, verdeut-

licht Benjamin wie folgt: Der Blick des „Spleenétique“ begegnet nur den Augen, denen

„das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist.“ (ÜMB: 648).

Somit bleibt Benjamin nichts anderes übrig, als der Verdinglichung selbst die Erlö-

sung abzugewinnen, ganz ähnlich, wie Baudelaire das Heil den Blumen des Bösen abgewin-

nen wollte.137

Die Figur der Hure wird daher von Benjamin zu diesem Zweck angeführt.

Sie ist die extreme und daher entscheidende Verkörperung dieses Versuchs. Die Hure

ist, „auf die Passanten achtend, zugleich auf der Hut vor Polizeibeamten. [...] Sie läßt

ihren Blick wie das Raubtier am Horizont verweilen; er hat das Unstete des Raubtiers ...,

doch manchmal auch dessen jähes gespanntes Aufmerken.“ (ÜMB: 649). Deutlich ist in

dieser Beschreibung des Blicks der Hure eine Parallele zu dem Tigersprung in den The-

sen Über den Begriff der Geschichte zu sehen. Wie der Blick der Hure ein „jähes gespanntes

 Aufmerken“ annehmen kann, so ist es die Witterung des Tigers, die ihn zum „Sprung“

 veranlaßt. Dieser Tigersprung versinnbildlicht den Augenblick der Revolution:

„Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht desEinst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet sie in einer Are-

na statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter demfreien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution be-griffen hat.“ (Thesen: XIV, 701).

Benjamin bemißt der Figur der Hure die Bedeutung bei, daß sie eine die „allegorische

 Anschauung am vollkommensten erfüllende Ware [ist]. Die Zerstreuung des allegori-

schen Scheins ist in dieser Erfüllung angelegt.“138 Die Hure ist also die allegorische Ver-

körperung des höchsten Grads der Entfremdung, zugleich aber auch die Möglichkeit

ihrer Überwindung. In Zentralpark   widmet Benjamin viele Stücke dieser dialektischen

Umkehr. Der Melancholiker wird angesichts der Ruinen zum Allegoriker, aufgrund sei-

ner Vertiefung in die Bruchstücke (ZP: 676), während die Hure den „blutigen Apparat

der Zerstörung“ selbst darstellt:

„Die Frau bei Baudelaire: das kostbarste Beutestück im ‚Triumph der Allegorie‘ – das Leben, welches den Tod bedeutet. Diese Qualität eignet am unabdinglichsten

136 Ebd., 21.137 Ebd., 22.

138 Briefe, 752.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

der Hure. Sie ist das einzige, was man ihr nicht abhandeln kann und für Baudelairekommt es nur darauf an.“ (ZP: 667).

„ ‚L’appareil sanglant de la Destruction‘ – das ist der verstreute Hausrat, der – in

der innersten Kammer der Dichtung von Baudelaire – zu Füßen der Hure liegt,die alle Vollmachten der barocken Allegorie geerbt hat.“ (ZP: 676).

Die Frage also, die für Benjamin die ganze Zeit an Baudelaires Dichtung sich stellt, ist

die, wie der moderne Allegoriker seine Schrecken in erlösende Chocks umkehren kann

um somit die zerstörende Eigenschaft des Chocks zum Durchbrechen der erstarrten

Reifikation der Welt zu nutzen. Die Spannung zwischen Spleen und Ideal, die für die

Korrespondenzen ähnlich unerläßlich ist, wie sie es für die Allegorie war, muß aufgelöst

 werden, so daß der moderne Allegoriker aus den Korrespondenzen erwacht und somit

gegen die Naturgeschichte Initiative ergreifen kann. Sind diese Voraussetzungen erfüllt,

 wird die „Dialektik im Stillstand“ wieder in Bewegung gebracht.139 

Die Selbstentfremdung ist das entscheidende neue Ferment, das, „in das taedium vi-

tae eintretend, dieses zum Spleen macht.“ (ZP: 659). Sie bringt bei Baudelaire das „tête-

à-tête sombre et limpide“, also das zugleich düstere und ungetrübte „tête-à-tête“ des

Subjekts mit sich selbst zum Ausdruck (ZP: 659). „Die barocke Allegorie sieht die Lei-

che nur von Außen. Baudelaire [der moderne Allegoriker] sieht sie auch von innen.“

(ZP: 684). Die moderne Allegorie zeichnet sich dadurch aus, daß sie den vernichtenden

Blick verinnerlicht, wie Benjamin abermals an Baudelaire festhält, wenn er von ihm sagt,

daß, wenn er „die Verworfenheit und das Laster schildert, so begreift er sich immer mit

ein.“ (ZP: 689). Daraus wird deutlich, daß für den Allegoriker der Moderne die barocke

Leiche durch das Andenken ersetzt ist.

„Die Melancholie enthält aber im neunzehnten Jahrhundert einen anderen Cha-rakter als im siebzehnten. Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche.

Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das ‚Andenken‘. Das ‚Andenken‘ ist dasSchema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers. Die Correspondan-ces sind der Sache nach die unendlich vielen Anklänge jeden Andenkens an dieandern.“ (ZP: 689).

Das Moderne an Baudelaires Allegorien rührt letztlich daher, daß er sich von der christ-

lichen Weltanschauung und ihrem Wissen von der Lasterhaftigkeit, Hinfälligkeit und

 Vergänglichkeit der Dinge distanzierte, d. h. ihr nicht mehr zustimmen konnte. Zwar

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

sind für ihn Allegorien Stationen des Allegorikers auf dem Passionsweg (ZP: 663), doch

findet er sich nicht damit ab, daß alles Irdische nur Schein sei. Allegorien sind für ihn

daher Mittel im Dienst der Scheinlosigkeit und des Zerfalls der Aura. Baudelaires Zorn

entzündet sich am Schein und an der Aura. Allegorien sind „Stätten, an denen Baude-

laire seinen Zerstörungstriebe büßte.“ (ZP: 669). So tragen Baudelaires Allegorien „Spu-

ren des Ingrimms“, die dazu erforderlich waren, in die „Welt einzubrechen, ihre

harmonischen Gebilde in Trümmer zu legen.“ (ZP: 669). Dieses „die Welt in Trümmer

legen“, das aus dem Grübler den Handelnden macht, nennt Benjamin den Spleen: „das

Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht.“ (ZP: 660).

Dem Spleen ist es möglich, Chockerlerbnisse, die er in den Dienst der Zerstörung 

des Scheins stellt, in die Wiederherstellung von Tradition und Erfahrung zu verwandeln,

denn es ist der Spleen, der „Jahrhunderte zwischen den gegenwärtigen und den eben

gelebten Augenblick“ legt. „Er ist es, der unermüdlich ‚Antike‘ herstellt.“ (ZP: 661).

Und eben diese Eigenschaft des Spleens ist es, die seine Verwandtschaft zur barocken

 Allegorie ausmacht, denn die Allegorie ist „am bleibensten dort angesiedelt, wo Ver-

gänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen.“ (Ursprung: 397). Dieses Wi-

derspiel zwischen Antike und Moderne, das auch Baudelaire aufgenommen hat, die

Spannung zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit, kommt bei Baudelaire aber nie zu

dem Punkt, an dem es dialektisch umschlagen könnte. Daher stellt Benjamin katego-risch fest:

„Das Widerspiel zwischen Antike und Moderne ist aus dem pragmatischen Zu-sammenhange, in dem es bei Baudelaire auftritt, in den allegorischen zu überfüh-ren.“ (ZP: 661).

Baudelaire nutzt die Spannung nämlich nur, um Korrespondenzen zu erzeugen:

„Die Korrespondenz zwischen Antike und Moderne ist die einzige konstruktive

Geschichtskonzeption bei Baudelaire. Sie schloß eine dialektische mehr aus, als siesie beinhaltet.“ (ZP: 678).

Die benjaminsche Deutung Baudelaires ist hinsichtlich seiner Theorie der Erfahrung in

mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Die Utopie der Chockerfahrung aus dem Kunst- 

werkaufsatz wird letztlich negiert, ohne jedoch die These des ‚Positiven Barbarentums‘

und die des ‚Zerfalls der Aura‘ preiszugeben.

139 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 23.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

Solange aber das geforderte Erfahrungsmodell des Eingedenkens noch nicht einge-

treten ist, darf die allegorische Spannung nicht nachlassen. Es ist allein der allegorische

Blick, der die Phantasmagorien der Moderne zu entlarven vermag, und gleichzeitig die

Hoffnung auf Erlösung aufrecht erhalten kann. Dieses allegorische Konzept schließt

keineswegs den Chock und die mémoire involontaire aus. Beide kann es in seine Diens-

te nehmen. Doch weder Chock noch mémoire involontaire alleine sind in der Lage, die

erlösende Katastrophe herbeizuführen.

Die erlösende Katastrophe aber ist es, auf die Benjamin hinsichtlich einer Wiederher-

stellung der Möglichkeit der Erfahrung abzielt. Benjamin nimmt Baudelaires Widerspiel

zwischen Antike und Moderne in seiner Geschichtsphilosophie auf, allerdings nicht als

Korrespondenz der beiden, sondern als ein dialektisches, aufblitzendes Bild. Erst der

allegorische Blick ist in der Lage, jenes Bild zu erkennen und es somit zum Gegenstand

des Eingedenkens zu befördern. Das nächste Kapitel Die Geschichtsphilosophie Walter Ben- 

 jamins soll verdeutlichen, wie das zu verstehen ist.

Ein solcher Erfahrungsbegriff zeigt letzlich auf, wie Kunst und Geschichte zusam-

menhängen mit dem Leben und den Lebensperspektiven der Menschen. Erst eine für

alle gültige Erfahrungsmöglichkeit, die der Moderne und der in ihr lebenden Menschen

gerecht wird, kann den Verlust der Aura, des Erzählens, der Tradition und Kulte kom-

pensieren. Haben diese verloren gegangenen Dinge, als sie noch existierten, den Men-schen ihr Leben und Dasein verständlich gemacht (Religion bzw. Kulte und die von

ihnen in den Dienst gestellten auratischen Kunstwerke), Erfahrung und Lebensperspek-

tiven vermittelt (der seßhafte Ackerbauer und der reisende Seemann), oder zumindest

Halt gegeben in einer nicht immer verständlichen Welt (Tradition), so steht der moder-

ne Mensch alleine dem immer gleichen Kreislauf gegenüber, dem er keinen Sinn abge-

 winnen kann, und dem er entfremdet und scheinbar machtlos gegenübersteht. Benja-

mins Erfahrung durch die Allegorie ermöglicht es auch den Menschen in der Moderne,

Erfahrungen zu machen; zu realisieren, daß die Geschichte nicht ein ewiger Kreislauf 

des immergleichen ist. Er ermöglicht den Menschen sogar aus ihrer Entfremdung aus-

zubrechen, sich ihrer Lage bewußt zu werden und somit gegen sie anzukämpfen. Das

heißt das Joch der totalitären Systeme, hier Kapitalismus und Faschismus,140 abzuschüt-

teln und eine freie Gesellschaft zu bilden.

140 Es liegt mir fern vom heutigen Standpunkt aus beide gleichzusetzen, doch Benjamin sieht in den

  Auswirkungen beider Systeme auf die Menschen und deren Bewußtseinszustand keinen Unter-

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

schied. Wie aus vielen Stellen der Schriften Benjamins implizit hervorgeht, kann man folgern, daßer den Faschismus als die logische Folge des Kapitalismus gesehen hat. Vgl. unter anderem: AAP:701; KR2: 370, 372; 382. Vor allem auf Seite 370 wird das besonders deutlich: „Denn durch dasFilmkapital werden die revolutionären Chancen dieser Kontrolle in gegenrevolutionäre verwandelt.Der von ihm geförderte Starkultus konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, wel-cher schon längst im fauligen Schimmer des Warencharakters besteht, sondern sein Komplement,der Kultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, die der Faschis-mus an die Stelle ihrer Klassenbewußten zu setzen sucht.“ (KR2: 370). In der  Autor als Produzent  heißt es, daß der Kampf gegen den Faschismus sich „zwischen dem Kapitalismus und dem Prole-tariat“ abspielt (AAP: 701). Es bedarf nicht der intensiven Interpretation, um daraus die Auffas-sung Benjamins zu lesen, daß wenn der Kapitalismus in diesem Kampf die Oberhand behält, der

Faschismus triumphieren wird.

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III. Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

 Wie schon im letzten Kapitel angedeutet, ist eine Darstellung der Geschichtsphilosophie

Benjamins von großer Bedeutung für seine Erfahrungstheorie. Denn wie Benjamin,

 wenn er den Verfall der Tradition und des Erzählens beklagt, einen Verlust der Mög-

lichkeit von Erfahrung, vor allem auch von historischer Erfahrung feststellt, stellt er

dieses „Verlorene“ auch wieder her. Zum einem in der Konstruktion der Möglichkeit

der Erfahrung durch Eingedenken unter Zuhilfenahme der Allegorie, zum anderen

durch seine im folgenden dargestellte Geschichtsphilosophie. Gegenwärtige Ereignisse

 werden durch vergangene erklärbar, indem man letztere zitiert. Die Aufgabe von Ge-

schichte ist nicht die, wie sie der Historismus, die Kulturgeschichte und der Evolutio-

nismus begreifen, also kein Kontinuum von mehr oder minder großen Ereignissen, die

sich im Zeitkontinuum wie an einer Perlenkette aufreihen, und auch wird sie nicht un-

 weigerlich zu bestimmten Ereignissen hinführen, ist also nicht teleologisch.

Stéphane Mosès macht in seinem Aufsatz Walter Benjamin. Drei Modelle der Geschichte 

darauf aufmerksam, daß Benjamins „Reflexionen über die Geschichte“ vor dem „Hori-

zont des Historismus und aus dem Bruch mit ihm begriffen werden“ müssen.141 Dieser

Bruch führte ihn dazu, nach Kategorien historischer Erkenntnis zu fragen. „Diese Frage

führt über ihre rein methodologische Seite hinaus, wie die Geschichte sich erkennenlasse, im Grunde zu einer metaphysischen: Welchen Typus von Geschichte will ich be-

gründen? Nach welchem Modell soll er vorgestellt werden? Auf diese Frage – nach der

 Wahl eines Paradigmas (im Sinne eines Verstehbarkeitsmodells) – hat Benjamin im Lau-

fe seiner Entwicklung drei recht unterschiedliche Antworden gefunden.“142 Diese drei

Paradigmen der Geschichte sind, so Stéphane Mosès:

1. das Theologische,

2. das Ästhetische und3. das Politische.143 

Diese drei Paradigmen sind jedoch nicht strikt voneinander getrennt, vielmehr muß man

sich die Übergänge zwischen ihnen fließend vorstellen. Auch ist es nicht so, daß, wenn

Benjamin ein neues Paradigma entwickelt hat, er dann alle Kategorien des vorherigen

141 Stéphane Mosès, Drei Modelle der Geschichte, in: Stéphane Mosès, Der Engel der Geschichte.Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1994, 85 – 160, 91.

142 Ebd.

143 Ebd., 91f.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

fallen läßt; „sie werden beibehalten, verlieren jedoch in der nun sich ausbildenden neuen

begrifflichen Struktur ihre dominante Funktion, um sich anderen Kategorien unterzu-

ordnen, die dann ihrerseits dominant werden.“144 So ergibt sich, daß im letzten, also im

politischen Paradigma, auch Elemente des theologischen und ästhetischen Paradigmas

sich finden lassen. Daraus folgt für diese Arbeit, daß sie sich auf das politische Paradig-

ma in ihrer Beschreibung der Geschichtsphilosophie Benjamins konzentrieren wird. Die

zwei anderen Paradigmen werden nur insoweit in die Beschreibung einbezogen, wie es

notwendig ist, um einen kohärenten Begriff von Benjamins Geschichtsphilosophie zu

bekommen.145

 

Zunächst jedoch werde ich Benjamins Kritik am Historismus und der Geschichtsauf-

fassung der Sozialdemokraten darstellen, ist diese doch entscheidend für seine eigene

Position.

1. Benjamins Kritik am Historismus

Benjamins Kritik am Historismus wird in nuce in den Notizen und Vorarbeiten zu den

Thesen deutlich. In den Thesen bezieht Benjamin sich, ohne sie immer zu benennen, auf 

die Historiker Gottfried Keller (These V), Leopold von Ranke (These VI), und Fustel

de Coulanges (These VII). Benjamin zufolge soll sich die Kritik am Historismus gegen

drei seiner Hauptpunkte wenden:

„Eine Vorstellung von Geschichte, die sich vom Schema der Progression in einerleeren und homogenen Zeit freigemacht hat, würde die destruktiven Energien deshistorischen Materialismus, die so lange lahmgelegt worden sind, endlich wiederins Feld führen. Damit würden die drei wichtigsten Positionen des Historismusins Wanken kommen. Der erste Stoß muß gegen die Idee der Universalgeschichtegeführt werden. [...] Die zweite befestigte Position des Historismus ist in der Vor-

stellung zu erblicken, die Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse. [...] Diedritte Bastion des Historismus ist die stärkste und schwerst zu berennende. Siestellt sich als die ‚Einfühlung in den Sieger‘ dar.“146 

144 Ebd., 92.145 Das hat zudem einen ganz praktischen Grund: Alle drei Paradigmen darzustellen, würde den Um-

fang dieser Arbeit sprengen.

146 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, in: GS I.3, 1223 – 1266, 1240f.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Die Einwände, die Benjamin gegen das Konzept der Einfühlung nennt, „können sich

auf die Erlebnis- und Kongenialitätstheorie Diltheys, diejenigen gegen die Kontinuität

und gegen die Universalgeschichte auf die Weltgeschichte Rankes beziehen.“147 

Diese Einwände Benjamins, die er in der Notiz aus den Vorarbeiten nennt, sollen im

folgenden expliziert werden.

1.1. Der erste Stoß muß gegen die Idee der Universalgeschichte geführt werden 

Die Universalgeschichte geht von einem Begriff der Historischen Zeit aus, in dem die

Zeit geradlinig verläuft. In ihr tauchen zu oder in gewissen Zeitpunkten geschichtliche

Ereignisse auf. Diese Zeit ist in ihrer völligen Unbestimmtheit homogen und leer.148 

Die Universalgeschichte verfährt additiv, die homogene und leere Zeit wird von ihr

schlicht mit einer Masse von Fakten aufgefüllt (Thesen: XVII, 702). Somit liegt der Sinn

der Zeitpunkte, die auf der Zeitlinie liegen, darin, sich auf ein bestimmtes sich hinzube-

 wegen, während die Zeit als „ideeller unräumlicher Raum“ „nur aus dem Zusammen-

hang der verschiedenen Zeitpunkte zueinander bestimmt werden“ kann.149 

Dieses Zeitmodell des Historismus bestärkt Benjamins Ablehnungshaltung gegen

ihn. Der Historismus faßt die Zeit nach dem Zeitmodell der Newtonschen Mechanik,

also als ein kontinuierliches, lineares Medium. Dieses Medium gestattet es, die unendli-

che Kette von Ursache und Wirkung bruchlos ablaufen zu lassen. Die Folge der Über-

tragung des Kausalitätsprinzips auf den Ablauf der historischen Zeit ist der „Glauben an

eine mögliche Verlängerung der historischen Erkenntnis auf die Zukunft hin.“150 Diese

an die Naturwissenschaft angelehnte Methode erlaubte es dem Historismus Voraussa-

gen zu treffen, die vielleicht nicht so präzise wie die der Naturwissenschaften waren,

doch ebenso notwendig. Das Mindeste, was man dank dieser Methode voraussagen

konnte, war – gestützt auf die Feststellung, daß die Menschheit bisher Fortschritte er-zielt hat – das dieser Fortschritt der Menschheit auch weiterhin beschieden ist.

Somit wird auch die Bedeutung der Universalgeschichte für den Historismus deut-

lich, denn der Historismus beruht auf der Konzeption der auf einer Zeitlinie ruhenden

147 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins. Die Unabgeschlossenheitdes Sinns, Erlangen 1978, 55.

148 Thesen XIII, XIV und XVII, 700 – 703.149 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, 57.

150 Stéphane Mosès, Drei Modelle der Geschichte, 90.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Zeitpunkte, die sich auf ein Ziel hinbewegen. Würde einer dieser Punkte auf der Zeitli-

nie verloren gehen bzw. nicht gefunden werden, so würde ein ganzer Abschnitt dieser

Zeitlinie unklar bleiben. Die Universalgeschichte aber verheißt dem Historismus, daß

kein geschichtliches Ereignis verlorengeht, es ist nur eine Frage der Forschung, bis auch

das letzte Ereignis gefunden wird, verschwinden wird es keinesfalls, wie Benjamin for-

muliert:

„Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unter-scheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignethat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“ (Thesen: III, 694).

Diese Ansicht der Historiker des Historismus liegt in deren Überzeugung begründet,

daß jedes einzelne Forschungsergebnis zur Universalgeschichte beiträgt, und daß diese

somit immer vollständiger wird. Ranke hat seine Vorstellung von Geschichte wie folgt

beschrieben:

„Das Gewesene constituiert den Zusammenhang mit dem Werdenden. Aber auchdieser Zusammenhang ist nichts willkürlich Anzunehmendes; sondern er war auf eine bestimmte Weise, so und so, nicht anders. Er ist ebenfalls ein Objekt der Er-kenntnis. Eine längere Reihe von Ereignissen – nacheinander und nebeneinan-der – auf solche Weise miteinander verbunden, bildet ein Jahrhundert, eine Epo-che. [...] Vergegenwärtigen wir uns in diesem Sinne die Reihe der Jahrhunderte,

jedes in seiner ursprünglichen Wesenheit, alle in sich verkettet, so werden wir dieUniversalgeschichte vor uns haben, von Anbeginn bis auf den heutigen Tag. DieUniversalgeschichte begreift das vergangene Leben des menschlichen Ge-schlechts, und zwar nicht in einzelnen Beziehungen und Richtungen, sondern inseiner Fülle und Totalität. [...] Das letzte Ziel, ein noch unerreichtes, bleibt immerdie Auffassung und Produktion einer Geschichte der Menschheit.“151 

Es ist dieses Geschichtsbild des Historismus, welches Benjamin strikt ablehnt. Die reine

  Ansammlung von Fakten, die die methodologischen Axiome von den Naturwissen-

schaften, wie man sie im 19. Jahrhundert verstand, entnommen, d. h. im Glauben an dieObjektivität der ‚Fakten‘ auf die historische Wissenschaft übertragen hat, und die dem

Modell der Naturwissenschaft entsprechend das historische Faktum auffaßt nach dem

Modell der wissenschaftlichen Fakten, basiert „im Rückgriff auf eine rein induktive Me-

thode, die darin bestand, die [Fakten] anzuhäufen, um aus ihnen bzw. ihrer An-

151 Leopold von Ranke, Weltgeschichte. Ueber die Epoche der neueren Geschichte, Bd. IX.2, hg. von

 Alfred Dove, Leipzig 1888, XIVf.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

sammlung allgemeine Gesetze abzuleiten, deren Objektivität für ebenso gesichert gehal-

ten wurde wie die der Fakten selbst.“152 Dieser doppelte Glaube ist es, der den Histo-

rismus bestimmte und seine Methode eine rein positivistische werden ließ.

Der Schematismus der leeren Zeit, nach dessen Prinzip die Zeit mit präparierten Er-

eignissen angefüllt oder kontinuierlich und durchlaufend gemacht wird, drückt die völli-

ge Negation der Geschichtszeit aus.153 Muster der Geschichtszeit im Gegensatz sind der

Revolutionskalender und die Uhr.

„Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem derKalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer.“ (Thesen: XV, 701).

Dieser „Anfangstag“ der Kalender ist es, der in Gestalt von Feiertagen, also als Tage des

Eingedenkens, immer wiederkehrt (Thesen: XV, 701). Das, was die Revolutionskalenderausdrücken, sind typische Momente des Geschichtsbewußtseins, Momente in denen die

Zeit stillgestellt wird, wie Benjamin anhand eines Beispiels deutlich macht:

„Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem die-ses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftagesgekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig 

 voneinander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.“ (Thesen:XV, 702).

Mit dem Beschuß der Turmuhren ist der Gang der Zeit selber gemeint, der der Zeit der

Natur-Geschichte. Erst durch ihre Stillstellung gelangt eigentliche Geschichtszeit in das

Zeitkontinuum hinein, genau wie Revolutionen, die in den Gang der Dinge, den sie un-

terbrechen, gelangen. Jedoch bauen Revolutionen auf, wo sie niederreißen: „den Raum,

den sie in die Zeit hineinschlagen kraft dessen, den sie aus der verflossenen heraushol-

ten.“154 Die Zeit soll diesen Raum, der ihr abgerungen worden ist, aber nicht wieder

schließen, denn es ist dieser der Zeit abgerungene Raum, der das historische Ereignis

darstellt, den die Revolutionskalender ausdrücken.Gäbe es solche Ereignisse nicht, würde die Zeit , wie oben beschrieben, „homogen

und leer“ sein, eine Linie, in der alle Punkte gleich sind, und eine leere Hülle, die jeden

152 Stéphane Mosès, Drei Modelle der Geschichte, 90.153 Hermann Schweppenhäuser, Praesentia praeteritorum. Zu Benjamins Geschichtsbegriff, in ders.,

Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992, 127 – 145,135f.

154 Ebd., 136.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Inhalt aufnimmt. Dadurch stehen die geschichtlichen Ereignisse zueinander in der Zeit,

sie stehen aber nicht zu der Zeit.

1.2. Exkurs: Der Fortschrittsglaube der Sozialdemokratie. Benjamins Kritik am sozialdemokratischen Evolutionismus 

Neben dem Historismus kritisiert Benjamin die Geschichtsphilosophie der Sozialdemo-

kratie, insbesondere ihren Fortschrittsglauben, der drei Eigenschaften besitzt:

„Der Fortschritt wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokratie malte, war ein-mal, ein Fortschritt der Menschheit selbst [...]. Er war, zweitens, ein unabschließ-barer [...]. Er galt, drittens, als ein wesentlich unaufhaltsamer. [...]

Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist  von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fort-gangs nicht abzulösen.“ (Thesen: XV, 700f.).

Die Folgen dieses sozialdemokratischen Fortschrittsglaubens sind dramatische, so Ben-

jamin, da gerade dieser Fortschrittsglaube die deutsche Arbeiterschaft in hohem Maße

korrumpiert hat und zwar, wie sie der Meinung war, sie schwimme mit dem Strom. Das

Gefälle dieses Stroms ist die technische Entwicklung. Von dieser Meinung ist es nur

noch ein ein kleiner Schritt, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß die Fabrikarbeiteine politische Leistung darstellt. Der sozialdemokratische Fortschrittsglaube hat die

Massen von ihrer Selbsterkenntnis abgehalten und somit jeden Fortschritt im eigentli-

chen Sinne verhindert (Thesen: XI, 699).

Gegen eine Theorie und deren Praxis wendet sich Benjamins Kritik, die die „Reali-

sierung des Fortschritts dem Handeln entzogen hat, gegen die Überzeugung, daß mit

dem quantitativen Fortschreiten der Zeit auch ein qualitativer Fortschritt der Verhältnis-

se zu erwarten sei.“155 Diese Kritik an der Sozialdemokratie ist insbesonders im Licht

des Sieges der Faschisten in Deutschland zu sehen, der weder durch die Sozialdemokra-

ten noch Kommunisten aufgehalten wurde. So heißt es in den Thesen in bezug auf den

Faschismus:

„Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen desFortschritts als einer historischen Norm begegnen. – Das Staunen darüber, daßdie Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist

155 Krista R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus, 16.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der,daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ (The-sen: VIII, 697).

Der Geschichtsoptimismus der Sozialdemokraten – obwohl diese zweifelslos zu den

Gegnern des Faschismus gehörten – trug zu dessen Sieg bei, gerade weil er ihn jenseits

der Wahrscheinlichkeit sah. Wie Greffrath richtig anmerkt, galt die NSDAP den Sozial-

demokraten als anachronistische Partei, deren Weltanschauung mit der modernen Ge-

sellschaft und ihrer Entwicklung unvereinbar schien und auch gerade deshalb ein politi-

sches Bündnis mit dem Kapital nicht sein konnte, da dem Kapital „die unaufhaltsame

Entfaltung gesellschaftlicher Rationalität unterstellt wurde. Daher blieb ihnen [den Sozi-

aldemokraten] die Einsicht, daß die Irrationalität des Nationalsozialismus die kehrseite

der kapitalistischen Rationalität sei, verschlossen.“156 Doch Benjamins Kritik richtet sich

nicht gegen einzelne politische Fehler der Sozialdemokraten, sondern gegen die diesen

Fehlern zugrundeliegende Geschichtsphilosophie, d. h. den Fortschrittsglauben. Dieser

  wurde nicht durch die Geschichte widerlegt, sondern er hatte selbst Anteil an seiner

 Widerlegung. Dadurch, daß sie an einem normativen Fortschrittsglauben festhielt, ist

diese Geschichtsphilosophie für den Sieg des Faschismus mitverantwortlich.157 

 Jedoch ist dieser normative Fortschrittsglaube nicht dem Historismus zuzurechnen,

sondern einem Evolutionismus, der davon ausgeht, daß der Sozialismus eines Tages alsnotwendiges Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zufallen werde.

 Aus dieser Annahme folgt, daß der Sozialismus nichts ist, wofür man zu kämpfen hat,

sondern etwas, auf das man vorbereitet sein muß. Dieses Geschichtsbild vor Augen, gab

die Sozialdemokratie die Parole aus „Wissen ist Macht“, und verstand sich demzufolge

als die Erzieherin der Massen.158 Benjamin sieht darin allerdings das Problem, daß diese

Bildungsarbeit „die Kulturgeschichte zum Leitstern“ hatte (Fuchs: 478). Im Gegensatz

zum Historismus hatte sich die Kulturgeschichte nicht zur Aufgabe gemacht, einzelne

große Männer und deren Taten zum Gegenstand ihrer Darstellung zu machen, sondern

die Einheit aller Lebensbereiche. Doch auch das kritisiert Benjamin:

„Die Abgehobenheit, in der die Kulturgeschichte ihre Inhalte präsentiert, ist fürden historischen Materialisten eine scheinhafte und von einem falschen Bewußt-sein gestiftete. Er steht ihr zurückhaltend gegenüber. [...] [W]as er an Kunst und

156 Ebd., 17.157 Ebd.

158 Ebd., 18.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

an Wissenschaft überblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nichtohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der gro-ßen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder minderen Grade auchder namenslosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kul-

tur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dem Grundsätzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, und sie kann dasauch schwerlich hoffen.“ (Fuchs: 476f.).

 Vom Standpunkt des historischen Materialisten aus kann also erst von Kultur gespro-

chen werden, wenn nicht die Kultur der wenigen auf der Barbarei der vielen basiert.

Daher ist es für ihn auch nicht denkbar, daß Kultur der Gegenwart übereignet

 wird (Fuchs: 477). Im Gegensatz dazu benutzt die sozialdemokratische Bildungsarbeit

Kulturgeschichte als Inventar dessen, was bis zum heutigen Tag die Menschheit sich

gesichert hat (Fuchs: 476). Diese verdinglichte Geschichtsauffassung „ist das Komple-

ment zu jenem normativen Fortschrittsbegriff, den Benjamin an den sozialistischen Par-

teien diagnostiziert hat.159 Hat letzterer den Glauben befördert, daß der Fortschritt in

der Zukunft einmal die Schätze, die der Kapitalismus angehäuft hat, der Menschheit

übereignen wird, so ist die Kulturgeschichte für das Bewußtsein verantwortlich, daß in

ihrem Inventar die Vergangenheit „ein für allemal in die Scheuern der Gegenwart einge-

bracht“ ist (Fuchs: 475). Benjamin bemerkt zu dieser Art der Geschichtsauffassung kri-

tisch, daß beide die Auffassung haben, Geschichte könnte Gegenstand des Besitzes sein.Mit Greffrath ist also festzustellen: „die Sozialdemokratie, die ihre politische Strategie

 wie ihre Bildungsarbeit unter dem Zeichen einer gerechten Ernte sah, ist bei der Bour-

geoisie in die Lehre gegangen und hat deren höchsten Wert übernommen: Besitz – sei

es für die Zukunft, die den Sozialismus als Erbe bringen wird, sei es für die Vergangen-

heit, die der Gegenwart als Kulturgut zufällt.“160 Diesem sozialdemokratischen Vertrau-

en auf den unaufhaltsamen Fortschritt in Richtung Sozialismus, aber auch den zufriede-

nen Blick zurück auf das bisher Geleistete, widerspricht Benjamins Auffassung von Ge-schichte zutiefst, wie weiter unten zu sehen sein wird. Vor allen Dingen die IX. These

bildet das Gegenteil einer jeden vom normativen Fortschrittsbegriff bestimmten Ge-

schichtsbetrachtung.

159 Ebd., 19.

160 Ebd.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

1.3. Die zweite Position ist, die Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse 

In den Anmerkungen zu den Thesen macht Benjamin dem Historismus den Vorwurf,

dieser gehe davon gehe aus, Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse.

161

Der Histo-rismus nämlich begnügt sich damit, einen Kausalnexus zwischen den einander folgen-

den Begebenheiten in der Geschichte zu etablieren (Thesen: A, 704). Jedoch ist das ei-

gentliche Bild von Vergangenheit, das wahre Bild, dasjenige, „worin die Vergangenheit

mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt.“162 Dieses Zusammentreten

ist eine „eine dialektische und sprunghafte“ Beziehung zwischen Vergangenheit und

Gegenwart.163 Das wiederum läßt kein historisches Kontinuum zu, wie es das Erzählen

des Historismus voraussetzt, es setzt vielmehr die Zerstörung dieses Kontinuums vor-

aus. Aufgrund seiner Konzeption von Geschichte kritisiert Benjamin das epische Ele-

ment des Historismus, die Gemächlichkeit der Historisten, und muß daher die „Vorstel-

lung, Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse“ ablehnen,164 da dies stets dazu führen

 wird, daß der Prozeß der Überlieferung immer zu einem Zeugnis der Barbarei wird.165 

1.4. Die dritte Position stellt sich als die ‚Einfühlung in den Sieger ‘ dar 

Die dritte Position des Historismus macht Benjamin in der siebten These in bezug auf 

den Historiker Fustel de Coulanges deutlich. Coulanges empfiehlt dem Historiker, daß

dieser, will er eine Epoche nachleben, alles, „was er vom späteren Verlauf der Geschich-

te wisse, sich aus dem Kopf schlagen“ soll (Thesen: VII, 696). Benjamin nennt dieses

 Verfahren das der Einfühlung. Es kennzeichnet am besten das Verfahren, mit dem der

historische Materialismus gebrochen hat. Der Ursprung der Einfühlung liegt in einer

„Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes

sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt.“ (Thesen: VII, 696).

Gagnebin macht auf den Zusammenhang zwischen der Einfühlung und Diltheys Begriff 

des Erlebnisses aufmerksam. Der Historismus geht davon aus, daß sich zwischen den

161 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1252.162 Ebd., 1242.163 Ebd., 1243.164 Ebd., 1252. Das ‚epische Element des Historismus‘ ist jedoch keinesfalls mit dem epischen Ele-

ment des epischen Theaters zu verwechseln. Vgl. Kapitel V.3.2: Das epische Theater: Benjamin

und Brecht.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Historiker und seinen Gegenstand der Forschung nur akzidentielle Irrtümer einschlei-

chen können. Die meisten dieser Irrtümer kommen durch die zeitliche Distanz zwi-

schen dem Forscher und dem zu erforschenden Gegenstand zustande, so Dilthey.166 

Daher sei das Ideal der Forschung die wiederhergestellte Gleichzeitigkeit. Diese herzu-

stellen sei die zentrale Aufgabe des Begriffs des Erlebnisses der diltheyschen Hermeneu-

tik. Für die historische Auffassung des Verstehens von Geschichte stellt das Erlebnis die

Grundeinheit „der historischen Zeit dar, und gewährleistet ihre Homogenität.“167

Das

liest sich bei Dilthey so: „Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis, in dem

das Subjekt zu seinem Milieu sich befindet.“168 Gagnebin folgert daraus, daß die bloße

 Vorstellung „der linearen kontinuierlichen Zeit der Geschichte“ bei Dilthey zu einem

methodologischen Ansatz sich verändert. „Nur weil ein Punkt der Gegenwart und ein

Punkt der Vergangenheit in einer gleichen Erlebnisstruktur wurzeln, ist eine Erkenntnis

des zweiten durch den ersten möglich.“169 Bei dieser Erkenntnis handelt es sich aller-

dings um ein Verstehen und nicht mehr um eine begriffliche Erkenntnis im strikten

Sinne oder um eine Erklärung. Diese Konzeption des Erlebnisses von Dilthey bedeutet

konsequent angewandt, daß man die von ihm geforderte Gleichzeitigkeit „nicht nur als

eine Aktualisierung des Vergangenen verstehen [muß], sondern als das Verschwinden

der zwischen den beiden Zeitpunkten liegenden Zeit.“170 

Dieses Konzept deckt sich mit dem obigen Zitat von Fustel de Coulanges, und auchRanke hat diesen Gedanken in aller Deutlichkeit formuliert, als er die Aufgabe des His-

torikers als eine Annäherung an die Sicht Gottes beschreibt:

„Die Gottheit – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – denke ich mir so,daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Zeit der Menschheit inihrer Gesamtheit überschaut und überall gleich werth findet. Die Idee von der Er-ziehung des Menschengeschlechts hat allerdings etwas wahres an sich; aber vorGott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleichberechtigt, und so

muß auch der Historiker die Sache ansehen.“171

 

165 Vgl. IV.1.3: Die dritte Position „stellt sich als die ‚Einfühlung in den Sieger‘ dar“ und Thesen: 696.166 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, 60.167 Ebd., 61.168 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt

am Main 1970, 197.169 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, 61.170 Ebd.

171 Ranke, Weltgeschichte, IX,2, 5f.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Letzlich führt diese Sicht dazu, daß die „homogene und leere Zeit“ des Historismus in

den Geschichtsbetrachtungen des Historikers kein bzw. kaum mehr Gewicht hat, wie

Dilthey formuliert: „Er geht vom Erlebnis aus, von Realität zu Realität; [...] Denn das

 Verstehen dringt in fremde Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle

der eigenen Erlebnisse.“172 Doch wenn die Möglichkeit des Geschichtsschreibens von

der Auslöschung der zeitlichen Distanz bedingt ist, „dann muß diese Geschichtsschrei-

bung, weil sie ihre eigene Historizität nicht reflektiert, es an ihrer vermeintlichen Objek-

tivität einbüßen.“173 Diese Nicht-Berücksichtigung der zeitlichen Distanz zwischen dem

zu Erforschenden und dem Historiker wirft die Frage auf, wie der Historiker das Frem-

de nacherleben kann. Kann er es, weil der zu erforschende Gegenstand ihn an eigene

Erlebnisse erinnert, oder weil der Forscher sich in den Gegenstand versenkt und dabei

sich selbst auslöscht?174 Für Dilthey stellt sich dieses Problem nicht, da „die Identifikati-

on mit dem Gegenstand die Gleichheit der Erlebnisstruktur voraussetzt. Damit wird

aber die Interpretation zu einem Selbstgespräch, zu einer ‚Selbstbegegnung des mensch-

lichen Geistes‘.“175 Bedingung dafür ist Diltheys Auffassung des „Gemeinsamen“, das in

der Welt waltet:

„Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektivierten Geis-tes ein Gemeinsames, jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsfor-

mel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eineGemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet;der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre der Gemeinsamkeit,und nur in einer solchen versteht er. Alles Verstandene trägt gleichsam die Markedes Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmo-sphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in diesergeschichtlichen und verstandenen Welt zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeu-tung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeit.“

176

 

Es sind diese vermeintlichen Gemeinsamkeiten, an denen sich Benjamins Einwände

gegen die Einfühlungstheorie festmachen. Die Historisten „reinigen“ die historischen

Gegenstände von ihrer Vor- und Nachgeschichte. Der Historiker versetzt sich in die

Gegenstände seiner Betrachtung, in andere Menschen, andere Länder und andere Epo-

chen, um ihrer habhaft zu werden.

172 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 140.173 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, 62.174 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 158, 226.

175 Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, 63.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Im Grunde dieses Verhaltens [der Einfühlung] liegt die Insinuation des eigenenIch in ein Fremdes. Der Virtuose der Einfühlung geht in der Tat nicht aus sichheraus. Sein Meisterzug besteht darin, das eigene ich so entleert, so frei von allemBallast der Person gemacht zu haben, daß es in jeder Maske sich wohnlich

fühlt.“

177

 Der Historiker tritt eine Reise in die Vergangenheit an. Im Zusammenhang mit diesem

 Vorgang der Einfühlung spricht Benjamin vom einem Besuch bei der „Hure ‚Es war

einmal‘ im Bordell des Historismus.“ (Thesen: XVI, 702).

Dadurch macht Benjamin auf den immanenten Widerspruch im Konzept der Ein-

fühlung aufmerksam und kritisiert dabei nicht nur die Intention des Historismus, son-

dern vielmehr auch seine Methode. Die Einfühlung nämlich, das ist ihre Intention,

„sollte der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lassen, das hochmütige, willkürlicheUrteil des 18. Jahrhunderts durch die Achtung vor dem Vergangenen ersetzen.“178 Je-

doch wird jeder so behandelte historische Gegenstand seiner Zukunft beraubt, ist er

doch von allen objektiven Vermittlungen und jeder Beurteilung befreit, er ist ein bloß

Gewesenes. Indem der Historist dieses Verfahrens sich bedient, macht er historische

Ereignisse zu bloßen Antiquitäten, er verfällt einer Mißachtung der Geschichte, degra-

diert sie zu einem Gegenstand des Genusses. „Die Einkehr bei der Hure ‚Es war einmal‘

ist die Realisierung dieses Genusses. Die Gegenwart darf durch die Vergangenheit so

 wenig tangiert werden, wie das bürgerliche Leben des Privatmannes durch seine heimli-

chen Ausschweifungen.“179 

Diese Methode des Historismus bezeichnet Benjamin, wie oben schon angedeutet,

als die, die am besten kennzeichnet, mit welchem Verfahren der historische Materialis-

mus gebrochen hat (Thesen: VII, 696). Der Ursprung dieses Verfahrens ist die „acedia“,

„welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, dasflüchtig aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der

 Traurigkeit.“ (Thesen: VII, 696).

Der Grund für diese Traurigkeit wird deutlicher, wenn man der Frage nachgeht, in wen

die Geschichtsschreiber des Historismus sich eigentlich einfühlen.

176 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 178.177 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Baudelaire Arbeiten, in: GS 1.3, 1064 – 1222, 1179.178 Krista R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus, München 1981, 12.

179 Ebd.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sindaber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommtdemnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Ma-terialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tag den Sieg davontrug, der

marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahin-führt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war,im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter. Sie werden im hi-storischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben.Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer

 Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.“ (Thesen: VII, 696).

Diese Feststellung Benjamins in Bezug auf den Historismus zeigt deutlich seine Ein-

 wände gegen die Methode der Einfühlung. Letzlich führt der Historismus immer dazu,

die Geschichte der Unterdrücker darzustellen, und er vergißt dabei grundsätzlich, der

„namenslosen Fron ihrer Zeitgenossen“ zu gedenken und sie in die Geschichte mitein-

zubeziehen. Denn es existiert niemals ein

„Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wiees selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in dem es von dem einen an den anderen gefallen ist.“ (Thesen: VII, 696).

Überraschend auffällig ist hier der Bezug zu Benjamins Aufsatz Erfahrung und Armut von

1933, in dem er fordert, einen Strich unter das bisherige zu ziehen, den Beteuerungen

des Humanismus, „ ‚des Menschen‘ und ‚der Kultur‘ zu mißtrauen und den Realitäten

der Masse und Technik ins Auge zu sehen.“180 Ob Benjamin sich hier wirklich auf den

Historismus bezogen hat, sei dahingestellt, jedoch lehnt er schon hier, wenn auch nur

implizit, die Methode des Historismus ab, indem er fordert, den kulturgeschichtlichen

Ballast abzuwerfen, der sich im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hat und in den

Händen der Bourgeoisie faulig geworden ist.181 

Daß der Historismus tatsächlich bei seiner Geschichtsschreibung bevorzugt die Sie-

ger betrachtet, hat für ihn den Grund, weil die Sieger aufgrund ihrer Stellung und Macht

stets das gesellschaftliche Ganze durch ihr Handeln beeinflußt haben und erst dadurch

für die Geschichtsschreibung von Bedeutung sind, wie aus den folgenden zwei Zitaten

Diltheys und Rankes hervorgeht:

180 Burkhardt Lindner, Technische Reproduzierbarkeit, 184.

181 Vgl. Kapitel III.2.1: Erfahrungsarmut und Positives Barbarentum.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Der Einzelne, die Richtung, die Gemeinschaft, haben ihre Bedeutung in diesemganzen nach ihrem inneren Verhältnis zum Geist der Zeit. Und da nun jedes In-dividuum in einem solchen Zeitraum eingeordnet ist, so folgt weiter, daß die be-deutung desselben für die Geschichte in diesem seinen Bezug zu der Zeit liegt.

Diejenigen Personen, welche in den Zeitraum kraftvoll fortschreiten sind Führerder Zeit, ihre Repräsentanten.“182 

„Nun sind einige Völker vor den anderen auf dem Erdboden mit Macht ausgerüs-tet gewesen; sie vor allem haben eine Wirkung auf die anderen ausgeübt. Von die-sen also werden vornehmlich die Umwandlungen herrühren, welche die Welt zumGuten oder zum Schlechten erfahren hat.“183 

Diltheys Begriff des Erlebnisses, der die Gleichzeitigkeit wiederherstellen soll, um somit

die Einfühlung zu ermöglichen, unterliegt auch der Kritik Benjamins: das Erlebnis ist

 willkürlich, durch Chocks verursacht, privat und vor allem gegen Erfahrung abgedich-

tet.184 Vor allem die Tatsache, daß das Erlebnis gegen Erfahrung abgedichtet ist, macht

es für Benjamin unmöglich, diesen Begriff für konstituierend für eine Philosophie der

Geschichte zu halten. Ist es doch gerade die Erfahrung, auf die Benjamin setzt.

2. Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum

Benjamins Geschichtsphilosophie geht im Gegensatz zum Historismus, der Kulturge-

schichte und dem Evolutionismus nicht von einer kontinuierlichen Bewegung der Ge-

schichte aus, denn diese Art der Geschichtsschreibung fühlt sich unweigerlich in den

Sieger ein. Benjamin hingegen fordert, drei Momente

„in die Grundlagen der materialistischen Geschichtsanschauung einzusenken: dieDiskontinuität der historischen Zeit; die destruktive Kraft der Arbeiterklasse; die

 Tradition der Unterdrückten.“185 

Der historische Materialist kann nicht auf einen Begriff der Gegenwart verzichten, in

dem die „Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist“, anstatt Übergang zu sein.

(Thesen: XVI, 702). Nur dies ermöglicht es seinem Denken, als Monade sich zu kristal-

lisieren, und allein wo ein geschichtlicher Gegenstand dem historischen Materialisten als

182 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 218.183 Ranke, Weltgeschichte, IX.2, Xf.184 Vgl. Kapitel III: Die Rekonstruktion der Medientheorie Walter Benjamins. Hier vor allem III.2:

Benjamins Theorie der Erfahrung.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Monade entgegentreten kann, geht er an ihn heran (Thesen: XVII, 702f.). Einzig diese

Struktur ist es, in der er das Zeichen „einer messianische Stillstellung des Geschehens,

anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangen-

heit“ erkennt (Thesen: XVII, 703).

Für Benjamin ist die Geschichte ein Gegenstand der Konstruktion, der nicht die

homogene und leere Zeit bildet, sondern die von „Jetztzeit erfüllte.“ (Thesen: XIII,

701). Dort, wo die Vergangenheit „mit diesem Explosionsstoff [d.i. Jetztzeit] geladen ist,

legt die materialistische Forschung an das ‚Kontinuum Geschichte‘ die Zündschnur

an.“186 Als Beispiel für einen solchen explosiven Moment in der Vergangenheit bezeich-

net Benjamin das antike Rom, das für Robespierre eine mit Jetztzeit geladene Vergan-

genheit war. Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom

(Thesen: XIII, 701). Solche Momente nimmt der historische Materialist wahr, um

„eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszu-sprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes

 Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesam-te Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.“ (Thesen: XVII, 703).

„Das Gesetz (Schema), das dieser Methode zugrunde liegt, ist das einer Dialektik im Stillstande.“187 

Diese Methode der Dialektik im Stillstand erzeugt dialektische Bilder, die weder als ar-

chaische noch als utopische sich erweisen, und auch fällt mit ihnen nicht das messiani-

sche Reich der Erlösung zusammen.188 „Der historische Index der Bilder sagt nämlich

nicht nur, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist

dieses ‚zur Lesbarkeit‘ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem

Innern.“ (PW: 577f.). Die Gegenwart ist bestimmt durch die Bilder, die mit ihr synchron

sind: „jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit

mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.“ (PW: 578). Also wirft nicht das Vergangene

Licht auf das in der Gegenwart stattfindende bzw. vice versa, sondern im dialektischen

Bild tritt das „Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation“ zusammen. Das

ist, so Benjamin, die „Dialektik im Stillstand.“ (PW: 578).

185 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1246.186 Ebd., 1249.187 Ebd., 1250.

188 Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 158.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitli-che ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondernbildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d. h. nicht ar-chaische Bilder.“ (PW: 577).

Benjamin versucht hier Geschichte zu „retten“, indem er auf das Besondere, Vereinzelte

in der Geschichte, auf das in ihr Vergängliche, Endliche und Todgeweihte eingeht.189 

Daher kann Benjamin in der nächsten Notiz des Passagenwerks feststellen:

„Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ‚zeitlosen Wahrheit‘ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – nur eine zeitliche Funktiondes Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennen-den zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eineRüsche am Kleid ist als eine Idee.“ (PW: 578).

Benjamin ist der Auffassung, daß historische Phänomene ihren Wahrheitsgehalt nur in

einer Konstellation mit der Gegenwart offenbaren, Geschichte also unabgeschlossen ist.

Diese historischen Phänomene kann man mit Bildern vergleichen, die „von einer licht-

empfindlichen Platte festgehalten werden. Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfü-

gung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu

lassen.“190 Diese mentalen Bilder sind es, für die Benjamin den Begriff der „dialektischen

Bilder“ entwickelt hat.191 Auch aus einer brieflichen Auseinandersetzung mit Horkhei-

mer geht diese Auffassung der Unabgeschlossenheit von Geschichte hervor. Horkhei-

mer schreibt Benjamin in bezug auf den Fuchs -Aufsatz – in dem Benjamin formuliert,

daß dem historischen Materialismus das Werk der Vergangenheit nicht abgeschlossen ist

(Fuchs: 477), daß diese „Feststellung der Unabgeschlossenheit“ idealistisch sei,

„wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Un-recht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschla-gen.“192 

Benjamin hingegen hält an der Unabgeschlossenheit von Geschichte fest wenn er dage-

gen geltend macht, „daß die Fakten mit Hilfe der Erinnerung in die Perspektive der

189 Ebd., 159.190 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1238.191 Detkev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter

Benjamins, Frankfurt am Main 1999, 255.192 Max Horkheimer an Walter Benjamin am 16. März 1937, in: Anmerkungen zu Eduard Fuchs, Der

Sammler und Historiker, 1332.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

 Veränderung gerückt werden können.“193 Hier findet sich zum ersten Mal die Idee einer

Politisierung des Erinnerns, die in den Thesen  vollends entwickelt wird. Benjamin erläu-

tert seine Gedanken zur Unabgeschlossenheit wie folgt:

„Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschich-te nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingeden-kens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizie-ren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abge-schlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen ma-chen.“ (PW: 589).

 Wie aber entstehen die Bilder der Erinnerung, und wie sind sie beschaffen? Geschichte

zerfällt in Bilder (PW: 596), sie wird also zu einem wahrnehmungspsychologischen

Problem anstatt zu einem epischen,194

wie auch schon das Bild mit der lichtempfindli-chen Platte deutlich gemacht hat, für die nur die Zukunft den Entwickler bereithält.

2.1. Die „kopernikanische Wendung “ in der Geschichtsphilosophie 

Die dialektischen Bilder sind mit den Bildern der mémoire involontaire und Benjamins

Kategorie des Erwachens zu vergleichen. In einem bestimmten Augenblick wird Ver-

gangenes wieder aktuell, man erinnert sich.195

Dieses Erinnern ist verbunden mit derGegenwart, wie Benjamin mit dem Bild des Erwachens im Passagenwerk verdeutlicht:

„Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Ge-schichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichtsanderm handeln.“ (PW: 580).

Dieses „Erwachen“ zeigt deutlich den Gegenwartsbezug auf, den Benjamin für das

Erinnern reklamiert. Erinnern als Erwachen aufgefaßt zielt auf unmittelbare Gegenwart

(Jetztzeit) und nicht auf die Vergangenheit.196

„Diese Idee des Erinnerns als Vergegen- wärtigung der Vergangenheit zum Zwecke der Gegenwartserkenntnis wollte Benjamin

zum Fundament einer neuen ‚dialektischen Methode der Historik‘ machen.“197 Dieses

193 Detkev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 255.194 Ebd.195 Vgl. Kapitel III.2.5. Mémoire involontaire.196 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 253.

197 Ebd.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

neue Modell bezeichnet Benjamin als eine „kopernikanische Wendung“ der Geschichts-

auffassung:

„Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als die Kunst, die

Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewese-nes nennen, in Wahrheit bezieht. Gewesenes in der Traumerinnerung durchzuma-chen! – Also: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen istnämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens.“ (PW:491).

 Was es mit dieser kopernikanischen Wendung genauer auf sich hat, beschreibt Benjamin

in einer weiteren Aufzeichnung des Passagenwerks :

„Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man

hielt für den fixen Punkt das ‚Gewesene‘ und sah die Gegenwart bemüht, an die-ses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnisumkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des er-

 wachten Bewußtseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte.Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist die Sa-che der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Er-innerns. [...] Es gibt Noch-nicht-bewußtes-Wissen vom Gewesenen, dessen För-derung die Struktur des Erwachens hat.“ (PW: 490f.).

Diese „kopernikanische Wendung“ der Geschichte ist eine Reaktion auf die von ihm

kritisierte Form der Geschichtsschreibung, wie sie der Historismus betreibt. So wird der

 wissenschaftliche Charakter von Geschichte „erkauft mit der gänzlichen Ausmerzung 

alles dessen, was an ihre ursprüngliche Bestimmung des Eingedenkens erinnert.“198

Daß

die Theorie des dialektischen Bildes sich mit dem eingangs dieses Kapitels genannten

Moment der Diskontinuität verträgt, zeigt sich darin, daß das Bild dasjenige ist, „worin

das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“ (PW: 576).

Die Beziehung des Gewesenen zum Jetzt ist dialektisch, „ist nicht Verlauf [...] sondern

sprunghaft.“ (PW: 577). Das Bild der Vergangenheit, das im Jetzt seiner Erkennbarkeit

aufblitzt ist ein Erinnerungsbild. „Es ähnelt den Bildern der eignen Vergangenheit, die

den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten.“199 

Das Moment des Erwachens, das hier auftaucht, hat Benjamin der Psychoanalyse

entnommen und wollte sie für seine Analyse des dialektischen Bildes fruchtbar machen.

Diese Methode sollte genau wie das Erinnern vom Individuum auf das Kollektiv über-

 

198 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1231.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

tragen werden.200 So heißt es im Passagenwerk, daß es eine der stillschweigenden Voraus-

setzungen der Psychoanalyse ist,

„daß der konträre Gegensatz von Schlaf und Wachen für die empirische Bewußt-

seinsform des Menschen keine Geltung hat, vielmehr einer Varietät konkreterBewußtseinszustände weicht. [...] Der Zustand des von Schlaf und Wachen viel-fach gemusterten, gewürfelten Bewußtseins ist nur vom Individuum auf das Kol-lektiv zu übertragen. Ihm ist natürlich sehr vieles innerlich, was dem Individuumäußerlich ist, Architekturen, Moden, ja selbst das Wetter sind im Innern des Kol-lektivums, was Organempfindungen [...] im Innern des Individuums sind.“ (PW:492).

 Architekturen, Moden etc., heißt es weiter, sind, solange sie unbewußt sind, Naturvor-

gänge, die im „Kreislauf des ewig Selbigen“ stehen,

„bis das Kollektivum sich ihrer in der Politik bemächtigt und Geschichte aus ih-nen wird.“ (PW: 492).

Im dialektischen Bild ist das Gewesene einer bestimmten Epoche zu sehen, doch auch

immer das „von-jeher-Gewesene“. Als letzteres tritt es der Menschheit aber nur in der

Epoche vor Augen, in der sie sich die Augen „reibend, gerade dieses Traumbild als sol-

ches erkennt. In diesem Augenblick ist es, daß der Historiker an ihm die Aufgabe der

 Traumdeutung übernimmt.“ (PW: 580). Benjamin bezeichnet die Traumelemente beim

 Aufwachen als „Kanon der Dialektik“, der verbindlich ist für den Historiker (PW: 580).

 Auch geht aus dem Passagenwerk hervor, daß der Traum und die Geschichte zusammen-

hängen:

„Der Traum – das ist die Erde, in der die Funde gemacht werden, die von der Ur-geschichte des 19ten Jahrhunderts Zeugnis ablegen.“ (PW: 140).

Es geht also um die Erkennbarkeit des Vergangenen, aber nicht um eine additive An-

sammlung von vergangenen Ereignissen, sondern um Besonderes. Benjamins Ge-schichtskonzeption geht es darum, das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum

Einfall des erwachten Bewußtseins werden zu lassen, und zwar an den Stellen, wo die

 Vergangenheit mit dem „Explosionsstoff Jetztzeit“ geladen ist. So ist Benjamin in der

Lage, an das vermeintliche „Kontinuum Geschichte“ die Zündschnur anzulegen, sie – 

um im Bild zu bleiben – in das tatsächliche Diskontinuum aufzusprengen, das sie seiner

199 Ebd., 1243.

200 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 257.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

 Ansicht nach ist.201 Das geschieht durch das kopernikanisch gewendete Eingedenken,

d.h. durch das Erwachen, durch das Erinnern und durch die Wiederbelebung der Erfah-

rung.

Benjamin hat auch in bezug auf die Thesen Über den Begriff der Geschichte  in einem

Brief an Gretel Adorno „das Problem der Erinnerung (und des Vergessens)“ hervorge-

hoben.202 Wie schon aus Benjamins Theorie der Erfahrung hervorgeht, kulminiert die Erfah-

rungstheorie in allegorische Erfahrung. Der Historiker, den Benjamin in den Geschichts- 

thesen im Auge hat, also der historische Materialist, dem es obliegt, das Zeitkontinuum

aufzusprengen, ist der, der den „Nicht-Allegorikern“ unter den Menschen – und ich

unterstelle, daß das die Mehrheit ist – die verlorene bzw. nicht mehr mögliche Erfah-

rung wieder zugänglich machen soll.

2.2. Erinnerung ist vor allem Erinnerung an die Tradition der Unterdrückten 

Das Geschichtsbild der Thesen unterscheidet sich von dem dialektischem Bild des Passa-

genwerks vor allem darin, daß Benjamin die Erinnerung nun vor allem als Erinnerung 

an die Tradition der Unterdrückten auffaßt (Thesen: VIII, 697). Detlev Schöttker macht

auf die Textstruktur der Thesen aufmerksam, an der auch ich mich in meiner Darstellung 

orientieren werde. So sind die Thesen in fünf Dreiergruppen geordnet, mit einer Einlei-

tungs- und einer Schlußthese sowie einer methodischen Zusammenfassung in These

XVII. Die Zusammengehörigkeit der jeweiligen Dreiergruppen fällt durch Leitformeln

auf, die in ihnen jeweils auftauchen. „Sie lauten: ‚Geschichte‘ und ‚Erlösung‘, ‚Einfüh-

lung‘ und ‚aufblitzendes Bild‘, ‚Faschismus‘ und ‚Katastrophe‘, ‚Erinnerung‘ und ‚Fort-

schrittsglaube‘ sowie ‚Kontinuum‘ und Aufsprengung‘.“203 Die erste These, also die Ein-

leitung, ist ein stark allegorischer Text, der auf den zweiten Blick die Zusammenarbeit

 von Theologie und historischen Materialismus einfordert.

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesensei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, derihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Was-serpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte.

201 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1249.202 Walter Benjamin an Gretel Adorno, ohne Datum, April 1940, Walter Benjamin, Anmerkungen zu

den Thesen, 1226.

203 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 268.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser sei von allenSeiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister imSchachspiel war, und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Appara-tur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll

immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, dieheute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken las-sen.“ (Thesen: I, 693).204 

Das entscheidende in dieser These ist die Formulierung, daß wenn die Puppe „histori-

scher Materialismus“ die Theologie, den kleinen häßlichen Zwerg, in ihren Dienst

nimmt, sie es folglich mit jedem Gegner aufnehmen kann. Die entscheidende Frage ist

nun, was Benjamin hier mit der Theologie meint. Die zweite These bietet hier Auf-

schluß:

„Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlö-sung verwiesen wird. [...] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwi-schen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erdeerwartet worden. Dann ist uns, wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eineschwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruchhat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weißdarum.“ (Thesen: II, 693f.).

Das Bedeutende des Theologischen ist das Messianische. In ihm ist die Zeitstruktur aller

 Vergangenheit und deren Erlösungserwartung gegenwärtig. In der Tradition macht der

 Anspruch der Vergangenheit alles Vergangene zur Gegenwart.205 Die Theologie ist nicht

als Wissenschaft gemeint, sondern sie steht für Benjamins metaphysische Denkweise,

  wie sie prägend ist für seine Frühschriften und auch als Subtext seiner „materialisti-

schen“ Schriften immer gegenwärtig ist.206 Die Erinnerung ist Element der „in den

Dienst genommene Theologie“, wie folgendes Zitat aus den Anmerkungen  verdeutlicht:

204 Zu dieser These und den mannigfaltigen Interpretaionsversuchen von ihr vgl. Materialien zu Ben-jamins Thesen Über den Begriff der Geschichte. Beiträge und Interpretationen, hg. von PeterBulthaupt, Frankfurt am Main 1975. Vor allem: Rolf Tiedemann, Historischer Materialismus oderpolitischer Messianismus? Politische Gehalte in der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, in:Materialien zu Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte. Beiträge und Interpretationen,hg. von Peter Bulthaupt, Frankfurt am Main 1975, 77 – 121, 77 – 82.

205 Hans Heinz Holz, Die Weltanschauung: Geschichtsphilosophie und theologischer Horizont im  Werk Walter Benjamins, in: ders., Philosophie der zersplitterten Welt. Reflexionen über WalterBenjamin, Bonn 1992, 113 – 138, 133.

206 Stéphane Mosès, Drei Modelle der Geschichte, 91f.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichtegrundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begrif-fen zu schreiben versuchen dürfen.“207 

Im Anhang der Thesen rückt Benjamin das Erinnern in das Zentrum der jüdischen Theo-

logie, aus der er auch so zentrale Motive wie den Messianismus übernommen hat.208 

Den Juden war es bekanntlicherweise, so Benjamin, untersagt, der Zukunft nachzufor-

schen. „Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken.“ (Thesen:

 A, 704). In den Anmerkungen findet man dazu eine allerdings von Benjamin gestrichene

Stelle. Dort heißt es analog, daß es den Juden verboten war, die Zukunft zu befragen,

man aber im Eingedenken die „Quintessenz ihrer theologischen Vorstellung von Ge-

schichte“ zu sehen hat.209 Dieses Erinnern als zentrales Motiv des Messianismus ist es,

das die Puppe historischer Materialismus in ihren Dienst nimmt, d. h. Benjamin fordert

eine Art der Geschichtsaneignung, die vom Erinnern gesteuert wird.

In den Thesen der ersten Dreiergruppe, Thesen II. – IV., setzt sich die Idee des Er-

innerns fort. Insgesamt zeigt diese Thesengruppe die messianische Auffassung, daß die

 Vergangenheit Anspruch auf Glück und Erlösung hat.210 Dieser Anspruch beruht auf 

dem Erinnern: die Möglichkeit, vergangene Glückserfahrungen zu aktualisieren (Thesen:

II, 693f.), die Möglichkeit, alles Vergangene zu vergegenwärtigen (Thesen: III, 694) und

die Möglichkeit, jeden den „Herrschenden jemals zugefallenen“ Sieg in Frage zu stellen(Thesen: IV, 694f.). „Benjamin schreitet hier von der individuellen Erfahrung über die

historische Erinnerung zur Politisierung des Erinnerns fort, was der argumentativen

Bewegung des Textes entspricht. Die Idee der ‚Erlösung‘ wird damit aus ihren religiösen

und geschichtsphilosophischen Bindungen befreit.“211 Auch wird sie anstatt einer Zu-

kunftserwartung zu einem Phänomen der Gegenwart:

„In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance

nicht mit sich führte.“212

 

207 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1235.208 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 271.209 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1252.210 Gershom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Judaica I.

Frankfurt am Main 1986, 7 – 74.211 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 272.

212 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1231.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstenden-zen zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungenund Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.“213 

Die Thesen V. – VII. beschäftigen sich mit dem Gegensatz von Einfühlung und Erin-

nerung. Benjamin nimmt die im vorigen Kapitel dargestellten Überlegungen zum dialek-

tischen Bild aus dem Passagenwerk nun wieder auf in der Betonung der Blitzhaftigkeit des

mentalen Bildes und der dieser entsprechenden Geisteshaltung der Geistesgegenwart:

„Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmer- wiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergan-genheit festzuhalten. ‚Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen‘ – dieses Wort,das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus

genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird.Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegen- wart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ (Thesen: V, 695).

Die Erinnerung wird in der VI. These erstmals beim Namen genannt, und zwar in be-

zug auf Rankes Weltgeschichte:

„Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigent-lich gewesen ist‘. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augen-

blick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, einBild in der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr demhistorischen Subjekt unversehens einstellt.“ (Thesen: VI, 695).

Bedeutend an dieser These ist vor allem der letzte Satz, in dem Benjamin für den histo-

rischen Materialismus geltend macht, daß es diesem darum gehe, das mentale Bild der

 Vergangenheit so darzustellen, wie es dem Subjekt sich einstellt, im Gegensatz zum His-

torismus, der sich ausschließlich in die Sieger der Geschichte einfühlt (These: VII, 696).

Benjamin bindet somit Geschichtsschreibung nicht mehr an bedeutende Persönlichkei-

ten. Wie in dem Kapitel IV.1.1: „Der erste Stoß muß gegen die Idee der Universalgeschichte ge- 

 führt werden “ schon dargestellt, geht es Benjamin darum, den Prozeß der Überlieferung 

 von Barbarei zu befreien, d. h. die Geschichte gegen den Strich zu bürsten (Thesen: VII,

696f).

Die Geschichtsthesen sind herrschafts- und überlieferungskritischer als die Reflexio-

nen zum dialektischen Bild im Passagenwerk. Wie eingangs dieses Kapitels schon er-

 

213 Walter Benjamin, Das Leben der Studenten, in: GS II.1, 75 – 87, 75.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

 wähnt, geht es Benjamin nun darum, die Erinnerung vor allem als Erinnerung an die

„Tradition der Unterdrückten“ aufzufassen (Thesen: VIII, 697). Besonders gut geht dies

aus dem „Beispiel echter historischer Vorstellung“ hervor, das er an dem Gedicht

Brechts An die Nachgeborenen verdeutlicht:

„Wir beanspruchen für die Nachgeborenen nicht Dank für unsere Siege sonderndas Eingedenken unserer Niederlagen. Das ist Trost: der Trost, den es ja einzig für die geben kann, welche keine Hoffnung auf Trost mehr haben.“

214

 

Die Tradition der Unterdrückten fehlte aber auch dem Proletariat, weswegen die Nie-

derlage der Sozialdemokratie nicht weiter verwunderlich war. Denn

„beim Proletariat entsprach dem Bewußtsein des neuen Einsatzes keine histori-sche Korrespondenz. Es fand keine Erinnerung statt.“215 

Das Auftreten des Proletariats aber kann nur als die letzte subjugierte, sich rächende

und als die sich befreiende Klasse stattfinden, wenn sie sich ihrer Tradition, d. h. der

 Tradition der Unterdrückten bewußt ist.216 Jedoch, so Benjamin, ist dieses Bewußtsein

 von der Sozialdemokratie von Anfang an preisgegeben worden.

„Sie [die Sozialdemokratie] spielte der Arbeiterschaft die Rolle der Erlöserinkommender Generationen zu. Sie durchschnitt damit die Sehne ihrer Kraft. DieKlasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie die Opferfähigkeit.“217 

Der Fehler der Sozialdemokratie und des Kommunismus ist der, daß sie sich an der

Zukunft orientieren. Im Gegensatz dazu möchte Benjamin die Geschichtsauffassung 

des Marxismus dahingehend verändern, daß sie sich an der Gegenwart orientiert und

214 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1240. Der erste Satz dieses Zitats ist von Benja-min durchgestrichen.

215 Ebd., 1236.216 Ebd., 1236f.

217 Ebd., 1237.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch Erinnerung herstellt.

Benjamins scharfe Kritik an Sozialdemokratie und Kommunismus rührt vom Hitler-

Stalin Pakt im August 1939 her, der seine Hoffnungen in den Kommunismus zerstörte

und „ihm den Glauben an den Historischen Materialismus genommen hat“.218

Benja-

mins Hoffnungen in den Kommunismus waren aber sowieso kein Glaube in dessen

reine Lehre, bzw. an die unter Stalin betriebene Praxis, sondern, wie aus dem Karl

Kraus - Essay hervorgeht, Benjamin sah im Kommunismus eine Art Damoklesschwert,

daß ständig über den Köpfen der Bourgeoisie hing:

„Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer [der Bourgeoisie] ei-genen lebenschänderischen Ideologie. Immerhin von Gnaden eines reinen ideel-len Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck – der

 Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung überden Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, daß das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Frontendes Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns,damit dieses Gesindel [...] doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe! Damitihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und derHumor, über sie Witze zu machen!“219 

Desinteresse, Fortschrittsglaube und damit verbunden die Verkennung des Faschismus,

 wie die Verlautbarung des 13. Plenums des „Exekutiv-Komitees der Kommunistischen

Internationale“ im Dezember 1933 in Moskau deutlich macht, daß der Faschismus ein

Übergangsphänomen auf dem Weg zum Kommunismus sei,220 bewegen Benjamin zu

der Aussage:

„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezu-stand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschich-te kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbei-führung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird

unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chancebesteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als ei-ner historischen Norm begegnen.“ (These: VIII, 697).

218 Brief von Soma Morgenstern an Gershom Scholem am 12.12.1972, in: Nachträge zu den Anmer-kungen zu den Thesen, in: GS VII.2, 770 – 784. Dort findet sich weiteres zu Walter BenjaminsReaktion auf den Hitler-Stalin Pakt.

219 Karl Kraus, zitiert nach: Walter Benjamin, Karl Kraus, in: GS II.2, 334 – 367, 366.220 Theodor Schieder, Faschismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. II, Freiburg 

u.a. 1968, 438 – 477, 454ff.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

  Wie aus den Anmerkungen hervorgeht kritisiert Benjamin allerdings auch schon den

Fortschrittsglauben von Marx und Engels. So bezeichnet er die Idee der klassenlosen

Gesellschaft als Endpunkt der Geschichte, als „irrige Konzeption“, und auch Marx‘

Behauptung, daß Revolutionen die Lokomotive der Weltgeschichte sein,221

tut Benjamin

mit der Bemerkung ab, daß Revolutionen vielleicht der Griff zur Notbremse des „in

diesem Zug reisenden Menschengeschlechts“ sind.222 

In der IX. These aus Über den Begriff der Geschichte schreibt Benjamin über das Bild An- 

 gelus Novus  von Paul Klee, das er 1921 erworben hat. Aufgrund der Bedeutung dieser

  These für seine Geschichtsphilosophie und der naheliegenden Vermutung, daß „das

Bild der neunten These Geschichte so vorführt, wie Benjamin selbst sie zur Zeit der

Niederschrift zu erkennen glaubte“,223 werde ich die IX. These im ganzen hier zitieren

 wie auch das Bild Paul Klees abbilden.

Paul Klee, Angelus Novus , 1920.224

 

„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, wor-auf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel

221 Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in MEW 7, 9 – 107, 85.222 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1232.223 Rolf Tiedemann, Historischer Materialismus oder politischer Messianismus?, 82.

224 Kunstmuseum Bern, Paul Klee Stiftung, entnommen aus: Bernd Witte, Walter Benjamin, 134.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Engel von dem Sturm, der vom Paradies herweht, nur mit dem Unterschied, daß die

Menschen von keinem Sturm, sondern von ihrer Erinnerung an das verlorene Paradies

 weitergetrieben werden, d. h. von der Kraft zur Utopie, „ein[em] noch nicht erlosche-

ne[n] Impuls, der seine Erhaltung allerdings den Religionen und vorab der des Juden-

tums verdankt, der eingewandert ist in die große Philosophie und der auch in der Marx-

schen Hoffnung auf das Reich der Freiheit weiterlebt.“230

Des Engels Gesicht ist in die

  Vergangenheit gerichtet, war es doch den Juden verboten, die Zukunft zu befragen.

Zwei weitere Gründe sind das Bilderverbot der jüdischen Theologie und die Überfüh-

rung des Engels in die Profanität: Marxens Weigerung, die kommunistische Gesellschaft

genau darzustellen. Der Blick des Engels ist der des historischen Materialisten, wie Ben-

jamin ihn sich denkt. Die Theologie in den Dienst nehmend, also erinnernd. Denn – wie

Benjamin schon in einer früheren These festgestellt hat –der wahre Historiker muß die

Illusionen über die Geschichte der Menschen aufgeben, und die Geschichte muß sich

als der Trümmerhaufen erweisen, den der Engel vor seinen Füßen hat. Erst dann kann

der historische Materialist jene messianische Kraft gebrauchen, die uns wie jeder Gene-

ration vor uns mitgegeben ist (Thesen: II, 694). Daß Benjamin mit dem Engel tatsäch-

lich den historischen Materialisten meint, geht unter anderem daraus hervor, daß er in

 These II. und XVII. dem historischen Materialisten zubilligt, daß er von der „schwachen

messianischen Kraft, an welchem die Vergangenheit Anspruch hat“, weiß, die jedemMenschengeschlecht mitgegeben ist (Thesen: II, 694; XVII, 703).

2.3. Der dialektischen Umschlag führt zum Tigersprung unter dem freiem Himmel 

Die These IX. ist eine implizite Kritik am Historismus, indem sie die bisherige Ge-

schichte als Trümmerhaufen darstellt, und – wenn alles so bleibt, wie es ist – auch die

 weitere Geschichte den Trümmerhaufen nur noch vergrößern wird. Die Geschichte istalso auch in diesem Bild ein sukzessiver gleichförmiger Ablauf, allerdings negativ ge-

 wendet. Im Unterschied zum Historismus sieht der Engel voller Entsetzen zurück und

hält Geschehenes nicht fest, sondern möchte verweilen und die Toten wecken. Ge-

schichte, wie Benjamin sie versteht, soll also das Verhältnis von Vergangenem und Ge-

 

230 Rolf Tiedemann, Historischer Materialismus oder politischer Messianismus?, 84.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

genwart – wie der Historismus es sieht, d. h. das Gewesene ist ein fixer Punkt, an den

die Gegenwart sich herantastet, um zur Erkenntnis zu kommen – 

„umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des er-

 wachten Bewußtseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschich-te.“ (PW: 490f.)

Das hat zweierlei Folgen. Zum einem steht diese Konzeption für Benjamins Ge-

schichtsauffassung, daß diese immer unabgeschlossen ist, wie aus dem Briefwechsel mit

Horkheimer schon hervorgegangen ist,231

und wie sich in Benjamins Auseinanderset-

zung mit Marx zeigt. Marx hat im 18. Brumaire des Louis Bonaparte die Abgeschlossenheit

in die Unabgeschlossenheit der Geschichte aufgenommen, wenn er fordert, daß die

bevorstehende Revolution

„ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen [kann], sondern nur aus derZukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben andie Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der welt-geschichtlichen Rückerinnerung, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben.Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begra-ben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen.“232 

Benjamin widerspricht hier Marx. Die Vergangenheit führt Benjamins Ansicht nach

einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird, und außer-dem besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und

unserem (Thesen: II, 693f.).

Zum anderen setzt der Wunsch des Engels, zu verweilen und die Toten zu wecken,

 voraus, daß der von Benjamin geforderte Stillstand hergestellt werden muß. Dieser Still-

stand tritt in der letzten Dreiergruppe der Thesen, XIV. - XVI., mit der Leitformel

„Kontinuum“ und „Aufsprengung“, zu Tage. Die vorletzte Dreiergruppe, These XI. -

XIII., „Erinnerung“ und „Fortschrittsglaube“, stellten die Problematik dar, wie sie

schon in der Kritik Benjamins an der Sozialdemokratie zu sehen war. Sie hat durch ih-

ren Fortschrittsglauben und dadurch, daß sie der Arbeiterschaft die Rolle einer Erlöserin

zukünftiger Generationen zuspielte, die Erinnerungskultur des Proletariats zerstört:

231 Vgl Kapitel IV.2: Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum .232 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, 111 - 207, 117. Nach Tie-

demann ist diese Schrift „eine der wenigen Schriften von Marx, die Benjamin kannte.“, Rolf Tie-

demann, Historischer Materialismus oder politischer Messianismus?, 89.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

„Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Namen eines Blanqui fast auszu-löschen, dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat.“ (Thesen: XII,700).233 

Die letzte Dreiergruppe also sprengt das Kontinuum Geschichte auf und führt somit

einen Stillstand herbei. Wie Benjamin sich das vorstellt, ist eingangs dieses Kapitels

schon an seinem Beispiel von Robespierre zu erkennen, für den, so Benjamin, das antike

Rom eine mit „Jetztzeit geladene Vergangenheit“ war, und dadurch, daß die Französi-

sche Revolution diese zitierte, wurde diese Vergangenheit aus dem Geschichtskonti-

nuum herausgesprengt und bildete somit eine von Jetztzeit erfüllte Vergangenheit, die

die gegenwärtige Situation in der der Historiker sich befindet, ihm verständlich und in-

terpretierbar macht.234 „Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen,

ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion bewußt.“ (Thesen: XV, 701).

Das zeigt auch das Beispiel des Beschießens der Turmuhren in der Julirevolution durch

die Revolutionäre (Thesen: XV, 701f.).235 

 Auf einen solchen Begriff der Gegenwart, in dem diese nicht „Übergang ist, sondern

in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist

nicht verzichten.“ (Thesen: XVI, 702). Dieser Begriff der Gegenwart nämlich definiert

genau die Gegenwart, in der der historische Materialist „für seine Person Geschichte

schreibt.“ (Thesen: XVI, 702). Im Gegensatz zum Historismus stellt er kein Bild der Vergangenheit, sondern eine Erfahrung mit ihr her. Dieses ‚Erfahrung mit der Vergan-

genheit in der Gegenwart‘ bilden, liegt das „konstruktive Prinzip“ der materialistischen

Geschichtsschreibung zugrunde, das vom Denken nicht nur „Bewegung“ der Gedan-

ken, sondern vor allem auch deren Stillstellung verlangt, wie es in der XVII. These, der

methodischen Zusammenfassung heißt (Thesen, XVII, 702). Das „konstruktive Prin-

zip“ bedeutet nichts anderes, als daß die Ereignisse der Vergangenheit nicht rekon-

struiert, sondern auf die „Jetztzeit“ bezogen werden, da Geschichte ja nicht „Gegens-

tand einer Konstruktion“ ist, deren „Ort die homogene und leere Zeit“ bildet, „sondern

die von Jetztzeit erfüllte.“ (Thesen: XIV, 701). Diese „Dialektik im Stillstand“ hat Ben-

jamin schon 1931 als konstruktives Prinzip des epischen Theaters erkannt und ihm eine

 wichtige Rolle zugestanden.236 Auch das Moment des „Aufblitzens“, also der Moment,

233 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 278.234 Vgl. IV.2: Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum .235 Vgl. IV.1.1: Der erste Stoß muß gegen die Idee der Universalgeschichte geführt werden. 

236 Vgl., Kapitel V.3.2: Das epische Theater – Benjamin und Brecht. 

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

in dem Vergangenheit festzuhalten ist (Thesen: V, 695), ist bei Benjamin schon in

 Verbindung mit dem epischen Theater vorhanden.

„Immanent dialektisches Verhalten ist es, was im Zustand – als Abdruck mensch-

licher Gebärden, Handlungen und Worte – blitzartig klargestellt wird. Der Zu-stand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand. Denn wiebei Hegel der Zeitverlauf nicht etwa die Mutter der Dialektik ist, sondern nur dasMedium, in dem sie sich darstellt, so ist im epischen Theater nicht der wider-sprüchliche Verlauf der Äußerungen oder der Verhaltungsweisen die Mutter derDialektik, sondern die Geste selbst.“ (WET1: 530).

 Wie wir schon gesehen haben, geht auch die Theorie des „dialektischen Bildes“ im Pas- 

sagenwerk von einer Möglichkeit der Stillstellung des Geschehens aus.

„Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstel-lation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand.“(PW: 578).

Und wie aus dem bisher Gesagten ebenfalls hervorgeht, ist die Zerstörung des ge-

schichtlichen Kontinuums eine weitere Bedingung der historischen Konstruktion. Die

Konstruktion allerdings „setzt die ‚Destruktion‘ voraus“ (PW: 587), was in den Ge-

schichtsthesen auch wieder formuliert ist. Dort heißt es in These XVII., daß der mate-

rialistische Historiker eine Epoche „aus dem homogenen Verlauf der Geschichte her-

aussprengen“ muß (Thesen: XVII, 703), und in den Notizen dazu heißt es deutlicher:

„In einer materialistischen Untersuchung wird das epische Moment unausweich-lich im Zuge der Konstruktion gesprengt.“237 

Für die Idee der Zerstörung epischer Kontinuität hat Benjamin zwar verschiedene Beg-

riffe verwendet, „die sich zwischen ‚Stillstellung‘ und ‚Heraussprengen‘ bewegen, doch

zeigen alle Verwendungsweisen, daß die destruktiven Aktivitäten ein konstruktives Ziel

haben.“

238

So ist es auch nicht das Ziel des epischen Theaters, Zustände wiederzugeben,sondern sie zu entdecken. Dieses Entdecken der Zustände vollzieht sich vermittels der

Unterbrechung von Abläufen (WET1: 522). Im Passagenwerk formuliert Benjamin eben-

so:

237 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1240.

238 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 281.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

Das destruktive oder kritische Moment in der materialistischen Geschichtsschrei-bung kommt in der Aufsprengung der historischen Kontinuität zur Geltung, mitder der historische Gegenstand sich allererst konstituiert.“ (PW: 594).

Doch allein mit dem Entdecken von Zuständen, mit ihrer Konstitution alleine ist es

noch nicht getan. Konstruktiv werden diese Zustände erst mit ihrer Zitation.

„Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierensliegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird.“ (PW: 595).

 Analog heißt es in der zweiten Fassung von Was ist das epische Theater? :

„Einen Text zitieren schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen.“239 

Und schließlich wird die Technik des Zitierens auch in den Thesen Über den Begriff der Geschichte  als Akt des Heraussprengens und der Herstellung eines Gegenwartsbezugs

betont. Die Französische Revolution „zitiert das alte Rom wie die Mode eine vergange-

ne Tracht zitiert.“ (Thesen: XIV, 701). Und schon in der dritten These „wird die Idee

im messianischen Sinne radikalisiert und auf die souveräne Verfügbarkeit des Subjekts

über die gesamte Geschichte bezogen.“240 

„Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will

sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momen-te zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation àl’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“ (Thesen: III, 694).

Um zitierbar zu sein, muß das Herausgesprengte repräsentativen Charakter für die Er-

kenntnis der Gegenwart besitzen. Benjamin sieht das in der Monade gewährleistet, wie

aus der XVII. These hervorgeht, in der es heißt, daß der historische Materialist nur dort

an einen geschichtlichen Gegenstand herangehen kann, „wo er ihm als Monade entge-

gentritt.“ (Thesen: XVII, 703). Monaden sind Ergebnis eines intellektuellen Vorgangs.

Nur in einer von Spannung gesättigten Konstellation, in der das Denken plötzlich ein-

hält, erteilt es dieser Konstellation „einen Chock, durch den es sich als Monade kristalli-

siert.“ (Thesen: XVII, 702f.). In der Monade erkennt der historische Materialist das Zei-

chen einer

239

Walter Benjamin, Was ist das epische Theater? (2), 536.

240 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 282.

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IV. Die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins

genheit neu erschafft, sie auf die Gegenwart bezieht und nicht bloß abbildet. Die Erin-

nerung bringt die Geschichte zum Stillstand , indem sie die Zeit anhält und das entspre-

chende Geschehen bildhaft festhält; destruktiv ist sie, weil sie die Vergangenheit zerlegt;

sie zitiert sie, weil sie nur die für die Gegenwart bedeutsamen Elemente der Vergangen-

heit aktualisiert; monadologisch  verfährt die Erinnerung, weil sie nur wichtige in sich ge-

schlossene Einheiten hervorholt; rettend   verfährt die Erinnerung deshalb, weil sie die

 wirkliche Vergangenheit gegenüber der offiziellen Überlieferung bewahren kann.245 

Im Anhang A der Thesen  macht Benjamin die Feststellung, daß der Historimus mit

einem Kausalnexus der unterschiedlichen Geschehnisse der Geschichte sich begnügt.

  Jedoch „kein Tatbestand ist als Ursache darum bereits ein historischer.“ (Thesen: A,

704). Dies wird er erst durch Begebenheiten, die von ihm Jahrtausende getrennt sein

können. Der Historiker der sich darüber im klaren ist, „erfaßt die Konstellationen, in die

seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist.“ (Thesen, A, 704).

Mit anderen Worten, er erinnert sich. Und der Moment des sich Erinnerns, wir erinnern

uns, ist der Tigersprung ins Vergangene, der – unter dem freiem Himmel der Geschich-

te ausgeführt – der dialektische Sprung ist, den Marx als Revolution begriffen

hat. (Thesen: XIV, 701).

245 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 284.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellenMedien in Benjamins Gesellschaftstheorie

Benjamins Gesellschaftstheorie läßt sich prinzipiell nur über den Umweg seiner Theorie

der Intellektuellen rekonstruieren. In den Texten, in denen er sich mit der Aufgabe der

Intellektuellen beschäftigt, liefert er zugleich seine Überlegungen zur Theorie dieser

Gesellschaft. Eine ähnliche Konstellation ergibt sich, wenn man Benjamins Reflexionen

zur Rolle der Masse sich vergegenwärtigen will, äußert er sich doch nie näher als in den

 vorangegangenen Kapiteln zu ihr.

 Von großer Bedeutung ist weiterhin, daß es Benjamins Ziel ist, die gesellschaftlichen

Möglichkeiten der Kunst unter den kapitalistischen Produktionbedingungen aufzuzei-

gen. Diese gesellschaftlichen Möglichkeiten formuliert er immer in der Annahme, daßdem Kapitalismus die Herstellung von Bedingungen zuzutrauen ist, die die Abschaffung 

seiner selbst möglich machen (KR2: 350). Damit folgt Benjamin der marxschen These,

daß der Kapitalismus die Produktivkräfte zeugt, die zu seinem eigenen Totengräber

 werden.246 Neben dem Proletariat ist für Benjamin die Technik eine Produktivkraft, „die

die Tendenz hat, über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinauszutreiben. An-

gesichts des Faschismuses, der diese Verhältnisse mit brutalen Mitteln stabilisieren will,

erinnert er an die natürliche Allianz von Proletariat und Technik.“247

Die Vertreter desProletariats sind für Benjamin „die nüchternen Kinder, die an der Technik nicht einen

Fetisch des Untergangs, sondern einen Schlüssel zum Glück besitzen.“248 Daraus folgt,

daß die oben angesprochene Aufgabe der Intellektuellen darin besteht, dem Proletariat

dabei behilflich zu sein, „den Schlüssel des Glücks“ richtig anzuwenden. Die angespro-

chenen gesellschaftlichen Möglichkeiten der Kunst sind immer erst durch die richtige

Indienstnahme der Kunst durch die Intellektuellen vorhanden. Der Kunst wohnen

  Tendenzen inne, die einzig durch den revolutionären Intellektuellen erkannt und ge-

nutzt werden können, die in diesem Falle dann auch unter kapitalistischen Produktions-

bedingungen revolutionär wirken können.

246 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, 459 – 493, 468.247 Helmut Lethen, Zur materialistischen Kunsttheorie Benjamins, in: alternative, 56/57, 1967, 225 – 

234, 225.248 Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krie-

ger“. Herausgegeben von Ernst Jünger, in GS III, 238 – 250, 250.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Die Unterscheidung zwischen Masse und Proletariat ist für dieses Kapitel ebenfalls sehr

 wichtig. Benjamin geht bei seiner Unterscheidung von Masse und Proletariat von dem

proletarischen Klassenbewußtsein aus, das er als das „erhellteste“ bezeichnet. (KR2,

370, Fn. 12). Dieses Klassenbewußtsein verändert die Struktur der proletarischen Masse

grundlegend. Eine kompakte Masse stellt das klassenbewußte Proletariat nur von außen

dar, in der Vorstellung seiner Unterdrücker. Die Solidarität der proletarischen Massen

bewirkt ihre Auflockerung, und anstatt unter der Herrschaft der Reaktion zu stehen,

gehen sie zur Aktion über. (KR2, 370, Fn. 12).

„In der Solidarität des proletarischen Klassenkampfs ist der tote, undialektischeGegensatz zwischen Individuum und Masse abgeschafft; er besteht nicht für denGenossen. [...] Der Klassenkampf lockert die kompakte Masse der Proletarier auf;

eben derselbe Klassenkampf aber komprimiert die der Kleinbürger.“ (KR2, 370,Fn. 12).

Benjamin bezeichnet die Kleinbürger als die einzig wahre kompakte Masse, die keines-

falls Klasse ist. Sie tritt umso kompakter auf, je größer der Druck zwischen den beiden

antagonistischen Klassen Bourgoisie und Proletariat für sie ist. In der Masse des Klein-

bürgertums sind das reaktive Moment und ihr emotionaler Charakter vorherrschend.

Daraus resultiert ihr Gegensatz zu „den einer kollektiven Ratio gehorchenden Kaders

des Proletariats.“ (KR2, 370, Fn. 12).

249

Jedoch, so Benjamin, ist diese kompakte Massenicht per se antirevolutionär:

„Ist der Unterschied zwischen der kompakten, nämlich kleinbürgerlichen, und derklassenbewußten, nämlich proletarischen, Masse einmal geklärt, so ist auch seineoperative Bedeutung klar. Anschaulich gesagt erweist diese Unterscheidung ihrRecht nirgends besser als in den keineswegs seltenen Fällen, wo das, was ur-sprünglich Ausschreitung einer kompakten Masse war, in Folge einer revolutionä-

 

249 Sinngemäß heißt es bei Marx: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüber-stehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommenund gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. – Die Mittel-stände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämp-fen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind alsonicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad derGeschichte zurückzudrehen.“ Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei,in: MEW 4, 472. Ich habe deswegen geschrieben „sinngemäß heißt es bei Marx“, weil – wie TheoStammen herausgearbeitet hat – davon auszugehen ist, daß Karl Marx das Kommunistische Mani-fest alleine geschrieben hat, und man feststellen kann, „daß der eigentliche inhaltliche Anteil, denEngels an der Gestaltung des ‚kommunistischen Manifests‘ besitzt, in den ‚Grundzügen desKommunismus‘ liegt.“ Theo Stammen (Hg.), Karl Marx. Das Manifest der kommunistischen Par-tei, eingeleitet und kommentiert von Theo Stammen, München 1978, 19f. Über die Problematik 

der Autorschaft vgl. ebd., 12 – 20.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

ren Situation vielleicht schon nach dem Ablaufe von Sekunden zur revolutionären Aktion einer Klasse geworden ist.“ (KR2, 370f., Fn. 12).

Die kompakte Masse des Kleinbürgertums kann also unter den richtigen Umständen zu

„einer Vereinigung klassenbewußter Kaders“ werden. Benjamin vergleicht das mit der

Gewinnung des Kleinbürgertums „in der Sprache der kommunistischen Taktiker.“

(KR2, 371, Fn. 12). Es gilt demzufolge einen unzweideutigen Begriff der Masse zu ver-

 wenden, denn – „wie in der revolutionären Presse Deutschlands üblich“ (KR2, 371, Fn.

12) – führt ein zweideutiger Begriff von ihr zu Illusionen, die dem deutschen Proletariat

zum Verhängnis geworden sind, und die der Faschismus sich zu Nutze gemacht hat:

„Er weiß: je kompakter die Massen sind, die er auf die Beine bringt, desto mehrdie Chance, daß die konterrevolutionären Instinkte des Kleinbürgertums ihre Re-aktionen bestimmen.“ (KR2, 371, Fn. 12).

 Aus dieser begrifflichen Bestimmung der Masse und des Proletariats geht für den revo-

lutionären Intellektuellen hervor, daß es nicht entscheidend ist, „die Massen nach sich

zu ziehen, sondern immer wieder in die Massen sich einbeziehen zu lassen, um immer

 wieder einer von Hundertausenden für sie zu sein.“ (KR2, 371, Fn. 12). Es gilt also für

Benjamin und für diese Arbeit, daß „Masse“ alle Menschen umfasst, die nicht Bourgeoi-

se oder Herrschaftsklasse sind. „Kompakte Masse“ steht demzufolge für das Kleinbür-

gertum und die restlichen reaktionären Kräfte einer Gesellschaft, die nicht zu den Ge-

 winnern dieser Gesellschaftsordnung zählen. Für das Proletariat, also die revolutionäre

Klasse, werden die Bezeichnungen Proletariat oder proletarische Masse verwendet.

  Wie die Intellektuellen den Proletariern beim Finden des „Schlüssels des Glücks“

behilflich sein können, wie sie die revolutionären Tendenzen in der Kunst erkennen

können und wie die Intellektuellen dabei vorgehen müssen, um erfolgreich zu sein, das

darzustellen ist das Ziel dieses Kapitels. Bei allen nun angestellten Überlegungen gilt

folgende Aussage, die sich in bezug auf die Funktion der Intellektuellen auch genausogültig umkehren läßt:

„Was von der photographischen Form gilt, ist auf die Literarische zu übertragen.“(AAP: 692).

Daher ist es legitim, sämtliche Artikel und Aufsätze Benjamins heranzuziehen, die auf 

das oben angesprochene Problem bezug nehmen, es darstellen bzw. zu lösen versuchen,

auch wenn sie nicht explizit Film oder Photographie nennen. Natürlich ist dabei auf die

jeweiligen Besonderheiten des Mediums zu achten.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

1. Ausgangslage für die Interpretation des Films durch Benjamin

 Während der Zeit, in der sich Benjamin mit dem Film beschäftigt, also von Ende der

zwanziger Jahre dieses Jahrhundert bis zu seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit  von 1936, macht sich eine Kapitalisierung und Politisie-

rung/Ideologisierung des Films bemerkbar. Außerdem konstatiert Benjamin, daß der

Film aufgrund seiner technischen Struktur ein Massenmedium ist:

„Bei den Filmwerken ist die technische Reproduzierbarkeit des Produkts nicht, wie z. B. bei den Werken der Literatur oder der Malerei, eine von außen her sicheinfindende Bedingung ihrer massenweisen Verbreitung. Die technische Repro-duzierbarkeit der Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion be-

gründet. Diese ermöglicht nicht nur auf die unmittelbarste Art die massenweise Verbreitung der Filmwerke, sie erzwingt sie vielmehr geradezu.“ (KR2: 356, Fn.2).

Das rührt daher, daß eine einzelne Person nicht mehr in der Lage ist, sich die Produkti-

on eines Filmes zu leisten, nicht zuletzt, weil er ein Erfolg werden müßte, da „ein größe-

rer Film, um sich zu rentieren, ein Publikum von neun Millionen erreichen müsse.“

(KR2: 356f., Fn.2). Der Tonfilm hat dieser Tendenz einstweilen eine Grenze gesetzt, da

das Publikum sich auf Sprachgrenzen einengte. Dies geschah parallell mit der Betonung 

nationaler Interessen durch den Faschismus. Wichtiger als die Begrenzung des Publi-kums zu betrachten, die Benjamin als „Rückschlag“ bezeichnet – welcher aber durch die

 Technik der Synchronisation bald wieder kompensiert wurde – ist es,

„seinen Zusammenhang [der des Tonfilms] mit dem Faschismus ins Auge zu fas-sen. Die Gleichzeitigkeit beider Erscheinungen beruht auf der Wirtschaftskrise.Die gleichen Störungen, die im Großen gesehen zu dem Versuch geführt haben,die bestehenden Eigentumsverhältnisse mit offener Gewalt festzuhalten, habendas von der Krise bedrohte Filmkapital dazu geführt, die Vorarbeiten zum Ton-

film zu forcieren. [...] [Das hat] neue Kapitalien aus der Elektrizitätsindustrie mitdem Filmkapital solidarisch gemacht.“ (KR2: 356f., Fn.2).

  Wie wir aus den vorangegangenen Kapiteln bereits wissen, dient der Film dazu dem

Menschen „diejenigen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit

der Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt.“(KR2: 359f.).

Gleichzeitig ist dieses „Übungsinstrument“ Film aber in den Händen des Kapitals, bzw.

des Faschismus, die beide kein Interesse daran haben, daß die Massen sich emanzipieren

und die Eigentumsverhältnisse sich verändern.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, die in Benjamins Konzeption

primär eine optisch-visuelle Reproduktion darstellt, läßt drei Alternativen zu, die gravie-

rende gesellschaftlich-politische Unterschiede aufweisen:

1. Ästhetisierung der Politik: Proletarisierung der Menschen und Formierung der

Massen sind zwei Seiten eines Geschehens. Der Faschismus versucht die Massen zu

organisieren, ohne jedoch die Eigentumsverhältnisse zu verändern. Er sucht sein Heil

darin, die Massen zu ihrem Ausdruck kommen zu lassen. Anstatt den Massen zu ihrem

Recht zu verhelfen, also die Eigentumsverhältnisse zu ändern, sucht er ihnen einen

 Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Daher läuft der Faschismus auf eine Ästhe-

tisierung des politischen Lebens hinaus (KR2: 382). „Der Vergewaltigung der Massen,

die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Ap-

paratur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht.“ (KR3: 506). Die Äs-

thetisierung der Politik mündet im Krieg. Nur dieser macht es möglich, unter Beibehal-

tung der Besitzverhältnisse den Massen ein Ziel zu geben. Aus technischer Sicht ist es

der Krieg, der es erlaubt, – wiederum unter Beibehaltung der Besitz- und Produktions-

 verhältnisse – sämtliche technischen Möglichkeiten der Gegenwart auszuschöpfen. Der

Faschismus ist auf diese Art des technischen Fortschritts angewiesen, weil er nicht im-

stande ist, sich des Widerspruches zwischen Produktionsverhältnissen und Produktiv-

kräften auf eine andere Weise als die eben dargestellte zu entledigen. Der Faschismuserwartet also die Befriedigung der durch die Technik veränderten Sinneswahrnehmung 

durch den Krieg. Die Menschheit wird zum Schauobjekt für sich selbst, ihre Selbstent-

fremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Ge-

nuß erleben läßt (KR2: 382ff.). Die Ästhetisierung der Politik im Faschismus beruht auf 

der Vergewaltigung der Apparatur, durch die er den Film zum Medium der Verbreitung 

 von Kultwerten macht, also den Nationalsozialismus und seine Folgen als Ritual und

Bestandteil einer Tradition erscheinen läßt.

2. Die Tendenzen, die hier vor allem in bezug auf Adorno/Horkheimer formuliert

sind, sind auch schon bei Benjamin angedeutet, und es ist zu vermuten, daß Benjamin

diesen Ausführungen hier, aus der Dialektik der Aufklärung , zugestimmt hätte.250 

250 Benjamin kannte Adornos Aufsatz Über Jazz , in dem schon ähnlich gesellschaftliche Tendenzenim Zusammenhang Kunst – Kapitalismus formuliert worden sind, und stimmte diesen zu. Theo-dor W. Adorno. Walter Benjamin. Briefwechsel 1928 - 1940, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt amMain, 21995, Brief von Benjamin an Adorno am 30. Juni 1936, 190. Theodor W. Adorno, Über

 Jazz, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, 74 – 108.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

  Vereinahmung der neuen Techniken durch die Kulturindustrie: Kunstwerke erhalten

statt einer Fundierung im Ritual und auf Kultwerten eine Fundierung im Warenfetisch.

Die Masse als Rezipient steht den nichtauratischen Kunstwerken genauso gegenüber wie

den auratischen. Nur daß sie jetzt anstatt einer Aura eine Pseudoaura rezipiert, die durch

den Starkult gefördert wird. (KR2: 372). Die Pseudoaura dient der Massenbeherrschung,

und Kultur wird zum Warenfetisch. Im Unterschied zum Faschismus versucht die Kul-

turindustrie aber nicht, durch eine Vergewaltigung der Apparatur neue Kultwerte zu

schaffen, sondern der Rezipient soll sich an der Einheitlichkeit des Produzierten aus-

richten. „Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwar-

tet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe

zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen.“251 Die Kulturindustrie

unterstellt alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweig, die

Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der

Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen, den sie

den Tag über selbst unterhalten müssen.252 Gleichzeitig erleben sie, „wie der Filmdar-

steller für sie Revanche nimmt“ an eben jenem System (KR2: 365), in dem das „Amü-

sement (...) die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus“ ist.253 Benjamin for-

muliert den gleichen Sachverhalt ähnlich:

„Was der Lunapark in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zu-stande bringt, ist nichts als eine Kostprobe der Dressur, der der ungelernte Arbei-ter in der Fabrik unterworfen wird.“ (ÜMB: 632).

Für dieses Amüsement steht Donald Duck Pate, der „in den Cartoons wie die Unglück-

lichen in der Realität (...)“ seine Prügel erhält, „damit die Zuschauer sich an die eigenen

gewöhnen.“254 

3. Politisierung der Kunst: Hier kommt es Benjamin auf ein aufgeklärtes Verhältnis

zwischen den Massen und den neuen Medien, d. h. in erster Linie Film und Photogra-phie an. Benjamins Vorstellung ist, daß ähnlich wie bei der Literarisierung „gegen Ende

des vorigen Jahrhunderts“ eine Wende eintritt. Wie sich damals die Presse ausdehnte

und ein immer breiteres Publikum bekam, das - zumindest potentiell - zugleich Lesen-

251 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 145.252 Ebd., 153.253 Ebd., 158.

254 Ebd., 160.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

des und Schreibendes war (KR2: 371f.), so hat heute jeder den Anspruch, „reprodu-

ziert“ zu werden. Als Beispiel führt Benjamin die russische Entwicklung an, wo im Film

Menschen sich darstellen, „und zwar in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß.“

(KR2: 372). Benjamin schwebt also eine Verschmelzung von Produzent und Rezipient

 vor. Dies verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films. Benjamin verdeutlicht die

Politisierung der Kunst an Brechts epischem Theater. Das herkömmliche politische

 Theater „beförderte nur das Einrücken proletarischer Massen in eben die Position, die

der Theaterapparat für die bürgerlichen geschaffen hat.“ (WET: 519). Das epische Thea-

ter dagegen wendet sich an diejenigen, die „ohne Grund nicht denken“, d. h. an die

Massen (WET: 522). Denn für die Politisierung der Kunst und für Brechts episches

 Theater gilt, was – so Benjamin – Marx gelang als es ihm um die Verbreitung des Sozia-

lismus ging:

„Nie wäre der Sozialismus in die Welt getreten, hätte man die Arbeiterschaft nurfür eine bessere Ordnung der Dinge begeistern wollen. Daß es Marx verstand, siefür eine zu interessieren, in der sie es besser hätten und ihnen die als die gerechtezeigte, machte die Gewalt und Autorität der Bewegung aus. Mit der Kunst steht esaber genauso. Zu keinem, wenn auch noch so utopischen Zeitpunkt, wird man dieMassen für eine höhere Kunst, sondern immer nur für eine gewinnen, die ihnennäher ist. Und die Schwierigkeit, die besteht gerade darin, die so zu gestalten, daß

man mit dem besten Gewissen behaupten könne, die sei eine höhere.“ (PW: 499).Dieses Zitat hebt hervor, wie wichtig es für die Intellektuellen ist, die richtige Form für

ihre Aufgabe, die Masse anzusprechen, zu finden. Es kommt auf den Inhalt allein nicht

an, denn dieser wird, wenn nicht richtig vermittelt, überhaupt nicht wahrgenommen. Es

gilt, Formen der Kunst zu finden, die höheren Ansprüchen genügen – um nicht vom

Kapitalismus oder dem Faschismus eingenommen zu werden, die gleichzeitig den

  Wahrnehmungsfähigkeiten und Wahrnehmungsansprüchen der Massen entsprechen,

um somit die Massen für das Anliegen der Intellektuellen, d. h. für die Befreiung derMassen aus ihrer Selbstentfremdung zu begeistern und zu interessieren.

Die Kunst und die kritische Intelligenz, die Massen und ihr Wahrnehmungsbedürfnis

bewegen sich von zwei Seiten aufeinander zu. Die neuen Medien bilden den möglichen

Ort des Zusammentreffens beider Tendenzen und die Voraussetzung einer umgewälz-

ten Konstellation von Intelligenz und Massen. Dieser Aufgabe der Intellektuellen „ist

heute vielleicht allein der Film gewachsen, jedenfalls steht sie ihm am nächsten.“

(PW: 500).

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 Wie ist dieses Aufeinanderzubewegen von Kunst, kritischer Intelligenz und den Massen

inklusive ihres Wahrnehmungsbedürfnisses sich vorzustellen? Will man diese Frage be-

antworten, so muß man die Aufgabe der Intellektuellen in diesem Zusammenhang sich

  verdeutlichen, nicht jedoch ohne vorher auf den in diesem Kontext sehr wichtigen

 Technikbegriff Benjamins einzugehen, beruhen doch alle drei eben vorgestellten Alter-

nativen unter anderem auf unterschiedlichen Interpretationen des Technikbegriffs.

2. Benjamins Begriff der Technik 

Benjamin kritisiert den Prozeß der Technisierung des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende

zwei Parteien im bürgerlichen Lager entstanden. Auf der einen Seite die Positivisten, die

„in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft, nicht die

Rückschritte der Gesellschaft erkennen“ konnten (Fuchs: 474), und auf der anderen

Seite „eine technikfeindliche Kulturkritik, die den Schein fördert, daß Kultur außerhalb

des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses stehe.“255 Die Folgen dieser „verunglückten Re-

zeption der Technik“, die im 19 Jh. seinen Ursprung hat, sind erst im nächsten Jahrhun-

dert zu spüren.

„Es [das 19. Jh.] erlebt, wie die Schnelligkeit der Verkehrswerkzeuge, wie die Ka-pazität der Apparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfältigt, die Be-dürfnisse überflügelt. Die Energien, die die Technik jenseits dieser Schwelle ent-

 wickelt, sind zerstörende. Sie fördern in erster Linie die Technik des Kriegs unddie seiner publizistischen Vorbereitung.“ (Fuchs: 475).

Die Einführung der Unterscheidung zwischen technisch reproduziertem und echtem

Kunstwerk ermöglicht es Benjamin, durch den Rekurs auf die Technik, die ästhetischen

Form – Inhalt Begriffe zu überwinden. So läßt die Untersuchung der Technik eines

  Werks eine bessere Bestimmung seines gesellschaftlichen Gehalts zu, da die Technik eines Werks dessen der Gesellschaft zugewandte Seite ist.256 Die Technik nämlich hat es

auf „ein Zusammenspiel zwischen Natur und Menschheit“ abgesehen. „Die

gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses

Zusammenspiel.“ (KR2: 359). Die Technik eines Werks ist es, die seinen

Zusammenhang mit der Gesellschaft bekundet. So ist in der Technik des Werks sein

ngsverfahren erkenntlich, womit es der materialistischenGeheimnis, d. h. sein Herstellu 

255 Helmut Lethen, Zur materialistischen Kunsttheorie Benjamins, 226.

256 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik, Teil 1: Bloch, Benjamin, Düsseldorf 1974, 131.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Herstellungsverfahren erkenntlich, womit es der materialistischen Analyse zugänglich

 wird. Schließlich ist es die Technik, die den Zusammenhang von künstlerischer Qualität

und politischer Tendenz erkennbar macht:

„Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff genannt, der die litera-rischen Produkte einer unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialisti-schen Analyse zugänglich macht. Zugleich stellt der Begriff der Technik den dia-lektischen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegensatz von Formund Inhalt zu überwinden ist. Und weiterhin enthält dieser Begriff der Technik die Anweisung zur richtigen Bestimmung des Verhältnisses von Tendenz undQualität, nach welchem wir am Anfang gefragt haben.“ (AAP: 686).

Man kann also sagen, daß in der Technik die gesellschaftlich-praktische Funktion des

 Werks ablesbar ist, d. h. „dessen Anleitungsfunktion für die politische Praxis.“257 Daher

ist es als eine zentrale methodologische Forderung Benjamins anzusehen, wenn er for-

dert, daß man nicht fragen sollte, wie eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen

der Epoche steht, sondern wie steht sie in ihnen? „Diese Frage zielt unmittelbar auf die

Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer

Zeit hat.“ (AAP: 686). Anders ausgedrückt bedeutet dies, daß diese Frage unmittelbar

auf die schriftstellerische Technik der Werke sich bezieht. Ob und inwieweit ein Werk 

richtig in den Produktionsverhältnissen steht, bemißt sich daran, inwieweit es ihm ge-

lingt die Technik emanzipatorisch umzusetzen.

 Auch wird im Kunstwerkaufsatz deutlich, daß Benjamins Technikbegriff zwei we-

senhaft zusammengehörige Gegensätze umfaßt.258 Die „erste Technik“ ist dem Kultwert

zugehörig und hat als ihr philosophisches Zentrum das Menschenopfer. Die „zweite

  Technik“ korrespondiert mit dem Ausstellungswert. Sie ist eine spielerische Technik 

und liegt „auf der Linie der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brau-

chen.“ (KR2: 359). Der entscheidende Unterschied zwischen erster und zweiter Technik 

ist der, daß erstere eine künstlerische Technik ist, die an eine Person mit magischenKräften gebunden ist, die zweite eine technische Künstlichkeit, die jedes Individuum

bedienen und experimentell variieren kann. Für diese Konzeption ist es zentral, daß die

 – eine dialektische Spannung ermöglichende – Differenz von erster und zweiter Technik 

schon immer bestand, und das diese Differenz erst im messianischen Ende der Ge-

 

257 Ebd., 132.

258 Vgl. Kapitel II.3: Vom Kult- zum Austellungswert: Folgen technischer Reproduzierbarkeit.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

schichte zu schließen wäre.259 Der „Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo

der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Na-

tur zu gewinnen.“ (KR2: 359 ). Der Ursprung der zweiten Technik liegt also im Spiel.

Das Kunstwerk ist für Benjamin eine Wahrnehmungsweise und nicht ein Gegens-

tand. Genauso ist für ihn Technik eine Produktionsweise und kein Produktionsmittel.

Entscheidend ist also die Art und Weise „wie der Mensch die Wirklichkeit seiner Natur

durch das Medium seiner Technik entwirft.“260 Dieser Entwurf ist es, der die Differenz

 von erster und zweiter Technik ins Spiel bringt, die der Unterscheidung zwischen erster

und zweiter Natur ähnlich ist.261 

„Ernst und Spiel, Strenge und Unverbindlichkeit treten in jedem Kunstwerk ver-schränkt auf, wenn auch mit Anteilen sehr wechselnden Grades. Damit ist schongesagt, daß die Kunst der zweiten wie der ersten Technik verbunden ist. Aller-dings ist hierbei anzumerken, daß die „Naturbeherrschung“ das Ziel der zweiten

  Technik nur auf höchst anfechtbare Weise bezeichnet; sie bezeichnet es vomStandpunkt der ersten Technik. Die erste hat es wirklich auf die Beherrschung derNatur abgesehen; die zweite vielmehr auf ein Zusammenspiel zwischen der Naturund der Menschheit. Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigenKunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel.“ (KR2: 359).

Benjamin sieht in der Veränderung der Technik keine natürliche Entwicklung, der man

sich nur anzupassen hätte. Vielmehr ist der Standpunkt der Menschen entscheidend,den er über das Medium seiner Technik zur Natur einnimmt. Das heißt, daß die Unter-

scheidung zwischen erster und zweiter Technik einen Standortwechsel bezeichnet, der

alles neu erscheinen läßt.262 In dem hier untersuchten Zusammenhang visueller Medien

259 Alexander Pivecka, Walter Benjamins Begriff der Technik, 97.260 Ebd.261 Vgl. Benjamins erste Version des Kunstwerkaufsatzes , in der als einziger von erster und zweiter Na-

tur die Rede ist: „Diese [die Kunst] hält, im Dienst der Magie gewisse Notierungen fest, die derPraxis dienen. Und zwar wahrscheinlich ebensowohl als Ausübung magischer Prozeduren, wieauch als Anweisungen zu solchen, wie auch endlich als Gegenstände einer kontemplativen Be-trachtung, der man magische Wirkung zuschrieb. Gegenstände solcher Notierungen boten derMensch und seine Umwelt dar, und abgebildet wurden sie nach den Erfordernissen einer Gesell-schaft, deren Technik nur erst völlig verschmolzen mit dem Ritual existierte. Diese Gesellschaftstellt den Gegenpol zu der heutigen dar, deren Technik die emanzipierteste ist. Diese emanzipierte Technik steht nun aber der heutigen Gesellschaft als eine zweite Natur gegenüber, und zwar, wie Wirtschaftskrisen und Kriege beweisen, als eine nicht minder elementare wie die der Urgesellschaftgegebene es war. Dieser zweiten Natur gegenüber ist der Mensch, der sie zwar erfand aber schonlängst nicht mehr meistert, genauso auf einen Lehrgang angewiesen wie einst vor der ersten. Und wieder stellt sich in dessen Dienst die Kunst.“ Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter sei-ner technischen Reproduzierbarkeit, Erste Fassung, in: GS I.2, 431 - 469, 444.

262 Alexander Pivecka, Walter Benjamins Begriff der Technik, 98.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

bedeutet dies, daß der Umgang mit der Filmkamera den Menschen lehrt, „daß die

Knechtung in ihrem Dienst erst dann der Befreiung durch sie Platz machen wird, wenn

die Verfassung der Menschheit sich den neuen Produktivkräften angepaßt haben wird,

 welche die zweite Technik erschlossen hat.“ (KR2: 360). Die zweite Technik stellt ein

System dar, in dem die Bewältigung „der gesellschaftlichen Elementarkräfte die Voraus-

setzung für das Spiel mit den natürlichen darstellt.“ (KR2: 360, Fn. 4). Die zweite Tech-

nik will also auf die Befreiung der Menschheit aus der Fron der Arbeit hinaus. Das Indi-

 viduum sieht mit einem Mal seinen „Spielraum“ vielfach erweitert, den das Individuum

in der ersten Technik nicht zur Verfügung hatte. Dieser neue Spielraum ist für das Indi-

 viduum noch unbekannt, doch „es meldet seine Forderung in ihm an. Denn je mehr

sich das Kollektiv seine zweite Technik zu eigen macht, desto fühlbarer wird den ihm

angehörenden Individuen, wie wenig ihnen bisher, im Banne der ersten [Technik], das

Ihre geworden war.“ (KR2: 360, Fn. 4). Anders formuliert heißt das, daß durch die Ver-

nichtung der ersten Technik der emanzipierte Einzelmensch nun seinen Anspruch er-

hebt auf die Dinge, von denen er unter der ersten Technik nicht einmal etwas ahnte.

 Wobei dies nicht mit Sicherheit geschehen muß, sondern Chance ist für den emanzipier-

ten Einzelmenschen. Diese emanzipatorische Funktion von Technik ist nur möglich

unter freien gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. weder unter dem Faschismus noch

unter dem Kapitalismus. Zu erreichen ist diese Stufe der Emanzipation nur durchRevolutionen:

„Es ist das Ziel der Revolutionen, diese Anpassungen [an die zweite Technik] zubeschleunigen. Revolutionen sind Innervationen des Kollektivs: genauer Innerva-tionsversuche des neuen, geschichtlich erstmaligen Kollektivs, das in der zweiten

 Technik seine Organe hat. Diese zweite Technik ist ein System, in welchem dieBewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte die Voraussetzung für dasSpiel mit den natürlichen darstellt.“ (KR2: 360, Fn. 4).

Unter dem Faschismus ist die Mobilisierung der zweiten Technik nur durch den Krieg möglich, doch entfallen somit alle emanzipatorischen Momente, die die zweite Technik 

unter freien Bedingungen bereit hält. Die freien Bedingungen nämlich – wie oben fest-

gestellt – werden von den Menschen erreicht, wenn sie sich den – durch die zweite

 Technik ermöglichten – neuen Produktivkäften angepaßt haben. Unter dem Faschismus

macht es der Krieg möglich, „die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter

der Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren.“ (KR3: 506). Das wiederum

hat weitreichende Konsequenzen:

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

„Wird die natürliche Verwertung der Produktivkräfte durch die Eigentumsord-nung hintangehalten, so drängt die Steigerung der technischen Behelfe, der Tem-pi, der Kraftquellen nach seiner unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, der mitseinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Gesellschaft nicht reif ge-

nug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht aus-gebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen.“(KR3: 507).

Es ist also klar, daß die zweite Technik das Potential zur Befreiung der Menschen hat,

letztlich also zur Versöhnung zwischen Mensch und Natur beizutragen. „Doch der kapi-

talistisch-faschistische Mißbrauch der Technik erschwert, die befreienden Möglichkeiten

zu ahnen.“263 

Benjamin hat das schon zwölf Jahre zuvor in dem Buch Einbahnstraße aufs Eindring-

lichste beschrieben. Den letzten Aphorismus dieses Buches, Zum Planetarium , werde ich

daher in gebotener Ausführlichkeit zitieren:

„Wenn man, [...], die Lehre der Antike in aller Kürze, [...], auszusprechen hätte,der Satz müßte lauten: ‚Denen allein wird die Erde gehören, die aus den Kräftendes Kosmos leben.‘ Nichts unterscheidet den antiken so vom neueren Menschen,als seine Hingegebenheit an eine kosmische Erfahrung, die der spätere kaumkennt.“ (Einbahnstraße: 146).

Hier betont Benjamin das versöhnte Verhältnis zwischen Natur und Menschen, das erfür unabdingbar für ein nicht entfremdetes Leben der Menschheit hält. Dieser antike

Umgang mit dem Kosmos vollzog sich im Rausch, ist doch der Rausch die Erfahrung,

„in welcher wir allein des Allernächsten und des Allerfernsten, und nie des einen ohne

des anderen, uns versichern.“ Das bedeutet, „daß rauschhaft mit dem Kosmos der

Mensch nur in der Gemeinschaft kommunizieren kann.“ (Einbahnstraße: 146). Diese

kosmische Erfahrung 

„wird je und je von neuem fällig, und dann entgehen Völker und Geschlechter ihrso wenig, wie es am letzten Krieg aufs fürchterlichste sich bekundet hat, der ein

 Versuch zu neuer, nie erhörter Vermählung mit den kosmischen Gewalten war.Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hoch-frequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmelauf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grubman Opferschächte in die Muttererde. Dies große Werben um den Kosmos voll-

 

263 Burkhardt Lindner, Natur-Geschichte – Geschichtsphilosophie und Welterfahrung in Benjamins

Schriften, in: Text + Kritik. Walter Benjamin, 31/32, 1979, 41 – 58, 46.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

zog zum ersten Male sich in planetarischen Maßstab, nämlich im Geist der Tech-nik. Weil aber die Profitgier der herrschenden Klasse an ihr ihren Willen zu büßengedachte, hatte die Technik die Menschheit verraten und das Brautlager in einBlutmeer verwandelt. Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn al-

ler Technik.“ (Einbahnstraße: 147).Im Weltkrieg kehrt die kosmische Erfahrung der Antike zurück, jedoch entsetzlich ent-

stellt. Die im gigantischen Maßstab betriebene kollektive Selbstvernichtung ist die „sich

selbst unkenntlich gewordene rauschhafte Kommunikation der Gemeinschaft mit dem

Kosmos.“264 Es geht also um eine Theorie der Massenmedien, die, über den Weg der

Physiologie des Kollektivleibs, den Weltkrieg als Massenkommunikation kenntlich

macht. Die Menschheits-Physis organisiert sich in der Technik zu einem neuen Leib.

 Jedoch alle Technik, „die das Kollektiv nicht zu seinem Organ umschaffen kann, wird Waffe.“265 Technik, wie sie hier zu Tage tritt, also als Naturbeherrschung, verschleiert

ideologisch die Profitgier der herrschenden Klasse. Ihren wirklichen Sinn aber kann

 Technik nur in der „Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit“, als Or-

gan der Gesellschaft haben. Benjamin demonstriert in diesem Aphorismus dementspre-

chend, daß es auf den „Schauer echter kosmischer Erfahrung“ ankommt, „in welcher

 wir allein des Allernächsten und des Allerfernsten, und nie des einen ohne des anderen,

uns versichern.“ (Einbahnstraße: 146f.) Diese antike und durch die Technik wiederzu-

gewinnende Erfahrung ist gleichermaßen rauschhaft und kollektiv, wie Benjamins expli-

zite Bezugnahme auf das Proletariat deutlich macht:

„In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau derMenschheit ein Gefühl, das dem Glück des Epileptikers gleichsah. Und die Revol-ten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zubringen. Die Macht des Proletariats ist der Gradmesser ihrer Gesundung. Ergreiftihn dessen Disziplin nicht bis ins Mark, so wird kein pazifistisches Raisonnementihn retten. Den Taumel der Vernichtung überwindet lebendiges nur im Rausche

der Zeugung.“ (Einbahnstraße: 148).

Dies ist als Hinweis Benjamins darauf zu verstehen, daß, obwohl der revolutionäre

Kampf gegen den Faschismus sich „zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat“

264 Norbert Bolz, Die Schrift des Films, 27.

265 Ebd.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

abspielt (AAP: 701), es doch einer Gewalt bedarf, „die in nicht minder tiefen Tiefen der

Geschichte entspringt als die faschistische.“266 

 Walter Benjamins Begriff der Technik – und die Art und Weise wie er ihn verwendet

 – ist somit weniger ein direkt und ausschließlich die Technik betreffender, vielmehr um-

faßt er die gesellschaftlich-politischen und nicht zuletzt auch ideologischen Im-

plikationen, die die unterschiedliche Indienstnahme von Technik herbeiführt. Die Diffe-

renzierung in erste und zweite Technik ermöglicht es Benjamin zum einen, die Diffe-

renzen, die in der Technik der Werke liegen, aufzuzeigen und damit ihr Verhältnis zur

Gesellschaft und des in ihr herrschenden Verständnisses von Politik. In diesem Sinne ist

der Unterschied zwischen erster und zweiter Technik der Unterschied von einer elitären,

soll heißen einer Technik, die nur bestimmten Personen mit herausragenden gesell-

schaftlichen Stellungen zugänglich ist, also einer Technik, die man diktatorisch nennen

kann, und die „erst verschmolzen mit einem Ritual existiert“ (KR2: 359), zu einer uni-

 versellen Technik. Letztere ist als eine allgemeine, jedermann zugänglichen und hand-

habbaren, man kann sagen demokratische Technik sich vorzustellen, wie schon Benja-

mins Beispiel der Verschmelzung von Produzent und Rezipient im Zeitschriftenwesen

und dem russischen Film deutlich macht.

Zum anderen hat die Unterscheidung in erste und zweite Technik den Zweck, den

Faschismus deutlich zu desavouiren und seinen gesellschaftlich-politischen Widerpart – den Kommunismus – als die einzig richtige Alternative darzustellen, der an dem Wohl

der Menschheit besonders gelegen ist.267 So hat die erste Technik, die die „Menschen so

sehr wie möglich einsetzt“ ihre „Großtat im Menschenopfer“, die zweite hingegen setzt

den Menschen „hingegen so wenig wie möglich ein“. Sie hat ihre Großtat in „fernlenk-

baren Flugzeugen.“ (KR2: 359). Obwohl der Faschismus durchaus der neuesten Tech-

nik sich bedient und damit der zweiten Technik näher zu stehen scheint, benutzt er die

 Technik doch so, daß es an die erste Technik erinnert. Er bedient sich der Rituale, und

auch Menschenopfer sind ihm nicht fremd.268 Des Rätsels Lösung dürfte in folgender

Bemerkung Benjamins liegen, die auch den Zusammenhang von Technik und Kunst

erhellt:

266 Walter Benjamin, Tagebuchnotizen 1938, in: GS VI, 532 – 539, 539.267 Zu Benjamins Verhältnis und Einschätzung des Kommunismus vgl. Kapitel: IV.2.2.: Erinnerung 

ist vor allem Erinnerung an die Tradition der Unterdrückten, 100f.

268 Das klingt schon fast zynisch. Eigentlich muß es heißen, das Morden ist ihm immanent.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

„Ernst und Spiel, Strenge und Unverbindlichkeit treten in jedem Kunstwerk ver-schränkt auf, wenn auch mit Anteilen sehr wechselnden Grades. Damit ist schongesagt, daß die Kunst der zweiten wie der ersten Technik verbunden ist. Aller-dings ist hierbei anzumerken, daß die ‚Naturbeherrschung‘ das Ziel der zweiten

  Technik nur auf höchst anfechtbare Weise bezeichnet; sie bezeichnet es vomStandpunkt der ersten Technik.“ (KR2: 359).

Demzufolge ist klar, das der Faschismus die zweite Technik vom Standpunkt der ersten

 Technik betreibt. Er verhindert die Emanzipation der Menschen, d.h. er verhindert die

Indienstnahme der Technik durch das Kollektiv. Da die Technik eines Werks, wie oben

ausgeführt, seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft bekundet und man fragen muß,

  wie Kunst in den Produktionsverhältnissen steht (AAP: 686), wird klar, daß im Fa-

schismus die Indienstnahme der Technik nur der herrschenden Klasse möglich ist, die

das wiederum dazu nutzt, den Massen in der Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse

ihren Ausdruck zu geben (KR2: 382) und sie zu organisieren, d.h. sich dienstbar zu ma-

chen.

3. Tendenz

Für Benjamin ist der Begriff der Tendenz im Zusammenhang mit der Aufgabe der Intel-

lektuellen ein außerordentlich wichtiger. Die Tendenz ist allesentscheidend in der Frage,

ob ein Intellektueller der Sache des Aufeinanderzubewegens von Kunst, kritischer Intel-

ligenz und Massen dienlich ist oder nicht.

Benjamin entwickelt den Begriff der Tendenz in dem Aufsatz Der Autor als Produzent ,

geschrieben 1934, also zwei Jahre vor dem Kunstwerkaufsatz . Er stellt diesen Aufsatz ganz

in die Nähe seines Aufsatzes Das epische Theater , wie aus einem Brief an Adorno hervor-

geht:

„Wären sie jetzt hier, so würde uns, glaube ich, der Vortrag, von dem ich eingangsSprach, viel Stoff zur Debatte geben. Er heißt ‚Der Autor als Produzent‘, wirdhier im ‚Institut zur Erforschung des Fascismus‘ vor einem ganz kleinen aberkaum ebenso qualifizierten Auditorium gehalten werden und stellt einen Versuchdar, für das Schrifttum ein Gegenstück zu der Analyse zu liefern, welche ich fürdie Bühne in der über Das epische Theater unternommen habe.“269 

269 Adorno Benjamin Briefwechsel, Benjamin an Adorno am 28. April 1934, 68f.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

In einem Brief vom 21. Mai 1934 an Brecht heißt es in bezug auf diesen Aufsatz:

„Unter dem Titel Der Autor als Produzent habe ich versucht, nach Gegenstand undUmfang ein Pendant zu meiner alten Arbeit über Das epische Theater zu machen.“270 

In Der Autor als Produzent  entwickelt Benjamin eine Theorie, die besagt, daß ein ent-scheidendes Kriterium einer revolutionären Funktion der Literatur im Maße der techni-

schen Fortschritte liegt, die darauf hinauslaufen, daß sie die Kunstformen umfunktionie-

ren und damit auch die Formen der geistigen Produktionsmittel.271 

 Auf visuelle Medien angewandt bedeutet dies, da sie den größten technischen Fort-

schritt seit langem darstellen, daß ihre Funktion eine gänzlich andere ist, und auf jeden

Fall eine revolutionäre. Die visuellen Medien bilden den Ort und die Voraussetzung 

einer umgewälzten Konstellation von Intelligenz und Massen. Diese umgewälzte Kons-tellation kann aber nur dann eintreten, wenn die Intellektuellen der richtigen Tendenz

folgen, denn einen politischen „Schwebezustand“ hält Benjamin für eine sowohl fak-

tisch als auch prinzipiell unhaltbare Position.272 Karl Mannheims Begriff des „sozial frei-

schwebenden Intellektuellen“ war durch den „Verfall der freien Intelligenz“ widerlegt.273 

Die Intellektuellen haben sich zwischen den Klassenfronten zu entscheiden.

Unter Tendenz versteht Benjamin die Haltung eines Autors zu den politisch-

gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit. Zum Zeitpunkt des Vortrags Der Autor als 

Produzent , also dem 27. April 1934, ist diese Haltung eine sehr bedeutende. Diese Hal-

tung nämlich, egal ob der Autor Anhänger oder Gegner des Faschismus ist, nimmt ihm

zugleich seine Autonomie, er muß sich für eine der beiden Alternativen entscheiden.

Benjamin formuliert das in seinem Vortrag folgendermaßen:

„Sie glauben, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Lage ihn [den Autor] zur Ent-scheidung nötigt, in wessen Dienste er seine Aktivitäten stellen will. Der bürgerli-che Unterhaltungsschriftsteller erkennt diese Alternative nicht an. Sie weisen ihm

nach, daß er, ohne es zuzugeben, im Dienste bestimmter Klasseninteressen arbei-tet. Ein fortgeschrittener Typus des Schriftstellers erkennt diese Alternative an.Seine Entscheidung erfolgt auf der Grundlage des Klassenkampfes, indem er sichauf die Seite des Proletariats stellt. Da ist’s denn nun mit seiner Autonomie aus.Er richtet seine Tätigkeit nach dem, was für das Proletariat im Klassenkampf nützlich ist. Man pflegt zu sagen, er verfolgt eine Tendenz.“ (AAP: 684).

270 Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Briefe, 609.271 Walter Benjamin, Tagebuchaufzeichnung, in: GS II.3, 1462.272 Walter Benjamin, Verein der Freunde des neuen Russland – in Frankreich, in: GS IV.1: 486.

273   Walter Benjamin, Bücher die übersetzt werden sollten, in: GS III: 174.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Benjamin postuliert, daß die Tendenz eines Autors politisch nur stimmen kann, wenn

sie auch literarisch stimmt. Die richtige politische Tendenz „eines Werkes [schließt] sei-

ne literarische Qualität ein, weil sie eine literarische Tendenz miteinschließt.“ (AAP:

684f.). Zur Begründung dieses Postulats muß man sich erneut an Benjamins Auffassung 

erinnern, daß man nicht fragen darf, „wie steht eine Dichtung  zu den Produktionsver-

hältnissen der Epoche“, sondern „wie steht sie in ihnen?“ (AAP: 686). Diese Fragestel-

lung bezieht sich unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke, also „auf die

Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer

Zeit hat.“ (AAP: 686). Der Begriff Technik – wie weiter oben schon ausgeführt – macht

„die literarischen Produkte einer unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialis-

tischen Analyse zugänglich“, er hilft auch den Gegensatz „Form – Inhalt“ zu überwin-

den und er enthält „Anweisungen zur richtigen Bestimmung des Verhältnisses von Ten-

denz und Qualität.“ (AAP: 686).274 Daher schließt Benjamin, daß wenn „die richtige

politische Tendenz eines Werks seine literarische Qualität einschließt, weil sie seine lite-

rarische Tendenz einschließt“, sich auch genauer bestimmen läßt, daß diese literarische

  Tendenz „in einem Fortschritt oder in einem Rückschritt der literarischen Technik“

bestehen kann. (AAP: 686).

In seiner Erwiderung an Oscar H. Schmitz von 1927 kommt der Begriff der Tendenz

explizit im Zusammenhang mit dem Film vor. Benjamin stellt fest, daß es eine Binsen- wahrheit ist, daß jedem Kunstwerk und jeder Kunstepoche „politische Tendenzen ein-

  wohnen“, diese aber – wie tiefere Schichten von Gestein – nur an Bruchstellen der

Kunstgeschichte zum Vorschein kommen.

„Die technischen Revolutionen – das sind die Bruchstellen der Kunstentwicklung,an denen die Tendenzen je und je, [...] zum Vorschein kommen. In jeder neuentechnischen Revolution wird die Tendenz aus einem sehr verborgenen Elementder Kunst wie von selber zum manifesten.

Und damit wären wir denn endlich beim Film.“ (EOS: 752).

Die Bruchstelle des Films ist gar eine der „gewaltigesten“, mit dem Film entsteht „eine

neue Region des Bewußtseins.“ (EOS: 752). Der Film ist das „einzige Prisma“ der heute

lebenden Menschen, durch das die Menschen ihre Umwelt „auseinanderlegen“. Diese

Umwelt, also Büros, möbilierte Zimmer, Kneipen etc. sind „häßlich, unfaßlich, hoff-

nungslos traurig. Vielmehr: sie waren und sie schienen so, bis der Film war. Er hat dann

274 Vgl., V.2: Benjamins Begriff der Technik, 77.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

diese ganze Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß nun

zwischen ihren weitverstreuten Trümmern wir weite abenteuerliche Reisen unterneh-

men.“ (EOS: 752).275 

Das „Dynamit der Zehntelsekunden“, so läßt sich einwenden, ist aber auch Element

des bürgerlichen Films. Wo also besteht der Unterschied zwischen bürgerlichem und

Revolutions- und Groteskfilm?

Benjamin stellt fest, daß die wichtigen elementaren Fortschritte der Kunst weder in

Form noch Inhalt zu suchen sind; die Revolution der Technik geht beiden vor-

an (EOS: 753). Die Technik hat beide nicht im Film gefunden, weder ist das Problem

einer sinnvollen Filmhandlung gelöst, noch die Frage der abstrakten Formprobleme, die

sich mit der neuen Technik ergeben. Und das ist kein Zufall, sondern Ergebnis des ten-

denzlosen Spielens mit Form und Inhalt, denn es bedingt, daß diese Probleme immer

nur von Fall zu Fall zu lösen sind (EOS: 753). Im Gegensatz zum internationalen bür-

gerlichen Film haben der Revolutionsfilm und der Groteskfilm jeder eine Tendenz ein-

genommen, „auf die sie stetig konsequent zurückgehen.“ (EOS: 753). Während der

Groteskfilm, sich zwar weniger offenkundig tendenziös als der Revolutionsfilm gegen

die Technik richtet, das Lachen, das er erweckt, über dem Abgrund des Grauens

schwebt, hebt der Revolutionsfilm die Kehrseite der lächerlich entfesselten Technik 

hervor. Ersterer ist „voller Wunder, die nicht nur die technischen überbieten, sondernsich über sie lustig machen.“ (EA: 218). Letzterer hingegen zeigt „die tödliche Prägnanz

manövrierender Flottengeschwader.“ (EOS: 753).

Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen bürgerlichem Film und Revolutions-

film ist der, daß der Revolutionsfilm auf eine Verschworenheit des Milieus mit sich bau-

en kann, da das Proletariat der Held dieser Räume ist, „an deren Abenteuer klopfenden

Herzens im Kino der Bürger sich verschenkt.“ (EOS:753). Der Bürger sucht das Schöne

auch und gerade dort, wo das Schöne ihm von seiner eigenen Vernichtung, d. h. von der

seiner Klasse spricht. Das Proletariat ist Kollektivum, und die im Film dargestellten

Räume sind Räume eben dieses Kollektivs. Dieses Kollektiv ist es, an dem der Film erst

seine prismatische Arbeit vollenden kann, die „er am Milieu begonnen hat.“ Das ist

auch der Grund, so Benjamin, weshalb Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin so epo-

chal gewirkt hat, denn dieser Film hat das zum ersten Mal deutlich werden lassen:

275 Vgl., KR3: 499f. Dort steht fast wörtlich das Gleiche.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

„Hier zum erstenmal hat die Massenbewegung den ganz und gar architektoni-schen und doch so gar nicht monumentalen (lies: Ufa-) Charakter, der erst dasRecht ihrer Filmaufnahme beweist. Kein anderes Mittel könnte dieses bewegteKollektivum wiedergeben, vielmehr: kein anderes könnte solche Schönheit noch

der Bewegung des Entsetzens, der Panik in ihm mitteilen.“ (EOS: 753f.).Der Panzerkreuzer Potemkin  ist ein Tendenzfilm, er ist „im Sinne des Kollektivismus“

gemacht, „ideologisch ausbetoniert“ und in allen Einzelheiten richtig „kalkuliert wie ein

Brückenbogen.“ (EOS: 754f.). Diese mit dem Proletariat verbundene Tendenzkunst ist

es, die der Intellektuelle zu verfolgen hat. Denn im Gegensatz zur französischen Revo-

lution, in der sich die „siegreiche Klasse, bevor die Macht ihr zuviel, in jahrzehntenlan-

gen Auseinandersetzugen die Beherrschung des geistigen Apparats sich gesichert“ hatte,

und die „intellektuelle Organisation, die Bildung war längst mit der Ideenwelt des tiersétat durchsetzt und der geistige Emanzipationskampf vor dem politischen durchgefoch-

ten“ war,276 liegt die Sache im nachrevolutionären Rußland ganz anders.

Benjamins Blick auf das nachrevolutionäre Rußland zeigt deutlich, wie man sich die

 Aufgabe des Intellektuellen, der die richtige Tendenz einnimmt, vorzustellen hat.

3.1. Die Aufgabe des Intellektuellen – Die Besetzung des Bildraumes 

In Rußland sahen sich die Intellektuellen einem ungebildeten Proletariat gegenüber und

mußten daher ihre Vorgehensweise diesem Bildungsniveau anpassen. Lenins Armeebe-

fehl für die III. Front trägt diesem Bildungsniveau Rechnung, wenn es in ihm heißt, daß

der Analphabetismus bis 1928 beseitigt sein muß.277 Das Wissen um den Bildungsstand

derer, die aufgeklärt werden sollen, ist von großer Bedeutung für die Intellektuellen, die

durch ihre Aktivität das Bewußtsein dieses Proletariats verändern wollen, sind doch die

Strategien und Formen, um diese Menschen anzusprechen ganz andere als die, wenn

man es mit gebildeten Menschen zu tun hat.

„Mit einem Wort, die russischen Autoren müssen heute schon mit einem neuenund mit einem sehr viel primitiveren Publikum, als die früheren Generationen eskannten, rechnen. Ihre Hauptaufgabe ist, an die Massen heranzukommen. Raffi-

 

276 Walter Benjamin, Neue Dichtung in Rußland, in: GS II.2, 755 – 762, 756.277 Ebd. Die I. Front ist die politische, die II. Front die wirtschaftliche und die III. Front die kulturel-

le.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

nements der Psychologie, der Wortwahl, der Formulierung müssen völlig an die-sem Publikum abprallen.“278 

Dem Aufsatz Der Sürrealismus zufolge stellt sich zunächst die Frage, was zu tun ist. In

 Abgrenzung zu dem Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien formuliert Benjamin:

„ ‚Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen‘ – mit anderen Wor-ten: Dichterische Politik? [...] Denn: was ist das Programm der bürgerlichen Par-teien? Ein schlechtes Frühlingsgedicht. [...] Der Sozialist sieht jene ‚schönere Zu-kunft unserer Kinder und Enkel‘ darin, daß alle handeln, ‚als wären sie Engel‘ undjeder soviel hat, ‚als wäre er reich‘ und jeder so lebt, ‚als wäre er frei‘. Von Engeln,Reichtum und Freiheit keine Spur. Alles nur Bilder. Und der Bilderschatz dieserSozialdemokratischen Vereinsdichter? Ihre ‚Gradus ad parnassum‘? Der Opti-mismus.“ (Sürrealismus: 308).

Benjamin konnte diesen sozialdemokratischen Optimismus nicht teilen, wie die Thesen

Über den Begriff der Geschichte  sehr deutlich zeigen. In diesen Thesen, die allerdings zehn

 Jahre nach dem Sürrealismus -Aufsatz geschrieben sind, tritt Benjamins Kritik an der so-

zialdemokratischen, der kautskyanischen Lesart des Fortschritts deutlich zu Tage. Ben-

jamin war der festen Ansicht, daß wir auch der nur partiellen Fortschritte vor dem

jüngsten Tag uns nicht sicher sein können.279 

 Vielmehr, so die Forderung der Sürrealisten, ist eine Organisierung des Pessimismus

 vonnöten. Auch stellen sie der Sozialdemokratie ein Ultimatum,

„an dem unfehlbar dieser gewissenlose, dieser dilettantische Optimismus Farbebekennen muß: Wo liegen die Voraussetzungen der Revolution? In der Änderung der Gesinnung oder der äußeren Verhältnisse? Das ist die Kardinalfrage, die das

 Verhältnis von Politik und Moral bestimmt und die keine Vertuschung zuläßt.“(Sürrealismus: 308).

Der Sürrealismus, so Benjamin, ist der Beantwortung dieser Frage sehr nahe gekommen:

„Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und durchaus. Mißtrauen in das Ge-schick der Literatur, Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Ge-schick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen undMißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern,zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in die I.G. Farben

278 Ebd.279 Jürgen Habermas, Zwischen Kunst und Politik. Eine Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, in:

Merkur, 26/7, 1972, 856 – 869, 868. Vgl. Thesen: 698 – 701, vor allem These XI und XIII.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe. Aber nun, was dann?“ (Sür-realismus: 308).

Die Frage nach dem „Aber nun, was dann“ beantwortet Benjamin mit dem Verweis auf 

eine Einsicht Aragons, der die Unterscheidung zwischen Vergleich und Bild verlangt.

Benjamin erweitert diese Einsicht Aragons mit der Feststellung, daß nirgends Vergleich

und Bild „so drastisch und unversöhnlich“ wie in der Politik aufeinanderprallen (Sürrea-

lismus: 308f.). Pessimismus organisieren bedeutet nichts anderes, als die „moralische

Metapher aus der Politik herauszubefördern und im Raum des politischen Handelns den

hundertprozentigen Bildraum entdecken.“ (Sürrealismus: 309). Letzterer ist aber kon-

templativ nicht zu ermessen. Daher stellt Benjamin fest, daß die revolutionäre Intelli-

genz von ihrer doppelten Aufgabe, nämlich die intellektuelle Vorherrschaft der Bour-

geois zu stürzen und den Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen, den letz-

ten Teil nicht bewältigt hat, eben weil er kontemplativ nicht zu bewältigen ist. Den Kon-

takt mit den proletarischen Massen gewinnt der Intellektuelle weniger dadurch, daß er

beginnt, „proletarische Kunst“ zu machen, sondern er gewinnt ihn, indem er sich an

 wichtigen Orten des Bildraums, und sei es auf Kosten seines künstlerischen Wirkens, in

Funktion setzt (Sürrealismus: 309). In dem kontemplativ nicht zu ermessenden Bild-

raum, in den der Intellektuelle sich hineinbegeben muß, „sind Distanz und Grenze zwi-

schen Subjekt und Bild aufgehoben, insofern das Subjekt selbst in den Bildraum einge-gangen ist, indem es selbst mit seinem Leib an ihm teilhat.“ 280 Denn, wie Benjamin be-

tont, ist das Eintreten in den Bildraum für den Intellektuellen und sein Wirken nur von

 Vorteil:

„Desto besser werden die Witze, die er erzählt. Und desto besser erzählt er sie.Denn auch im Witz, in der Beschimpfung, im Mißverständnis, überall, wo einHandeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt,

 wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sichauf, die Welt allseitiger und integraler Aktualität, in der die ‚gute Stube‘ ausfällt,der Raum mit einem Wort, in welchem der politische Materialismus und die phy-sische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder was sonst

 wir ihnen vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerechtigkeit, so daß kein Gliedihm unzerissen bleibt, miteinander teilen.“ (Sürrealismus: 309).

280 Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt am

Main 1997, 116.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

In der Welt allseitiger und integraler Aktualität fällt die ‚gute Stube‘ aus. Damit meint

Benjamin die Realität des Intellektuellen, die wenig mit dem Leben der Massen gemein

hat. Erst in diesem Bildraum kann der Intellektuelle den politischen Materialismus und

des jeweils einzelnen Menschen Psyche verstehen.

Der Bildraum ist zugleich Leibraum. Leibhaft wiederum ist das Kollektivum (Sürrea-

lismus: 310). Dieses Kollektivum kann der Intellektuelle aber nur als ein Ganzes sehen

und verstehen, wenn er zuvor die Masse der Individuen des Kollektivs als jeweils Singu-

läres erkannt hat.

In der Technik organisiert sich dem Kollektivum eine Physis, die „nach ihrer ganzen

politischen und sachlichen Wirklichkeit“ ausschließlich in dem Bildraum herstellbar ist,

in welchem wir durch die profane Erleuchtung heimisch werden. (Sürrealismus: 310).

Erst wenn der Bild- und Leibraum in der profanen Erleuchtung sich gegenseitig so tief 

durchdringen,

„daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichenInnervationen des Kollektivs revolutionäre Entladungen werden, hat die Wirk-lichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das kommunistische Manifest es for-dert.“ (Sürrealismus: 310).

Die Physis, die sich dem Kollektivum in der Technik organisiert, ist von dem Handeln

des revolutionären Intellektuellen im Bildraum abhängig. Erst er kann – wie sich im Verlauf der nächsten Kapitel zeigen wird – durch die richtige Indienstnahme der ver-

schiedenen Techniken, wie Film und Photographie, aber auch episches Theater, Flug-

blätter, Zeitschriften und Zeitungen, dem Proletariat beim Auffinden des „Schlüssels

zum Glück“ behilflich sein, ihnen aus ihrer Entfremdung heraushelfen.

Eins darf in diesem Zusammenhang nie vergessen werden: Die Solidarität des Intel-

lektuellen mit dem Proletariat kann immer nur eine vermittelte sein, denn selbst „die

Proletarisierung des Intellektuellen [macht] fast niemals einen Proletarier“, weil die Bür-

gerklasse dem Intellektuellen „in Gestalt der Bildung ein Produktionsmittel mitgab, das

ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr, und noch mehr sie mit ihm solidarisch

macht.“ (AAP: 700). Daher erscheint der revolutionäre Intellektuelle als Verräter seiner

Ursprungsklasse. Der Verrat des Intellektuellen besteht darin, daß sein Verhalten ihn

aus einem Belieferer des bürgerlichen Produktionsapparates „zu einem Ingenieur macht,

der seine Aufgabe darin erblickt, diesen den Zwecken einer proletarischen Revolution

anzupassen.“ (AAP: 701).

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

  Wie ist diese Aufgabe zu bewerkstelligen, wie ist der Bildraum zu besetzen, also das

Proletariat zu erreichen? Für diese Fragestellung ist Benjamins Differenzierung zwischen

dem informierenden und dem operierenden Schriftsteller hilfreich.

3.1.1. Operierender Schriftsteller 

Sergej Tretakow ist für Benjamin ein gutes Beispiel eines „operierenden Schriftstellers“.

Der „operierende Schriftsteller“ ist das „handgreiflichste Beispiel für die funktionale

 Abhängigkeit, in der die richtige politische Tendenz und die fortschrittliche literarische

 Technik immer und unter allen Umständen stehen.“ (AAP 686).

 Tretjakow war ein russischer Schriftsteller, der der Parole „Schriftsteller in die Kol-

chose“ während der Zeit der Kollektivisierung der Landwirtschaft in Rußland folgte und

in der Kolchose „Kommunistischer Leuchtturm“ während zweier längerer Aufenthalte

folgende Tätigkeiten übernahm:

„Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; In-spektion von Lesesälen; Schaffung von Wandzeitungen und Leitung der KolchosZeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und

 Wanderkinos usw.“ (AAP:686f.). Aufgrund Tretjakows reichlicher Erfahrung ist es auch nicht verwunderlich, daß sein

Buch Feld-Herrn , das er in Anschluß an seine Tätigkeit in der Kolchose geschrieben hat,

„von erheblichen Einfluß auf die weitere Durchbildung der Kollektivwirtschaften gewe-

sen sein soll.“ (AAP: 687). Dieses Beispiel Tretjakows hat Benjamin deswegen gewählt,

 weil es schön veranschaulicht, wie vielfältig die Aufgaben der Intellektuellen sind in der

einen gewaltigen Aufgabe, nämlich die des Eroberns des Bildraumes, um somit dem

Proletariat behilflich zu sein bei der richtigen Anwendung des „Schlüssels zumGlück.“281 

Der informierende Schriftsteller hingegen berichtet nur und spielt immer nur den

Zuschauer, er ist daher nicht in der Lage, wie der operierende Schriftsteller aktiv in das

Geschehen einzugreifen, zu kämpfen (AAP: 686).

281 Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus, 250. Vgl. in dieser Arbeit: V: Die visuellen

Medien in Benjamins Gesellschaftstheorie, 75.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Um kämpfen zu können, aktiv einzugreifen, müssen die Instrumente der Intellektuellen

andere werden. Nicht überall gibt es Kolchosen, auf denen sie aktiv werden können.

  Vor allem in Westeuropa waren die Intellektuellen doch sehr auf das Medium der

Schrift angewiesen, um die breite Masse zu erreichen. Daher gilt es auf die literarische

  Wirksamkeit des Geschriebenen zu achten. Diese kann aber nur in einem „strengen

 Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen.“ (Einbahnstraße: 85). Anstatt der

universalen Geste des Buches, so Benjamin, gelte es die unscheinbaren Formen, die dem

Einfluß der literarischen Wirksamkeit in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen,

  wie Flugblätter, Broschüren, Zeitschriftenarktikel und Plakate, auszubilden (Einbahn-

straße: 85). Diese Medien sind – im Gegensatz zum Buch – „prompt“, und nur sie sind

gegenüber aktuellen Tagesthemen wirksam. Denn

„Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl fürMaschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschi-nenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die mankennen muß.“ (Einbahnstraße: 85).

Daß dazu die Intellektuellen in der Lage sind, dessen ist Benjamin sich sicher:

„In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ‚kann‘. In der Im-provisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken

Hand geführt werden.“ (Einbahnstraße: 89). Wiederum anhand von Sergej Tretjakow macht Benjamin deutlich, daß man die schrift-

stellerischen Aktivitäten in der „heutigen Lage“ anhand der technischen Gegebenheiten

umdenken muß, um zu den richtigen Formen des Ausdrucks zu kommen. Das ist daher

notwendig, da ein Umschmelzungsprozeß literarischer Formen sich gerade vollzieht, „in

dem viele Gegensätze, in welchen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verlie-

ren könnten.“ (AAP: 687). Um zu zeigen, daß diese Gegensätze unfruchtbar sind, auch

für den Prozeß ihrer dialektischen Überwindung, führt Benjamin das Beispiel der Zei-tung an. Die Zeitung ist der Ort, an dem Politik und Bildung, Wissenschaft und Bellet-

ristik, Kritik und Produktion beziehungslos und ungeordnet zueinander zu finden sind.

Dieser inhaltlichen Verwirrung versagt sich jede andere Organisationsform, da alle ande-

ren Organisationsformen sich der Haltung des Lesers verweigern. Diese Haltung ist die

der Ungeduld. Diese Ungeduld des Zeitungslesers ist nicht allein die des Politikers oder

die des Spekulanten, sondern vor allem die des „normalen Lesers“, der sich ausgeschlos-

sen fühlt, jedoch der Ansicht ist, ein Recht zu haben, selbst zu Wort zu kommen. Dem

tragen die Zeitungen Rechnung, indem sie neue Sparten eröffnen, die für die Meinun-

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

gen, Fragen und Proteste der Leser vorgesehen sind. Somit geht der wahllosen Samm-

lung von Fakten die wahllose Assimilation von – sich zu Mitarbeitern erhoben sehenden

 – Lesern einher. „Darin aber verbirgt sich ein dialektisches Moment: der Untergang des

Schrifttums in der bürgerlichen Presse erweist sich als die Formel seiner Wiederherstel-

lung in der sowjetrussischen.“ (AAP: 688). Aufgrund der Tatsache, daß das Geschriebe-

ne, was es an Tiefe verliert an Breite gewinnt, beginnt die Unterscheidung zwischen

 Autor und Publikum in der Sowjetpresse zu fallen. Diese Unterscheidung wurde in der

bürgerlichen Presse auf „konventionelle Art“ aufrechtrerhalten. In der Sowjetpresse

kann somit jeder Lesende zum Schreibenden werden, als „Beschreibender oder auch als

 Vorschreibender.“ Somit kann jeder Arbeiter als Sachverständiger Wort ergreifen.

„Die Arbeit selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befug-nis wird nicht mehr in spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet und so Gemeingut.“ (AAP: 688).

Es ist also die Literarisierung der Lebensverhältnisse, die der Antinomien Herr wird,

und die Zeitung, nach Benjamin der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des

 Wortes, wird der Ort „auf welchem seine Rettung sich vorbereitet.“ (AAP: 688).

 Von diesem Prozeß der Verschmelzung von Autor und Publikum ist man in Westeu-

ropa noch weit entfernt. Hier ist die Zeitung noch kein taugliches Produktionsinstru-ment des Schriftstellers, da sie noch in den Händen des Kapitals liegt. Insofern kann das

eben Dargestellte zwar als Richtlinie für den westeuropäischen Schriftsteller dienen,

anwenden kann er sie aber erst, nachdem die Zeitungen dem Kapital aus den Händen

gerissen sind.

Daraus ergeben sich gravierende Unterschiede für die Haltung und für die Aktivität

russischer und westeuropäischer Schriftsteller. Benjamin macht das in einem Aufsatz

über Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller sehr deutlich. Der erste und bedeu-

tendste Unterschied zwischen sowjetrussischen und westeuropäischen Schriftstellern ist

die „absolute Öffentlichkeit“ des Wirkens des sowjetrussischen Autors.282 Diese „abso-

lute Öffentlichkeit“ bewirkt zum einen, daß die Wirksamkeit des Geschriebenen un-

gleich größer ist als die des westeuropäischen Autors, doch gleichzeitig unterliegt er

auch einer viel größeren und strengeren Kontrolle. Diese Kontrolle findet durch die

282 Walter Benjamin, Die politische Gruppierung russischer Schriftsteller, in: GS II.2, 743 – 747, 743.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Presse, das Publikum und die Partei statt und ist eine politische. Daher ist es für den

sowjetrussischen Autor eine Lebensfrage Farbe zu bekennen.283 Vor allem ist dies im

Gegensatz zur bürgerlichen Öffentlichkeit zu sehen. Diese schloß zwar einen großen

 Teil der Gesellschaft aus, insbesondere Lohnempfänger und vergleichbare gesellschaftli-

che Gruppen, jedoch ist in ihr die Kontrolle eine nicht so strenge wie in der absoluten

Öffentlichkeit. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist die strikte Trennung zwischen

Privatem und Öffentlichem,284

die in der absoluten Öffentlichkeit nicht mehr gegeben

ist, denn in ihr ist die Kontrolle allgegenwärtig.

Da diese politische Kontrolle, vor allem die durch die Partei, der Kontrolle gleicht,

„wie vor Jahrhunderten die Produktion eines Autors zu der Gesinnung seines fürstli-

chen Mäzens“, haben sich aus diesen Bedingungen politische Gruppierungen der

Schriftsteller entwickelt, die über Autorität verfügen, wie zum Beispiel „WAPP, der all-

russische Verband proletarischer Schriftsteller.“285 Der WAPP steht auf dem Stand-

punkt, daß das Proletariat durch die Eroberung der politischen Macht den Anspruch auf 

die intellektuelle und künstlerische Hegemonie gewonnen hat. Darunter leidet durchaus

die Qualität der künstlerischen Produkte. Doch ist das nicht entscheidend, denn es gibt

 Augenblicke,

„in denen die Dinge und Gedanken gewogen werden und nicht gezählt. Aber

nicht weniger – wenn auch weniger beachtet – gibt es solche, in denen gezählt wird und nicht gewogen. Rußlands Literatur ist zur Zeit – und das von Rechts wegen – ein größerer Gegenstand für Statistiker als für Ästhetiker.“286 

Die Alphabetisierung der russischen Bevölkerung ist erstes Ziel. Daher schließt Benja-

min:

„Die beste russische Literatur kann darum, wenn sie ist, was sie sein soll, nur dasfarbige Bild in der Fibel sein, aus der die Bauern im Schatten Lenins lesen ler-

nen.“

287

 Die dialektische Überwindung der Antinomie Autor und Leser, wie oben anhand des

Beispiels der russischen Zeitung dargestellt, findet Benjamin auch im russischen Film

283 Ebd.284 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der

bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 51996, 135f., 268f.285 Walter Benjamin, Die politische Gruppierung russischer Schriftsteller, 742.286 Ebd.,746f.

287 Ebd., 747.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 wieder. Wie die Zeitungsleser seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr selbst unter

die Schreibenden gerieten, so hat jeder Mensch „einen Anspruch gefilmt zu werden.“

(KR2: 371). Wie also jeder Lesende zum Schreibenden werden konnte, so kann im Film

jeder Zuschauer Darsteller werden. In der Praxis des Films, vor allem des russischen,

„ist diese Verschiebung teilweise bereits verwirklicht worden. Ein Teil der im russischen

Film begegnenden Darsteller sind nicht Darsteller in unserem Sinn, sondern Leute, die

sich – und zwar in erster Linie in ihrem Arbeitsprozeß – darstellen.“ (KR2: 372). Im

 Westen verbietet sich diese Form der Darstellung wiederum – wie schon im Fall der

Zeitung – durch die kapitalistische Ausbeutung des Films. Die Expropriation beider

Medien aus den Händen des Kapitalismus in Westeuropa ist daher Voraussetzung für

ihren revolutionären Einsatz durch die Intellektuellen. Doch wie sollten sich die Intel-

lektuellen unter den gegebenen Eigentumsverhältnissen der Produktionsmittel verhal-

ten? Daß es einen Handlungsbedarf gab, das bekamen viele Intellektuelle, nicht zuletzt

Benjamin selbst, am eigenen Leib zu spüren; letztlich durch die schleichende Macht-

übernahme der Nationalsozialisten. Besonders seit dem Staatsstreich Papens in Preußen

am 20. Juli 1932, verschlossen sich die Arbeitsmöglichkeiten Benjamins mehr und

mehr.288 

In Deutschland war es der Faschismus, der es bewirkte, daß viele Schriftsteller keine

  Aufträge mehr bekamen, vor allem betraf dies natürlich Juden und Oppositionelle.Doch auch schon vor dem Aufkommen des Faschismus gab es Widersprüche in dem

 Verhältnis von Intellektuellen und Gesellschaft, die sich in der Weimarer Republik auch

zu materiellen Problemen verdichteten. Das Bürgertum sah in der gescheiterten Revolu-

tion von 1848 in der Kunst das Potential, die von der Gesellschaft unterdrückten Mög-

lichkeiten aufbewahrt zu sehen. Die bürgerlichen Intellektuellen wurden durch diesen

 Widerspruch zur Kritik an der Gesellschaft gedrängt.289 Jedoch wurden diese Intellektu-

ellen nicht durch ihre materielle Lage dazu genötigt, „die Hebel der Veränderung der

Gesellschaft in dieser selbst und in ihrer Geschichte zu suchen. So konnte sie in dem

288 Bernd Witte, Walter Benjamin, Hamburg 61997, 98. Einzig die Vossische Zeitung und die Frankfurter Zeitung , letztere sogar bis 1935, veröffentlichten unter wechselnden Pseudonymen noch Rezensio-nen und Kurzprosa Benjamins. Ebd., 101. Vgl., den Brief Benjamins an Scholem vom 20. Juli1931: „Denn das kommt dazu. Daß Du nur eine unvollkommene Vorstellung von den gesell-schaftlichen und politischen Verhältnissen haben kannst, unter denen hier gearbeitet wird. Garnicht zu reden von den materiellen, die meine Existenz – ohne irgend ein Vermögen, ohne irgendein festes Einkommen – mit der Zeit zum Paradoxon gemacht haben, vor dessen Anblick ichmanchmal selber in einen stupor des Staunens versinke.“ Briefe: 535.

289 Helmut Lethen, Zur materialistischen Kunsttheorie, 229.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

  Widerspruch verharren: der Gesinnung nach die Gesellschaft abzulehnen, von deren

Macht sie doch geblendet war.“290 In der Weimarer Republik hingegen wurden die kriti-

schen Intellektuellen durch ihre materielle Lage, d.h. durch ihre Proletarisierung, ge-

zwungen, den Hebel der Veränderung in der Gesellschaft zu suchen. Das hatte zur Fol-

ge, daß sich das Publikum in seiner Zusammensetzung grundlegend änderte. Somit

mußte auf das traditionelle Publikum der Avantgarde, die Großbourgeoisie,291 verzichtet

 werden, „dessen Bedürfnisse zu befriedigen sich mit ihrer [der kritische Intellektuellen]

besseren Einsicht nicht mehr vereinbaren ließ.“292

Anstatt also die Großbourgeoisie, der

„saturierten Schicht, der alles, was ihre Hand berührt, zu Reizen wird“ als Publikum zu

haben (AAP: 697), ist es nun die proletarische Masse, die „ohne Grund nicht denkt.“

(WET: 522). Für den Intellektuellen heißt es also Abschied nehmen von der Einsamkeit,

die von den Intellektuellen zur „Conditio humaine“ des Menschenstandes erhoben

 wurde. Doch damit

„verbaut er sich den Blick auf die ganz anderen, im höchsten Grad des Studiums  würdigen Bedingungen, aus denen die revolutionäre Massenaktion hervorgeht.Die Masse hat andere Bedürfnisse, und andere Reaktionen entsprechen ihr, dieprimitiv nur primitiven Psychologen zu scheinen pflegen.“293 

Das heißt also, wie weiter oben schon festgestellt, daß die Intellektuellen den Bildraum

zu besetzen haben, um das Proletariat – seinen Bedürfnissen entsprechend – anzuspre-chen, d. h. die revolutionären Intellektuellen müssen ihre Mittel und die Form ihrer

Einwirkung auf das Proletariat dem Stand der Entwicklung der Anzusprechenden und

die dazu benutzten technischen Produktionsmittel genauestens aufeinander abstimmen,

um ein bestmögliches Resultat zu erzielen.

3.1.2. Routinier – revolutionärer Schriftsteller 

In den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas gibt es zwei Typen von

Intellektuellen. Den einen Typus bezeichnet Benjamin als „Routinier“. Ihn definiert

Benjamin

290 Peter Furth, Rezension von Georg Lukács Theorie des Romans , in: Das Argument 26, 1963, 52.291 Walter Benjamin, Zum gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, in: GS II.2,

776 – 803, 798f.292 Ebd., 801f.

293 Ebd., 801.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

„als den Mann, der grundsätzlich darauf verzichtet, den Produktionsapparat zu-gunsten des Sozialismus der herrschenden Klasse durch Verbesserungen zu ent-fremden.“ (AAP: 692).

Für die Veränderung von Produktionsformen und Produktionsinstrumenten „im Sinne

einer fortschrittlichen – daher an der Befreiung der Produktionsmittel interessierten,

daher im Klassenkampf dienlichen Intelligenz“ prägte Brecht den Begriff der Umfunk-

tionierung (AAP: 691). Brecht war der erste, der von der Intelligenz forderte, nicht den

Produktionsapparat zu beliefern, wenn das „gelieferte“ nicht im Sinne des Sozialismus

den belieferten Produktionsapparat verändert. Benjamin führt im Anschluß daran aus,

daß selbst den Produktionsapparat mit revolutionären Stoffen zu beliefern, wenn dieses

nicht auf eine Veränderung des Apparats hinausläuft, ein höchst anfechtbares Verfahren

darstellt, da

„der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen vonrevolutionären Themen assimilieren, ja propagieren kann, ohne damit seinen eige-nen Bestand und den Bestand der besitzenden Klasse ernstlich in Frage zu stellen.Dies bleibt jedenfalls solange richtig, als er von Routiniers, seien es auch revoluti-onäre Routiniers beliefert wird.“ (AAP: 692).

Folglich läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß der Intellektuelle, der die richtige politi-

sche Tendenz eingenommen hat, auch immer darauf zu achten hat, den Produktionsap-

parat mit solchen Stoffen zu beliefern, die darauf abzielen, ihn im Sinne des Sozialismus

zu verändern. Diese Forderung Benjamins und Brechts ist demgemäß nichts mehr als

eine erweiterte Lesart der elften Feuerbachthese von Karl Marx:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert , es kömmt darauf an, sie zu verändern .“294 

Die Welt zu verändern, das ist also die Aufgabe der Intellektuellen. Das Objekt des Er-

kennens und Handelns dieser Veränderung ist das Proletariat, das dadurch selbst zumSubjekt des Handelns, letzlich also der revolutionären Tat, werden kann.

  Am Beispiel der Photographie macht Benjamin deutlich, daß selbst revolutionäre

  Techniken bald vom bürgerlichen Produktionsapparat derart assimiliert sind, daß sie

nicht mehr in der Lage sind, auf ihn verändernd einzuwirken. So hat sich am Anfang der

Photographie vieles vom revolutionären Gehalt des Dadaismus in die Montagetechnik 

294 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, 5 – 7, 7.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

der Photographie gerettet.295 Die neue Technik der Photographie in Verbund mit der

 Technik der Dadaisten hat es Künstlern ermöglicht, z. B. „den Buchdeckel zum politi-

schen Instrument zu machen.“ (AAP: 993). Allerdings wurde auch die Photographie

immer nuancierter und moderner. Das Ergebnis daraus ist eindeutig. Die neue Technik 

der Photographie wurde vom bürgerlichen Produktionsapparat assimiliert, mit der Fol-

ge, daß

„sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen, mehr photographieren kann, ohneihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk o-der eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön.“ (AAP:693).

Die neue Technik wird so zum Mittel, noch die Orte des Elends zu Orten ästhetischen

Genusses zu machen. Die Exploitateure zeigen den Exploitierten mit Hilfe der neuen

 Technik, wie schön die Welt ist. Auch werden die Massen Dinge zugeführt, deren Kon-

sum sich früher ihnen entzogen hatte. Der Frühling, Prominente, fremde Länder wer-

den nun durch modische Verarbeitung den Massen zugeführt. Das ist die ökonomische

Funktion der neuen Technik in den Händen der Bourgeoisie. Eine ihrer politischen

Funktionen ist es, „die Welt wie sie nun einmal ist, von innen her – mit anderen Wor-

ten: modisch – zu erneuern.“ (AAP: 693).

Das nennt Benjamin ein drastisches Beispiel dafür, „was es heißt: einen Produktions-apparat zu beliefern, ohne ihn zu verändern.“ (AAP: 693). Verändern würde bedeuten,

 wiederum von neuem eine der Schranken und Gegensätze zu überwinden, die die Pro-

duktion der Intelligenz fesselt. Diese Schranke, die es zu überwinden gilt, ist diejenige

zwischen Bild und Schrift. Das besondere an der Beschriftung von Bildern betont Ben-

jamin auch im Kunstwerkaufsatz im Zusammenhang mit dem Photographen Atget. Zur

politischen Bedeutung der Beschriftung von Photographien heißt es dort:

„Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget Beweisstücke im histori-schen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus.Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwe-bende Kontemplation nicht mehr angemessen. [...] Wegweiser beginnen ihm [demBetrachter] gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder fal-sche – gleichviel. In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat gewor-den.“ (KR2: 361).

295 Zum Dadaismus: Kapitel II.5.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Daher verlangt Benjamin in Der Autor als Produzent  auch von den Photographen, den

Photographien solche Beschriftungen zu geben, daß diese die Photographie dem modi-

schen Verschleiß entreißt und der Aufnahme den revolutionären Gebrauchswert ver-

leiht. Nachdrücklich stellt er diese Forderung auch an photographierende Schriftsteller,

 womit sich der technische Fortschritt wiederum als Grundlage für den politischen zeigt,

 wie sich im folgenden noch deutlicher zeigen wird.

In der nächsten Stufe der technischen Entwicklung, dem Film, werden diese Weg-

 weiser noch entscheidender, noch unausweichlicher, was den Film somit als politisches

Intrumentarium noch geeigneter macht.

„Die Direktiven, die der Betrachter von Bildern in der illustrierten Zeitschriftdurch die Beschriftung erhält, werden bald darauf noch präziser und gebieteri-

scher im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge aller vorangegangenen erscheint.“ (KR2: 361).

Im Film ist dementsprechend die Interpretation der aufgestellten „Wegweiser“ viel stär-

ker eingeschränkt als bei den Photographien. Heißt es bei letzteren über die Wegweiser

noch „richtige oder falsche – gleichviel“, so ist im Film die Auffassung jedes einzelnen

Bildes vorgegeben durch „die Folge aller vorangegangenen“. Somit ist einzig das erste

Bild des Films der Interpretation durch den Betrachter freigegeben. Alle dem ersten Bild

nachfolgenden Bilder werden immer stärker durch die vorhergehenden Bilder in ihrerInterpretation eingeschränkt. Das beruht einzig auf der mathematischen Folge des

Films: Film = n1 + n2 + n3 + n4 + n5 ... + n∞.296 Aus dieser Folge wird besonders gut

deutlich, daß das erste Bild frei ist von irgendwelchen Einflüssen vorheriger Bilder, die

darauffolgenden aber jeweils durch n + 1 Bilder bestimmt sind.297 

Dies sind für Benjamin Beispiele dafür, was es heißt, den Produktionsapparat verän-

dernd zu beliefern. Dem Intellektuellen sind damit Mittel an die Hand gegeben, die mo-

dischen Veränderungen jeweils zu unterlaufen und die visuellen Medien so einzusetzen,daß sie jeweils und jederzeit ihre Fähigkeit, den bürgerlichen Produktionsapparat zu

  verändern, beibehalten. Somit ist Benjamins Aussage, für die Intellektuellen, die der

richtigen Tendenz folgen, daß der technische Fortschritt Grundlage für seinen politi-

296 n = Bild. Das + stellt hier natürlich kein addieren im Sinne von dazuzählen, sondern eine zeitlich Abfolge dar. Mit n∞ ist das letzte Bild eines Films gemeint.

297 Natürlich kann das erste Bild des Films schon durch Musik oder einen Sprecher bzw. Untertitel

beeinflußt werden.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

schen Fortschritt ist, erst richtig zu verstehen. Denn es sind erst die visuellen Medien,

die den Intellektuellen die technischen Mittel zur Hand geben, welche ihnen erlauben,

der bürgerlichen Produktion immer einen Schritt voraus zu sein (AAP: 693).

Eine weitere Forderung Benjamins ist, die geistigen Kompetenzschranken des ein-

zelnen Intellektuellen zu überwinden. Der Schriftsteller muß dem Medium der Photo-

graphie und des Films sich öffnen, und umgekehrt der Photograph und Filmemacher

sich dem Medium der Schrift.

„Mit anderen Worten: erst die Überwindung jener Kompetenzen im Prozeß dergeistigen Produktion, welche, der bürgerlichen Auffassung zufolge, dessen Ord-nung bilden, macht diese Produktion politisch tauglich.“(AAP: 693).

Modern formuliert müßte es folglich heißen: Die Produktion der Intellektuellen wird

erst dann als politisches Instrument tauglich, wenn die Intellektuellen interdisziplinär

arbeiten.

Die Überwindung der bürgerlichen Ordnung führt dazu, daß sie politisch tauglich

 wird. Die Kompetenzschranken waren von der bürgerlichen Gesellschaft errichtet wor-

den, um diese Art der politischen Produktion zu unterbinden. So erfahren die revolutio-

nären Intellektuellen erst in ihrer Solidarität mit dem Proletariat und anderen Intellektu-

ellen von den politischen Möglichkeiten der von ihnen genutzten Medien (AAP: 693f.).

 Als zusätzliches Beispiel führt Benjamin noch die Zusammenarbeit zwischen Eisler undBrecht in dem Stück  Die Maßnahme  an.298 Benjamin zitiert in diesem Zusammenhang 

Eisler:

„man muß sich hüten, die Orchestermusik zu überschätzen und sie für die einzig hohe Kunst zu halten. Musik ohne Worte hat ihre große Bedeutung erst im Kapi-talismus erhalten.“ (AAP: 694).

Mit anderen Worten bedeutet das, daß das Konzert nur verändernd Wirken kann, wenn

es sich des Wortes bedient. Nur die Mitwirkung des Wortes ist es, die ein Konzert zueinem „politischen Meeting“ befördern kann. Es ist also auch hier, wie schon im Zu-

sammenhang mit der Beschriftung der Photographien, die Literarisierung der Lebens-

  verhältnisse, im Fall des Films das Aufstellen von Wegweisern in allen erdenklichen

Formen der künstlerischen Produktion, die verhindern kann, daß der bürgerliche Pro-

 

298 Bertolt Brecht, Die Maßnahme, in: Bertolt Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 1,

Frankfurt am Main 1997, 319 – 346.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

duktionsapparat es assimiliert, und die es ermöglicht, revolutionär im Sinne des Sozia-

lismus zu wirken.

Somit wird der Intellektuelle, der der richtigen Tendenz mit den richtigen Mitteln folgt,

niemals nur an seinen Produkten, sondern immer zugleich an den Mitteln der Produkti-

on arbeiten, d. h. seine Produkte müssen „neben ihrem Werkcharakter eine organisie-

rende Funktion haben.“ (AAP: 696). Nur der richtigen Tendenz zu folgen ist nicht aus-

reichend, sie muß gleichzeitig die Haltung vormachen, in der man ihr zu folgen hat.

  Jedoch ist die Tendenz nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um

den Werken der Intellektuellen eine organisierende Funktion zu verleihen. Hinreichend

 wird die richtige Tendenz erst dann, wenn die Intellektuellen ein „anweisendes, unter-

 weisendes Verhalten“ in ihr Werk einfügen (AAP: 696). Die Aufgabe muß also lauten,

daß ein jedes Werk eines Intellektuellen, der die richtige Tendenz verfolgt, über einen

Modellcharakter der Produktion verfügt, so daß andere davon lernen können, selbst die

Dinge besser zu machen. Zweitens soll es anderen einen verbesserten Apparat zur Ver-

fügung stellen. „Der Apparat ist umso besser, je mehr er Konsumenten der Produktion

zuführt, kurz aus Lesern oder Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist.“ (AAP:

696).

Benjamin ist der Meinung, daß es zu seiner Zeit schon ein derartiges Modell gibt, das

alle eben genannten Bedingungen erfüllt: Das epische Theater Brechts.Brechts episches Theater findet sich häufig in Benjamins Schriften, und zwar hat es im-

mer eine Vorbildfunktion in der Hinsicht, wie Kunst verändernd wirken kann, d. h. was

der Intellektuelle zu berücksichtigen hat, sei es, er ist Schriftsteller, Dichter, Photograph,

oder Drehbuchautor bzw. Regisseur eines Films.

3.2. Das epische Theater – Benjamin und Brecht 

Das epische Theater Brechts entspricht in seiner Konzeption allen Anforderungen, die

Benjamin von revolutionären Intellektuellen und deren Indienstnahme der verschiede-

nen Medien erwartet Vor allem ist es eng verbunden mit den visuellen Medien, was ja

im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit von großer Bedeutung ist.

„Die Formen des epischen Theaters entsprechen den neuen technischen Formen,dem Kino sowie dem Rundfunk. Es steht auf der Höhe der Technik.“(WET: 524).

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

In diesem Zusammenhang muß auch noch auf folgende Briefstelle Benjamins hingewie-

sen werden, in der Benjamin mit Brechts Werk und Position sich einverstanden er-

klärt.299 So schreibt Benjamin in einem Brief vom 20. Oktober 1933, daß

„mein Eingeständnis mit der Produktion von Brecht einen der wichtigsten, undbewehrtesten, Punkte meiner gesamten Position darstellt.“300 

  Wie Benjamin betont Brecht die Notwendigkeit, daß die Produzenten die Apparate

nicht beliefern, sondern verändern sollen, sie sollen die Distributionsapparate zu Kom-

munikationsapparaten machen und die Rezipienten zu Produzenten organiseren. Eben-

so wie Benjamin stellt Brecht fest, daß in der bürgerlichen Kulturproduktion der Dich-

ter nicht mehr seine Kunstwerke frei auf dem Markt anbietet, sondern daß er zu realisie-

rende Aufträge bekommt.

301

 

3.2.1. Die Funktionsweise des epischen Theaters und sein Modellcharakter für den Film 

Das epische Theater stößt im „Anschauungsunterricht“ der Bühne Verstehensprozesse

bei Zuschauern und Schauspielern an.302 Die Aufgabe dabei ist, die „vermeintlich natür-

lichen Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen als gesellschaftlich geschaffene in ihren

Spannungen zu zeigen und der Beurteilung und Kritik zugänglich zu machen.“303

BertoltBrecht formuliert diesen Sachverhalt so:

„Die theatralischen Künste stehen vor der Aufgabe, eine neue Form der Über-mittlung des Kunstwerks an den Zuschauer auszugestalten. Sie müssen ihr Mono-pol auf die keinen Widerspruch und keine Kritik duldende Führung des Zuschau-ers aufgeben und Darstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Men-schen anstreben, die dem Zuschauer eine kritische, eventuell widersprechendeHaltung sowohl den dargestellten Vorgängen, als auch der Darstellung gegenüber

ermöglichen, ja organisieren.“

304

 

299 Darauf weise ich deswegen hin, weil von vielen Seiten, seien es Adorno und Scholem, seien es die vielen Adorno-Exegeten, Benjamin mehr oder minder geistige Umnachtung in seinem Verhältniszu Brecht unterstellt wird.

300 Briefe, 594.301 Burkhardt Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno, 22.302 Bertolt Brecht, Der Weg zum zeitgenössischen Theater 1927 – 1931, in: Bertolt Brecht, Gesam-

melte Werke in 20 Bänden, Bd. 15, Frankfurt am Main 1967, 125 – 227, 207f.303 Helmut Fahrenbach, Brecht zur Einführung, Hamburg 1986, 57.

304 Bertolt Brecht, Kritik der Einfühlung, in: Werke 15, 240 – 251, 245.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

Das epische Theater tritt in einer speziellen historischen Situation auf, in der die gesell-

schaftlichen Verhältnisse für den einzelnen nicht mehr zu durchschauen sind und die

 Welt sich immerfort rapide ändert. Daher sind die Vorstellungen des einzelnen „vom

Zusammenleben der Menschen schief, ungenau und widersprechend, sein Bild ist es,

 was man unpraktikabel nennen könnte.“305 Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Reali-

tät an der Oberfläche des Alltags als bekannt und gewohnt erlebt und wird somit als

etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Jedoch sind es die Erfahrungen von Kon-

flikten und Widersprüchen in eben dieser Alltagsrealität, die das Verlangen wecken, die-

se Welt zu verändern. Das Erkenntnisinteresse der Menschen wird durch die Konflikte

und Widersprüche erweckt, was dazu führt, daß das Selbstverständliche immer wieder

problematisiert wird, um somit zu einer Erkenntnis zu kommen, die die Möglichkeiten

einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zuläßt.306 Entscheidend dafür, daß

Benjamin das epische Theater als modellhaft darstellen kann, ist die Konvergenz der

Einsichten von ihm und Brecht in die Zusammenhänge und Voraussetzung dessen, was

eine künstlerische Produktion leisten soll und wie sie es leisten soll. Zum einem stim-

men beide darin überein, daß die neuen Techniken und Medien der Kunstproduktion,

-reproduktion und –rezeption, die mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Pro-

duktivkräfte aufkommen, von einem Funktions- und Strukturwandel der Kunst begleitet

 werden. Beide „interpretieren diesen Prozeß als Ablösung der Kunst von ihrem religiös-kultischen Traditionszusammenhang und ihrer rituellen Fundierung und als Eröffnung 

einer neuen sozialen Kunst.“307 Für Benjamin geht dieser Funktionswandel – wie oben

dargestellt – mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, und allen damit

 verbundenen Folgen einher, und auch Brecht sieht das ähnlich, wenn er sagt, daß die

technische Apparatur des Films „wie sonst kaum etwas zur Überwindung der alten un-

technischen, antitechnischen, mit dem Religiösen verknüpften ‚ausstrahlenden Kunst‘

 verwendet werden“ könne.

308

  Wie Benjamin schon im Fall der Autoren bemängelt, die sich im Besitz eines Produk-

tionsapparates wähnen, obwohl dieser sie „besitzt“, stellt er das gleiche für das Theater

fest. Scheinbar, so Benjamin steht den Schauspielern ein „altbewährter Bühnenapparat“

zur Verfügung, in der Realität ist es aber ein hinfälliger (WET: 519). Denn der altbe-

 

305 Bertolt Brecht, Das epische Theater, in: Werke 15, 262 – 316, 295.306 Helmut Fahrenbach, Brecht, 58f.; vgl. Bertolt Brecht, ebd, 315.307 Ebd., 94.

308 Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß, in: Werke, 18, 139 – 209, 158.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 währte Theaterapparat assimiliert auch Stücke des politischen Theaters, die der Tendenz

nach richtig gewesen sein können, jedoch in ihrer Technik und organisierenden, anwei-

senden Funktion hinter den Forderungen Benjamins zurückgeblieben sind. Gesell-

schaftlich beförderte das politische Theater „nur das Einrücken der Massen in eben die

Position, die der Theaterapparat für die Bürgerlichen geschaffen hatte.“ (WET: 519f.).

Das epische Theater berücksichtigt den Funktionszusammenhang zwischen Text und

  Aufführung, Publikum und Bühne, Regisseur und Schauspieler. Auch bekommt das

Publikum beim epischen Theater eine völlig neue Funktion. Es ist nicht mehr nur passi-

 ver Zuschauer einer Aufführung, sondern „eine Versammlung von Interessenten, deren

 Anforderung sie [die Aufführung] zu genügen hat.“ (WET: 520).

Die Funktionsweise des epischen Theaters ist von Bedeutung, weil sie, wie Benjamin

feststellt, überraschend große Übereinstimmungen mit der des Films aufzeigt.

Ein wichtiges Merkmal des epischen Theaters ist, daß es „gestisch ist.“ (WET: 521).

Es ist eine der wesentlichen Leistungen des epischen Theaters, Gesten zitierbar zu ma-

chen. Die Geste ist Material des epischen Theaters und hat gegenüber „den durchaus

trügerischen Äußerungen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenüber

der Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der anderen Seite“

zwei Vorteile (WET: 521). Sie ist nur in gewissen Grade verfälschbar, umso weniger, je

gewohnheitsmäßiger und unauffälliger sie ist, und zweitens hat sie, im Unterschied zuden Aktionen der Leute, einen eindeutigen Anfang und ein eindeutiges Ende.

„Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, diedoch als ganze in lebendigen Fluß sich befindet, ist sogar eines der dialektischenGrundphänomene der Geste.“ (WET: 521).

Daraus folgert Benjamin, daß man um so mehr Gesten erhält, je öfter man den Han-

delnden unterbricht. Das aber ist von großer Bedeutsamkeit für das epische Theater,

 weil die Unterbrechung der Handlung bei ihm im Vordergrund steht. Benjamin schreibtsogar, daß die Hauptfunktion des epischen Theaters

„in gewissen Fällen darin besteht, die Handlung – weit entfernt sie zu illustrierenoder zu fördern – zu unterbrechen.“ (WET: 521).

Diese Unterbrechungen haben den Zweck, gewohnte Abläufe zum Innehalten zu zwin-

gen, um dadurch anzuregen, über sie nachzudenken. Durch die Unterbrechung werden

die gewohnten Abläufe überschaubar und fremd, gleichzeitig aber wiederholbar, verän-

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

derbar und zitierbar. „Das Experiment, das solange als der ästhetischen Erfahrung dia-

metral entgegengesetzt galt, wird zum Vorbild einer neuen Kunstrezeption.“309 

In dieser Unterbrechung der Handlung besteht auch die formale Leistung der Lieder

Brechts. Der retardierende Charakter der Unterbrechungen und der episodische der

Umrahmung ist es, der aus dem gestischen Theater das epische macht.

  Wichtig ist vor allem in Zusammenhang mit dem Klassenkampf, daß das epische

 Theater Zustände darstellt, nicht Handlungen entwickelt. Auch hebt Benjamin hervor,

daß es ein Bewußtsein behält, welches es befähigt, „die Elemente des Wirklichen im

Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln“, um somit erst am Ende des Stücks zu

den Zuständen zu gelangen (WET: 522). Für den Zuschauer hat dies den Vorteil, daß er

sie als die wirklichen Zustände erkennen kann, und zwar staunend und nicht wie im

 Theater des Naturalismus mit „Süffisance“. Dieses Staunen bringt im epischen Theater

eine „sokratische Praxis zu Ehren.“ „Im Staunenden erwacht das Interesse.“ (WET:

522). Im Staunen allein ist das Interesse an seinem Ursprung. Benjamin ist der Auffas-

sung, daß Brecht den Versuch unternimmt, dieses Interesse zu einem fachmännischen

zu machen, da das epische Theater sich an die wendet, die ohne Grund nicht denken. In

dem Bestreben, diese Masse fachmännisch und nicht über den Weg der Bildung am

  Theater zu interessieren, setzt Brechts dialektischer Materialismus sich durch (WET:

522).310

Die dargestellten Zustände werden also nicht bloß wiedergegeben, sondern ent-deckt, und dieses Entdecken vollzieht sich durch die Unterbrechung von Abläufen. Die-

ses Prinzip findet sich im Film in der Technik der Montage und erinnert auch an Ben-

jamins Konzept der Chockerfahrung.

Das epische Theater ist den Schauspielern genauso zugedacht wie den Zuschauern.

Eine besondere Form des Theaters ist das Lehrstück, das sich als Sonderfall vor allem

dadurch hervorhebt,

„daß es durch besondere Armut des Apparats die Auswechslung des Publikumsmit den Akteuren, der Akteure mit dem Publikum vereinfacht und nahelegt. JederZuschauer wird Mitspieler werden können. Und in der Tat ist es leichter, den‚Lehrer‘ zu spielen als den ‚Helden‘.“ (WET2: 537).

309 Burkhardt Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno, 17.310 Was Benjamin unter „fachmännisch“ versteht, geht am besten aus folgenden Zitat aus dem

Kunstwerkaufsatz hervor: „Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zu-sammen, daß jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt. Man brauchtnur einmal eine Gruppe von Zeitungsjungen, auf ihre Fahrräder gestützt, die Ergebnisse einesRadrennens diskutieren gehört zu haben, um diesem Zusammenhang auf die Spur zu kommen.“

(KR2: 371).

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 Auch hier taucht wieder das Motiv auf, das Benjamin von den Medien erwartet, seien es

Zeitungen, Zeitschriften oder das Kino, nämlich die Verschmelzung von Produzenten

und Rezipienten.

 Wie Benjamin das epische Theater als beispielhaft für den Film sieht, so hat umgekehrt

Brecht gesagt, daß das epische Theater dem Film nicht wenig verdankt:

„Es macht Gebrauch von epischen, gestischen und Montageelementen, die imFilm auftraten. Es macht sogar Gebrauch vom Film selber, indem es dokumenta-risches Material verwertete.“311 

 Auch in der Präsentation des Handlungsverlaufs des epischen Theaters stellt Brecht eine

 Affinität zum Film fest, die in einer film-ähnlichen Schnittechnik des epischen Theaters

beruht: „Wie wir erfahren haben zerschneidet der Stückeschreiber ein Stück in kleine

selbstständige Stückchen, so daß der Fortgang der Handlung ein sprunghafter wird.“312

 

Durch dieses Verfahren bleiben die einzelnen Handlungsabschnitte in ihrer Selbststän-

digkeit unberührt, doch unterbricht es den Handlungsablauf und ermöglicht somit die

Einführung von ankündigenden, zusammenfassenden Titeln. Auch ermöglicht es, wie es

beim Film Normalität ist, die Wiederholbarkeit einzelner Szenen.313 

Zusammenfassend läßt sich über das epische Theater sagen: Modellcharakter hat das

epische Theater Brechts für Benjamin deshalb, weil es Produzenten in ihrer Produktion

anleitet und ihnen einen verbesserten Apparat zur Verfügung stellt. Weiterhin modell-

haft ist es in seiner Eigenschaft, mehr Konsumenten der Produktion zuzuführen und

schließlich aus Konsumenten Mitwirkende macht. Die wesentlichsten Vorteile und Ei-

genschaften des epischen Theaters sind folgende: durch Zerlegung und Konstruktion

der Handlung aus kleinsten Elementen der Verhaltensweisen Vorgänge durchsichtig zu

machen und durch Unterbrechung „von Abläufen des Spiels Zustände verfremdend zu

entdecken und zu erhellen.“314 Im Gegensatz zu Brecht liegt bei Benjamin eine besonde-

re Akzentuierung auf den „Zuständen“, deren Sinn er wie Brecht darin sieht, das Publi-kum durch Denken die Zustände, in denen es lebt, zu verfremden, um damit beim Pub-

likum eine kritische Haltung zu wecken und zu bestärken.315 

311 Bertolt Brecht, Über Filmmusik, in: Werke 15, 487.312 Bertolt Brecht, Der Messingkauf 1937 – 1951. Die Dritte Nacht: Das Theater des Stückeschrei-

bers, in: Werke 16, 500 – 660, 605.313 Burkhardt Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno, 19.314 Helmut Fahrenbach, Brecht, 96f.

315 Ebd., 97. Vgl. AAP: 697ff.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

3.2.2. Erkenntnismöglichkeiten durch den Film 

 Was die Produzenten bei der Herstellung von Stücken, Filmen etc. zu beachten haben,

ist aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden. Nun stellt sich die Frage nachden Wirkungen des Produzierten. Im Zusammenhang mit dem epischen Theater formu-

liert Benjamin, nachdem er die dialektischen Momente der Geste erörtert hat:

„Denn alle Erkenntnisse, zu denen das epische Theater kommt, haben unmittel-bar erzieherische Wirkung, zugleich aber setzt sich die erzieherische Wirkung desepischen Theaters unmittelbar in Erkenntnisse um, die freilich beim Schauspielerund Publikum verschiedene sein können.“316 

 Auch im Kunstwerkaufsatz differenziert Benjamin die Erkenntnis, die ein Filmschau-

spieler im Angesicht der Apparatur hat und diejenige, die die Zuschauer haben, die sich

einen Film im Kino ansehen.

Der Filmschauspieler steht stellvertretend für die Masse vor der Apparatur, mit dem

Unterschied, daß seine Testleistung ausstellbar ist, nämlich im Film, der nichts anderes

ist, als eine Aneinanderreihung von den am besten abgeschlossenen Tests des Film-

schauspielers:

„Ihn unterscheidet vom Bühnenschauspieler, daß seine Kunstleistung in ihrer ori-ginalen Form, in der sie der Reproduktion zu Grunde, nicht vor einem zufälligenPublikum, sondern vor einem Gremium von Fachleuten vor sich geht, die alsProduktionsleiter, Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Beleuchter usw. jederzeitin die Lage geraten können, in seine Kunstleistung einzugreifen. [...] Viele Stellen

 werden bekanntlich in Varianten gedreht. [...] Unter diesen nimmt der Cutter danneine Wahl vor; er statuiert gleichsam den Rekord unter ihnen.“ (KR2: 364).

Die Masse der Industriearbeiter sieht sich derselben Situation gegenüber. Auch sie ist

einem „Fachpublikum“ ausgesetzt, d. h. dem leitenden Ingenieur, bzw. Schichtleiter.

Doch im Unterschied zum Filmschauspieler erfolgen die Prüfungen bei den Arbeitern

„unter der Hand“ und mit viel graviererenden Konsequenzen:

„wer sie nicht besteht, wird aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet.“ (KR2: 365).

Im Gegensatz zu den Leistungen des Filmschauspielers sind die Leistungen des Arbei-

ters „nicht im wünschenswerten Maß ausstellbar.“ Hier greift der Film ein:

316 Walter Benjamin, Studien zur Theorie des epischen Theaters, in: GS II.3, 1380 – 1382, 1382.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

„Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit derLeistung selbst einen Test macht. Sie darstellen heißt, im Angesicht der Apparaturseine Menschlichkeit beibehalten.“ (KR2: 365).

Das Interesse der Massen an dieser Leistung des Schauspielers ist „riesengroß“, denn es

ist eine Apparatur, „vor der die überwiegende Anzahl der Städtebewohner in Kontoren

und Fabriken während der Dauer des Arbeitstages ihrer Menschlichkeit sich entäußern

muß.“ (KR2: 365). In ihren Augen nimmt der Filmdarsteller stellvertretend Revanche,

indem er der Apparatur gegenüber seine Menschlichkeit bewahrt, und zusätzlich sie dem

eigenen Triumph sich dienstbar macht (KR2: 365).

Brecht ist der Ansicht, daß der Film als Kontrollinstanz nicht nur das bewußt-

technische Demonstrieren der Rollen lehrt, sondern er lehrt auch „die bewußte Haltung,

technische Apparate zu gebrauchen“ und sich ihrer Kontrolle auszusetzen.317 Diesen

Umgang mit der Apparatur sollte in Brechts Lehrstücken alle zu Übenden machen und

durch die Auslieferung der Apparatur an die einzelnen Übenden auch erprobt werden.318 

Dies gleicht Benjamins Beobachtung des russischen Films und kommt seiner Forderung 

für den revolutionären Film im Westen nach der Expropriation des Filmkapitals sehr

nahe, und es mündet in der schon oft betonten Verschmelzung von Produzenten und

Rezipienten. Denn erst wenn dies allen möglich ist, kann die im Zuge der Moderne uni-

 versal gewordene Erscheinung der Selbstentfremdung positiv genutzt werden:

„In der Repräsentation des Menschen durch die Apparatur hat dessen Selbstent-fremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren.“ (KR2: 369).

Unter dem Kapitalismus und der Kulturindustrie wird diese Selbstentfremdung noch in

den Dienst der jeweiligen Systeme gestellt. Der Deutlichkeit halber stelle ich dies noch-

mals dar. Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur ist vergleichbar mit dem

Befremden des Menschen vor dem eigenen Spiegelbild. Durch die Apparatur wird die-

ses Spiegelbild vom Menschen ablösbar und transportabel. Der Filmdarsteller hat diesständig im Bewußtsein, d. h. daß er es immer, wenn er vor der Apparatur steht, mit der

Masse zu tun hat, die ihn wiederum kontrolliert. Diese den Schauspieler kontrollierende

Masse ist aber weder sichtbar noch schon vorhanden, während der Schauspieler im An-

gesicht der Apparatur seine Leistung absolviert. Dadurch

317 Burkhardt Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno, 20.

318 Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß, 158.

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V. Handlungsanweisungen für Intellektuelle: Die visuellen Medien

 wird die Autorität der Kontrolle gesteigert. Doch weist Benjamin darauf hin, daß die

politische Auswertung dieser Kontrolle noch lange auf sich warten lassen wird (KR2:

370). Bis dahin bleibt die Kontrolle eine gegenrevolutionäre, und der vom Filmkapital

geförderte Starkultus

„konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher schon allein imfauligen Schimmer ihres Warencharakters besteht, sondern sein Komplement, derKultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, dieder Faschismus an die Stelle ihrer klassenbewußten zu setzen sucht.“ (KR2: 370).

Die politische Auswertung dieser Selbstentfremdung ist also erst mit der Verschmelzung 

 von Produzenten und Rezipienten möglich, mit Benjamins Worten also erst nach der

Befreiung des Films aus den Fesseln seiner kapitalistischen Ausbeutung. Denn erst da-

durch, daß der Arbeiter bei seiner Arbeit selbst gefilmt wird, daß er selbst andere beim

  Arbeiten filmt, macht seine Leistung zum einen ausstellbar, d. h. er gewinnt seine

Menschlichkeit zurück, da er wiederum aus der austellbarkeit der Leistung einen Test

macht und gleichzeitig durch die Aktivität des Filmens zu dem „Gremium von Fachleu-

ten“ wird, das unter der kapitalistischen bzw. faschistischen Verwertung des Films die

 Testleistungen bewertet und auswählt. Daraus folgt, daß durch die Verschmelzung von

Produzenten und Rezipienten eine Gleichberechtigung zwischen beiden stattfindet, man

kann sagen, eine Demokratisierung des Verhältnisses Produzent und Rezipient. Damiteinhergehend findet auch eine Auflösung des Verhältnisses Exploitateur – Exploitierter

statt (KR2: 370ff.). Das was Kapitalismus und Faschismus zu verhindern suchen, ist

jetzt möglich: Das ursprüngliche und berechtigte Interesse der Selbsterkenntnis und

somit auch der Klassenerkenntnis (KR2: 372). Der Film ist dazu das beste Medium, da

es das am weitesten entwickelte technische Reproduktionsmittel ist, und weil:

„Der Film ist die entsprechende Kunstform in der die Heutigen leben. Er ent-

spricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderun-gen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wiesie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschafterlebt.“ (KR2: 379f., Fn. 16)

Und gerade weil der Film „die entsprechende Kunstform in der die Heutigen leben“ ist,

muß notwendigerweise der revolutionäre Intellektuelle dieses Medium für seine Aufga-

be – die proletarischen Massen aus ihrer Entfremdung zu befreien und ihnen bei ihrer

Selbst- und Klassenerkenntnis zu helfen – verwenden.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

 VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

Die Untersuchung zur gesellschaftlich-politischen Problematik visueller Medien bei

 Walter Benjamin ist an dieser Stelle abgeschlossen. Es sollen nun im folgenden die in

den einzelnen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse zusammengefaßt und pointiert darge-

stellt werden. Dabei gilt, daß die in dieser Arbeit sinnvolle Reihenfolge der einzelnen

Kapitel nun aufgelöst werden kann, um somit Ergebnisse einzelner Kapitel miteinander

in Beziehung zu setzen, so daß sie sich gegenseitig sinnvoll unterstützen und erklären.

Die visuellen Medien sind zu der Zeit, in der Walter Benjamin ihre Evaluation vor-

nimmt, die technisch am weitesten fortgeschrittenen Medien, die den Vermittlern zur

 Verfügung stehen. Vermittler heißt in diesem Fall die herrschenden Eliten von Kapita-

lismus und Faschismus und deren Belieferer auf der einen, die revolutionären Intellek-

tuellen auf der anderen Seite. Erstere werden von Benjamin prinzipiell nur soweit in

Betracht gezogen, als er die Aufgabe der Intellektuellen, die gegen die herrschenden

Eliten ankämpfen wollen, abgrenzen kann. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin der

gesellschaftliche Strukturwandel, der die Moderne und das Aufkommen der technisch

reproduzierten Kunst begleitet, vor allem der Wandel in der Apperzeption der Massen,

der Hand in Hand geht mit der Industrialisierung, d. h. Fabrikarbeit, Verstädterung und

Proletarisierung der Massen. Dieser Strukturwandel, der alle tradierten Werte, Kulte undErfahrungen zerstört, läßt Walter Benjamins Ansicht nach den Menschen in der Mo-

derne keine Möglichkeit mehr echte Erfahrung zu machen, sich ihrer eigenen Lage be-

 wußt zu werden, was letztlich dazu führt, daß sie nicht mehr die Handhabe besitzen

gegen ihre Unterjochung, gegen ihre Selbstentfremdung, letztlich also gegen ihr „fal-

sches Leben“ aufzubegehren, in dem es kein „richtiges“ geben kann.319 

Benjamin stellt demnach fest, daß innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume mit der

Daseinsweise auch die Wahrnehmung der menschlichen Kollektiva sich verändert und

daß sowohl die Art und Weise dieser Wahrnehmung als auch ihr Medium menschlich

und geschichtlich bedingt sind. Es lassen sich die gesellschaftlichen Umwälzungen zei-

gen, die in dieser Veränderung der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden. Benjamin

begreift als Hauptmerkmal dieser Veränderung den Verfall der Aura. Dieser Verfall der

 Aura bedingt eine Ausrichtung der Realität auf die Masse und umgekehrt.

319 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders. Ge-

sammelte Schriften, Bd. 4, 43.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

 War es zu der Zeit, als die Aura noch existierte, der paradigmatische Zusammenhang 

zwischen auratischen Kunstwerk und Ritual, der die gesellschaftliche Realität konstitu-

ierte, indem die Kunst im Dienst der Magie gewisse Notierungen festhielt, die der Praxis

dienten, so geschah dies in der Ausübung magischer Prozeduren wie auch als Anwei-

sungen zu solchen. Gegenstände solcher Notierungen boten der Mensch und seine

Umwelt dar, und abgebildet wurden sie nach den Erfordernissen einer Gesellschaft,

deren Technik erst nur völlig verschmolzen mit dem Ritual existierte. Die Kunstwerke

hatten ihre Funktion im Kultwert. Mit der technischen Reproduzierbarkeit entsteht ein

neuer paradigmatischer Zusammenhang, der von technischer Reproduzierbarkeit und

Politik. Mit der technischen Reproduzierbarkeit entfiel die Einzigkeit des Kunstwerks,

und damit markiert diese Stelle den Ort, der die gesamte soziale Funktion der Kunst

umwälzt. Die Funktion des Kunstwerks liegt nun auf dem Austellungswert, und an die

Stelle des Rituals tritt die Fundierung des Kunstwerks auf Politik.

 Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Stellenwert der Kunst ge-

genüber dem Publikum. Waren echte auratische Kunstwerke, wie eine Madonnenstatue,

Kultgegenstände, die dem Betrachter die Möglichkeit einer Erfahrung boten und um die

sich ein Ritual band, das jedem geläufig war, so sind technisch reproduzierte Kunstwer-

ke für die moderne Masse prinzipiell das gleiche. Sie entsprechen in ihrer Struktur wie

auch in ihrer Darbietungsform der Apperzeption der Massen. Das besondere am Filmist jedoch, daß dieser, wenn er nicht von dem Faschismus bzw. Kapitalismus in deren

Zwecke eingespannt wäre, schon bei der Produktion durch die kommende Kontrolle

durch das Publikum geprägt ist, da der Schauspieler vor der Apparatur, d. h. der Film-

kamera, sich bewußt ist, daß er es in seiner darstellerischen Leistung mit den Massen zu

tun hat. Erst diese Kontrolle durch das Publikum, die, wie gesagt, durch die Indienst-

nahme des Films durch Faschismus und Kapitalismus verhindert ist, würde seine revo-

lutionären Möglichkeiten zur Geltung kommen lassen. Denn das Publikum wohnt den

Filmdarbietungen als halber Fachmann bei, und Benjamin schwebt vor, daß der Film,

ähnlich wie der sowjetrussische, seine Darsteller aus eben der Masse bezieht, die letzten

Endes auch das Publikum darstellt. Solange also die Verschmelzung von Filmdarsteller

und Rezipient nicht gewährleistet ist, kann der Film seine revolutionären Möglichkeiten

nicht ausspielen. Nichtsdestotrotz bietet der Film auch schon in den gegebenen gesell-

schaftlichen Verhältnissen Einsichten, die ohne ihn nicht möglich sind. So erfahren die

Massen durch ihn vom „Optisch-Unbewußten“, d. h. Psychosen, die die technisierte

Umwelt in den Massen hervorruft, werden durch den Film in Kollektiverfahrungen

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

 verwandelt. Somit bewirkt er eine therapeutische Sprengung des Unbewußten. Ein wei-

terer Vorteil des Films ist, daß er den Apperzeptionsstrukturen der Moderne entspricht,

d. h. den Erfahrungsmustern, wie sie den Menschen in ihrem alltäglichen Leben, wie

dem Großstadtverkehr und der Industriearbeit, entgegentreten, gemäß sind. Allerdings

 werden diese Möglichkeiten des Films durch den Faschismus und Kapitalismus verhin-

dert, da es nicht in deren Interesse ist, daß die Menschen der Masse zu einer Selbst- und

Klassenerkenntnis gelangen.

Doch gerade den Menschen der Masse zu einer Selbst- und Klassenerkenntnis zu

 verhelfen ist das Ziel Benjamins. Denn nur so ist eine Gesellschaft Gleicher, im Sinne

eines auf Gegenseitigkeit beruhenden, gleichberechtigten, freiheitlichen Verhältnisses

der Menschen möglich.

1. Es gilt, die Selbst- und Klassenerkenntnis der Massen zu ermöglichen

Die Fragen, die Benjamin in seinen hier untersuchten Schriften umtreibt, sind folgende:

 Wie ist es möglich in den gegebenen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen die prole-

tarischen Massen zu einer Selbst- und Klassenerkenntnis gelangen zu lassen, mit wel-

chen Medien hat man zu diesem Zweck vorzugehen, welche Inhalte hat man zu vermit-

teln und letztens, wie hat man diese Inhalte zu vermitteln? All diesen Fragen vorange-stellt muß die Antwort nach den Apperzeptionsstrukturen der proletarischen Massen

sein. Eine gute Ausgangsbasis für das, was Benjamin letztendlich mit seiner Erfahrungs-

theorie vorschwebt, ist anhand des Verfalls der Aura sich klarzumachen. Es gilt folgen-

des festzuhalten: Die Aura erscheint an allen Dingen, sie ist wandelbar, sie hat eine

Raum-Zeit-Struktur und sie ist eine universelle Erfahrung. Letzteres, vor allem mit der

Erkenntnis, daß der Bedeutungsgehalt der Aura durch das betrachtende Subjekt be-

stimmt wird, macht in Anbetracht des Erfahrungs- und Geschichtskapitels dieser Arbeitdeutlich, warum Benjamin dem Verfall der Aura einen solchen Stellenwert einräumt.

 Alle an der Aura hervorgehobenen Eigenschaften sind solche, die Benjamin durch seine

 Theorie der Erfahrung wiedergewinnen möchte.

Benjamins Theorie der Erfahrung geht von einem Verlust der Aura aus, der bewirkt

ist durch die technische Reproduzierbarkeit. Alle bisherigen Wahrnehmungs- und Er-

fahrungsstrukturen sind den Menschen in der Moderne nicht mehr zugänglich und es

bedarf eines Ersatzes. Die Wahrnehmungsstruktur der Moderne ist die der Chockerfah-

rung. Sie entspricht den technischen Gegebenheiten der Moderne, wie Industriearbeit,

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

technisch reproduzierte Kunstwerke, insbesondere dem Film, und der Lebenswelt der

proletarischen Massen, der Großstadt. Zunächst ist festzustellen, daß Benjamin diesem

Erfahrungsverlust, wie in Kapitel III.2.1. Erfahrungsverlust und positives Barbarentum darge-

stellt auch Positives abgewinnen kann, da die Erfahrung die den Menschen zuletzt noch

zu Verfügung stand, nichts mehr mit ihrer Realität gemein hatte, denn sie war nur noch

 von der Bourgeoisie angehäufter „fauliger Ballast“. Dieser Erfahrung ist zu entsagen,

  wie auch an Benjamins Kritik am Historismus deutlich wird. Anstatt dessen fordert

Benjamin einen radikalen Neubeginn, der ohne diesen Ballast auskommt. Dieser Erfah-

rungsverlust hängt zum einen mit dem schon beschriebenen Verfall der Aura zusam-

men, zum anderen mit dem Aufkommen der Information. Die Information ist den

  Wahrnehmungsstrukturen der Moderne angepaßt. Benjamin wird an dieser Stelle zu

einem Medienarchäologen und reflektiert zwei Umstände. Zum einem, daß die Erfah-

rung „als Schatz bisheriger Selbstverständlichkeit“ angesichts der Kontingenzerfahrun-

gen und des Krisenbewußtseins durch Katastrophen fragwürdig geworden ist, zum an-

deren den Umstand, „daß angesichts des Scheiterns des liberalen Bürgertums gleichzei-

tig das kohärente Kommunikationsmonopol Schrift“ als Speichermedium des Wissens

  wegfällt. Erfahrung und Trägermedium kommen gleichermaßen in die Krise.320 Der

Erste Weltkrieg wird von Benjamin als Ort des Ersatzes von Erfahrung und Erinnerung 

durch die Massenmedien bezeichnet. Die Information, die die Massenmedien bieten,unterscheidet sich von der Erzählung insofern, als daß sie immer alles gleichzeitig erklärt

und keine Fragen offen läßt. Die Kommerzialisierung, die kurzlebige Leseinhalte und

die Beschleunigung des Wahrnehmens als Rezeptionskonstituenten erfordert, verdrängt

die alte Form des Wahrnehmens, die Versenkung.

Erfahrung als Information aber ist nichts, was einem etwas beibringen könnte, sie ist

schlicht zu einem austauschbaren Aspekt des modernen Lebens geworden. Benjamin

führt hier eine Kehrtwende in seiner Technikevaluation durch. Die im Kunstwerkaufsatz  

als Fortschritt gefeierte technische Reproduzierbarkeit, die ihre Produkte den Wahr-

nehmungsstrukturen der Menschen in der Moderne anpassen kann, wird in dem Aufsatz

Der Erzähler kritisiert. Dieselbe Technisierung nämlich ist es, die die Information entste-

hen läßt, die Benjamin aber für ungeeignet hält, wie die Erzählung Erfahrung zu vermit-

teln. Hat Benjamin im Kunstwerkaufsatz das auratische Kunstwerk noch als undialektisch

 verdammt, es als konterrevolutionär und affirmativ gegenüber den bestehenden Struktu-

 

320 Vgl. Kapitel III.2.2. Erfahrungsverlust durch Information.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

ren angesehen, so sieht er auratische Kunst nun als Quelle der Hoffnungen und Bestre-

bungen vergangener Zeiten und als solches als wichtigen Anreiz für Veränderung in der

Gegenwart. Selbstverständlich bleibt Benjamin dabei, daß es im Zeitalter der techni-

schen Reproduzierbarkeit keine Aura mehr geben kann; auratische Kunst muß daher

immer eine aus vergangenen Zeiten sein. Diese Bewertung der Aura als solche führt

implizit schon das Thema des Eingedenkens mit sich. Betont werden muß an dieser

Stelle noch Benjamins direkter Hinweis auf Mnemosyne, die Erinnernde. Beides weist

auf seine Theorie des Eingedenkens hin. Lehnt Benjamin Prousts mémoire involontaire

aufgrund ihres privaten Charakters ab, so gewinnt er doch an ihr das Schema der Kor-

respondenzen zwischen lange vergangenen Ereignissen und Ereignissen in der Gegen-

 wart, die zusammengenommen jetztzeitliche Erfahrung zulassen. Diese gilt es zu gewin-

nen. 

Die Industriearbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet, die Übung, die im Handwerk 

unabdingbar war, ist zur Dressur regrediert. Das ist das Problem der proletarischen

Massen in der Moderne, denn nun tritt an die Stelle der Erfahrung ein psychischer Me-

chanismus, der den Menschen aus jeder Tradition ausschließt und nur noch zu monado-

logischen Erlebnissen gelangen läßt, d. h. daß die Menschen in der Moderne von einer

noch Erfahrung stiftenden Zeitlichkeit ausgeschlossen sind. Die Chockerfahrung, die

letztendlich zur Chockabwehr wird, läßt nur noch Erlebnisse zu, die mémoire involon-taire wird von Benjamin abschließend als Erinnerung verstanden, die unwillkürlich, und

folglich unverläßlich ist. Letztlich ist sie daher ungeeignet für eine Theorie der Erfah-

rung. Somit ist in der Moderne Erfahrung zu einem Privileg derjenigen geworden, die

die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel haben. Das sind in Benjamins Sinne

die Faschisten und Kapitalisten. Diesem Zustand setzt Benjamin zum einem die Forde-

rung nach der Expropriation der Filmindustrie entgegen, zum anderen die Forderung an

die Intellektuellen, den bürgerlichen Produktionsapparat nicht mehr zu beliefern, oder

aber ihn mit solchen Produkten zu beliefern, die von diesem nicht mehr assimiliert wer-

den können, d. h. gegen ihn wirken.

Bevor ich allerdings näher auf diesen Sachverhalt eingehe ist es zuvor unerläßlich, die

entscheidenden Punkte in Benjamins Theorie des Eingedenkens hervorzuheben. Ben-

jamin sucht also einen anderen Weg, um den Widerspruch der Möglicheit des Erlangens

 von Erfahrung in der Moderne zu lösen, jedoch ohne sich in Gänze von den bisher

dargestellten Konzepten zu lösen. Dieser Weg führt über die moderne Allegorie, die

sich von der barocken darin unterscheidet, daß sie das ‚Andenken‘ anstatt der ‚Leiche‘

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

als Schlüsselfigur hat. Benjamin bezieht sich hier auf Baudelaire, der für ihn der erste

moderne Allegoriker ist. Auch stellt für ihn Baudelaires allegorische Dichtung den ge-

eignetsten Ausgangspunkt dar, um die Notlage der selbstentfremdeten Menschen im

Zeitalter des Kapitalismus zu analysieren. Benjamin setzt nun Prousts privater und

zufälliger mémoire involontaire Tage des Eingedenkens entgegen, die er Tage der

 vollendeten Zeit nennt. Diese sind von keinem Erlebnis gezeichnet, und ihr Inhalt ist im

Begriff der correspondances festgehalten, die wiederum Schlüssel zu Baudelaires

  Allegorien sind. Beide halten an einem Begriff der Erfahrung fest, der kultische

Elemente in sich einschließt. Weiterhin können Baudelaires correspondances als eine

Erfahrung bezeichnet werden, die „sich krisensicher zu etablieren sucht.“ (ÜMB: 638).

Echte Erfahrung ist mit dem Kult und der Aura verbunden, dementsprechend

  wiederbeleben Gedenktage vergangene Ereignisse, indem sie sich ihrer Aura

 vergegenwärtigen. Die Aura wird somit zu einer Trägerin von Tradition. Gedenktage

machen somit Prousts mémoire involontaire zu einer kollektiven Veranstaltung und

machen vorgeschichtliche Erfahrung für die Menschen in der Moderne möglich.

Benjamin stellt fest, daß diese Gedenktage der Krise und der Entzweiung der Moderne

enthoben sind (ÜMB: 638).Die Funktionsweise der Erfahrung durch Allegorie ist infolgedessen ein Vergegen-

 wärtigen vergangener Ereignisse und ihrer Aura, die somit Trägerin von Tradition wird.

Dieses Vergegenwärtigen findet statt an Gedenktagen, die ihren Inhalt von den cor-respondances beziehen, d. h. durch die Aktualisierung eines vergangenen Ereignisses,

das den Menschen in der Moderne eine vorgeschichtliche Erfahrung bietet.

Den Rückfall der Moderne in die Naturgeschichte aufzuzeigen und das Umschlagen

der Hölle in die erlösende Katastrophe herbeizuführen ist das Ziel von Benjamins Er-

fahrungstheorie, wie es auch in Benjamins Geschichtsphilosophie deutlich wird. Das

Umschlagen der Hölle in die erlösende Katastrophe ist auch das ersehnte Ziel der Bau-

delairschen Allegorie, das Ideal. Jedoch kann dieses den Spleen, der der Katastrophe in

Permanenz entspricht, nicht mindern. Diesem Gestus versucht Benjamin nun ein

Denkmodell abzugewinnen. Während Baudelaire die Spannung zwischen Geschichte

und Vorgeschichte, zwischen Antike und Moderne nicht überwinden kann, stellt Ben-

jamin fest, daß dieses Widerspiel aus dem pragmatischen Zusammenhang, in dem es bei

Baudelaire auftritt, in einen allegorischen zu überführen ist. Die Spannung zwischen

 Antike und Moderne ist bei Baudelaire die einzige Geschichtskonstruktion, die aber eine

„dialektische mehr aus[schloß], als sie sie beinhaltet.“ (ZP: 678). Die Frage, die für Ben-

jamin die ganze Zeit an Baudelaires Dichtung sich stellt, ist die, wie der moderne Alle-

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

goriker seine Schrecken in erlösende Chocks umkehren kann und somit die zerstörende

Eigenschaft des Chocks zum Durchbrechen der erstarrten Reifikation der Welt zu nut-

zen. Die Spannung zwischen Spleen und Ideal, die für die Korrespondenzen ähnlich

unerläßlich ist, wie sie es für die Allegorie war, muß aufgelöst werden, so daß der mo-

derne Allegoriker aus den Korrespondenzen erwacht und somit gegen die Naturge-

schichte Initiative ergreifen kann. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wird die „Dialek-

tik im Stillstand“ wieder in Bewegung gebracht.321 

Benjamin ist der Auffassung, daß Geschichte ein Diskontinuum ist und historische

Phänomene ihren Wahrheitsgehalt nur in Konstellation mit der Gegenwart offenbaren.

Somit kann man Benjamins Allegorien in diesem Zusammenhang als Bilder sehen, die

diese Konstellation der historischen Phänomene mit der Gegenwart offenbaren. Diese

  Allegorien bezeichnet er auch als „dialektische Bilder“, die erst dann zum Vorschein

kommen, wenn die Zukunft den Entwickler für diese Bilder bereithält.

Das hat zweierlei Konsequenzen: 1. Die Geschichte, die in Bilder zerfällt, wird zu ei-

nem wahrnehmungspsychologischen Problem. 2. Die Geschichte ist unabgeschlossen,

da gewisse Ereignisse erst in der Zukunft zu verstehen sind.

Das Erinnern rückt Ereignisse der Vergangenheit in eine Perspektive der Verände-

rung oder wie Benjamin formuliert hat: „Was die ‚Wissenschaft‘ festgestellt hat, kann

das Eingedenken modifizieren.“ (PW: 589). Benjamins Theorie des Erinnerns politisiertdas Erinnern, da Erinnern immer an die Gegenwart geknüpft ist. Hier setzt nun Benja-

mins Dialektik ein, die er bei Baudelaire vermißt: Die Idee des Erinnerns als Vergegen-

 wärtigung der Vergangenheit zum Zwecke der Gegenwartserkenntnis.

„Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als die Kunst, dieGegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewese-nes nennen, in Wahrheit bezieht. [...] Erinnerung und Erwachen sind aufs engste

 verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des

Eingedenkens.“ (PW: 491).

Das Gewesene soll zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußt-

seins werden. „Die Politik erhält den Primat über die Geschichte.“ (PW: 491). Dieser

dialektische Umschlag soll an den Stellen stattfinden an denen die Vergangenheit mit

dem „Explosionstoff Jetztzeit“ geladen ist, um somit das Diskontinuum der Geschichte

aufzusprengen. Dies geschieht kraft der Allegorie, durch die der historische Materialist

321 Gérard Raulet, Chockerlebnis, 23.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

stellvertretend für die Massen den dialektischen Umschlag herbeiführen soll. Vor allem

 wird dies deutlich in den Thesen Über den Begriff der Geschichte ; da diese herrschafts- und

überlieferungskritischer sind als die Reflexionen des Passagenwerks. Zum einem wird

nun in den Thesen besonders hervorgehoben, daß die Geschichte der Erinnerung an die

 Tradition der Unterdrückten bedarf, diese Erinnerung aber in der Geschichtsbetrach-

tung der Sozialdemokratie, die ja eigentlich für die Unterdrückten eintreten sollte, fehlt.

Sie bedarf der Erinnerung an die Tradition der Unterdrückten vor allem deshalb, weil

diese Tradition einen darüber belehrt, daß „der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben,

die Regel ist.“ (Thesen: VIII, 697). Erst wenn dieser Umstand begriffen ist, einem im-

mer vor Augen steht, erst dann wird deutlich, daß man im Kampf gegen den Faschis-

mus die Herbeiführung eines wirklichen Ausnahmezustands zu sehen hat. Das ist nicht

möglich, wenn man wie die Sozialdemokratie und der Kommunismus dem Faschismus

als historische Norm begegnet, in ihm ein Übergangsstadium sieht auf dem Weg zum

Kommunismus. Aber auch die Geschichtskonzeption von Marx und Engels, daß die

klassenlose Gesellschaft den Endpunkt von Geschichte darstellt, bezeichnet Benjamin

als irriges Konzept.

Benjamin sieht in der bisherigen Geschichte eine einzige Katastrophe, die unabläß-

lich Trümmer aufeinandergetürmt hat. Der Engel sieht sich dem Fortschrittsglauben

ausgesetzt, der in der IX. These als Sturm, der vom Paradiese herweht, bezeichnet wird.Die Menschen im Gegensatz dazu werden von ihrer Erinnerung an das verlorene Para-

dies weitergetrieben, d. h. von der Utopie einer besseren Gesellschaft. Der Blick des

Engels stellt den des historischen Materialisten dar, zurückgewandt ist dieser Blick, weil

er sich erinnert. Die Aufgabe des historische Materialisten ist es, daß Gewesene zum

dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden zu lassen (PW:

490f.)

Die Geschichte ist folglich unabgeschlossen, sie führt einen „heimlichen Index“ mit,

der sie auf die Erlösung verweist, und es besteht eine „Verabredung“ zwischen den

„gewesenen Geschlechtern“ und unserem (Thesen: II, 693f.). Um es zu dieser Verabre-

dung kommen zu lassen, ist es vonnöten, die Geschichte zum Stillstand zu bringen.

Dies wird auch schon in der IX. These durch das Bild des Engels, der „wohl verweilen

[...], die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“ möchte, verdeutlicht

(Thesen IX, 697). Dieser Stillstand sprengt das Kontinuum der Geschichte auf, wie Ro-

bespierres Zitation des alten Roms in der französischen Revolution. Das antike Rom

 war mit „Jetztzeit“ geladene Vergangenheit, die durch die Zitation aus dem Geschichts-

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

kontinuum herausgesprengt wurde. Diese zitierbar gemachte Vergangenheit macht die

gegenwärtige Situation erst verstehbar. Der historische Materialist Benjamins benötigt

einen Gegenwartsbegriff, in dem die Zeit stillsteht, denn nur in diesem Moment der

stillstehenden Zeit, schreibt der historische Materialist Geschichte. Auch die revolutio-

nären Klassen sind sich im Augenblick ihrer Aktion bewußt, das Kontinuum der Ge-

schichte aufzusprengen, wie das Beschießen der Turmuhren zeigt. Der historische Mate-

rialist stellt eine Erfahrung mit der Vergangenheit in diesem Moment der Gegenwart

her. Er rekonstruiert dementsprechend nicht Ereignisse der Vergangenheit, sondern er

bezieht sie auf die „Jetztzeit“, da schließlich Geschichte von „Jetztzeit erfüllte“ Zeit ist.

(Thesen: XIV, 701). Das ist die „Dialektik im Stillstand“, der Zustand, den auch das

Epische Theater aufdeckt, und auch das Bild ist Dialektik im Stillstand (WET: 530), da

in ihm das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“

(PW: 578).

 Wie schon am Beispiel Robespierres zu erkennen war, ist die Technik des Zitierens

ein Akt des Heraussprengens und Herstellung eines Gegenwartsbezugs. Der historische

Materialist sprengt im Zug seiner Konstruktion das epische Moment, d. h. im Destruk-

tiven liegt sein konstruktives Verfahren. Die historische Kontinuität wird gesprengt, so

daß der historische Gegenstand allein erst zum Vorschein kommt. Dieses Verfahren des

historischen Materialisten kommt auch im Zusammenhang mit dem Epischen Theaterzum Vorschein: „Einen Text zitieren schließt ein: seinen Zusammenhang unterbre-

chen.“322 Das Zitieren ist als eine Stillstellung des Geschehens aufzufassen, und zitierbar

ist nur Repräsentatives. Dieses zitierbare, repräsentative Ereignis ist für den historischen

Materialisten nur da zugänglich, wo es ihm als Monade entgegentritt. Die Monaden sind

Ergebnis eines intellektuellen Vorgangs und kristallisieren sich in einer von Spannung 

gesättigten Konstellation, in der das Denken einhält, und dieser Konstellation einen

Chock erteilt (Thesen: XVII, 702f.). Diese dem historischen Materialisten sich ergeben-

den Monaden zeigen ihm eine „messianische Stillstellung des Geschehens, eine[r] revo-

lutionäre[n] Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.“ (Thesen: XVII,

703). Benjamin bezeichnet diesen Vorgang als „Rettung“. Gerettet werden soll zweierlei:

Das dialektische Bild im Moment seines Aufblitzens, d. h. Geistesgegenwart und Ret-

tung sind direkt aufeinander bezogen, und die Tradition der Unterdrückten. Sie soll ge-

 

322 Walter Benjamin, Was ist das epische Theater? (2), 536.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

rettet werden vor einer bestimmten Art ihrer Überlieferung.323 Auch dies ist eine Spitze

gegen den Historismus, denn, wie Benjamin fortfährt, Rettung ist Erinnerung an die

Opfer der Geschichte, und sie ist dem Gedächtnis der Namenlosen und der „histori-

schen Konstruktion von Geschichte geweiht.“324 Letzten Endes beruhen alle Verfahren

der Geschichtsbetrachtung und Geschichtsbeschreibung, die Benjamin anwendet, auf 

der Erinnerung, so wie seine Theorie der Erfahrung auf dem Eingedenken beruht. Der

Unterschied ist der, daß das Eingedenken ein kollektiver Vorgang ist, der sogar durch

eigens dafür vorgesehene Tage institutionalisiert werden soll. Kollektive Erfahrung wird

möglich, auch in einer Welt der Zerstreuung, in der das Bewußtsein unabläßlich die an-

stürmenden Sinneseindrücke abwehrt. Die Erinnerung hingegen ist Benjamin zufolge

etwas, dessen sich nur der Historiker, genauer der historische Materialist, bemächtigen

kann. Wie man aber an der Institutionalisierung der Gedenktage sehen kann, ist dieses

 Verfahren der Erfahrungsgewinnung auch für das Kollektiv erst in einer Gesellschaft

möglich, deren Ziel es ist, die Masse zu einer Selbst- und Klassenerkenntnis kommen zu

lassen, d. h. dieses System der Erfahrung ist nicht gedacht für totalitäre oder kapitalisti-

sche Gesellschaften. Das Erinnern des historischen Materialisten ist aber auch schon in

diesen möglich. Daher, so ja auch meine These am Ende des Kapitels IV.2.1. Die koper- 

nikanische Wendung in der Geschichtsphilosophie in bezug auf die Erfahrung, ist es der histori-

sche Materialist, der stellvertretend für die Masse sich erinnern soll und Erfahrungenmachen soll. Diese muß er dann im Bildraum der proletarischen Masse vermitteln, um

dieser ihre eigene Lage bewußt zu machen. Denn erst, wenn die proletarische Masse

sich ihrer Lage bewußt ist, wird auch sie zum Tigersprung unter dem freiem Himmel

der Geschichte ansetzen, also zur Revolution.

Die revolutionären Intellektuellen, die es auf eine Veränderung der bestehenden Ge-

sellschaftsordnung abgesehen haben, müssen in ihrem Vorgehen, den Proletariern eine

Selbst- und Klassenerkenntnis zu vermitteln, vielerlei Umstände berücksichtigen. Mit

der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, insbesondere des Films, erkennt

Benjamin drei Möglichkeiten ihrer Vereinahmung bzw. Indienstnahme: durch den Kapi-

talismus, den Faschismus und durch die revolutionären Intellektuellen, d. h. letzten En-

des durch die Proletarier selbst.

323 Walter Benjamin, Anmerkungen zu den Thesen, 1242.

324 Ebd., 1241.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

2. Faschismus, Kapitalismus oder Revolution:Die Indienstnahme der Technik 

Unter dem Kapitalismus ist die Emanzipation der Menschen, folglich die Selbst- und

Klassenerkenntnis durch die Indienstnahme der Technik durch die Herrschenden ver-

hindert. Auch läßt er keine Versöhnung von Technik und Mensch zu, sondern bedient

sich der Technik, um mit ihrer Hilfe seine Interessen durchzusetzen. Der Kapitalismus

 verhindert die Kontrolle des Schauspielers durch die Masse, er verkehrt die revolutionä-

ren Chancen dieser Kontrolle sogar in Gegenrevolutionäre. So fördert der vom Kapita-

lismus betriebene Starkultus „nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher

schon längst im fauligen Schimmer des Warencharakters besteht, sondern sein Kom-

plement, der Kultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung derMasse, die der Faschismus an die Stelle ihrer Klassenbewußten zu setzen sucht.“ (KR2:

370). Die Kulturindustrie des Kapitalismus hat nur den einen Zweck, die Freizeit der

Menschen so zu gestalten, daß sie von der Arbeit, die sie verrichten, nicht zu unter-

scheiden ist. Auf diese Weise schafft es der Kapitalismus, die Anpassung der Menschen

an die neuen Produktivkräfte, die die zweite Technik erschlossen hat, zu verhindern.

Diese Indienstnahme der zweiten Technik, befördert eine korrupte Masse, indem sie die

Emanzipation der Menschen nicht zuläßt. Diese korrupte Masse ist es, derer der Fa-schismus sich bedient. Der Kapitalismus ist die Hebamme des Faschismus.325 

Der Faschismus vergewaltigt die Apparatur und macht sie der Herstellung von Kult-

 werten dienstbar, er stellt sich selbst und seine Folgen als Ritual und Bestandteil einer

 Tradition dar. Dies beruht auf seiner Vermengung von erster und zweiter Technik, derer

sich der Faschismus bedient. Die erste Technik ist primitiv und an eine Person mit ma-

gischen Kräften gebunden, die zweite Technik ist fortgeschritten und ist von jedermann

bedienbar und variierbar. Ziel der ersten Technik ist die Naturbeherrschung, das der

zweiten ist das Zusammenspiel zwischen Natur und Technik. Der Faschismus bedient

sich der zweiten Technik, jedoch auf „höchst anfechtbare Weise“, nämlich vom Stand-

punkt der ersten Technik aus (KR2: 359). Die zweite Technik will die Befreiung der

Menschen aus der Fron ihrer Arbeit, sie stellt dem Individuum einen viel größeren

Spielraum zur Verfügung. Dieser Spielraum ist für den Menschen unbekannt, jedoch

meldet er seine Forderungen in ihm an, sobald er sich dieses Spielraums bewußt wird.

325 Vgl., Fn. 156.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

Die Individuen werden sich nun bewußt, wie „wenig ihnen bisher, im Banne der ersten

[Technik], das Ihre geworden war.“ (KR2: 360, Fn.4). Der emanzipierte Mensch erhebt

nun Ansprüche auf Dinge, von denen er unter der ersten Technik nicht einmal etwas

ahnte. Und genau dies verhindert der Faschismus bei seiner Indienstnahme der zweiten

 Technik, indem er sie vom Standpunkt der ersten betreibt. Das bedeutet, daß der Fa-

schismus die Indienstnahme der Technik durch das Kollektiv verhindert, genauso wie

ein versöhntes Verhältnis zwischen Mensch und Technik, bzw. Natur und Technik. Die

erste Technik, von der aus der Faschismus die zweite betreibt, ist dem Kultwert zugehö-

rig und hat ihr philosophisches Zentrum im Menschenopfer. Diesen Teil hat der Fa-

schismus von der ersten Technik übernommen, mit der Folge, daß es nur der Krieg 

möglich macht, „die sämtlichen Mittel der Gegenwart [die zweite Technik] unter der

 Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren.“ (KR3: 506). Was das zur Folge

hat, konnte man im Ersten Weltkrieg sehen:

„Dies große Werben um den Kosmos vollzog zum ersten Male sich in planetari-schen Maßstab, nämlich im Geist der Technik. Weil aber die Profitgier der herr-schenden Klasse an ihr ihren Willen zu büßen gedachte, hatte die Technik dieMenschheit verraten und das Brautlager in ein Blutmeer verwandelt. Naturbeherr-schung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik.“ (Einbahnstraße: 147).

Der Faschismus kann die Produktivkräfte, die die zweite Technik freisetzt, nur deshalb

einsetzen, weil er verhindert, daß die Menschen sich diesen neuen Produktivkräften

anpassen. Er mobilisiert die „sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter der

  Wahrung der Eigentumsverhältnisse.“ (KR3: 506). Diese Vereitelung der natürlichen

  Verwertung der Produktivkräfte drängt die Produktivkräfte nach ihrer unnatürlichen

 Anwendung. „Sie findet sie im Kriege, der mit seiner Zerstörung den Beweis dafür an-

tritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu ma-

chen.“ (KR3: 507). In der Technik organisiert sich die Menschheits-Physis zu einem

neuen Leib. Kann dieser die Technik sich nicht zu einem Organ machen, wird dieses

zur Waffe.

Benjamin ist der Meinung, daß die Mehrheit der Gesellschaft jedoch reif genug ist.

Der neue Kollektiv-Leib wäre in einer demokratischen Gesellschaft in der Lage, die

 Technik sich zum Organ zu machen. Denn erst in dieser Funktion hat die Technik ihren

 wirklichen Sinn, in der Beherrschung des Verhältnisses von Natur und Menschheit als

Organ der Gesellschaft. Die zweite Technik ist als eine demokratische, für alle Men-

schen handhabbare und zugängliche zu verstehen, während die erste Technik eine füreinen bestimmten elitären Personenkreis bestimmte, also eine diktatorische Technik ist.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

Da aber Benjamin in der Zeit des Faschismus lebte, mußte er Handlungsanweisun-

gen für Intellektuelle schaffen, um unter den gegebenen Umständen die zweite Technik 

so weit wie möglich zu einem Organ der Gesellschaft zu machen, um somit gegen den

Faschismus anzukämpfen. Benjamin sieht den Ansatz dazu in den visuellen Medien, da

diese die technisch am weitesten fortgeschrittenen sind und den Apperzeptionsstruktu-

ren der Massen entsprechen. Zuerst arbeitet Benjamin den Begriff der Tendenz heraus.

Unter diesem versteht er die Haltung eines Intellektuellen zu den politisch-

gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit. Diese Haltung, egal wie sie ausfällt, nimmt

dem Intellektuellen immer seine Autonomie, da er die Entscheidung über seine Tendenz

immer auf der Grundlage des Klassenkampfes fällt. Ist diese Entscheidung getroffen, so

ist die Autonomie des Intellektuellen in dieser Hinsicht nicht mehr vorhanden. Wichtig 

ist für Benjamin die Frage danach, wie die Produkte eines Intellektuellen in den Produk-

tionsverhältnissen stehen. Daher stellt sich zugleich die Frage nach der Technik seiner

Produkte. Die Technik eines revolutionären Intellektuellen, also eines Intellektuellen,

der Benjamins Auffassung nach der richtigen Tendenz folgt, muß immer die zweite

 Technik sein, denn in der Technik eines Werkes wird dieses einer „unmittelbar gesell-

schaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zugänglich.“ (AAP: 686). Dazu eignet

sich der Film am besten, denn in „jeder neuen technischen Revolution wird die Tendenz

aus einem sehr verborgenen Element der Kunst wie von selber zum manifesten.“ (EOS:752). Diese Tendenz des Films ist es, die der revolutionäre Film in seinen Dienst stellen

muß. Sie muß sich ganz und gar auf das Publikum des Filmes einstellen, bei einem Re-

 volutionsfilm muß die Tendenz dementsprechend im Sinne des Kollektivismus liegen.

Bei seiner Vorgehensweise muß der revolutionäre Intellektuelle grundsätzlich den Bil-

dungsstand seines Publikums berücksichtigen, da ansonsten alle Bemühungen, es aufzu-

klären, scheitern müssen, selbst wenn Tendenz, Mittel und Inhalt stimmen. In Abgren-

zung zur Sozialdemokratie fordert Benjamin zu einer Organisierung des Pessimismus

auf, was nichts anderes bedeutet, als „die moralische Metapher aus der Politik herauszu-

befördern und im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum zu

entdecken.“ (Sürrealismus: 309). Der Bildraum hat in Benjamins Theorie eine wichtige

Funktion inne. Erst in diesem kann der Intellektuelle die Masse erkennen. Dieses Kol-

lektivum, das der Intellektuelle im Bildraum, der die Lebensrealität der Massen ist, er-

kennt, ist für ihn nur zu verstehen, wenn er zuvor die Masse der Individuen des Kollek-

tivs als jeweils Singuläres erkannt hat. Dazu ist es für ihn von großer Bedeutung, daß er

sich häufig im Bildraum in Funktion setzt, d. h. handelt. Von diesem Handeln ist die

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

Physis des Leibraums abhängig, die Physis, die sich dem Kollektivum durch die richtige

Indienstnahme der zweiten Technik erschließt. Diese Aufgabe des Intellektuellen

schließt den Verrat an der eigenen Klasse mit ein, da der Intellektuelle in Gestalt der

Bildung von der Herrschaftsklasse ein Produktionsmittel bekam, das er nun gegen seine

Ursprungsklasse richtet. Das Handeln im Bildraum umfaßt eine Vielfalt an Aktivitäten.

Die Medien, die er einsetzt, müssen „prompte“ sein, also Medien, die jeweils die aktuel-

len Tagesgeschehnisse dokumentieren wie Flugblätter, Zeitschriftenartikel, Broschüren

und Plakate. Es kommt im Handeln des Intellektuellen vor allem auf Meinungen an,

denn diese sind, vor dem richtigen Publikum kundgetan, am wirkungsvollsten. Vor al-

lem hat sich der Intellektuelle die Dialektik zunutze zu machen, die mit dem Untergang 

der bürgerlichen Presse einhergeht. Dadurch, daß aus den Lesenden nun Schreibende

 werden, sie also an der Produktion selbst teilhaben, bekommt die Zeitung eine völlig 

andere Bedeutung. Durch die Verschmelzung von Produzent und Rezipient verliert das

Geschriebene an Tiefe, das es zugleich an Breite gewinnt. Diese Literarisierung der Le-

bensverhältnisse wird der Antinomien Herr, die zuvor die Gesellschaft gespalten haben.

Dies hat in der Sowjetunion funktioniert und ist Verdienst der polytechnischen Bildung.

In Westeuropa läßt diese Verschmelzung von Produzent und Rezipient solange noch

auf sich warten, wie die Produktionsmittel in der Hand des Kapitalismus und Faschis-

mus sind.Daher gilt für Westeuropa folgendes: In Anbetracht der Tatsache, daß „der bürgerli-

che Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären

 Themen assimilieren, ja propagieren“ kann, muß der revolutionäre Intellektuelle das in

sein Kalkül miteinbeziehen (AAP: 692). Somit hat der revolutionäre Intellektuelle bei

seinen Produktionen immer darauf zu achten, daß seine Lieferungen für diesen bürgerli-

chen Produktions- und Publikationsapparat diesen im Sinne des Sozialismus verändern.

Diese Forderungen erinnern sehr an die 11. Feuerbachthese und bezeichnet die Aufgabe

des Intellektuellen. Das Objekt des Erkennens und Handelns dieser Veränderung ist das

Proletariat, das dadurch selbst zum Subjekt des Handelns werden soll. Um das zu errei-

chen, muß die Technik des revolutionären Intellektuellen zum einem immer die neueste

mit einschließen, zum anderen müssen sie interdisziplinär handeln, so daß es für den

bürgerlichen Produktionsapparat nicht mehr möglich ist, mit diesen Produkten die bür-

gerliche Gesellschaftsordnung zu glorifizieren. Benjamin macht dies anhand der Bilder

 Atgets deutlich, die erst durch eine Bildunterschrift eine „verborgene politische Bedeu-

tung“ erlangen. Diese Bildunterschriften fungieren als Wegweiser, die im Film noch

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

gebieterischer werden. Im Film ist jedes einzelne Bild Wegweiser für das darauffolgende.

Durch Photographien mit Bildunterschrift und durch Filme sind den revolutionären

Intellektuellen erstmals Mittel an die Hand gegeben, den bürgerliche Produktionsapparat

zu beliefern, ohne daß dieser das Gelieferte assimilieren kann. Film und Photographie

behalten ihre Fähigkeit, den bürgerlichen Produktions- und Publikationsapparat zu ver-

ändern, auch wenn dieser sie vereinnahmen will.

Es ist diese Überwindung dieses Apparates, der zu einer Überwindung der bürgerli-

che Ordnung führt. Die Schranken waren errichtet, um genau diese Überwindung zu

 verhindern, doch die eben dargestellte Vorgehensweise mit Film und Photographie ü-

berwindet diese Schranke. Politische Produktion ist nun möglich, und die revolutionä-

ren Intellektuellen erfahren erst jetzt in ihrer Solidarität mit dem Proletariat und den

anderen Intellektuellen von den politischen Möglichkeiten der von ihnen genutzten Me-

dien. Es gilt dementsprechend bei allen Formen der künstlerischen Produktion so zu

produzieren, daß es nicht vom bürgerlichen Produktionsapparat assimiliert werden

kann.

Eine richtige Tendenz ist also noch keine hinreichende Voraussetzung für ein revolu-

tionäres Wirken. Sie muß gekoppelt sein mit einen anweisenden und unterweisenden

Inhalt des Werkes. Jedes Werk eines revolutionären Intellektuellen muß über einen Mo-

dellcharakter verfügen, so daß andere davon lernen können. Das epische TheaterBrechts verfügt über einen solchen Modellcharakter und seine Formen entsprechen

denen des Kinos und Rundfunks (WET: 524).

Brecht formuliert als Aufgabe seines epischen Theaters gleiches wie Benjamin in be-

zug auf den Film. Das Dargebotene muß Widerspruch und Kritik erlauben und es muß

diesen Widerspruch gar ermöglichen und organisieren. Ein entscheidender Grund dafür,

daß Benjamin das epische Theater als modellhaft darstellen kann, ist die Konvergenz

seiner Einsichten mit denen Brechts in die Zusammenhänge und Voraussetzungen des-

sen, was eine künstlerische Produktion leisten soll und wie dies zu geschehen hat. Sie

stimmen überein in der Tatsache, daß der gesellschaftliche Strukturwandel auch einen

 Wandel in der Kunstproduktion zur Folge hat, genauso wie in ihrer Rezeption und in

ihrer Funktion. Das epische Theater hat seine Hauptfunktionsweise darin, die Handlung 

zu unterbrechen. Vermittels dieser Unterbrechungen regt es zum Nachdenken an. Des

 weiteren stellt es Zustände dar. Nachdenken und dargestellte Zustände sollen ein Stau-

nen, ein Interesse provozieren. Dieses Interesse ist der Weg, um die Massen fachmän-

nisch und nicht über den Weg der Bildung am Theater zu interessieren. Hierin, so Ben-

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

jamin, setzt sich Brechts dialektischer Materialismus durch. Das epische Theater verfährt

  wie der Film. Montage, Schnitt und Chocks, der Versuch der Verschmelzung von

Schauspielern und Publikum machen das epische Theater beispielhaft für den Film.

Modellcharakter hat es für Benjamin deshalb, weil es Produzenten in ihrer Produktion

anleitet und ihnen eine verbesserte Apparatur zur Verfügung stellt. Es führt mehr Kon-

sumenten der Produktion zu und macht aus ihnen Mitwirkende. Wie der Film macht es

durch Zerlegung und Konstruktion der Handlung aus kleinsten Elementen der Verhal-

tensweisen Vorgänge durchschaubar und das Element der Unterbrechung ermöglicht es,

Zustände in ihrer Verfremdung zu entdecken und zu erhellen.

Das Entdecken von Zuständen durch die genannten Elemente macht es möglich,

beim Publikum eine kritische Haltung zu wecken und zu stärken.

Der Film ist also das geeignetste Mittel für den revolutionären Intellektuellen, die

Selbst- und Klassenerkenntnis bei den Proletariern zu wecken. Das geschieht durch die

eben genannten Mittel des Films. Ein weiterer Vorteil dieses Mediums ist, daß es den

 Apperzeptionsstrukturen der Masse entspricht und das proletarische Publikum im Film-

schauspieler einen der ihren sehen kann, da der Filmschauspieler wie der Industriearbei-

ter während seiner Arbeit derselben Situation sich gegenüber sieht. Doch während die

  Arbeit des Schauspielers eine ausstellbare ist, ist es die des Industriearbeiters nicht.

Doch gerade die Austellbarkeit ermöglicht die politische Kontrolle. Daher ist das Inte-resse der Arbeiter an der Leistung des Schauspielers sehr groß, da er – stellvertretend für

die Arbeiter – Revanche nimmt an der Apparatur, der sich auch die Arbeiter täglich

gegenübersehen. Er nimmt Revanche an ihr, indem er der Apparatur gegenüber seine

Menschlichkeit bewahrt und zusätzlich sie dem eigenen Triumph dienstbar macht (KR2:

365). Wenn diese Revanche an der Apparatur allen möglich sein wird, also wenn die

 Verschmelzung von Produzent und Rezipient vollzogen ist, dann erfährt die Selbstent-

fremdung des Menschen durch seine Repräsentation durch den Apparat eine höchst

produktive Verwertung (KR2: 369). Brechts Ansicht, daß der Film als Kontrollinstanz

nicht nur das bewußt-technische der Rollen lehrt, sondern auch „die bewußte Haltung,

technische Apparate zu gebrauchen“ und sich ihrer Kontrolle auszusetzen,326 macht die

revolutionären Möglichkeiten des Films deutlich. Denn durch dieses Medium ist es den

revolutionären Intellektuellen möglich, die proletarischen Massen gegenüber den Appa-

326 Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß, 158.

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

raten, denen sie sich während der Arbeit gegenüber sehen, zu emanzipieren. Jedoch

bleibt die Selbstentfremdung der Arbeiter solange bestehen, bis der Film aus den Hän-

den des Kapitalismus bzw. Faschismus entrissen ist. Die Verschmelzung von Produzen-

ten und Rezipienten, die es erst ermöglicht, daß der Arbeiter bei der Arbeit gefilmt wird,

macht seine Leistung austellbar. Dadurch gewinnt er seine Menschlichkeit zurück, denn

nun wird auch das Spiegelbild des Arbeiters transportabel und von ihm ablösbar. Wie

der Filmdarsteller hat er das ständig im Bewußtsein, genauso wie die damit zusammen-

hängende Kontrolle seiner Leistung, die nun aber nicht mehr „heimlich“ durchgeführt

 wird, sondern offen. Benjamin betont im Kunstwerkaufsatz , daß die wichtigste Funktion

des Films es ist, „das Gleichgewicht zwischen Mensch und Apparatur herzustellen.“

(KR2: 375). Dies unternimmt der Film, indem er Einsichten in Zwangsläufigkeiten ver-

mehrt, die ohne ihn nicht zu gewinnen sind. Der Arbeiter erhält dadurch, daß er bei der

  Arbeit gefilmt wird, diese Einsichten in die Zwangsläufigkeiten seines Daseins, aber

auch wird ihm ein ungeheurer und ungeahnter Spielraum versichert (KR2: 375f.).

Die „zweite Technik“, der der Film zugehörig ist, ermöglicht in einer demokratischen

Gesellschaft die Versöhnung von Technik und Mensch, d. h. von Technik und Natur.

Der Film ist es also, mit dessen Hilfe die revolutionären Intellektuellen der Masse zu

Einsichten verhelfen können, die letztlich dahin führen können, daß sie sich aus einer

sie unterdrückenden Gesellschaftsform befreien, um somit zu einem versöhnten Ver-hältnis zwischen Technik und Natur, also sich selbst zu gelangen.

Die gesellschaftlich-politische Problematik visueller Medien in Benjamins Gesell-

schaftstheorie ist also letztlich die Problematik der technisch am fortgeschrittensten

Medien, die jeweils den Apperzeptionsstrukturen der Massen entsprechen. Den revolu-

tionären Intellektuellen muß es gelingen, sich dieser Techniken so zu bedienen, daß die

dabei entstehenden Produkte von dem bürgerlichen Produktionsapparat nicht mehr zu

assimilieren sind, und gleichzeitig den Bedürfnissen der Massen entsprechen. Diese

 Technik ist der Film. Da die revolutionären Intellektuellen ein Interesse an der Selbst-

und Klassenerkenntnis der Massen haben, arbeiten sie darauf hin, daß diese die in den

 visuellen Medien angelegte zweite Technik erkennen und sich zu nutze machen.

Bei allen Gemeinsamkeiten, die in dieser Arbeit zwischen Benjamin und Adorno her-

ausgestellt wurden, ist nicht zu übersehen, daß beide auch häufig große sachliche Diffe-

renzen hatten. Zudem muß auf Benjamins finanzielle Abhängigkeit vom Institut für

Sozialforschung hingewiesen werden, die auch ein anderes Licht auf Benjamins häufige

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VI. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung 

Übereinstimmung mit Adorno und Horkheimer wirft. Dies auszuführen muß jedoch

Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung sein.

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VII. Literaturverzeichnis

 VII. Literaturverzeichnis

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--: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Erste Fassung, in: GS I.2,

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--: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zweite Fassung , in: GS

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--: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Dritte Fassung , in: GS I.2,

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VII. Literaturverzeichnis

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--: Der Autor als Produzent , in: GS II.2, 683 – 701.

--: Der destruktive Charakter , in: GS IV.1, 396 – 398.

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--: Die politische Gruppierung russischer Schriftsteller , in: GS II.2, 743 – 747. 

--: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker , in: GS II.2, 465 – 505 

--: Einbahnstraße , in: GS IV.1, 83 – 148. 

--: Erfahrung und Armut , in: GS II.1, 219 – 231.

--: Erwiderung an Oscar H. Schmitz , in: GS II.2, 751 – 755.

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--: Karl Kraus , in: GS II.1, 334 – 367.

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--: Paralipomena, Varianten und Varia zur ersten Fassung von  Das Kunstwerk im Zeitalter

seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS 1.3, 1039 – 1051.

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--: Traumkitsch , in: GS II.2, 620 – 622. 

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VII. Literaturverzeichnis

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--: Der Messingkauf 1937 – 1951. Die Dritte Nacht: Das Theater des Stückeschreibers , in: ders.,

Gesammelte Werke 16, 500 – 660.

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8/3/2019 Tobias Bevc_Walter Benjamin - Zur Politisch-gesellschaftlichen Problematik Visueller Medien_Magisterarbeit 2000

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8/3/2019 Tobias Bevc_Walter Benjamin - Zur Politisch-gesellschaftlichen Problematik Visueller Medien_Magisterarbeit 2000

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Erklärung 

Erklärung:

Hiermit bestätige ich, Tobias Bevc, die vorliegende Magister-Hausarbeit Walter Benjamin: 

Zur politisch-gesellschaftlichen Problematik visueller Medien  selbständig und nur unter Zuhilfe-

nahme der angegebenen Quellen und Verweise verfaßt zu haben.

 Tobias Bevc