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UNIMAGAZIN BLÜHENDE GIPFEL Wie sich die Klimaerwärmung in den Alpen auswirkt JUSTIZIA IRRT Fehlurteile kommen in der Schweiz häufiger vor als erwartet ECHTER STRESS Wulf Rössler über unsere psychische Gesundheit DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 16. JAHRGANG NUMMER 3 SEPTEMBER 2007 IM DEMOKRATIELABOR Eine Staatsform auf dem Prüfstand

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UNIMAGAZIN

BLÜHENDE GIPFEL Wie sich die Klimaerwärmung in den Alpen auswirkt

JUSTIZIA IRRT Fehlurteile kommen in der Schweiz häufiger vor als erwartet

ECHTER STRESS Wulf Rössler über unsere psychische Gesundheit

DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 16. JAHRGANG NUMMER 3 SEPTEMBER 2007

IM DEMOKRATIELABOREine Staatsform auf dem Prüfstand

Das Beste, was wir der nächsten Generation mit auf den Weg in die Zukunft geben können, ist eine gute Bildung. Darumunterstützen wir von Swisscom die Schüler und Lehrkräfte aller 5000 Schweizer Schulen mit kostenlosen Internetanschlüssen. Zum Kommunizieren, Lernen und Recherchieren in der Welt der Geschichte und Kulturen, der Natur und Technik, der Medien und Zeitungsarchive. Gestern, heute und morgen. www.swisscom.com/schule

GEFORDERTEDEMOKRATIENDemokratie ist die beste aller Staatsformen,weil sie dafür sorgt, dass wir nicht besser regiertwerden, als wir es verdienen. Zu dieser unspek-takulären, aber realistischen Einschätzunggelangte der irische Dramatiker G.B. Shaw.Doch, was ist eine Demokratie? Und wie funk-tionieren demokratische Staaten? Solche Fragenuntersuchen Politologen und Publizistikwissen-schaftler der Universität Zürich im Rahmen desNationalen Forschungsschwerpunktes (NFS)«Herausforderungen der Demokratie im 21.Jahrhundert». Die Wissenschaftler analysierenund interpretieren demokratische Prozesse. Alsbesondere Herausforderungen für die Demo-kratie sehen sie die Globalisierung und denwachsenden Einfluss der Medien auf die Poli-tik. Diese Entwicklungen betreffen nicht nurjunge und wenig gefestigte Demokratien, son-dern auch die westlichen Staaten, mit ihren lan-gen demokratischen Traditionen. Denn demo-kratische Regeln sind nicht ein für alle Mal fest-geschrieben. Sie müssen immer wieder neuausgehandelt werden. In unserem Dossier zei-gen wir, wie die Wissenschaftler die Chancenund Risiken von demokratischen Prozessenanalysieren. Das Spektrum reicht dabei vomEinfluss der Medien auf Volksabstimmungenbis hin zur Frage, weshalb Demokratisierun-gen scheitern oder gelingen.

Weiter in dieser Ausgabe: Der Klimawandelist zu einem wichtigen politischen Themageworden. Forscher der Universität Zürich be-schäftigen sich mit den konkreten Auswirkun-gen wie etwa dem Ansteigen der Schneegrenzeoder der alpinen Flora, die sich neue Lebens-räume erobert. – Cannabis galt lange Zeit alsharmlose Droge. Wie der Sozialpsychiater WulfRössler in einer aktuellen Studie zeigen kann,ist dem nicht so. Der übermässige Konsum vonCannabis kann schwere psychische Folgenhaben. Im Interview diskutiert Rössler seineUntersuchung und nimmt Stellung zu Fragenunserer psychischen Gesundheit. Wir wünschenIhnen eine angeregte Lektüre. Ihre unimagazin-Redaktion, Thomas Gull, Roger Nickl

EDITORIAL DOSSIER DEMOKRATIE

INSEL DER SEELIGEN Die Schweiz gilt als demokratische Musterschülerin.Der Fotograf Andri Pol wirft einen ironischen Blick auf die Manifestationenunseres nationalen Selbstverständnisses.

25 MACHTLOSE MEDIEN Wenn im Abstimmungskampf die Meinungengemacht sind, stehen die Medien auf verlorenem Posten. Von Roger Nickl

29 GESINNUNGSWANDEL Einst orientierte sich die Presse an den Parteien.Heute gehorchen die Parteien der Logik der Medien. Von David Werner

32 SUPERDEMOKRATEN Die Schweiz ist ein ideales Modell für dieDemokratieforschung. Interview mit Hanspeter Kriesi und Otfried Jarren

36 SPALTPILZ DEMOKRATIE Die Demokratisierung kann zumAuseinanderbrechen von Staaten führen. Von Thomas Gull

40 QUALITÄTSKONTROLLE Wie gut sind unsere Demokratien wirklich?Aufschluss geben soll das neue Demokratiebarometer. Von Tanja Wirz

43 SIEDLUNGSBREI Die Agglomerationen in der Schweiz wachsen. Um ihreProbleme zu lösen, müssen sie sich zusammenraufen. Von Katja Rauch

TITELBILD/BILD OBEN Andri Pol – Landsgemeinde in Appenzell/Gartenzwerg auf der Simplonpasshöhe.

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ALPENBLÜHENDie Gebirgsflora erobert neue Lebensräume

12 FRAU HOLLE STREIKTWas tun, wenn im Winter der Schnee fehlt

14 AUS DER VOGELSCHAUWas historische Städtebilder erzählen

16 JUSTIZIAS IRRTÜMERFehlurteile sind häufiger, als man denkt

18 VIREN ALS DOPPELAGENTENWie man das HI-Virus wirksam bekämpft

21 EI MIT FENSTERHühnerembryonen und Nervenwachstum

INTERVIEWWulf Rössler über Cannabis und Burnout

6 SMALLTALK/LEUTE

7 STANDPUNKT

9 KUNSTSTÜCK/RÜCKSPIEGEL

46 ESSAYDie Geografie der Hirnforschung

48 PORTRÄTWie Karin Moelling den Aids-Virus überlistet

56 BÜCHER

58 SCHLUSSPUNKT

HERAUSGEBERINUniversitätsleitung der Universität Zürich durch unicom Media

LEITUNGDr. Heini Ringger, [email protected]

VERANTWORTLICHE REDAKTIONThomas Gull, [email protected] Nickl, [email protected]

AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABEDr. Susanne Haller-Brem, [email protected] | Maurus Immoos, [email protected] | Paula Lanfranconi, [email protected] | Babajalscha Meili, [email protected] | Matthias Meili, [email protected] | Katja Rauch, [email protected] |Adrian Ritter, [email protected] | Simona Ryser, [email protected] | DanielaSchwegler, [email protected] | Gerda Tobler (Illus-tration), [email protected] | David Werner,[email protected] | Dr. Tanja Wirz,[email protected]

FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFENManuel Bauer [email protected] | UrsulaMeisser, [email protected] | Meinrad Schade,[email protected] | Jos Schmid, [email protected]

GESTALTUNG/DTPHinderSchlatterFeuz, Zü[email protected]

KORREKTORAT, DRUCK UND LITHOSNZZ Fretz AG, Schlieren

ADRESSEunicom MediaSchönberggasse 15a8001 Zürich Tel. 044 634 44 30Fax 044 634 43 [email protected]

INSERATEKretz AGGeneral Wille-Strasse 1478706 Feldmeilen Tel. 044 925 50 60Fax 044 925 50 [email protected]

AUFLAGE26000 Exemplare. Erscheint viermal jährlich

ABONNENTENDas unimagazin kann kostenlos abonniert werdenunter [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikelnmit Genehmigung der Redaktion

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IMPRESSUM FORSCHUNG RUBRIKEN

WEBSITE www.unicom.uzh.ch/unimagazin

SMALLTALK mit Joachim Scharloth

«DER MYTHOS 1968»

Joachim Scharloth ist WissenschaftlicherAssistent am Deutschen Seminar.

Joachim Scharloth, weshalb erforschen Sie die Protestbewegung von 1968?Mich interessiert der populäre Mythos «68»,der so verschiedene Dinge wie den Globus-krawall, russische Panzer auf dem Wenzel-platz und den Busen von Uschi Obermeierunter einen Hut bringt. Da wird eineGemeinsamkeit suggeriert, die ich hinter-fragen möchte. Bislang wurde die Geschich-te von «68» immer von Zeitzeugen geschrie-ben, die sich oft die Frage nach Sieg oder derNiederlage der 68er stellten. Mich inter-essieren vor allem die kulturellen Aspektevon «1968».

Was interessiert Sie als Linguist an «68» ?«68» ist eine Zeit, in der sprachliche Inszenie-rungen von Nähe populär werden. Man duztsich öfters und drückt auch vermehrt Emo-tionen sprachlich aus. «Unheimlich» ist einesder Modewörter der Zeit.

Sie postulieren, «68» sei hier nicht ins kulturelle Gedächtnis eingegangen.Weshalb?«68» war in der Schweiz ein viel lokaleres Phä-nomen als in Deutschland oder Frankreich.

Sie untersuchen den «Zürcher Sommer1968» – was machen Sie genau?Der Kern des Projekts ist eine Edition vonQuellen zu 1968 auf dem Internet. Im nächs-ten Mai erscheint ein Buch mit Essays undBildern sowie eine DVD mit den Quellen.Interview Roger Nickl

WEBSITE www.ds.unizh.ch/scharloth

LEUTE

Stellt man sich so nicht einen Ethnologenvor? Mit dem Pferd durch die Steppe rei-

tend, auf dem Weg zur Feldforschung. Für PeterFinke ging dieser Wunsch 1991 nach dem Falldes Eisernen Vorhangs in Erfüllung. Endlichwaren nach dem Zusammenbruch der Sowjet-union die Grenzen zu den zentralasiatischenStaaten offen, und er konnte die Mongolei berei-sen – und Reiten lernen, um für seine Feldfor-schung überhaupt in die abgelegenen Noma-denlager zu gelangen. Damals stand er vor demAbschluss seiner Magisterarbeit in Ethnologiein Berlin. Inzwischen hat er nicht weniger alsvier Jahre im Herzen Eurasiens verbracht undist seit September 2006 ordentlicher Professorfür Ethnologie an der Universität Zürich. Mitseinem Forschungsgebiet ist Finke eine Aus-nahmeerscheinung: «Es ist der einzige Lehr-stuhl im deutschsprachigen Raum, der seinenSchwerpunkt auf die Länder Zentralasienslegt.» Das Interesse an Zentralasien hielt undhält sich innerhalb des Faches in Grenzen. EineForschungstradition konnte sich nicht etablie-ren, da die Gegend früher nicht zugänglich warund die Wissenschaftler auch heute noch mitbürokratischen Hürden zu kämpfen haben.

Finke interessiert vor allem, wie die Länderin Zentralasien mit dem Aufeinandertreffen vonsozialistischer Vergangenheit und marktwirt-schaftlichen Reformversuchen umgehen. So

untersucht er, wie diese Konstellation diegesellschaftlichen Normen in Kasachstan ver-ändert. Für 2008 ist ein Forschungsaufenthalt inder Mongolei geplant, um die Transformationzur Marktwirtschaft weiter zu dokumentieren.Wie die Zukunft Zentralasiens aussehen wird,hänge vor allem davon ab, ob es den einzelnenLändern gelinge, ihre Beziehungen untereinan-der zu verbessern. Die wirtschaftlichen Voraus-

Peter Finke

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setzungen dafür sind unterschiedlich: WährendKasachstan dank den Einnahmen aus demÖlgeschäft boomt, liegt die Wirtschaft in Usbe-kistan darnieder. Adrian Ritter

Am kunsthistorischen Institut avanciert dieFotografie dank eines neuen Studienganges

vom Hilfsmittel zum Forschungsgegenstand.«Endlich kanns losgehen», freut sich WolfgangKersten, der Leiter der Lehr- und Forschungs-stelle zu Theorie und Geschichte der Fotogra-fie. Zwei Jahre lang hat der Kunsthistoriker Stu-dienziele formuliert, an Lehrplänen gefeilt undVerhandlungen geführt. Was auf die Initiativevon zwei Studentinnen zurückgeht, brachte

Kersten in die institutionalisierte Form einesNebenfachstudienganges. Seit 1999 hatten Kris-tine Häfele und Sabine Kaufmann am kunsthis-torischen Institut Lehrveranstaltungen zumThema Fotografie organisiert. Für ihr Projektkonnten sie den Galeristen Kaspar M. Fleisch-mann gewinnen, der bedeutende Fotografie-sammlungen besitzt. Fleischmann hat bereitsbei der Gründung des Fotomuseums Winter-thur mitgewirkt und führt nun sein Engage-ment für die Fotografie an der Universitätweiter. Die von ihm geleitete Dr.-Carlo-Fleisch-mann-Stiftung finanziert den Studiengang voll-umfänglich.

Die Erforschung der Fotografie anhandhistorischer und kommunikationstheoretischerAnsätze stehe im Vordergrund des Studiums,betont Kersten, der in diesem Semester einProseminar zur Bauhausfotografie anbietet.Zum Programm gehört aber auch ein auf dieAnwendung des theoretischen Wissens aus-gerichteter Teil im Fotomuseum Winterthur,und die Studenten können sich Praktika beiGalerien, Museen oder Fotografen anrechnen

Wolfgang Kersten

STANDPUNKT von Beat Keller

Forschung zu Nutzen und Risiken der pflanzli-chen Gentechnik unter Freilandbedingungenist aktuell und dringlich: Obschon die Techno-logie erst seit elf Jahren kommerziell zur Ver-fügung steht, werden weltweit jedes Jahrbereits mehr als 100 Millionen Hektarengentechnisch veränderte Pflanzen angebaut.Das entspricht 25-mal der Gesamtfläche derSchweiz. In den USA beruhen heute 91% derSoja- und 87% der Baumwollproduktion aufgentechnisch veränderten Sorten. In derSchweiz allerdings steht die Zeit still: Es gilt bis 2010 ein Verbot für die kommerzielle Nut-zung der landwirtschaftlichen Gentechnik.

Das Moratorium muss als Pause zum For-schen und Denken genutzt werden. Die For-schung ist gefordert, gerade auch für spezifischschweizerische Verhältnisse neue Erkenntnissezu sammeln. Deshalb haben elf Forschungs-gruppen unter der Leitung der UniversitätZürich ein Feldexperiment (Versuchsgrösse0,6 Hektaren, verteilt auf drei Jahre) geplant.Im Versuch, der im Rahmen des NationalenForschungsprogramms «Nutzen und Risikengentechnisch veränderter Pflanzen» durchge-führt werden soll, wollen wir wissenschaftliche

Fragen zu gentechnisch veränderten Pflan-zen mit erhöhter Krankheitsresistenz beant-worten (siehe www.konsortium-weizen.ch).Löst das geplante Feldexperiment nun eineweitere Welle der Entrüstung aus, wie sich dasForschende seit der Genschutzinitiative ge-wohnt sind?

Die bisherigen Reaktionen lassen nochkeine klare Antwort zu. Zwar gab es Anfragenund Interpellationen mit Antrag auf Ablehnungdes Versuchs auf Gemeinde-, Kantons- undeidgenössischer Ebene und einige kritischeBerichte in den Medien. Doch reisserische Zei-tungsberichte liefen schon bald einmal insLeere. Und auch die Besorgnis der Bevölke-rung war bescheiden: Nur zwei Personen bean-tragen, für den Versuch in Zürich als Parteigegen den Versuch anerkannt zu werden, einAnspruch, der von der zuständigen Bewilli-gungsbehörde geprüft werden wird.

Und doch – wie sollen wir als Forschende mitder zum Teil lautstarken Ablehnung des Pro-jekts umgehen? Mit Sicherheit ist eine offeneund langfristige Kommunikation nötig. Zudemversuchen wir, bei den Feldversuchen auf Ein-sprachen und Einwände der Anwohner einzu-gehen und gemeinsame Lösungen zu erarbei-ten. Mit dieser offenen und transparenten Hal-tung wollen wir als Wissenschaftler dazu bei-tragen, Klarheit zu Motiven, Vorgehen und Zie-len der Forschungsarbeiten zu schaffen. DerZürcher Stadtrat hat uns kürzlich bescheinigt,dass wir das bis jetzt gut gemacht haben. Nachden hitzigen Debatten rund um die Genschutz-initiative scheint heute ein ruhigerer undgelassenerer Dialog zwischen Forschendenund Bevölkerung möglich. Die Bewährungs-probe kommt allerdings im nächsten Frühjahr,wenn für den Versuch ausgesät werden soll.

Beat Keller ist Professor für Pflanzenbiologie, insbe-sondere Molekularbiologie der Pflanzen an der Uni-versität Zürich und hauptverantwortlicher Forscherdes Projekts Konsortium-Weizen.ch.

GENTECH-FORSCHUNG

«Nach den hitzigen Debatten rundum die Genschutzinitiative scheint

heute ein gelassenerer Dialogzwischen Forschenden und

Bevölkerung möglich.»

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lassen. Schon die von Häfele und Kaufmannorganisierten Veranstaltungen waren sehrbeliebt. Für den neuen und im deutschsprachi-gen Raum einzigartigen Studiengang kommendie Studierenden nun auch aus dem Auslandnach Zürich. Babajalscha Meili

A ufgewachsen ist Renata Coray im KantonBaselland. Doch da beide Eltern aus dem

Bündner Oberland stammen, wurde in derFamilie Sursilvan gesprochen, eines von fünfIdiomen des Rätoromanischen. Mittlerweile istCoray wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ro-manischen Seminar der Universität Zürich undinteressiert sich dafür, wie die verschiedenenSprachen die Identität von Romanischsprachi-gen prägen. Denn neben dem Romanischen istDeutsch unerlässlich sowohl in der Schule wieauch im Alltag. Und welche Einstellung habendie Romanen zur Schriftsprache «Rumantsch

Grischun»? Solchen Fragen geht Coray derzeitim Rahmen des Forschungsprojektes «Rätoro-manische Sprachbiographien. Sprache, Iden-tität und Ideologie in Romanischbünden» nach.

Für Sprachen und Sprachenpolitik interes-siert sie sich schon lange. Im Rahmen eines frü-heren Projektes untersuchte sie die Verfas-sungsdebatten und Presseartikel rund um denSprachenartikel in der Bundesverfassung. Ihresoeben abgeschlossene Dissertation geht denSprachmythen jener Romanischsprachigennach, die sich besonders für die Erhaltung desRätoromanischen einsetzen. Im aktuellen Pro-jekt erforscht sie, welche sprachlichen Erleb-nisse und Prägungen bei den Romanen ausser-halb dieser Bewegung zu finden sind. 30 Inter-views haben Coray und ihre wissenschaftlicheMitarbeiterin geführt, bis Sommer 2008 soll dieAuswertung vorliegen. Adrian Ritter

Renata Coray

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SCHLAFEN AN DER UNIWir schreiben das Jahr 1989. Kurz vor denWintersemesterferien versammelt sich eineSchar von Studierenden vor den Toren derUniversität Zürich, doch diese sind ver-schlossen. Eine private Wachgesellschaftund ein Polizeicorps sorgten dafür, dass dasso blieb. Doch was war geschehen? Weshalbdiese Aufruhr kurz vor den Ferien?

Am 20. Februar 1989 verkündete die «Zür-cher StudentIn», im Lichthof der Universitätwerde ein «SleepIn» stattfinden. Ein Ansin-nen, mit dem sich der damalige Rektor HansHeinrich Schmid nicht anfreunden konnte. Erliess deshalb kurzerhand das Hauptgebäu-de schliessen und bewachen. VerschiedenePrüfungen, zwei Antrittsvorlesungen und dieVeranstaltungen der Volkshochschule fielendiesem Entschluss zum Opfer.

Dies schien die rund 400 Studierendenkaum zu kümmern. Sie begaben sich statt inden geschlossenen Lichthof ins benachbar-te Deutsche Seminar, um ihr «SleepIn» dochnoch durchzuführen. «Das anschliessendeFest war ein Vollerfolg […] und morgens umsieben wurden die über alle 4 Stöcke verteil-ten Beschlaferinnen standesgemäss durchein Alphorn geweckt», berichtete einer derStudierenden von dieser Nacht.

Maximilian Jaeger, der damals als Univer-sitätssekretär für die Zuteilung der Räumeverantwortlich war, kann sich gut an dieEreignisse erinnern: «Die Aktion hatte Hap-pening-Charakter und war in einer gewis-sen Weise auch eine Heraufbeschwörung der68er-Bewegung. Sie ging aber gewaltlos überdie Bühne.»

Die Schlafaktion sollte jedoch nicht blosseine Pyjama-Party sein, sondern den politi-schen Austausch zwischen den Studieren-den fördern. Das Ganze stand unter demSchlagwort der «UniTOPie» und wurde ange-regt durch die Ereignisse an der Freien Uni-versität Berlin. Die «UniTOPistInnen» kriti-sierten den Studienalltag und wollten diesenaktiv verändern. Rektor Hans HeinrichSchmid bot den Studierenden zwar dasGespräch an. Ihre Anliegen konnten sie abernicht durchbringen. Maurus ImmoosRECHERCHE Silvia Bolliger

RÜCKSPIEGEL

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KUNSTSTÜCK von Philip Ursprung

Welche Bauten müssen im Zentrum von Zürich stehen, welche können ausgelagert werden?

Die gegenwärtige Diskussion um das ZürcherKongresszentrum zeugt vom Interesse derBevölkerung an architektonischen und städte-baulichen Entscheidungen. Zugleich fällt auf,dass sich die Auseinandersetzung in erster Linieum die Qualität des Objekts dreht. Wichtigerals die Frage nach der Qualität ist allerdingsjene nach dem Standort. Und diese kann nurdann angemessen behandelt werden, wennman sich vor Augen führt, wie die Stadt Zürichzu definieren ist. Das Label «Downtown Switzer-land» für die Vermarktung der Stadt und dieGreater Zurich Area zeugen davon, dass sichZürich längst in einem überregionalen Hori-zont sieht. In der öffentlichen Wahrnehmungendet die Stadt nicht an den politischen Gren-zen der Gemeinde Zürich.

Weil die Stadtplaner an die politischen Struk-turen gebunden sind, müssen sie zwangsläufiginnerhalb enger Grenzen agieren. Die Auswir-kungen werden in den Querelen um Infrastruk-turbauten deutlich. Das Hardturm-Stadion unddas Kongresszentrum sind vor allem deshalbZankäpfel, weil sie sich auf dem ohnehin engenRaum des Zentrums drängen. Die Erweite-rungsbauten des Rietberg Museums sowie diegeplante Erweiterung des Kunsthauses sindzweifellos gefällige Objekte. Städteplanerischverspielt Zürich allerdings die Chance, sie alsAttraktoren für neue Gebiete einzusetzen.Warum darf das neue Kunsthaus nicht in Altstet-ten stehen? Als Vorbild könnte Basel dienen.Das Schaulager wurde bewusst nicht in die

ohnehin kulturell saturierte Innenstadt ge-pfercht. Es steht am Stadtrand umgeben vonLagerhäusern – als Katalysator eines neuenStadtviertels für Kultur und Bildung.

Diese Prozesse sind bekannt und erforscht.Es lohnt sich, gerade im Hinblick auf die anste-henden Entscheidungen, die 2006 erschiene-nen Bände «Die Schweiz: Ein städtebaulichesPorträt» noch einmal anzusehen. Sie sind dasResultat der Forschungsarbeit des ETH StudioBasel um Roger Diener, Jacques Herzog, Mar-cel Meili und Pierre de Meuron. «Wie gross istZürich?», lautet eine Frage. Ist es die «europäi-sche Grossregion Zürich» mit 4 Millionen Ein-wohnern? Oder steuert die Stadt, wie Herzogbefürchtet, wegen der radikalen Trennung vonZentrum und Peripherie auf einen Kollaps zu?Das Problem lokalisiert Herzog in der ganzenSchweiz in der Struktur der Gemeinde, dem,wie er meint, «Antikörper der Stadtwerdung»,die das Denken und Handeln in grösserenZusammenhängen blockiert und verhindert,dass sich Zürich «im Sinne der Metropolen des19. oder 20. Jahrhunderts» ausbreiten kann.Eine Veränderung kann nur auf politischemWeg geschehen. Aber dazu bräuchte es zuerstein Interesse am Städtischen. In Herzogs Wor-ten: «Den Willen, zu einem grösseren städti-schen Ganzen zu gehören, spüre ich nirgendwoin der Schweiz – nicht einmal in Zürich.»

Philip Ursprung ist Professor für Moderne und zeit-genössische Kunst an der Universität Zü[email protected]

DOWNTOWN SWITZERLAND

BILD Manuel Bauer

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FORSCHUNG

SCHÖNER DIE ALPEN NIE BLÜHTEN

Die globale Klimaerwärmung macht sich auch in den Alpen bemerkbar: die Glet-scher schmelzen, die Schneegrenze steigt und die alpinen Pflanzen erobern sichSchritt für Schritt neue Lebensräume. Von Thomas Gull

Am Ende der letzten Eiszeit reichte die Zungedes Morteratsch-Gletschers bis hinunter nachPontresina. Jetzt zieht sie sich jedes Jahrzurück, hinauf zur Bernina-Gruppe, wo sieherkommt. Im Durchschnitt sind es zwischen 20und 40 Meter pro Jahr, im Hitzesommer 2003waren es sogar 75 Meter. Nach dem Rückzugkommt zum Vorschein, was die Eismasse injahrtausendelanger Kleinarbeit zu Tale geför-dert hat – Schutt, Geröll, manchmal Baum-stämme und Leichen verunglückter Menschen.Doch die Steinwüste wird schnell von Pflanzenin Besitz genommen. Zuerst kommen Pionier-pflanzen wie das Graue Zackenmützenmoos(Rhacomitrium canescens) und das Pohlmoos(Pohlia gracilis), dann folgen die Säuerlinge(Oxyria digyna) und das Fleischer’sche Wei-denröschen (Epilobium fleischeri), die ersteFluren bilden. Schliesslich folgen Bäume undSträucher, meist zuerst die Lärche (Larix deci-dua), die sich als Pionierin schon sehr früh fest-setzt, später die Arve (Pinus cembra). Der Wegzum Fuss der Gletscherzunge führt deshalbzunächst durch ein junges Lärchenwäldchen. Esdauert über 150 Jahre, bis nach dem Rückzugdes Gletschers ein richtiger Wald entsteht.

NEUE ARTEN EROBERN DIE GIPFEL

Conradin A. Burga, Professor für Physische Geo-graphie, beobachtet die Entwicklung am Mor-teratsch seit 25 Jahren. Jedes Jahr macht er mitseinen Studierenden eine Exkursion ins Enga-din, damit sie sich vor Ort ein Bild machen kön-nen. Gerade im Vorfeld des Gletschers auf demRückzug gebe es immer wieder Neues zu ent-decken, freut sich Burga. Die Erforschung deralpinen Flora ist eines von Conradin BurgasForschungsgebieten, das mit der Klimaerwär-mung an Dynamik und Brisanz gewonnen hat.

Im Rahmen der Global Observation ResearchInitiative in Alpine Environments (GLORIA)wird untersucht , wie sich die Klimaerwärmungauf die alpine Vegetation auswirkt. Zu diesemZweck werden die Vegetationskundler zu Berg-steigern. Denn am besten lassen sich die Folgender globalen Erwärmung weit oben dokumen-tieren – vorzugsweise auf über 3000 Metern.«Gipfelflora Monitoring» nennt sich diese Dis-ziplin, die wissenschaftliche Arbeit mit Leis-tungssport verbindet. Dabei wird nach interna-tional festgelegten Regeln die Vegetation derobersten 10 Meter eines Gipfels inventarisiert.

Burga hat zusammen mit Kollegen und Stu-dierenden 2003 elf Gipfel im Bernina-Gebietuntersucht und dabei Erstaunliches festgestellt:Die Zahl der Arten hat sich im Vergleich mitfrüheren Erhebungen vervielfacht. Auf dem PizTschüffer (2916 m) etwa wurden vor rund hun-dert Jahren 7 Arten gezählt, 2003 waren es 27.Das entspricht einer Zunahme von fast 300 Pro-zent. Andere Gipfel weisen ebenfalls sehr hoheZuwachsraten aus, neun Gipfel zeigen eineZunahme der Arten von 23 bis 286 Prozent.

Einige der Pflanzen haben bei ihrem Auf-stieg in den vergangenen hundert Jahrenerstaunliche Höhendifferenzen überwunden.So findet sich der Graue Alpendost (Adenosty-les alliariae) heute auf 3040 Metern (plus 440m), die robusten Arven wachsen bis auf 2810Meter (plus 230 m). Den grössten Sprung hat derZerbrechliche Blasenfarn (Cystopteris fragilis)gemacht (plus 520 m, auf 2720 Meter). Zu nocheindrücklicheren Ergebnissen kam Esther Frei,die für ihre Diplomarbeit in den Sommern 2004und 2005 die Alpenflora am Piz Languard beiPontresina (3262 Meter) inventarisierte und mitden Ergebnissen von 2003 und früheren Auf-nahmen verglich, die bis ins Jahr 1905 zurück-

WEBSITE www.geo.unizh.ch/phys/ BILD Ursula Meisser

Wenn sich die Gletscher zurückziehen, entsteht neuer

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Lebensraum, der zuerst von Pionierpflanzen besiedelt wird.

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reichen. Frei untersuchte nicht nur die obers-ten zehn Meter, sondern den Höhenbereichvon 3000 bis 3262 Metern. Dabei konnte bei37 Arten ein deutlicher Anstieg festgestelltwerden, 12 Arten stiegen geringfügig ab und36 blieben mehr oder weniger stabil. DieAnstiege, die Frei verzeichnete, liegen zumTeil noch beträchtlich über jenen der Unter-suchungen von 2003, beispielsweise beimAlpen-Hornklee (Lotus alpinus, plus 645 m)oder der Arnika (Arnica montana, plus 565).Von 980 Blüten- und Farnpflanzen des Unter-und Oberengadins weisen 213 Arten einenHöhenanstieg von mehr als 100 Metern auf.

PREISELBEEREN AUF 3000 METERN

Pioniere der Alpen-Botanik wie Oswald Heer,Paläobotaniker an der Universität und ETHZürich, haben diese aufschlussreichenVergleiche ermöglicht. Heer zählte 1866 diePflanzen auf dem Piz Linard. Für die Arbeitvon Burga und seiner Kollegen waren jedochvor allem die Inventare von Eduard Rübel(1912), dem Stifter des Geobotanischen Insti-tuts der ETH Zürich, von Josias Braun-Blanquet (1913), der die Pflanzensoziolo-gische Nomenklatur entwickelte, und vonHans Rudolf Hofer (1992) besonders wertvoll.

Wenn auf 3000 Metern plötzlich Preisel-beeren wachsen (Vaccinium vitis-idaea, plus460 m), die normalerweise in den Gebirgs-Nadelwäldern bis höchstens zur Waldgren-ze verbreitet sind, ist das für Burga ein kla-res Indiz für den Klimawandel. Wie die Datennahe legen, hat sich der Anstieg seit 1985zudem um rund zehn Höhenmeter pro Jahr-zehnt beschleunigt. In dieser Zeit erwärmtesich das Klima um 0,5 bis 0,7 Grad Celsius,ein Trend, der sich bis Mitte dieses Jahrhun-derts verstärkt. Es dürfte deshalb nur eineFrage der Zeit sein, bis auf einigen Engadi-ner Gipfeln Lärchen und Arven wachsen.

KONTAKT Prof. Dr. Conradin Burga, Geographi-sches Institut Universität Zürich, [email protected]

FINANZIERUNG EU-Projekt GLORIA (GlobalObservation Research Initiative in Alpine Envi-ronments); DFG, Bonn; Stiftung Dr. Joachim deGiacomi.

FORSCHUNG

SKIFAHREN OHNE SCHNEE

Mit der Klimaerwärmung steigt auch die Schneegrenze. Wie sich das auf die Win-tersportorte im Alpenraum auswirkt, hat der Geograf Bruno Abegg in einer Studieim Auftrag der OECD untersucht. Von Thomas Gull

Wer träumt in unseren Breitengraden nicht vonweissen Weihnachten? Mit der Erwärmung desKlimas dürfte dieser Wunsch künftig immer sel-tener in Erfüllung gehen. Die Schneegrenzesteigt und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass esunter 1200 Metern schneit. Was für viele allen-falls ein emotionaler Verlust ist, hat für die Tou-rismusindustrie gravierende Konsequenzen:Die steigende Schneegrenze trifft die Winter-sportbranche in ihrem Lebensnerv. Wie sichdie Veränderungen auf den Tourismus imAlpenraum auswirken, hat der Geograf BrunoAbegg, Oberassistent am Geographischen Insti-tut, in einer alpenweiten Studie im Auftrag derOECD untersucht. Dabei hat Abegg einerseitsinteressiert, wie sich eine Klimaerwärmung um1, 2 und 4 Grad auf die Schneesicherheit aus-wirkt, andererseits erörtert er Strategien, umden Veränderungen zu begegnen.

Doch was bedeutet überhaupt Schnee-sicherheit? «Der Schnee ist eigentlich ein ‹Zap-pelphilipp›», diagnostiziert Abegg, «die Unter-schiede bei der jährlichen Schneemenge sindsehr gross, das illustrieren die letzten beidenWinter auf eindrückliche Weise.» Deshalb sei esnicht einfach, Trends herauszulesen. DieSchneedaten zeigten jedoch, dass die Schnee-menge tatsächlich abnehme. Allerdings nur inden tieferen und mittleren Lagen. Die Erklä-rung ist einfach: Die Niederschläge gehengesamthaft nicht zurück, weiter unten fallensie aber nicht mehr in Form von Schnee, son-dern auch im Winter immer öfter als Regen.Das hat Konsequenzen: Heute können 609 der666 von Abegg untersuchten Skigebiete inÖsterreich, der Schweiz, Deutschland, Frank-reich und Italien als schneesicher gelten. Dasheisst, sie verfügen im Durchschnitt während100 Tagen über eine Schneedecke von mindes-tens 30 Zentimetern. Diese Zahl wird in dennächsten Jahren kontinuierlich abnehmen – auf

500 Schneesportgebiete bei einer Erwärmungum 1 Grad, auf 404 bei plus zwei und auf 202 beiplus vier Grad. Das heisst, gegen Ende diesesJahrhunderts wird voraussichtlich nur nochknapp ein Drittel der bisherigen Schneesport-gebiete schneesicher sein.

Ein unerfreuliches Szenario, wobei dieSchweiz am wenigsten betroffen ist, weil es hierviele Skigebiete gibt, die über 1800 Metern lie-gen. Die Grenze der Schneesicherheit liegtheute auf 1200 Metern und steigt dann pro GradErwärmung um 150 Meter an, bei einer Erwär-mung um vier Grad demnach auf 1800 Metern.In der Schweiz würden in diesem Fall noch 78Wintersportgebiete als schneesicher gelten,heute sind es gut doppelt so viele (159). Am här-testen trifft die Erwärmung Deutschland, des-sen Skigebiete mit einer Ausnahme nicht mehrmit genügend Schnee rechnen könnten.

SCHNEE AUS KANONEN KOSTET MILLIONEN

Was ist zu tun, wenn der Schnee ausbleibt?Abegg erörtert verschiedene Strategien. Eineder populärsten sind Beschneiungsanlagen. Derkünstlich hergestellte Schnee war in den 90er-Jahren politisch noch heftig umstritten. Mitt-lerweile wächst die Zahl der beschneitenPistenkilometer jedoch rapide an. Heute könnenin der Schweiz rund 18 Prozent aller Pistenbeschneit werden, 1990 waren es noch 1,5 Pro-zent. Schneeanlagen machen allerdings nurSinn in Gebieten, die normalerweise schneesi-cher sind. Das künstlich produzierte Weiss dientin der Regel dazu, die Launen des Zappelphi-lipps Schnee auszugleichen. Künstlicher Schneeist allerdings sehr teuer. Bisher wurden in derSchweiz über 330 Millionen Franken in Schnee-anlagen investiert, die Produktion von einemKubikmeter Schnee kostet je nach Schätzungzwischen einem bis fünf Euro. Nur die besserbetuchten Bergbahnunternehmen können es

WEBSITE www.geo.uzh.ch

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sich überhaupt leisten, Schnee zu machen. Aberauch deren Budgets werden mit Beträgen inMillionenhöhe belastet, um etwas herzustellen,das früher gratis und franko vom Himmel fiel.Neben der Beschneiung gibt es weitere Mass-nahmen wie etwa der Ersatz von Schleppliftendurch Sessellifte, das Planieren von Pisten oderdas Abdecken von Gletschern mit Kunststoff-folie. Ebenfalls erwogen wird die Verlegungeinzelner Beförderungsanlagen oder ganzerSkigebiete in höhere Lagen und an die Nord-hänge, wo der Schnee weniger schnell von derSonne «gefressen» wird. Beide Optionen sindteuer, mit Risiken behaftet (erhöhte Lawinen-gefahr) und politisch heikel (Neuerschliessun-gen werden bekämpft).

RENAISSANCE DER SOMMERFRISCHE

Für hoch genug gelegene Tourismusgebietemache das Festhalten am Wintertourismusnach wie vor Sinn, betont Abegg. Alle anderenmüssten umdenken. Was nicht ganz einfachsein dürfte, denn die Bergbahnen in derSchweiz machen 84 Prozent ihres Umsatzes imWinter. Abegg versprüht jedoch einen gewis-sen Optimismus. Die Branche sei hochdyna-misch und man brauche nicht bereits morgen«pfannenfertige» Rezepte, gibt der Wirtschafts-geograf zu bedenken, der selber einer Arbeits-gruppe von Schweiz Tourismus angehört, diesich mit der künftigen Ausrichtung des Alpen-tourismus beschäftigt. Da gibt es auch erfreu-liche Perspektiven: «Wenn wir nicht nur denWinter anschauen, sondern auch den Sommer,dann sehen wir mehr Rosarot und Himmel-blau», betont Abegg. Denn die Zukunftsszena-rien gehen von wärmeren und trockenerenSommern aus, was die hitzegeplagten Flach-länder in die Berge treiben wird. Gleichzeitigwird es in den Sommermonaten in den Ferien-gebieten am Mittelmeer so heiss sein, dass dieLust, dort Ferien zu machen, abnehmen dürf-te. «Das ist die Chance für eine Renaissance derklassischen Sommerfrische in den Alpen», sagtAbegg. Die Touristiker müssen sie nur packen.

KONTAKT Dr. Bruno Abegg, Geographisches InstitutUniversität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT OECD Environment Directorate

FINANZIERUNG OECDWas tun, wenn der Schnee ausbleibt? Künstliche Beschneiung lohnt sich nicht für alle Skigebiete.

BILD Alessandro della Bella

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FORSCHUNG

IMAGINÄRE STÄDTE

Historische Stadtdarstellungen sind Schaufenster auf vergangenes urbanes Leben.Ein grossangelegtes Forschungsprojekt zeichnet nun erstmals die Entwicklungsolcher Städtebilder in der Schweiz nach. Von Roger Nickl

Wie ein imaginäres Luftschiff liess Jacopo de’Barbari im Jahre 1500 seinen Geist in die Höheschweben. Von dort aus, aus der Vogelschau-perspektive, zeichnete der Künstler ein völligneues, so noch nie gesehenes Bild seiner StadtVenedig. In einer majestätischen Schlangen-linie zieht der Canale Grande eine von Pracht-bauten gesäumte Schneise durch das Häuser-gewirr und mündet – in der Ferne – schliesslichins offene Meer. Barbaris Meisterwerk setztedamals neue Massstäbe in der Wahrnehmungund in der künstlerischen Darstellung von Städ-ten – und es lancierte einen neuen Trend. Inder Folge entstand in Europa eine Flut solcherso genannter Vogelschauveduten – darunterauch der berühmte Plan der Stadt Zürich, denIosias Murer 1576 schuf. Für die Betrachter des16. Jahrhunderts waren solche Bilder wohl derInbegriff für künstlerische Vorstellungskraftund technische Raffinesse. Sie liessen die Welt,in der man lebte, in einem neuen Glanz erstrah-len. Stadtveduten hatten aber auch eine ganzpraktische Seite: Sie waren Vorgänger vonStadtplänen und halfen etwa Steuerbeamten,ihre Klienten im Gassengewirr aufzuspüren.

VON KUNSTWERKEN LERNEN

Nicht nur die Menschen in der Renaissancebegeisterten sich für solche Stadtdarstellungen,auch die Historiker und Kunsthistoriker vonheute sind von diesen Kunstwerken fasziniert.Für sie sind sie wertvolle Quellen, die über diesozialen Verhältnisse, demographischen Ent-wicklungen und über den städtischen Alltag inder Vergangenheit berichten und somit vor-handene Textquellen und Dokumente ergän-zen. Bernd Roeck von der Universität Züricherforscht schon seit etlichen Jahren die Ent-wicklung von Städten in Europa vor allem inder Frühen Neuzeit. Und er analysiert Bilderund Kunstwerke als historische Zeugen der

Geschichte. «Kunst ist das grösste Symbol-system der Menschheit, da gibt es viel zulernen», sagt Roeck, «bis vor kurzem wurdediesen Quellen aber viel zu wenig Beachtunggeschenkt.» Ein Plädoyer für diese Sicht derDinge gab der Historiker bereits 2004 in seinemBuch «Das historische Auge. Kunstwerke alsZeugen ihrer Zeit».

In einem aktuellen, vom Nationalfondsunterstützten Projekt ist Bernd Roeck und einrund sechzigköpfiges Team von Historikern undKunsthistorikern nun damit beschäftigt, eineIkonographie der Schweizer Stadt zu erarbeiten.Ziel ist es, alle bildlichen Darstellungen vonüber 40 Deutschschweizer sowie von rund 20Städten in der Romandie und drei Städten imTessin, die zwischen dem 15. bis zum 19. Jahr-hundert entstanden sind, zu sammeln, zu sich-ten und zu interpretieren. Dazu gehören Gemäl-de und Grafiken genauso wie Fotografien.Obwohl sich Schweizer Stadthistorikerinnenund -historiker immer wieder in kleinerenStudien mit solchen Bildquellen auseinander-gesetzt haben, fehlt bislang eine nationaleBestandesaufnahme, die erst einen Vergleichder Stadtbilder und ihrer Entwicklung in denverschiedenen Sprachregionen und Kultur-räumen möglich macht. Die Recherche könnte,so hofft Bernd Roeck, auch neue, bislang un-bekannte Stadtdarstellungen aus den Tiefen derArchive ans Licht heben.

Die Forscher wollen aber auch nachzeich-nen, wie sich die visuelle Inszenierung vonStädten in der Schweiz verändert hat. Einer Ent-wicklung, die von frühen Symbolen, wie sieetwa auf Siegeln zu finden sind, über Vogel-schauveduten und die so genannte Kavalier-perspektive bis hin zur romantischen Sicht derStadt in ihrer natürlichen Umgebung und zufrühen Fotografien führt. Anhaltspunkte dazuhat Bernd Roeck bereits in den 90er-Jahren

WEBSITE www.hist.uzh.ch

Dominantes Grossmünster: In seinem Plan von 1576

BILD Manuel Bauer

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gesammelt: Damals koordinierte er im Rahmeneines grossen europäischen Projekts eine deut-sche Arbeitsgruppe, die sich mit dem «Bild derStadt in der Neuzeit, 1500–1800» – so der Titeldes 1998 erschienenen Buches – beschäftigte.

SCHAUFENSTER AUF DIE WELT

In der frühen Neuzeit wurde die Malerei revo-lutioniert: Mit der Erfindung der Zentralper-spektive wird das Bild zum Schaufenster auf dieWelt. Trotz dieses neuen Realismus in der Kunstwaren Stadtdarstellungen nie Abbildungen derWirklichkeit. Sie sind im Gegenteil immerInszenierungen: schöne und prächtige Reprä-sentationen eines städtischen Gemeinwesens,das sich im besten Licht zeigen will. «Wir sehenin diesen Bildern, wie sich die Menschen etwades 16. oder 17. Jahrhunderts eine Stadt vorge-stellt haben – wie sie sie sehen wollten», sagtBernd Roeck, «indem wir diese Stadtbilderlesen, können wir viel über die histoire imagi-naire lernen.» In Murers Stadtplan aus dem16. Jahrhundert wird das Grossmünster bei-spielsweise besonders deutlich hervorgehoben.«Man zeigt sich als christliche Stadt, als Gottes-stadt», erklärt der Historiker, «viele dieser altenDarstellungen, auch der Murer-Plan, deutenauf ein sakrales Verständnis der Stadt als Heils-gemeinschaft hin.» Ebenfalls fragen kann mansich, weshalb im Murer-Plan die Schiffsbrückenauf der Limmat so aufwendig und detailliertgestaltet sind. «Heute würde man technischenEinrichtungen wohl kaum so viel Platz einräu-men», meint Bernd Roeck, «damals zeigte manaber mit Stolz diese Wunderwerke der Technikund inszenierte sich als moderne Stadt.»

Aus den aktuellen Forschungsarbeiten sollschliesslich ein Buch entstehen: Neben den Bei-trägen, die den über sechzig Schweizer Städ-ten gewidmet sind, wollen die Wissenschaftleraufzeigen, wie sich soziale und kulturelleRahmenbedingungen auf die Darstellungen vonStädten auswirkten. Gibt es etwa eine spezifischkatholische oder eine protestantische Insze-nierung von Stadt? Wie setzen sich wiederumPatrizierstädte wie Bern oder Luzern in Szene?Und wie die Zunftstadt Zürich? Zudem: Wiewirkt sich der Transfer von Techniken undIdeen aus Deutschland, Italien und Frankreichauf die Stadtikonographie in der Schweiz aus?inszenierte Iosias Murer Zürich als Gottesstadt.

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Solche Fragen wollen die Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler beantworten.«Wir möchten letztlich herausfinden, ob eseine spezifisch schweizerische Stadtikono-graphie gibt», sagt Bernd Roeck.

HONGKONG ODER ZÜRICH

Die Metropolen von heute ziehen immermehr Menschen an: Während 1950 nochrund 70 Prozent der Weltbevölkerung aufdem Land lebten, wohnten 2006 bereits über50 Prozent in einer Stadt. Im Zuge der Glo-balisierung beginnen sich die urbanenLebensräume zudem immer ähnlicher zuwerden. «Heute kann man in Hongkongmehr oder weniger dasselbe einkaufen, wiein Zürich», meint Bernd Roeck. Die Folgendieser Entwicklung liegen für den Histori-ker auf der Hand: «Weil die Lebensverhält-nisse weltweit zunehmend nivelliert werden,wird die Frage nach der eigenen Identitätimmer wichtiger und die Menschen begin-nen, sich wieder vermehrt für ihre Geschich-te zu interessieren.» Das geplante Buch, das2009 erscheint und sich an ein breites Publi-kum wendet, reagiert auf dieses Bedürfnis. Esmöchte den Bewohnern der Schweizer Städ-te ein Stück ihrer Geschichte und somit ihrerIdentität an die Hand geben. «Das Buch solldie Entwicklung der Schweizer Städte vorAugen führen und vielleicht auch davon war-nen, die alten Städte zu zerstören», sagtBernd Roeck, «Architekten tun dies ja zuwei-len nachhaltiger als Kriege.»

KONTAKT Prof. Dr. Bernd Roeck, Historisches Se-minar der Universität Zürich

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfondszur Förderung der wissenschaftlichen Forschung,Hochschulstiftung der Bildungsdirektion des Kan-tons Zürich (Tagungsbeitrag)

ZUSAMMENARBEIT Prof. Dr. François Walter, Uni-versité de Genève, Dr. Marco Jorio, HistorischesLexikon der Schweiz, PD Dr. Martina Stercken,Historisches Seminar der Universität Zürich

WEBSITE rwiweb.uzh.ch/kriminologieUNIMAGAZIN 3/07

FORSCHUNG

WENN JUSTIZIA IRRT

Auch die Justiz macht Fehler. Und das nicht selten. Vor allem bei kleinen Deliktenim Strassenverkehr trifft ein Strafbefehl immer mal wieder den Falschen, sagt derRechtswissenschaftler Martin Killias. Von Daniela Schwegler

Ein Gefangener wartet im US-amerikanischenBundesstaat Virginia 24 Jahre lang auf seineHinrichtung. Verurteilt zum Tod wegen einesgrauenhaften Vergewaltigungsmords. Bloss: Erist unschuldig. Der Zufall will es, dass die Wahr-heit bei einer Routineuntersuchung zu Tagetritt. Eine Wahrheit, die Leben rettet. 68 Prozentaller Todesurteile in den USA weisen schwereFehler auf, wie eine Untersuchung der Colum-bia-Universität zeigt. Jeder fünfzehnte Verurteil-te war unschuldig. «Auch in der Schweiz wer-den Menschen verurteilt für Taten, die sie garnicht begangen haben», sagt Martin Killias, Pro-fessor für Straf- und Strafprozessrecht, «aller-dings glücklicherweise mit weniger schwer-wiegenden Konsequenzen als in den USA.»

Und seltener. Das liege daran, dass Strafver-folgungsbehörden in Europa und der Schweiz– anders als in den USA – auch entlastendenMomenten nachgehen müssen. Gut illustriertdies der Fall eines 58-jährigen Franzosen, dervon der Genfer Justiz 2001 eine Entschädigungvon 2,3 Millionen Franken forderte. Er war zehnJahre zuvor zu Unrecht wegen eines brutalenRaubüberfalls auf eine Genfer Bijouterie zu fünfJahren Zuchthaus verurteilt worden. 1999 hat-ten zwei reuige italienische Kriminelle voreinem italienischen Gericht bezeugt, dass ihreBande den Überfall 1983 beging. Den Franzo-sen, der trotz eines Alibis dreieinhalb Jahre hin-ter Gittern verbringen musste, hätten sie nochnie gesehen. Als der Staatsanwalt diese Aussa-gen im Zusammenhang mit einem ganz ande-ren Verfahren mehr oder weniger zufällig ent-deckte, leitete er von sich aus die Rehabilitie-rung des unschuldig Verurteilten ein. In denUSA wäre so etwas undenkbar.

DER FALL FERRARI

In der Schweiz Aufsehen erregt hat der Fall desKindermörders Werner Ferrari, der 1995 wegen

fünffachen Mordes zu einer lebenslangenZuchthausstrafe verurteilt und 2007 in einemFall – dem Mord an der zwölfjährigen Schüle-rin Ruth Steinmann – wieder freigesprochenwurde. Am Strafmass, lebenslänglich, hat sichdadurch nichts geändert. Die meisten Justiz-irrtümer verursachen aber weit wenigerMedienwirbel als der Fall Ferrari. «Das grosseMehr der Fehlurteile betrifft kleinere Fälle»,sagt Martin Killias. Total 237 unschuldig Ver-urteilte listet die Datenbank der Justizirrtümerauf, die er und seine Assistentinnen GwladysGilliéron und Nathalie Dongois von der Uni-versität Lausanne im Rahmen einer National-fondsstudie erstellt haben. «Viel mehr als wiruns je vorgestellt hätten.»

Grundlage der delikaten Daten bilden alleim Rahmen eines Revisionsverfahrens umge-stossenen Urteile zwischen 1995 und 2004. MitFreiheitsstrafen von mehr als zwei Jahrenbetroffen waren allerdings nur zwölf Personen,wobei es meistens um das Strafmass und nichtdie Schuldfrage ging. «Alle anderen waren klei-nere Fälle», so Martin Killias. «Zwei Drittelbetrafen Strafbefehle, nur ein Drittel der Justiz-irrtümer sind Urteile eines Gerichts.» Klar, imVergleich zu den Zehntausenden von Strafur-teilen, die jedes Jahr gefällt werden, seien die237 Justizirrtümer ein verschwindend geringerBruchteil. «Das ist aber kein wirklicher Trost,sind doch die Hürden für ein erfolgreichesWiederaufnahmeverfahren sehr hoch.»

Denn ist ein Strafbefehl oder Urteil rechts-kräftig, muss ein Unschuldiger Triftiges vor-bringen, um die Justiz von ihrem Irrtum zuüberzeugen. Es müssen harte Fakten auf denTisch. Neue Beweismittel, die zu einem frühe-ren Zeitpunkt nicht beigebracht werden konn-ten. Zum Beispiel ein psychiatrisches Gutach-ten. Oder eine DNA-Analyse, die hieb- undstichfest zeigt, dass der vermeintlich Schuldige

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nicht der Täter ist. «Dieser Unschuldsnachweisgelingt nur wenigen. Die Zahl der zu UnrechtVerurteilten liegt deshalb wohl viel höher, alsunsere Untersuchung ergeben hat», so derStrafrechtsprofessor. «Viele Irrtümer bleibenunentdeckt – mangels neuer Beweismittel oderauch wegen fehlender Energie oder finanziel-ler Mittel der Unschuldigen, ein falsches Urteilanzufechten.» Hinzu kommt, dass in Europa –anders als in den USA – Spuren nur selten überdie Rechtskraft des Urteils hinaus aufbewahrtwerden und daher für spätere neue Analysennicht mehr zur Verfügung stehen.

FEHLURTEILE KÖNNEN JEDEN TREFFEN

Für Martin Killias ist klar: «Ein Fehlurteil kannjeden treffen.» Jeder dritte Mann in der Schweizist vorbestraft – bei den Frauen ist es nur jedezehnte. Die grosse Mehrheit davon durch einenStrafbefehl wegen eines Deliktes im Strassen-verkehr. «Die Qualität eines Rechtssystemsmisst sich nicht allein daran, wie es prominenteFälle bewältigt, sondern wie es mit kleinen Leu-ten und ihren täglichen Problemen umgeht»,meint der Rechtsexperte.

Martin Killias kritisiert, dass die schweizeri-sche Praxis extrem «strafbefehlslastig» gewor-den sei. Drei von vier Strafverfahren enden miteinem Strafbefehl, also einer Verfügung in derRegel eines Staatsanwalts – nur jeder vierte Fallkommt vor Gericht. Mit dieser Quote liegt dieSchweiz europaweit an der Spitze. Das Problemdabei: Der urteilende Beamte entscheidet in derRegel allein aufgrund der Polizeiakten und hörtdie Beschuldigten nicht an. «Ein solch summa-risches Verfahren, in der die Stimme desBeschuldigten nicht einfliesst, ist enorm feh-leranfällig.» Die Korrekturmöglichkeiten durchden Betroffenen fehlen.

Dass Beschuldigte zum Teil gar nicht zu Wortkommen, sei Hauptproblem des Strafbefehl-verfahrens. «Bei allen anderen rechtlichenVerfahren wird das rechtliche Gehör striktgewährt», sagt Killias, «aber im Strafverfahrenwerden zwei von drei Verurteilten nicht ange-hört. Das erinnert an die Zustände unter demAncien Régime, als Zivilurteile an mehrereInstanzen weitergezogen werden konnten, zumTode Verurteilte jedoch unmittelbar nach derUrteilsverkündung in erster Instanz hingerich-Unschuldig hinter Gitter: Justizirrtümer gibt es in der Schweiz häufiger, als man denkt.

BILD Meinrad Schade

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tet wurden. Wenn irgendwo das rechtlicheGehör unabdingbar ist, dann doch wohl inerster Linie im Strafverfahren.»

BESCHULDIGTE ANHÖREN

Die Forderung des Strafrechtsprofessors istdeshalb klar: jeder Beschuldigte sollte ange-hört werden – auch im Strafbefehlsverfah-ren. Eine Gesetzesänderung tue not. Und derZeitpunkt, die Verfahrensregeln zu ändern,ist eigentlich günstig, sind doch die Kantonedaran, sich von ihren eigenen 26 kantonalenStrafprozessordnungen zu verabschieden.Eine gesamtschweizerische Regelung fürden Strafprozess ist in der Pipeline. Nur: Mitdem Entwurf des Bundesrates zur neuenStrafprozessordnung würde alles nochschlimmer, da der Anwendungsbereich desStrafbefehls erweitert werden soll, ohne dassder Angeschuldigte im Normalfall angehörtwürde. Der Strafrechtsprofessor setzt nunaufs Korrektiv des Parlaments. In diesemHerbst berät der Nationalrat als zweiteKammer über die neue einheitliche Strafpro-zessordnung.

Martin Killias’ Korrekturvorschläge: EinStrafbefehl soll ohne Anhörung nur mehrdann in Frage kommen, wenn der Beschul-digte den Sachverhalt anerkennt. Zudemdürfe sich der Staatsanwalt nicht mehr nurausschliesslich auf den – oft lückenhaften –Polizeirapport stützen. «Dass ein Strafbefehlvor Gericht weitergezogen werden kann, bie-tet keinen Ersatz für die Anhörung durch dieerste Behörde. Viele Angeschuldigte verste-hen die juristische Formularsprache mit derRechtsmittelbelehrung im Strafbefehl garnicht. Der Angeschuldigte muss deshalbschon ganz zu Beginn des Verfahrens zu Wortkommen», sagt Killias, «nicht erst, wenn dasFehlurteil in den Köpfen schon gefällt ist.»

KONTAKT Prof. Martin Killias, [email protected], Rechtswissenschaftliches Institut derUniversität Zürich

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds

FORSCHUNG

DOPPELAGENTEN IM REICH DER VIREN

In der Latenzphase können den HI-Viren weder das Immunsystem noch Medika-mente etwas anhaben. Marek Fischer will zeigen, mit welchen Tricks sich derAids-Erreger vor den menschlichen Immunzellen versteckt. Von Matthias Meili

Im Keller des Universitätsspitals Zürich befin-den sich Marek Fischers HIV-Labors. Freundli-che Menschen in weissen Labormänteln gehenein und aus, tragen Plättchen mit Zellkulturenbei sich oder holen ein Reagenzglas mitNukleinsäuren ab, dem genetischen Materialvon Zellen und Viren. Hier unten versuchenMarek Fischer und seine Mitarbeiter einem derausgebufftesten Krankheitserreger der Erdge-schichte auf die Schliche zu kommen: dem HI-Virus, das die Immunschwächekrankheit Aidsauslöst. Fischer, der sich seit zehn Jahren inten-siv mit dem Thema beschäftigt, ist dabei aufalles gefasst: «Alles, was man sich in den wil-desten Träumen ausdenken kann, kommt.»

GUT VERSTECKT IN DER WIRTSZELLE

Eine der Strategien des HI-Virus ist die Latenz-phase. In dieser Phase, die bald nach einer Neu-infektion einer Zelle eintritt, versteckt sich dasVirus als unauffälliges Provirus im Erbgut derWirtszelle und kann so jahre- bis jahrzehntelangverharren, bis es wieder ausbricht und dieWirtszelle zerstört. In seinem neusten Projekt istFischer einem besonders perfiden Trick des HI-Virus auf der Spur: Das Virus bedient sich dernatürlichen Virenabwehr der Wirtszelle – dersogenannten RNA-Interferenz –, um sich in denchromosomalen Schlupfwinkel zu verkriechen.

Bis zu 90 Prozent aller HIV-infizierten Zelleneines angesteckten Patienten befinden sich imStadium der Latenz. Für die Immunabwehr sinddie Angreifer so unsichtbar, weil das Virus nurnoch als doppelsträngiger DNA-Abschnitt aufdem Chromosom der Wirtszelle integriert istund dabei keine neuen Viruspartikel bildet.Auch die modernen antiviralen Medikamente,die gegen die Viruspartikel gerichtet sind undvor allem die Neuinfektion von gesunden Zel-

len verhindern, greifen in dieser Phase nicht.Studien haben gezeigt, dass die biologischeHalbwertszeit einer latent infizierten Immun-zelle bis 44 Monate dauern kann. Dies ist mit einGrund, weshalb Aids zwar behandelt, aber nochnicht geheilt werden kann. Dann plötzlich, ver-mittelt von bestimmten Auslösern, wird dieVirusproduktion wieder angekurbelt und derfatale Kreislauf von Viren-Produktion und derenAusschüttung, der zum Tod der Wirtszelle führt,setzt ein.

«Man weiss heute viel über das aktive Virus,aber man weiss sehr wenig über die Latenz-phase», sagt Marek Fischer. «Wie es in das Ver-steck abtaucht, aber auch wie das Virus diesePhase über Jahre hinweg aufrechterhaltenkann, ist bisher ein Rätsel.» Wer gibt das Signalzum Abtauchen? Arbeitet das Virus mit einermolekularen Tarnkappe wie beim Eintritt in dieWirtszelle? Oder benutzt es bestimmte Zellen alstrojanisches Pferd? Laut Fischers Arbeitshypo-these ist das Virus noch raffinierter: Es usur-piert eines der wichtigsten antiretroviralenWerkzeuge der Zelle, die RNA-Interferenz, undversetzt sich damit selber in die Latenzphase.«Diese Idee ist zwar tollkühn, doch es gibt jetztbereits einige Arbeiten, die unsere Arbeits-hypothese stützen», erklärt er.

Die RNA-Interferenz (Abk.: RNAi) ist eine erstkürzlich entdeckte molekulare Maschinerie derZelle. Mit ihrer Hilfe kontrolliert sie die Aktivitätvon Genen oder schaltet sie sogar ganz ab. ImZellkern liegen die Gene ja als definierte Abfol-ge von Nukleinsäurebausteinen vor, wobei dergesamte DNA-Doppelstrang beim Menschendrei Milliarden Bausteine lang ist. Ein Gen kannaus hunderten bis tausenden Bausteinen beste-hen. Damit ein Gen aber aktiv werden kann,muss die auf diesem Gen im Zellkern enthalte-

WEBSITE www.infektiologie.unispital.chUNIMAGAZIN 3/07

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Mehr Wissen über die Latenzphase des HI-Virus könnte künftig zu wirkungsvolleren Medikamenten gegen Aids führen.

BILD Manuel Bauer

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sem Pfad spielt TRBP eine wichtige Rolle. DieVirusabwehr der Zelle und der Lebenszyklusdes Virus sind somit eng aneinander gekop-pelt. Keine Tarnung also und keine trojani-schen Pferde, die das HI-Virus benutzt, son-dern Doppelagenten.

In seinem Projekt möchte Marek Fischermit seinen vier Mitarbeitern nun Licht in die-ses dunkle Spiel bringen. Einerseits werdendie Zürcher HIV-Forscher das RNA-Interfe-renz-System von latent infizierten Zellenkünstlich blockieren und überprüfen, obvirale Elemente die Maschinerie tatsächlichwieder anwerfen, etwa um in der Latenz-phase zu verharren. Andererseits wollen dieForscher mit eigens entwickelten moleku-larbiologischen Methoden noch intensivernach viruscodierten Mikro-RNA suchen.

IMMER NEUE ANSTECKUNGEN

Für Marek Fischer geht es dabei vor allemum Grundlagenforschung mit dem Ziel, dieStrategien von Viren besser kennen zu ler-nen. Andererseits könnten die Ergebnisseauch zu neuen Ansätzen für noch bessereMedikamente führen. Für Fischer, der sichneben seiner Forschungstätigkeit alle zweiWochen in der Aids-Beratung engagiert, istdiese praxisrelevante Dimension seinerArbeit sehr wichtig. Denn trotz den erfolg-reichen antiretroviralen Kombinationsthe-rapien ist der Erreger noch nicht besiegt.Selbst in der Schweiz stecken sich nochimmer rund 700 Personen jährlich mit demHI-Virus an. Und 2006 sind gemäss Bundes-amt für Gesundheit wieder 53 Menschen anAids gestorben. «Die heute wirksamen Medi-kamente bewirken vor allem, dass wenigerViren im Blut sind, in dem sie deren Ver-mehrung blockieren oder den Eintritt in dieZellen verhindern. Das ist sicher wichtig.Eine wirkliche Heilung wird jedoch erstmöglich, wenn wir auch die Latenzphase inden Griff bekommen.»

KONTAK PD Dr. Marek Fischer, [email protected], Prof. Dr. Huldrych Günthard, [email protected], Klinik für Infektiologie und Spi-talhygiene, Universitätsspital Zürich

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds

ne Information in eine transportfähige Boten-RNA (engl.: MessengerRNA oder mRNA) über-setzt werden. Diese wird aus dem Zellkern in dieZellflüssigkeit gebracht, wo die Proteinfabri-ken der Zelle die Information der Boten-RNAablesen und in ein funktionierendes Proteinübersetzen. Bei der RNA-Interferenz wird die-ser Prozess gezielt blockiert, indem aus demGen neben der Boten-RNA noch weitere vielkürzere RNA-Abschnitte hergestellt werden.Diese führen über einen komplizierten undstreng regulierten Pfad zur gezielten Zerstö-rung der komplementären Boten-RNA des ent-sprechenden Gens. Der Überbegriff der zumeist21 Basenpaare kurzen RNA-Abschnitte heisstMikro-RNA (miRNA), wobei es verschiedeneKlassen wie siRNA (small interfering RNA) oderdsRNA (doppelsträngige RNA) gibt.

Doch was hat das nun mit dem HI-Virus zutun? Dass Zellen über den RNA-Interferenz-Pfad Viren bekämpfen, ist bekannt. Die ange-griffene Zelle produziert Mikro-RNA, die aufVirus-Gene passen, und kann diese Gene soinaktivieren. Ähnliches könnte beim Abtauchenin die Latenzphase vor sich gehen, glaubtMarek Fischer. Die entscheidende Frage ist, obdie Mikro-RNA von der Wirtszelle oder vomVirus gebildet werden. «Wenn diese Werkzeu-ge vom Virus selber stammen, dann weist dasdarauf hin, dass das Virus die Maschinerie derZelle in raffiniertester Weise ausnutzt, um seineGene abzuschalten und sich zu verstecken»,erklärt Marek Fischer. Dass die Annahme keinLuftschloss ist, konnte vor kurzem eine franzö-sische Forschergruppe um Robinson Tribouletin Montpellier zeigen. Sie konnten in einerArbeit vom März dieses Jahres in HIV-infizier-ten Zellen tatsächlich virencodierte Mikro-RNAnachweisen.

Der RNA-Interferenz-Pfad wird zudem vongewissen Eiweissen reguliert, die auch bei derProduktion der HI-Viren eine wichtige Rollespielen, so zum Beispiel das Virus-Protein TAToder ein zelluläres Eiweiss namens TRBP. Beidebeeinflussen die Verarbeitung von MikroRNA,beide spielen aber auch bei der Aktivierung derVirus-Gene eine Rolle. Doch nicht genug: Diemenschlichen Immunzellen haben noch einweiteres Abwehrdispositiv zur Verfügung, denso genannten PKR/Interferon-Pfad. Auch in die- Wie entwickelt sich das Nervensystem? Untersuchun

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PROFIL

WEGWEISER FÜRNERVENZELLEN

Unser Nervensystem funktioniert nur einwandfrei, wenn auch die richtigen Ner-venzellen miteinander verschaltet sind. Wie dies geschieht, wird am Zentrum fürNeurowissenschaften Zürich (ZNZ) erforscht. Von Susanne Haller-Brem

Esther Stöcklis Faszination für die Neurowis-senschaften wurde bereits während ihrer Gym-nasialzeit durch das Buch «Denken, Lernen,Vergessen» von Frederic Vester geweckt. «Beiden meisten biologischen Vorgängen im Kör-per konnte man sich vorstellen, wie sie auf dermolekularen Ebene funktionieren, so zum Bei-spiel bei der Verdauung», erinnert sich die Pro-fessorin für Entwicklungsneurobiologie amZoologischen Institut. «Doch von den moleku-laren Vorgängen beim Denken wusste man vordrei Jahrzehnten noch nichts.» Das hat sichinzwischen rasant geändert.

Das Nervensystem besteht aus einem kom-plizierten Netzwerk von Nervenzellen – in derFachsprache Neuronen genannt. Diese sindüber lange fadenförmige Fortsätze (so genann-te Axone) miteinander verbunden. An den Ver-bindungsstellen (Synapsen) werden Informa-tionen zwischen den Zellen ausgetauscht. «Nurwenn all diese Verbindungen korrekt sind,funktioniert das Nervensystem richtig», erklärtEsther Stöckli. Während das Nervensystembeim Fadenwurm C. elegans aus lediglich 302Neuronen besteht, sind es beim Menschenschätzungsweise hundert Milliarden.

EI MIT FENSTER

Wie finden nun all diese Neuronen den Wegdurch bereits bestehendes Gewebe und wiekönnen sie zu den Zielzellen die richtigen Kon-takte herstellen? Mit diesen Fragen beschäftig-ten sich Esther Stöckli und ihr Team. Die For-schungsgruppe ist ins Zentrum für Neurowis-senschaften Zürich eingebunden, dies ermög-licht einen regen Wissensaustausch mit ver-schiedensten Disziplinen. Stöckli und ihr Teamforschen am Wirbeltier. Wirbeltiere haben dasam höchsten entwickelte Nervensystem. Hier

lassen sich grundsätzlich zwei verschiedeneBereiche unterscheiden, nämlich das periphe-re und das zentrale Nervensystem, das sich ausGehirn und Rückenmark zusammensetzt.

«Wenn man herausfinden will, wie Axone imLaufe der Entwicklung ihren Weg im Gewebefinden, sind Hühnerembryonen ein idealesModellsystem», sagt Esther Stöckli. So sindStruktur und Funktion des Nervensystems vonHühnern direkt mit dem menschlichen Nerven-system vergleichbar. Das Gehirn ist aus densel-ben Zelltypen aufgebaut und dieselben Geneund Vorgänge sind für die Entwicklung verant-wortlich. Ein grosser Vorteil ist zudem, dass dieEmbryonen im Ei leicht zugänglich sind. Machtman ein Fenster in die Eischale, lassen sich viadiese Öffnung Manipulationen am Embryodurchführen. Diese Eingriffe werden unter demMikroskop mit extrem dünnen Kanülen (Durch-messer von fünf tausendstel Millimeter) durch-geführt. Spätestens hier wird klar, was EstherStöckli meint, wenn sie sagt: «Mir gefällt, dassich bei meiner Arbeit Intellekt und manuellesGeschick brauche.» Nach der Manipulationwird das Fenster in der Eischale wieder ver-schlossen, das Ganze in den Inkubator gegebenund später untersucht, welchen Einfluss dieManipulation auf die Entwicklung des Nerven-systems gehabt hat. Als Referenz dient immerein Embryo, das nicht manipuliert wurde.

In Säugetieren, bei denen sich der Embryo inder Gebärmutter entwickelt, wären solche Ver-suche enorm kompliziert. Im «Ei mit Fenster»lässt sich allerdings nur das erste Drittel derEmbryonalentwicklung, das heisst die ersteWoche, studieren, nachher ist das Fenster fürEingriffe zu klein. Um die letzten beidenWochen beobachten zu können, wird das Ei ineiner Plastikschale kultiviert.

WEBSITE www.neuroscience.uzh.ch

gen an Hühnerembryonen geben darüber Aufschluss.

BILD Ursula Meisser

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Seit gut einem Jahrzehnt weiss man, dass Axoneauf ihrem Weg durchs Gewebe zu ihren Ziel-zellen von bestimmten Proteinen geleitet wer-den. Die Spitze der wachsenden Axone sinddazu an der Oberfläche mit Rezeptormolekü-len ausgestattet, die wie Sensoren die Signal-proteine lesen. Es gibt sowohl anziehende wieauch abstossende Signale. Da es viele verschie-dene Populationen von Nervenzellen gibt, gibtes auch ganz verschieden Sets von Wegweiser-und Rezeptormolekülen. Stöcklis Arbeitsgruppehat inzwischen eine Gruppe von Genen identi-fiziert, die für die Produktion von Wegweiser-molekülen verantwortlich sein könnten. «Einebesondere Herausforderung ist, dass viele Weg-weisermoleküle im Laufe der Entwicklungkommen und gehen – also ganz spezifischeZeitfenster haben», erklärt die Professorin, dieein Flair hat, auch komplexeste Sachverhalteverständlich zu schildern.

RICHTIG ODER FALSCH VERBUNDEN

Um die Funktion dieser Gene zu untersuchen,entwickelten die Zürcher Forscherinnen undForscher eine neuartige Technik – die sogenannte «In-ovo-RNA-Interferenz». Sie beruhtdarauf, dass es in der gesunden Zelle keine dop-pelsträngige RNA gibt. Doppelsträngige RNAwird von der Zelle als Virenbefall interpretiertund sie setzt sich dagegen zur Wehr. Die For-scher nutzen nun diese Mechanismen aus, umdamit gezielt ein oder mehrere Gene auszu-schalten. Das Einschleusen von doppelsträngi-ger RNA führt dazu, dass die Zelle ihre eigeneRNA, die als Bauplan für das entsprechendeGenprodukt dient, abbaut. Diese Technik machtes möglich, spezifische Gene im lebenden Hüh-nerembryo an einer bestimmten Stelle für einefestgelegte Dauer auszuschalten. Dadurch lässtsich die Herstellung bestimmter Führungssig-nale stoppen und man kann untersuchen, wiesich das Fehlen dieses Signals auf den Verlaufdes Axons auswirkt. «Die Untersuchung derkomplexen Funktionen des Nervensystemsüber die Analyse einzelner Gene ist sehr zeit-aufwändig und gleicht der Arbeit an einemPuzzle», sagt Esther Stöckli.

Zusammen mit ihrem Team untersucht sieeine bestimmte Gruppe von Neuronen, dieInformationen vom Innern des Körpers oder

von der Haut zum zentralen Nervensystem lei-ten. Sind solche Neuronen im Rückenmarkfalsch verbunden, können Signale in falscheHirnareale weitergeleitet werden. Dadurch istes zum Beispiel erklärbar, dass eine sanfteBerührung als heftiger Schmerz empfundenwird. Solche nicht korrekt geknüpfte Verbin-dungen können nicht nur während der Embry-onalentwicklung, sondern auch später als Folgeschwerer Verletzungen des Nervensystems auf-treten. So können beispielsweise Phantom-schmerzen ihre Ursachen in falsch verknüpftenNeuronen im Rückenmark haben.

Stöcklis Arbeitsgruppe ist eines von rundhundert Teams von Universität und ETH, dieim Zentrum für Neurowissenschaften Zürich(ZNZ) forschen. Das ZNZ wurde 1998 mit demZiel gegründet, die Zusammenarbeit zwischenGrundlagenforschung und Klinik zu fördern.«Das ZNZ hatte damals Pioniercharakter undkann nach rund neun Jahren bereits auf einigewichtige Erfolge zurückblicken», sagt WolfgangKnecht, Geschäftsleiter des ZNZ. Wichtige Mei-lensteine waren zum Beispiel der Aufbau einesdreijährigen Doktorandenprogramms für Neu-rowissenschaften und die Schaffung der jährlichstattfindenden Veranstaltung «Brain Fair», dieder Bevölkerung neurowissenschaftliche For-schung verständlich macht. Zusammenar-beitsverträge mit Firmen wie Novartis und Sero-no brachten dem ZNZ wichtige finanzielleMittel. Der bisher grösste Erfolg ist der 2001gestartete Nationale Forschungsschwerpunkt«Neuronale Plastizität und Reparatur», an demrund 40 Gruppen des ZNZ beteiligt sind. «DerForschungsplatz Zürich gehört im Bereich Neu-rowissenschaften zu den Besten der Welt»,betont Wolfgang Knecht. «Hier arbeiten Zell-und Molekularbiologen mit Klinikern, Neuro-psychologen, Physikern und Informatikernzusammen – speziell gefördert durch das ZNZ.»

DER «NEUROTOWER»

Künftig möchte man die Grundlagen-, Inge-nieur- und klinischen Forschungsgruppen auchräumlich zusammenführen. Dazu ist ein sogenannter «Neurotower» als Neubau am Uni-versitätsspital geplant. Er wird das KlinischeNeurozentrum (USZ) mit den Forschungs-gruppen der Universität und ETH und einem

«Brain Imaging Center» in einem Gebäude ver-einen. Gleichzeitig sollen aber auch für neueGebiete wie zum Beispiel Proteomik/Bioinfor-matik, Materialwissenschaften oder RobotikPartnerschaften und Anwendungsbereiche inden Neurowissenschaften erschlossen werden.Für Esther Stöckli ist es wichtig, dass Grundla-genforschung möglich ist, ohne den Druck, inwenigen Jahren Rezepte für das Heilen einerbestimmten Krankheit finden zu müssen. «Nichtselten führen nämlich zufällige Ergebnisse ausder Grundlagenforschung zu ganz neuen The-rapieansätzen.»

KONTAKT Dr. Wolfgang Knecht; Geschäftsleiter desZNZ, [email protected], Prof. MartinE. Schwab, Institut für Hirnforschung der UniversitätZürich und Direktor des ZNZ, verantwortlich für dasProjekt «Axonale Wegfindung», [email protected],Prof. Esther Stöckli, Zoologisches Institut der Univer-sität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Rund 100 Gruppen von Univer-sität und ETH Zürich sowie vom Universitätsspital(50% Universität, 25% ETH, 25% USZ)

FINANZIERUNG Universität Zürich, ETH Zürich,Schweizer Nationalfonds, Novartis, Serono, privateGeldgeber

KOMPETENZZENTREN

ZENTRUM FÜR NEUROWISSEN-SCHAFTEN ZÜRICHAn der Universität Zürich gibt es zurzeit vier-zehn Kompetenzzentren, sieben davon ge-meinsam mit der ETH Zürich. Das Zentrumfür Neurowissenschaften Zürich (ZNZ) koor-diniert und fördert Forschung auf demGebiet der Neurowissenschaften an der Uni-versität und der ETH Zürich. Ein wichtigesZiel des ZNZ ist es, Grundlagenforschung,klinische und anwendungsorientierte For-schung zusammenzubringen. Mit der Schaf-fung eines «Neurotowers» sollen die Gruppenzukünftig auch räumlich in einem Gebäudevereint werden.

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VITZNAU — BLICK ZUR RIGI

DOSSIER

IM DEMOKRATIELABORDie Schweiz sieht sich gerne als Hort der Demokratie und Gralshüterin derdirekt-demokratischen Traditionen. Auf den Lorbeeren ausruhen können wiruns aber nicht. Denn Demokratie ist ein dynamischer Prozess, dessen Regelnimmer wieder neu reflektiert und ausgehandelt werden müssen. Mit den neuenAnforderungen, denen sich Demokratien heute stellen müssen, beschäftigensich Forscherinnen und Forscher des Nationalen Forschungsschwerpunktes(NFS) «Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert». DieWissenschaftler sehen zwei grosse Problemzonen: Einerseits verschiebt sich diepolitische Macht zunehmend von den Nationalstaaten hin zu supranationalenOrganisationen wie der EU oder der UNO. Andererseits verändert derzunehmende Einfluss der Medien die Spielregeln der Politik. Dieses Dossierbeleuchtet verschiedene Aspekte der Demokratieforschung am NFS, der von Forschern der Universität Zürich geleitet wird. Der Fotograf Andri Pol war unterwegs im Demokratielabor Schweiz: Seine ironisch gefärbtenMomentaufnahmen begleiten dieses Dossier.

25 CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN SIEGES Weshalb das verschärfte Asylgesetz angenommen wurde29 DIE GESETZE DES SPEKTAKELS Wie sich Medien und Parteien gegenseitig beeinflussen32 «WIR SIND WELTMEISTER DER DEMOKRATIE» Interview mit Hanspeter Kriesi und Otfried Jarren36 WENN DEMOKRATIE GEFÄHRLICH WIRD Weshalb Demokratisierung Staaten destabilisieren kann40 WIE DEMOKRATISCH SIND DEMOKRATIEN? Das Demokratiebarometer misst die demokratische Qualität43 DIE MILLIONÄRSFRAGE Die Schweizer Agglomerationen müssen politisch zusammenspannen

EGLISWIL — EIGENHEIM IM CHALETSTIL

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CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN SIEGES

Das Resultat an der Urne war glasklar: Am 24.September 2006 sprachen die Schweizer Stimm-bürgerinnen und Stimmbürger sich unmiss-verständlich für ein neues Asylgesetz aus. Gutzwei Drittel, 67,8 Prozent, befürworteten einehärtere Gangart im Asylwesen. Die Rechte umBundesrat Christoph Blocher jubilierte, dieLinke, angeführt von alt Bundesrätin Ruth Drei-fuss, war genauso konsterniert wie MarkusRauh, der einem kleinen bürgerlichen Nein-Komitee vorstand.

So klar das Votum des Volkes war, darüber,wie in unserer Mediengesellschaft solchedemokratischen Entscheide entstehen, wissenwir wenig. Welchen Einfluss haben Berichte inFernsehen, Radio, Zeitungen und Internet aufdie Wählerinnen und Wähler? Mit welchenStrategien und welchem Erfolg versuchen par-teipolitische Kampagnen, sie von ihrer Meinungzu überzeugen? Und wie entwickelt sich dasWissen des Publikums über ein Thema imLaufe eines Abstimmungskampfes? SolchenFragen gehen drei Forschungsgruppen des«NCCR Democracy» in einem gemeinsamenProjekt nach. Wie unter einem Vergrösse-rungsglas untersuchen die Politologen undPublizistikwissenschaftler der UniversitätZürich am Beispiel der Asylgesetzdebatte imletzten Jahr, wie die verschiedenen Zahnräderder Demokratie – Medien, Parteien, Stimmbür-ger – ineinandergreifen, sich beeinflussen undwie letztlich ein Abstimmungsentscheid an derUrne zustande kommt. In dieser Dimensionwurde das in der Schweiz bislang noch nieuntersucht. Das Projekt wurde vor gut einemJahr gestartet, nun stehen erste Resultate fest.

POLITIKMARKE BLOCHER

Die Medien gelten traditionell als vierte Gewaltim Staat – als aufklärerisches Gewissen, das diepolitischen Prozesse kritisch begleitet, kom-

mentiert und so massgeblich zur Meinungsbil-dung beiträgt. Heute wird der Einfluss vonelektronischen Medien und Presse auf dieÖffentlichkeit immer grösser. Dies verändertauch das Verhalten von Politikerinnen und Poli-tikern. «Die Parteibindungen haben sich gelo-ckert und die Medien sind in den letzten zehnbis fünfzehn Jahren zunehmend wichtigergeworden», sagt PublizistikwissenschaftlerHeinz Bonfadelli. Und mehr als das – Parteienübernehmen heute die «Logik» der Medien. Unddiese geht vor allem in eine Richtung: Infotain-ment, Human Interest und Lifestyle. Wichtigsind prominente Köpfe und süffige «Stories»,die auch ein attraktives Umfeld für Anzeigenund Werbung schaffen.

«Angesichts der zunehmenden Ökonomisie-rung ist es nicht mehr klar, ob die Medien dieBürgerinnen und Bürger noch mit den not-wendigen Informationen für die politische Mei-nungsbildung versorgen», gibt Gabriele Siegert

zu bedenken. Die Medienökonomin hat mitihrem Team deshalb die politische Berichter-stattung im Vorfeld der Asylgesetz-Abstimmungin 16 Deutschschweizer und welschen Zeitun-gen – vom «Blick» über «Le Temps» bis zur«NZZ» – sowie in den Nachrichtensendungendes Schweizer Fernsehens untersucht. Und siehat mit 28 Chefredaktoren und VerlagsleiternInterviews über ihre Strategien in der politi-schen Berichterstattung vor und nach derAbstimmung geführt. Was sich zeigte: DemThema Asylgesetz wurde in den untersuchtenMedien grosse Beachtung geschenkt. «Voneinem Versorgungsproblem punkto Informa-

Medien beeinflussen Politiker und Stimmbürger in zunehmendem Mass, heisst es.Der vermeintlichen Allmacht der Medien sind aber klare Grenzen gesetzt, wieForscher anhand der letztjährigen Asylgesetz-Abstimmung zeigen. Von Roger Nickl

tion kann keine Rede sein», bilanziert Siegert.Auch wenn sich der ökonomische Nutzen kaumberechnen lässt: Die politische Berichterstat-tung wird von den meisten Medien auch heutenoch als Teil ihrer Identität betrachtet.

Was die Analysen der Publizistikwissen-schaftler aber auch deutlich machten: DieMedienberichte über die Asylgesetz-Abstim-mung konzentrierten sich sehr stark auf ein-zelne Personen. Im Rampenlicht stand vorallem einer – Bundesrat Christoph Blocher, derbei der Ausarbeitung des verschärften Asylge-setzes die Fäden zog. Blocher wurde in denBerichten fast dreimal so oft erwähnt wie altBundesrätin Ruth Dreifuss von der Gegenseiteund rund viermal mehr als Markus Rauh vombürgerlichen Nein-Komitee. «Christoph Blocherist eine Politikmarke, jeder kennt seine Posi-tionen», kommentiert Siegert, «das macht ihnauch für die Medien interessant.» Und Blocherist ein verlässlicher «Shortcut». So bezeichnendie Medienforscher intellektuelle Abkürzun-gen: Anstatt sich mit dem Abstimmungsthemaintensiv auseinanderzusetzen, übernehmenWählerinnen und Wähler die Meinung einer

Person oder Partei. Im Zeitalter der wachsendenInformationsflut und eines rückläufigen politi-schen Interesses werden solche Shortcutszunehmend wichtig. Entsprechend gewinnenPersonen und Parteien an Macht, die sichbesonders für solche intellektuellen Abkür-zungen anbieten. Inwiefern die Stimmbürge-rinnen und Stimmbürger bei der Asyl-Kam-pagne tatsächlich auf solche Shortcuts zurück-gegriffen haben, wird momentan von Publizis-tikwissenschaftler Werner Wirth und seinemTeam ausgewertet.

Trotz der medialen Omnipräsenz von Chris-toph Blocher setzten sich die Medien während

«Es ist fraglich, ob die Medien noch die notwendigen Informationen fürdie politische Meinungsbildung liefern.» Gabriele Siegert, Medienökonomin

DOSSIER DEMOKRATIE

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des Abstimmungskampfes jedoch häufiger kri-tisch mit dem neuen Asylgesetz auseinander.«Rund 62 Prozent der in den untersuchten Bei-trägen genannten Akteure vertraten eine mehroder weniger ablehnende Haltung», betontGabriele Siegert. Allein, die Wählerinnen undWähler vermochte die mediale Kritik offen-sichtlich nicht umzustimmen. «In der Auslän-derpolitik scheint die Bevölkerung über vorge-fasste Meinungen zu verfügen, die der Beein-flussbarkeit enge Grenzen setzt», sagt Politolo-ge Laurent Bernhard. Bereits 1987 und 1999wurden Referenden, die eine Verschärfung desAsylgesetzes forderten, mit einer Zweidrittel-mehrheit angenommen – diese Grundhaltungwar auch für die Abstimmung im letzten Jahrentscheidend.

Dass die Meinungen über das Asylgesetz inder Bevölkerung bereits weitgehend gemachtwaren, war auch für viele der befragten Chef-redaktoren im vornherein klar. Entsprechendfielen die Prognosen über den Ausgang derAbstimmung aus. «Die Medien werden gegendas Gesetz anschreiben, aber das wird nichtsnützen», meinte einer der interviewten Chef-redaktoren lakonisch. «Les jeux sont faits, rienne va plus» – der Ausgang des Abstimmungs-kampfes schien im Fall Asylgesetz von Anfangan besiegelt. Von einer Allmacht der Medien inder Meinungsbildung kann nicht die Rede sein.

EMOTIONEN UND ARGUMENTE

«Tatsächlich ist der Medieneinfluss stark the-menabhängig», betont auch Heinz Bonfadelli.Dass die Medien aber politisch auch wesent-lich mehr bewirken können, zeigte sich demPublizistikwissenschaftler in einer früherenUntersuchung zur Genschutz-Initiative aus demJahr 1998. Die Initianten verlangten damals,dass der Spielraum der Gentechnologie in derSchweiz wesentlich eingeschränkt wird. «DasThema war komplex und setzte viel Wissen vor-aus», stellt Bonfadelli heute fest, «entsprechenddeutlicher machte sich der Einfluss der Medienin der Meinungsbildung bemerkbar.» Zudeminvestierten die Gegner der Initiative viel Geldin den Abstimmungskampf – der erhoffte Effektblieb nicht aus: Die anfängliche frostige, gen-tech-kritische Stimmung der Öffentlichkeitbegann allmählich zu tauen. Im Juni 1998

wurde die Initiative schliesslich mit einem Stim-menanteil von 65 Prozent abgelehnt.

Zum Erfolg beigetragen hat auch, dass esdem Contra-Lager gelungen ist, die Wahrneh-mung der Öffentlichkeit auf das Thema – das«framing», wie es im Jargon der Publizistikwis-senschaftler heisst – in ihrem Sinne zu beein-flussen. So argumentierten die Gegner der Gen-schutz-Initiative, man dürfe Behinderten dieChance auf eine wirksame Gentherapie nichtnehmen – eine Botschaft, die bei den Stimmbe-rechtigten offensichtlich ankam. Ein wir-kungsvolles Framing attestiert MedienexpertinSiegert auch den Befürwortern des neuen Asyl-gesetzes: «Der Begriff Asylmissbrauch, der vonder Pro-Seite ins Spiel gebracht wurde, machtpotenziell alle Steuerzahler zu Betroffenen, ererlaubt – können tatsächlich auch Missständenachgewiesen werden – eine wirkungsvolleVerbindung von Emotionen und Argumenten.»

Dem Trend zu intellektuellen Abkürzungen inder Meinungsbildung zum Trotz: Im Laufe derAsylgesetzdebatte wurden nicht nur Schlag-worte lanciert und reproduziert. Es wurde auchgelernt. Wie sich der Wissenstand in der Bevöl-kerung im Laufe des Abstimmungskampfes ver-ändert hat, hat Heinz Bonfadelli mit seinemTeam untersucht. Die Wissenschaftler fragtenan drei Terminen – vor dem Abstimmungs-kampf, einen Monat vor der Abstimmung undnach dem Entscheid – jeweils über 1000 Wäh-lerinnen und Wähler an. Sie wollten von ihnenwissen, ob sie bestimmte Argumente den jewei-ligen Personen und Parteien zuordnen können.Und ob sie darüber informiert sind, welche Fol-gen eine Annahme beziehungsweise Ableh-nung des Asylgesetzes zeitigen würde. ErsterBefund der Untersuchung: «Wir konnten einekontinuierliche Verbesserung des für dieAbstimmung relevanten Wissens feststellen»,erklärt Bonfadelli.

Nicht alle profitierten von der Berichterstat-tung aber im gleichen Mass: über den bestenWissensstand verfügten – wie in solchen Erhe-

bungen üblich – ältere, gut ausgebildete Män-ner. Junge Stimmbürgerinnen und Stimmbür-ger waren dagegen weniger gut informiert.«Aber auch die Jungen haben dazugelernt»,hebt Bonfadelli hervor, «die Wissenskluft hatsich im Laufe des Abstimmungskampfes zumin-dest nicht vergrössert – das ist ein wichtigerBefund für die Demokratie.» Auch ein Unter-schied im Wissenserwerb der beiden gegneri-schen Lager fiel den Forschern ins Auge: Wäh-rend die Gegner der Vorlage über ein relativdifferenziertes Wissen verfügten und auch überdie Folgen einer Annahme des Gesetzes infor-miert waren, argumentierten die Befürwortereher mit «Shortcuts». Sie reproduzierten vorallem die Parolen der Meinungsführer, ohnesich gross mit den Konsequenzen ausein-anderzusetzen. «Die Folgen für die Flüchtlingelassen sich weniger gut mit einer Pro-Haltungverbinden», erklärt Medienexperte Bonfadelli,

«da ist es naheliegend, diese einfach auszu-blenden.»

Trotz erster Resultate stehen die Publizistikund Politikwissenschaftler der UniversitätZürich noch am Anfang ihres Forschungspro-jektes. Momentan sind sie damit beschäftigt,die erhobenen Daten weiter auszuwerten. Undvor allem wollen sie noch andere Abstim-mungskämpfe unter die Lupe nehmen, um dieFeinmechanik der Mediendemokratie weiter zuergründen. Ein möglicher Kandidat dafür wäredie Abstimmung zur Unternehmensbesteue-rung im nächsten Februar: «Das Asylgesetz warvor allem etwas für den Bauch, beim ThemaUnternehmensbesteuerung ist wohl eher derKopf gefordert», mutmasst Gabriele Siegert. DieForschenden fügen so Mosaikstein um Mosaik-stein aneinander. Mit der Zeit wird ein diffe-renziertes Bild entstehen, das zeigt, wie in derSchweiz Demokratie tatsächlich gemacht wird.

KONTAKT Laurent Bernhard, [email protected], Prof. Heinz Bonfadelli, [email protected], Prof. Gabriele Siegert, [email protected], Prof. Werner Wirth, [email protected]

«In der Ausländerpolitik sind die Meinungen anscheinend gemacht, derBeeinflussbarkeit sind enge Grenzen gesetzt.» Laurent Bernhard, Politologe

TELLSPIELE INTERLAKEN — EHEMALIGE TELLDARSTELLER

LANGENBRUCK — ARMEEMUSEUM

29UNIMAGAZIN 3/07

DIE GESETZE DES SPEKTAKELS

Die einen verteilen Zahnbürsten, Duschgelsoder Energy-Drinks. Andere lassen als Maskott-chen den Geissbock aus dem Stall eines Natio-nalrates über die Polit-Bühnen zotteln. Die Qua-lität der Marketing-Gags, mit denen Parteienauf Stimmenfang gehen, schwankt. Daraufaber, dass Stilmittel in der medialen Öffent-lichkeit breit diskutiert werden, ist Verlass.Wahlkampf, man weiss es, ist Showtime.

Neu ist, dass die Gesetze des Spektakels nichtmehr nur zu Wahlkampfzeiten gelten, sondernauch das politische Alltagsgeschäft durchdrin-gen. Um Medienpräsenz wird heute ununter-brochen gerungen. Viel stärker als noch vorzwanzig Jahren sind die Parteien auf Massen-medien angewiesen. Die wichtigsten Gründedafür sind schnell genannt: Zunächst ist da dieAuflösung der traditionellen Milieus, in denendie Parteien früher verankert waren. DieStammwählerschaften schwinden, die Mitglie-derzahlen schrumpfen – also muss geworbenwerden, am besten ständig. Die Selbstver-ständlichkeit, mit der das Parteiengefüge einstdie Gesellschaftsstruktur spiegelte, ist dahin.Um sich voneinander zu unterscheiden, brau-chen Parteien nun ein Image und ein Profil.Und wie entfalten Images und Profile ihre Wir-kung? Nur über Medien. Diese aber wandeltensich in den letzten zwei Dekaden ebenfalls.Medienmärkte wurden liberalisiert, kommer-zielle Sender veränderten den Charakter desFernsehens, Parteipräferenzen in den Zei-tungsredaktionen wurden gelockert, die eigent-liche Parteipresse verschwand fast ganz. Fürdie Parteien bedeutete dies einen Kontrollver-lust. Die Gewichte verschoben sich zu ihrenUngunsten. Die Medien emanzipierten sich vonpolitischen Strukturen, und den Parteien bliebnichts anders übrig, als sich Medienkompetenzanzueignen und sich aktiv um ihr medialesErscheinungsbild zu kümmern. Im Wettstreit

untereinander, aber auch in wachsender Kon-kurrenz zu anderen Organisationen und Inter-essengruppen kämpfen die Parteien nun umAufmerksamkeit. Die Konkurrenz zwingt sie,immer lauter, immer bunter zu werden. Ver-lautbarungen, Absichtserklärungen und Pres-sekonferenzen – damit ist es nicht mehr getan.Massenmedien berichten vorzugsweise überEreignisse, also müssen Ereignisse inszeniertwerden. Massenmedien berichten emotionali-sierend und personalisierend, also gilt es, Emo-tionen zu schüren und Persönlichkeiten zu por-tieren. Geschichten und Schlagzeilen müssenden Redaktionen ins Haus geliefert werden –am besten gleich mit passenden Bildern.

STILLE REVOLUTION

Wie schultern Parteien diese neuen Aufgaben?Welche Strategien verfolgen sie, welche Prio-ritäten setzen sie, welchen Vorbildern eifern sienach? Wie verändert sich im Zuge der Media-lisierung die innere Struktur von Parteien? Undwelche Entwicklung nimmt bei alledem dieDemokratie? Otfried Jarren, Patrick Donges undMartina Vogel vom Institut für Publizistikwis-

senschaft und Medienforschung gingen diesenFragen in einem Forschungsprojekt im Rah-men des Nationalen Forschungsschwerpunk-tes «Herausforderungen der Demokratie im21. Jahrhundert» nach. Gegenstand ihrer Studiewaren die grossen Volksparteien in Deutsch-land, Grossbritannien, Österreich und derSchweiz. Das Forschungsteam analysierteDokumente wie Geschäftsberichte, Jahrbücherund Organigramme und führte Interviews mit

Einst orientierte sich die Presse an den politischen Parteien. Heute ist es umgekehrt:Die Parteien stellen sich auf die Logik der Massenmedien ein. Ein Forscherteamam IPMZ analysierte diesen Wandel. Von David Werner

den Organisations- und Kommunikationsver-antwortlichen der betreffenden Parteien. Wassie dabei feststellten, war dies: Im inneren Auf-bau der untersuchten Parteiorganisationen hatsich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren einestille Revolution vollzogen. Die Organigrammewurden komplett umgebaut. «Kommunikation– interne wie externe – ist nirgendwo mehr einAnhängsel der ‹eigentlichen› Politik, überall istsie zu einem zentralen Bestandteil geworden»,sagt Donges. Personell und finanziell wurdendie Kommunikationsabteilungen massiv aus-gebaut, in der Hierarchie rückten sie nahe an dieSpitze. Einige der untersuchten Parteien – sodie Konservativen in Grossbritannien und dievier Schweizer Bundesratsparteien – schufendie entsprechenden Strukturen praktisch ausdem Nichts. Das Organigramm der SP Schweizetwa wies Anfang der neunziger Jahre nochkeine einzige Stelle für Kommunikation undMedienauskünfte aus. Einer der Zentralsekre-täre erledigte solche Aufgaben nebenbei. Heutebildet die Abteilung «Kampagnen und Kommu-nikation» eine von zwei grossen Organisations-einheiten der SP, sie tritt praktisch gleichwer-tig neben die Abteilung «Politik».

Der Aufbau solcher Kommunikationsstellenlöst einige Probleme, verursacht aber auchneue. Ein grosses Problem für weit verzweigte

Organisationen, wie es Parteien sind, ist dieBeschleunigung der Kommunikationsabläufedurch die elektronischen Medien. Die Massen-medien drücken aufs Tempo, die Parteienhecheln hinterher. Der ständige Zeitdruckbringt Unordnung in die Entscheidungsfin-dungsprozesse. Bevor die verschiedenen Mei-nungsträger innerhalb der Partei Gelegenheitgefunden haben, sich zu verständigen, habendie Medien mögliche Konfliktthemen bereits

DOSSIER DEMOKRATIE

Die Konkurrenz zwingt die Parteien, lauter und bunter zu werden.Verlautbarungen und Pressekonferenzen – damit ist es nicht mehr getan.

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geortet. Interna finden ihren Weg in die Öffent-lichkeit immer schneller, Stellungnahmen ein-zelner Exponenten schaffen zur Unzeit voll-endete Tatsachen. Die logische Antwort auf die-sen Notstand ist die Verkürzung der innerpar-teilichen Entscheidungswege sowie die Koor-dination interner und externer Kommunikationdurch ein professionelles Management. Darausergibt sich jedoch eine Tendenz zur Zentrali-sierung und Hierarchisierung der Organisa-tionsstrukturen, die sich mit Parteitraditionen,wie sie insbesondere in der Schweiz bestehen,nicht verträgt. «Im Bemühen, den Anforderun-gen der medialisierten Öffentlichkeit gerechtzu werden, handeln sich die Parteien ein Dilem-ma ein», sagt Patrick Donges. «Einerseits sind siebestrebt, gegenüber den Medien einheitlichoder geschlossen aufzutreten, andererseitsmöchten sie die föderale Vielfalt und die Ver-ankerung der Parteiorganisation vor Ort nichtpreisgeben. Beides lässt sich mitunter nurschwer unter einen Hut bringen.»

SIGNALE AN DIE BASIS

Neben der Beschleunigung ist die wachsendeZahl der Medienkanäle ein Hauptgrund für densteigenden Kommunikationsaufwand der Par-teien. SMS, Mailings, Podcasts ersetzen die altenMedien nicht etwa, sondern kommen zumRepertoire hinzu. Wer glaubt, zugunsten einer

Innovation auf eines der traditionellen Medienverzichten zu können, wird schnell eines Bes-seren belehrt. Der Kommunikationsverant-wortliche der SPÖ beispielsweise liebäugelteeinmal mit dem Gedanken, die Wahlplakateabzuschaffen, da er sie für wenig informativ,unzeitgemäss, teuer und hässlich hielt. Es bliebbeim blossen Gedanken. Die Genossen an derBasis hätten den Plan als Affront verstanden.Ein Plakatierungsverzicht hätte den Eindruckerweckt, die Zentrale verschlafe den Wahl-kampf und lasse das Parteivolk im Stich. DasPrinzip Legitimität – auch das veranschaulichtdiese Anekdote – hat in Parteiorganisationen

Vorrang vor der Effizienz. Das will heissen: DerHauptzweck der Kommunikation besteht fürdie Parteiführung nicht darin, möglichst gros-se öffentliche Resonanz zu erzielen, sondernder eigenen Parteibasis gegenüber Rechen-schaft darüber abzulegen, dass sie ihre Arbeitmacht. «Deshalb vor allem», sagt Patrick Don-ges, «werden Plakatwände beklebt, und deshalbwird in teure Online-Auftritte investiert. JederKommunikationsstratege weiss, dass via Inter-net kaum zusätzliche Wählerstimmen gewon-nen werden; eine attraktive Website signalisiertder Basis jedoch, dass die Zentrale präsent undauf der Höhe der Zeit ist.»

TROMMELN AUF ALLEN KANÄLEN

Es ist das Buschtrommelprinzip, das hier aufallen medientechnologischen Niveaus entfaltetwird. Schweigen würde Untätigkeit bedeuten,also muss getrommelt werden, und zwar aufallen Kanälen. Zugleich setzen begrenzteRessourcen den Parteiverantwortlichen immerauch Grenzen, die dazu zwingen, Akzente zusetzen. Da Effizienz in Kommunikationsfragennicht das Hauptkriterium ist – und sich im Übri-gen die Effizienz einzelner Massnahmen auchkaum messen lässt –, tendieren die Parteiendazu, sich bei der Wahl ihrer Marketingstrate-gien Modetrends anzuschliessen. Was anderetun, wird wohl seine guten Gründe haben – so

lautet eine verbreitete Annahme. Diese Ratio-nalitätsfiktion führt dazu, dass alle Parteienähnliche Wege beschreiten. Besonders grosseWirkung entfaltete dabei in den letzten Jahrendas Vorbild so genannter «single issue groups»wie Bürgerinitiativen, NGO oder Interessen-verbände. Sie sind für den Wettbewerb ummediale Aufmerksamkeit in vielerlei Hinsichtbesser gerüstet als die grossen, heterogenzusammengesetzten Parteien mit ihren breit-gefächerten Themenrepertoires. Eine Green-peace-Aktion entfaltet mehr Dramatik als eineParteidelegiertenversammlung. Economie-suisse vertritt eine klarer definierte Klientel

als eine Volkspartei. Der Bund der Steuerzahlerkann seine Interessen eindeutiger formulieren,als dies in einem Parteiprogramm je möglichwäre. Ein-Themen-Organisationen werdenpunktuell und aus gegebenem Anlass herausaktiv, verfolgen konkrete, leicht vermittelbareAnliegen und sind daher wie geschaffen dafür,sich in den Massenmedien in Szene zu setzen.Grosse Volksparteien sind ganz anders struk-turiert, versuchen aber dennoch immer öfter,die Erfolgsstrategien der single issue groups zukopieren. Sie starten Unterschriftenaktionen,lancieren Kampagnen und suchen gezielt nachpublizitätsträchtigen Einzelthemen, die sich mitgrösstmöglichem Effekt bewirtschaften lassen.

Dies hat Folgen, besonders auch für das aufKonkordanz getrimmte Politsystem der Schweiz.Hier kam es zu einer deutlichen Polarisierungder politischen Kräfte. «Parteien», sagt Donges,«erfüllten in demokratischen Staaten bisherimmer zwei sehr unterschiedliche Aufgabengleichzeitig: Auf der Vorderbühne des Polit-betriebes fungierten sie als Sprachrohr politi-scher Anliegen. Auf der Hinterbühne schmie-deten sie Allianzen und Kompromisse, holtenExpertisen ein und arbeiten Lösungsvorschlägeaus.» Dieser zweite Aufgabenbereich, kurz alsInteressenaggregation bezeichnet, wird heutezugunsten der Interessenartikulation vernach-lässigt. Parteien funktionieren immer mehr wie grosse Kommunikationsagenturen, die vonFall zu Fall agieren. Ihre politische Integra-tionskraft nimmt dabei ab, ihre Fähigkeit undBereitschaft, disparate Kräfte zusammenzu-führen, verschiedene Interessenlagen zu ver-einbaren und so auf längere Sicht zwischenStaat und Gesellschaft zu vermitteln, schwindet.«Das Gedränge auf der Vorderbühne nimmt zu,während die Hinterbühne sich langsam leert»,stellt Donges fest. Die Rolle der Parteien im poli-tischen Gefüge hat sich in den letzten zweiDekaden tiefgreifend verändert. Die Notwen-digkeit, sich auf die Medialisierung der Gesell-schaft einzustellen, war für diesen Wandel ent-scheidend.

KONTAKT Otfried Jarren: [email protected]; MartinaVogel: [email protected], Patrick Donges: [email protected]

«Die Kommunikation ist vom Anhängsel zum zentralen Bestandteil der Politik geworden.» Patrick Donges, Publizistikwissenschaftler

BERN BETLEHEM — HOCHHAUSÜBERBAUUNG

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«WIR SIND WELTMEISTER DER DEMOKRATIE»

Herr Jarren, Herr Kriesi, das Forschungs-thema Ihres Nationalen Forschungs-schwerpunktes lautet «Herausforderungender Demokratie im 21. Jahrhundert». Wiewird denn die Demokratie heute heraus-gefordert?

HANSPETER KRIESI: Es gibt zahlreiche Her-ausforderungen. Wir untersuchen in unseremForschungsprojekt zwei davon: Den wachsen-den Einfluss der Medien auf politische Prozes-se und die zunehmende Bedeutung internatio-naler und supranationaler Organe und Ent-scheidungsträger, die die nationalen Entschei-dungsprozesse relativieren.

OTFRIED JARREN: Die Medien, das Internetgehört da selbstverständlich dazu, durchdringenheute alle gesellschaftlichen Ebenen und ver-ändern so die politischen Prozesse. Das Glei-che gilt für den Trend zur Denationalisierungbeziehungsweise Globalisierung: PolitischeEntscheidungen werden heute nicht mehr nurin den Geltungsräumen der verschiedenenNationalstaaten getroffen.

Sie sagen, die Internationalisierung höhle den Nationalstaat aus. Was bedeutet das konkret für dieDemokratie?

KRIESI: Die Demokratie war bisher national-staatlich verfasst. Über Entscheidungen in derEU beispielsweise wird in den Mitgliedstaatenaber nur sehr selten abgestimmt. Je häufigerpolitisch relevante und verbindliche Entschei-dungen auf der Ebene der EU getroffen wer-den, desto mehr schwindet die Relevanz natio-naler Abstimmungen und Wahlen. Das istnatürlich problematisch.

Sie haben festgestellt, dass die Unzufrieden-heit der Bürger gegenüber der EU wächst.Gibt es Strategien, wie solche supra-

nationalen Organisationen demokratischreformiert werden könnten?

KRIESI: Das ist eine schwierige Frage. Tat-sächlich hat die EU ein Demokratiedefizit. Esgibt verschiedene Vorstellungen, wie das geän-dert werden könnte. Eine Variante wäre die Ver-stärkung des europäischen Parlaments. Eineandere eine erhöhte Kontrolle der EU-Ministerdurch die nationalen Parlamente. Oder die EU-Kommission könnte direkt durch das Volk oderdurch das Parlament gewählt werden. Es gibtaber auch Stimmen, die sagen, die EU habeüberhaupt kein Demokratiedefizit. Wir stellenjedoch generell so etwas wie ein demokrati-sches Malaise fest. Auf diesem Hintergrund wol-

Globalisierung und Medien verändern die Spielregeln der Demokratie. Wie diesgeschieht, untersucht das NCCR Democracy. Mit den beiden Leitern, HanspeterKriesi und Otfried Jarren, sprachen Thomas Gull und Roger Nickl

len wir im Rahmen unseres Nationalen For-schungsschwerpunktes untersuchen, wie dieDemokratie heute funktioniert und was manallenfalls besser machen könnte.

JARREN: In der EU haben wir das Problem,dass Institutionen – Parteien, Verbände, Gewerk-schaften – auf den Nationalstaat ausgerichtetsind. Auf der supranationalen, europäischenEbene bestehen hingegen Defizite, weil die Par-teien hier nur partiell organisiert sind. AndereAkteure – NGO beispielsweise – spielen dafüreine grössere Rolle. Es fragt sich allerdings, wiestark diese demokratisch rückgekoppelt sind.Sind sie überhaupt legitimiert, Interessendurchzusetzen? Für mich stellt sich deshalb dieFrage, wie die Architektur solcher supranatio-naler Gebilde aussehen muss, damit sie denBedürfnissen traditioneller Demokratien ent-spricht und dennoch den Wandel akzeptiert.

DOSSIER DEMOKRATIE

Chancen und Gefahren: Hanspeter Kriesi und Otfried Jarren diskutieren Perspektiven der Demokratie.

BILDER Ursula Meisser

DIE GESPRÄCHSPARTNER

Otfried Jarren ist Professor für Publizistik-wissenschaft an der Universität Zürich. SeineForschungsschwerpunkte sind «Media Poli-cy» und «Political Communication». Im Be-reich der Medienpolitik werden unter ande-rem die beiden Projekte «MedienpolitischeWeichenstellung» und «Publizistische Pro-grammierung der SRG 1953–2005» (finan-ziert durch den Schweizer Nationalfonds[SNF]) bearbeitet. Auf dem Gebiet der Politi-schen Kommunikationsforschung werden anseinem Lehrstuhl derzeit, neben einemNCCR-Projekt über Medialisierungseffektebei politischen Parteien (Mehrländerstudie),mit Mitteln des SNF die Projekte «Die Regie-rungskommunikation der Kantone» sowieder Schweizer Teil im Rahmen des interna-tionalen Verbundprojekts «Political Commu-nication Culture in Western Europe. A Com-parative Study» durchgeführt. Soeben abge-schlossen wurde das Projekt «PolitischeKommunikationsberater in der Schweiz»(das Buch erscheint im Oktober im UVK Ver-lag, Konstanz).KONTAKT [email protected]

Hanspeter Kriesi ist Professor für Politikwis-senschaft, Vergleichende Politik an der Uni-versität Zürich. Ein aktueller Schwerpunktseiner Forschungsarbeit ist die Transforma-tion westeuropäischer Parteiensysteme imZeitalter der Globalisierung – in einemgemeinsamen Projekt mit der UniversitätMünchen werden die Veränderungen desParteienangebots und der Wählernachfrageanhand von Wahlkampagnen und öffent-lichen Debatten in sechs europäischen Län-dern untersucht. Zudem leitet er ein For-schungsprojekt zum Wertewandel in derSchweiz, das Teil der fünften Welle der WorldValue Studie ist, die in mehr als 60 Länderndurchgeführt wird. Im Rahmen des NCCRDemocracy analysiert der Politikwissen-schaftler mit seinem Team gemeinsam mitPublizistikwissenschaftlern der UniversitätZürich direkt-demokratische Abstimmungs-kampagnen in der Schweiz.KONTAKT [email protected]

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Das kann durchaus bedeuten, dass wir künftigneue Demokratiekonzepte und Governance-Modelle entwickeln müssen.

Gibt es auch in den Nationalstaaten, etwa inder Schweiz, Demokratiedefizite?

KRIESI: Ursprünglich haben wir uns vorallem für supranationale Phänomene der Glo-balisierung interessiert, mittlerweile ist unsbewusst geworden, dass es auch auf nationalerund subnationaler Ebene Prozesse gibt, diedazu führen, dass die Verantwortung der demo-kratisch gewählten Repräsentanten den Stimm-bürgern gegenüber sehr indirekt wird. Es gibtbeispielsweise immer mehr so genannte «Inde-pendent Regulatory Agencies»: Das heisst, derStaat delegiert die Regulation bestimmter Poli-tikbereiche an unabhängige Entscheidungs-instanzen. Die Nationalbank ist das typischeBeispiel in der Schweiz. Die Verantwortlichendieser Institutionen werden zwar von gewähl-ten Entscheidungsträgern ernannt und sinddem Stimmbürger gegenüber damit mindestensindirekt verantwortlich. Aber diese Institutio-nen entwickeln natürlich eine gewisse Eigen-dynamik, die nicht mehr an die Bürgerinnenund Bürger rückgekoppelt ist.

Sie haben jetzt vor allem die Demokratie-defizite betont. Gibt es im Rahmen von Globalisierung und Internationa-lisierung auch Chancen für die Demokratie?

KRIESI: Am Anfang haben wir sehr pessimis-tisch gedacht. Und es gibt bei uns auch Leute,die kritisieren, dass wir vor allem von den Pro-blemen und zu wenig von den Chancen spre-chen. Tatsächlich bieten die neuen suprana-tionalen politischen Ebenen auch neue Mög-lichkeiten für Interventionen. Nichtregie-rungsorganisationen und andere Interessen-gruppen intervenieren etwa auf europäischerEbene. Es gibt Gruppen in der Bevölkerung, diedadurch gestärkt werden. Auf diese Weise ent-stehen neue Partizipationschancen. Es ist auchso, dass die Bürger immer kompetenter wer-den. Das führt dazu, dass die Erwartungen andie Partizipation steigen. Zudem eröffnen dieneuen Technologien neue Möglichkeiten fürdie aktive Teilnahme an politischen Diskussio-

nen und Prozessen. Das wird von uns auchuntersucht. Wir betonen also nicht nur dienegativen Aspekte, sondern wir sehen auchneue Möglichkeiten.

Sie bezeichnen die Schweiz als «Labora-torium» für die Demokratieforschung.Inwiefern eignet sich unser Land speziell fürdie Demokratieforschung?

JARREN: Im Unterschied etwa zu Deutsch-land ermöglicht das politische System derSchweiz, die direkte Partizipation auf verschie-denen Ebenen – von der Gemeinde bis zumBundesstaat. Es gibt zudem Formen der Betei-ligung, die die EU nun partiell einführt – etwaKonsultationsverfahren – ohne sie als schwei-zerisch zu deklarieren.

KRIESI: Hinzu kommt, dass die Schweiz quasiaus 26 verschiedenen Staaten besteht. Mankann deshalb innerhalb des Landes die Wir-kung unterschiedlich organisierter Institutio-nen sehr gut analysieren. Ein weiterer Punktist: Die Schweiz ist Weltmeister in der direktenDemokratie, und diese ist ein Exportprodukt,das immer häufiger auch im Ausland zurAnwendung kommt. In der Schweiz kann manentsprechend gut erforschen, wie diese Formder Demokratie funktioniert. Wir untersuchenbeispielsweise Abstimmungskämpfe wie diezum neuen Asylgesetz im vergangenen Jahr.

Eine weitere Hypothese Ihres Projekts ist die zunehmende gegenseitige Abhängigkeitvon Politik und Medien – die so genannteMediatisierung. Wie manifestiert sich dieseEntwicklung?

JARREN: Es gab schon immer ein speziellesVerhältnis von Politik und Medien – so entwi-ckelten sich die Nationalstaaten und die Medienzunächst im Gleichschritt. Staat und Gesell-schaft hatten als Verbindungselemente die Par-teien, die ihre Standpunkte via Medien ver-mittelten. Die Partei-, Gewerkschaft- und Kir-chenpresse war früher entsprechend ideolo-gisch aufgeladen. Diese Struktur hat sich ver-schoben: Die Medien haben sich zunehmendökonomisiert und müssen ihr Geld anderswei-tig beschaffen. Aufgrund dieses Wandels sind sieheute weniger ideologisch und stärker auf-merksamkeitslogisch geprägt. Mediatisierung

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meint nun, dass die politischen Organisationenzunehmend auf die Vermittlungsfunktion derMedien angewiesen sind, auf die sie nicht mehrautomatisch zählen können, weil sie keine eige-ne Presse mehr haben. Die Öffnung der Medienhat dazu geführt, dass beispielsweise NGO eingrösseres Gewicht im politischen Diskurs erhal-ten haben. Andere politische Akteure und Inter-mediäre verlieren hingegen tendenziell anBedeutung in der medialen Darstellung. Da-durch, dass die Medien Informationen nachihrem Nachrichtenwert auswählen, werdenauch bestimmte Akteure in der Berichterstat-tung weniger berücksichtigt.

Wie reagieren die Parteien auf dieseVeränderungen?

JARREN: Die Parteien sind zunehmend aufdie Medien angewiesen – selbst wenn sie ihreeigenen Mitglieder schnell erreichen wollen.Sie können nicht mehr binnenkommunikativfunktionieren. Das führt zu einer Hierarchisie-rung von Entscheidungsprozessen und vonThemen und zu einer Professionalisierung vonStäben und Leitungen. Und es fördert die Ent-demokratisierung der Strukturen. Idealtypischlaufen Entscheidungsprozesse in Parteien vonunten nach oben ab, diese Entwicklung weistjedoch in die andere Richtung. Das wirkt sichauf die Parteien aus. Entsprechend gibt es ganzunterschiedliche Modelle, wie Parteien orga-nisiert sind und funktionieren. Gleichzeitig wer-den die Parteien finanziell abhängiger, weil pro-fessionelle Kommunikation Geld kostet, wasich für Demokratien auch aus dem Aspekt derChancengleichheit als problematisch erachte.Das führt dazu, dass Parteien mit einem klei-neren Budget dazu gezwungen werden, Ver-bindungen einzugehen, etwa mit den Medien.Parteien sind in den Nationalstaaten zentraleAkteure, weil sie Interessen bündeln und aus-gleichen und so bis zu einem gewissen Gradfür politische Stabilität sorgen. Heikel wird es,wenn die Parteien diese Funktionen nicht mehrerfüllen können, weil sie sich in finanzielleAbhängigkeiten begeben oder weil sie nur nochselektive Interessen vertreten und nur nochbestimmte Themen bewirtschaften, weil sieannehmen, dass sie damit bei den Wählernpunkten können.

KRIESI: Ich möchte noch zwei Aspektehinzufügen. Zum einen wird in den Parteiendie Führung gestärkt. Die Parteispitze brauchtden Parteiapparat nicht mehr, um die Mitglie-der zu mobilisieren, das geschieht über dieMedien. Die Medien ihrerseits, die politischeThemen stark personalisieren, sind sehr auf dieParteispitzen ausgerichtet. Ganz generell kannman sagen, dass die Exekutiven gestärkt wer-den, weil die Aufmerksamkeit der Medienimmer mehr auf die Spitzen fokussiert wird.Dies unterstützt auch die Tendenz zur supra-nationalen Entscheidungsfindung, weil auchdort die Exekutive die zentrale Rolle spielt, wie etwa die Staatschefs an den G-8-Gipfelndemonstrieren. Das führt zu einer «Präsiden-tialisierung» der parlamentarischen Systeme,

und das wiederum zu einer «Entparlamentari-sierung». Das heisst, die Parlamente werdenimmer schwächer und die gewählten Volks-vertreter haben weniger Einfluss.

Die SVP ist in der Schweiz das Paradebeispiel für eine solche von obengesteuerte Partei. Andere Parteien scheinen mehr Mühe damit zu haben, wenn man etwa beobachtet, wie die FDP oder die SP versuchen, über die BasisParteiprogramme zu entwickeln. Das scheint mittlerweile ein kompetitiverNachteil zu sein – man hat zwar parteiintern mehr Demokratie, aber man ist weniger schlagkräftig. Müssen sich die Parteien dieser neuen Logik unterwerfen?

KRIESI: Offenbar. Jedenfalls ist es so, dassParteien, die sich dieser Logik unterwerfen,erfolgreicher sind. Die SVP hat sich in dieserHinsicht am meisten professionalisiert undmacht nun den anderen vor, wie es gemachtwerden muss.

Ist das die Zukunft?JARREN: Diese Strategie birgt auch Risiken,

weil sie an Personen – Blair beispielsweise oderBerlusconi – gebunden ist. Institutionen, die mitPersonen kurzgeschlossen werden, haben dasProblem, dass sie, wenn diese Personen ver-schwinden oder skandalisiert werden, überle-gen müssen, wie es weitergeht. Es ist aberschon so, dass die Personalisierung durch dieMedien zu einer Hierarchisierung führt, weildiese Personen auf allen Ebenen auftreten unddie Sachgeschäfte teilweise gar nicht mehrabarbeiten können. Das führt auch demokra-tietheoretisch zu einem Problem, weil dasBinnengefüge der Parteien von diesen Perso-nen abhängt. Parlamente werden so faktischausgehöhlt, weil die Entscheide eben vermehrtdurch die Exekutiven oder wenigen Eliteper-sonen ausgehandelt werden. Die Medien bedie-nen genau diese Konstellation.

Damit verbunden ist auch die Verschiebung hin zu populistischer Themen-setzung. Inwiefern wird populistische Politik gefährlich für eine Demokratie?

«Die Parteien werden finanziell abhängiger, weil

professionelle Kommunikation Geld kostet.» Otfried Jarren

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JARREN: Das Problem ist, dass die Medienalles bedienen, was irgendwie interessant ist –beispielsweise das Thema Kampfhunde. DerEffekt ist, dass dadurch eine Vielzahl von Exe-kutivmassnahmen ausgelöst werden, bei denenman sich fragen muss, ob der Aufwand gerecht-fertigt ist. Dagegen werden bei viel relevante-ren Themen – etwa der Misshandlung von Kin-dern und Frauen – keine Massnahmen ergriffen.Das sind Prozesse, die teilweise von den Medienangestossen werden. Man kann das für harm-los halten. De facto ist es aber nicht harmlos,weil damit die politische Agenda gesetzt wird.Und Agendasetting bedeutet nicht nur, einThema zu lancieren, sondern gleichzeitig aucheine Lösung zumindest zu suggerieren. Wennes einer Partei wie der SVP gelingt, ein Thema

– etwa «Missbrauch» – zu setzen und sich gleich-zeitig als Lösung des Problems zu präsentie-ren, ist das der Schlüssel zum Erfolg.

KRIESI: Populismus ist ein schwieriges Kon-zept. Auf den Kern reduziert bedeutet es: dendirekten Appell ans Volk und Anti-Elitismus.Blocher etwa attackiert die «classe politique»und appelliert gleichzeitig an den gesundenMenschenverstand der Stimmbürger. Das Kon-zept ist deshalb heikel, weil ein Populist mit derIdealvorstellung der Demokratie – dem direk-ten Appell ans Volk – arbeitet. Das Volk soll ent-scheiden und niemand sonst.

Ein Paradebeispiel für eine solche Auseinan-dersetzung sind die Einbürgerungen. Dabeigeht es um die Frage Rechtsstaat undMenschenrechte versus Basisdemokratie. Solldas Volk das letzte Wort haben?

KRIESI: Wir leben in einer liberalen Demo-kratie. Eine Grundvoraussetzung, dass dieseDemokratie funktioniert, ist der liberale Rechts-staat, der Grundrechte wie Redefreiheit, Ver-sammlungsfreiheit, Religionsfreiheit garantiert.Zu diesen Rechten gehört auch der Schutz vorWillkür durch den Staat. Das Problem der Ver-absolutierung der demokratischen Komponenteist, dass dadurch willkürliche Entscheide gefälltwerden können. Nur weil jemand Türke ist oderStojanovic statt Müller heisst, wird er nichteingebürgert. Das ist Willkür. Da hat dasBundesgericht völlig zu Recht entschieden, dassdas so nicht geht. Die Staatsrechtler stehen aufder Seite des liberalen Rechtsstaates, dessenPrinzipien sie gegen die Verabsolutierung derVolkssouveränität verteidigen. Wenn der Popu-list ans «Volk» appelliert, hat er zwar die Idealeder Demokratie auf seiner Seite. Aber dieseIdeale sind nicht absolut zu setzen. Denn einer-seits verletzt der Populist unter UmständenPrinzipen des Rechtsstaates. Andererseits über-sieht er, dass unsere Demokratie repräsentati-ve Elemente enthalten muss. Das heisst, mankann nicht jeden Tag das Volk befragen. Es gibtdie pragmatische, real existierende Demokratieund es gibt die ideale Demokratie. In unseremProgramm untersuchen wir, wie die realeDemokratie funktioniert, und nicht, wie esunter Umständen in idealen normativen Model-len sein könnte.

Sie argumentieren, dass die Mediatisierungund Boulevardisierung des politischenDiskurses die Lösung von Problemenschwieriger macht, weil durch den medialenDruck nebensächliche Themen aufgebauschtwerden – wie die Kampfhunde –, die dannden Bundesrat und das Parlamentbeschäftigen. Wird dadurch die Demokratiegefährdet?

JARREN: Die Sichtbarkeit der zentralen Insti-tutionen nimmt heute ab, das kann man feststel-len. Das Parlament beispielsweise kommt inden Medien weniger vor als früher. Damit ver-lieren auch Prinzipien wie das Aushandeln poli-tischer Kompromisse, die Gewaltenteilung oderdas Aushalten institutioneller Widersprüche anallgemeiner Sichtbarkeit und in der Folge anBedeutung. Solche Entwicklungen machenDemokratien verletzlicher und instabiler.

Herr Jarren, Herr Kriesi, wir danken Ihnenfür das Gespräch.

NCCR DEMOCRACY

DEMOKRATIE UNTER DER LUPEDie Globalisierung und der zunehmendeEinfluss der Medien auf die Gesellschaftstellen die Politik vor neue Fragen. Und sieverändern die Spielregeln der Demokratie.Unter dem Titel «Herausforderungen derDemokratie im 21. Jahrhundert» untersuchtdas NCCR Democracy, ein interdisziplinärerNationaler Forschungsschwerpunkt unterder Leitung des Politologen Hanspeter Kriesiund des Publizistikwissenschaftlers OtfriedJarren, aktuelle demokratische Prozesse.Ziel des Projektes ist es, aufgrund von For-schungsresultaten, Vorschläge zur Verbes-serung der politischen Entscheidungspro-zesse, der politischen Bildung und der Qua-lität der Medienberichterstattung zu erar-beiten. Am Projekt beteiligt sind rund 100Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die erstePhase des Forschungsvorhabens wurde 2005vom Schweizer Nationalfonds für vier Jahrebewilligt und mit 7,1 Millionen Franken un-terstützt. Das Gesamtbudget des NCCRbeträgt 14,6 Millionen Franken.

«Die Exekutiven werden gestärkt, weil die Aufmerksamkeit der

Medien immer mehr auf die Spitzefokussiert wird.» Hanspeter Kriesi

WEBSITE www.nccr-democracy.uzh.ch

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WENN DEMOKRATIE GEFÄHRLICH WIRD

Die Demokratie ist aus westlich-aufgeklärterSicht die bestmögliche aller Staatsformen. Siesorgt dafür, dass wir nicht besser regiert werden,als wir es verdienen (G.B. Shaw), und Demokra-tien führen in der Regel gegeneinander keineKriege. Immanuel Kant erklärte diesen Sach-verhalt unter anderem damit, dass sich Wählernur ungern selber in den Krieg schicken. DiePolitikwissenschaft hat für die Beisshemmungdemokratischer Staaten untereinander den Be-griff des «Demokratischen Friedens» geprägt.

Der Erfolg des demokratischen Modells istunbestritten, hat jedoch auch seine Schatten-seiten. Dazu gehört der naive Glaube, Demo-kratie sei so universell beliebt und allgemeinverträglich wie Coca-Cola und könne deshalbbeliebig exportiert werden. Im Gegensatz zumamerikanischen Süssgetränk, das auf der gan-zen Welt gerne getrunken wird und nur seltenBeschwerden verursacht, ist die Demokratiemit Vorsicht zu geniessen. Das demonstrierendie USA mit ihrem desaströsen Feldzug im Irakauf eindrückliche Weise. Denn die Demokratie,oder präziser der Weg zu ihr, die Demokrati-sierung, birgt erhebliches Sprengpotenzial. Manübersieht nur allzu gerne, dass auch die Ent-stehung der westlichen Demokratien begleitetwar von Bürgerkriegen und Revolutionen. Wieetwa dem Aufstand der amerikanischen Siedlergegen die englische Krone, der die erste moder-ne demokratische Verfassung der Welt erstmöglich machte. Oder der Französischen Revo-lution, die zuerst Ludwig den XVI. und danachso manches andere der Ancien Régimes inEuropa wegfegte, auch in der Schweiz.

ETHNISCHE SÄUBERUNGEN UND GENOZIDE

Demokratisierungsprozesse zeitigen auch injüngster Vergangenheit höchst unterschiedli-che Folgen. So verlief in Lateinamerika derÜbergang von den Militärdiktaturen zu demo-

kratischen Regierungen meist unblutig, undviele der Staaten Osteuropas verabschiedetensich ohne allzu grosse Schwierigkeiten aus demkommunistischen Zwangsverband. Andernortshat der Demokratisierungsprozess hingegen zuBürgerkriegen, ethnischen Säuberungen undGenoziden geführt und die staatliche Einheitgefährdet oder zerstört.

Weshalb gelingt die Demokratisierung ineinigen Fällen und hat in anderen katastrophaleAuswirkungen? Diese Frage lotet das Projekt«Democratizing Divided Societies in Bad Neigh-borhoods» des Nationalen Forschungsschwer-punktes NCCR Democracy aus. Von der Univer-sität Zürich beteiligt sich unter anderem Simon

Hug, Professor für Methoden der Politikwissen-schaft, am Projekt, das von Lars-Erik Ceder-man, Professor für Internationale Konfliktfor-schung an der ETH Zürich, geleitet wird.

Das Projekt basiert auf der Erkenntnis, dass«Demokratisierungsprozesse zuerst einmal zueiner Destabilisierung der bestehenden Ord-nung führen und nicht immer friedlich ver-laufen», wie Hug festhält. Die Einsicht stellt dieoptimistische Haltung in Frage, die noch in den1990er-Jahren vorherrschte: «Die Politologengingen davon aus, dass es friedlich wäre aufdieser Welt, wenn alle Staaten demokratischwürden», erklärt Hug. Eine Heilserwartung, dieim Einklang stand mit Francis FukuyamasThese vom Ende der Geschichte. Für Fukuyamagab es nach der Überwindung des Kommu-nismus auf dieser Welt keine Gegensätze mehr.Höchste Zeit für das Goldene Zeitalter also, dasParadies auf Erden, mit Frieden, Demokratie

Die Demokratie mag die beste aller Staatsformen sein. Demokratisierungsprozes-se destabilisieren jedoch oft die bestehende Ordnung und können zu Bürgerkrie-gen, Genoziden und dem Auseinanderfallen von Staaten führen. Von Thomas Gull

und freier Marktwirtschaft überall und bis inalle Ewigkeit.

Doch das waren die euphorischen frühen90er-Jahre, das war vor 9/11. Heute weiss man:Die Verhältnisse sind nicht so, zumindest nichtso einfach. Das musste auch Fukuyama fest-stellen, als die Geschichte selbst seine Thesewiderlegte. Die Politologen sehen den Gang derWeltgeschichte heute deshalb in einem etwasnüchterneren Licht. Das grosse Wort vom Para-digmenwechsel mag Hug zwar nicht hören, erstellt aber fest: «Die Perspektive hat sich ver-ändert: Demokratisierung ist sicherlich nachwie vor ein erstrebenswertes Ziel. Doch manmuss sich bewusst sein, dass der Weg dorthinnicht einfach ist.» Insbesondere in Ländern mitethnischen Spannungen könne die Demokrati-sierung Konflikte auslösen. Der Beispiele sindviele: das ehemalige Jugoslawien, die ehema-

ligen Sowjetrepubliken im Kaukasus, dieRegion der grossen Seen in Afrika oder der Mitt-lere Osten etwa.

Solche Fälle schwieriger Demokratisie-rungsprozesse untersuchen Hug und seine Kol-legen. Sie wollen herausfinden, welche Mecha-nismen die Konflikte auslösen. Dazu wurdenunter anderem internationale Experten zuGesprächen eingeladen, mit denen die Lage indiesen vier Regionen erörtert wurde. DieErkenntnisse sind in das Paper «Linking EthnicConflict & Democratization. An Assessment ofFour Troubled Regions» eingeflossen (AutorenJudith Vorrath, Lutz Krebs, Dominic Senn).Simon Hug fasst die provokative These des Auf-satzes so zusammen: «Die Demokratisierungkann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass einStaat destabilisiert wird oder Krieg führt.»

Das tönt ziemlich waghalsig, vor allem fürall jene, die bisher mit Kant der Meinung waren,

«Demokratisierung kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Staatdestabilisiert wird oder Krieg führt.» Simon Hug, Politologe

DOSSIER DEMOKRATIE

NENDAZ — ALPHORNBLÄSER

LIESTAL — RESTAURANT RÜTLI

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Demokratie sei eine Voraussetzung für den ewi-gen Frieden. Doch die These lässt sich bestensbelegen, etwa mit dem Beispiel des früherenJugoslawien. Für die Politologen sind die zuerstinnerstaatlichen Auseinandersetzungen, diedann zu Bürgerkriegen, Genoziden und demAuseinanderfallen Jugoslawiens führten, eineFolge des Demokratisierungsprozesses. Dieserstellte die Macht der alten kommunistischenElite, repräsentiert unter anderem durch Slo-bodan Milosevic in Serbien und Franjo Tudmanin Kroatien, in Frage. Milosevic und Tudmaninstrumentalisierten die ethnischen Spannun-gen, um die Wählerinnen und Wähler für ihrLager zu mobilisieren. Milosevic etwa postu-lierte, Serbien werde gross sein oder nicht sein.«Ethnische Spannungen werden vielfachgeschürt und inszeniert», fasst Hug zusammen,«sie sind das Resultat der Strategien von Eliten.»

DAS DESASTER IM IRAK

So weit, so unerfreulich. Doch unter welchenBedingungen führen Demokratisierungen zuKonflikten? Und umgekehrt gefragt: Welchessind die Voraussetzungen für eine erfolgreicheDemokratisierung? In ihrem Paper beschrei-ben Vorrath, Krebs und Senn drei Eigenschaf-ten der Demokratisierung, die Konflikte auslö-sen können, und sie diskutieren drei Elemen-te, die zu einer erfolgreichen und friedlichenDemokratisierung beitragen.

Lutz Krebs analysiert für seine Dissertationdas Verhalten der Eliten im Libanon und imIrak. Der Irak bietet sich als Beispiel an, um dievon Vorrath, Krebs und Senn zusammenge-stellten Szenarien durchzuspielen. Erstens:Durch die Demokratisierung wird die politi-sche Arena geöffnet, was neuen Akteuren dieMöglichkeit gibt, sich am politischen Prozesszu beteiligen. Gleichzeitig können dadurchGruppen, die bisher an der Macht waren, mar-ginalisiert werden oder ganz verschwinden. ImExtremfall kann diese Entwicklung zu einemKollaps der Zentralgewalt und damit zu einemMachtvakuum führen. Was im Irak passierte:Die bisherige Elite aus den Reihen der Sunni-ten wurde von den Amerikanern entfernt, diedemokratische Arena geöffnet. Resultat: Einunkontrollierter Machtkampf zwischen den ver-schiedenen ethnischen und politischen Grup-

pen, der faktisch zu einem Kollaps der Zen-tralmacht geführt hat.

Zweitens: Wahlen produzieren Gewinnerund Verlierer. Gruppen, die in der demokrati-schen Ausmarchung den Kürzeren ziehen,könnten den Wahlausgang nicht akzeptierenund versuchen, ihre Ansprüche mit Waffenge-walt durchzusetzen. Was im Irak passierte: DieSunniten haben ihre Macht verloren und kön-nen auf Grund ihres relativ geringen Anteils ander Bevölkerung unter demokratischen Bedin-gungen höchstens auf eine proportionale Betei-ligung an der Macht hoffen. Deshalb sabotierensie den Demokratisierungsprozess.

Drittens: Der Ablauf der demokratischenEntscheidungsprozesse spielt eine wichtigeRolle. So hat sich gezeigt, dass es sich negativauswirkt, wenn zuerst lokale oder regionaleWahlen abgehalten werden, bevor es zu natio-nalen Wahlen kommt, weil regionale Führer,

die nicht an das nationale Gemeinwohl gebun-den sind, mehr Legitimität geniessen als dienoch nicht gewählten nationalen Führer. Sogeschehen im früheren Jugoslawien.

Was im Irak passierte: Nach dem Sturz desHussein-Regimes zerfiel das Land faktisch indrei Teile, den kurdischen im Nordosten, denschiitischen im Süden und den sunnitischen imZentrum. Es gab zwar nationale Wahlen, dieWahlergebnisse spiegeln aber nur die ethni-sche Spaltung der Bevölkerung.

Den drei wichtigsten Konfliktkatalysatorenstehen drei Voraussetzungen gegenüber, die zueiner erfolgreichen und friedlichen Demokra-tisierung beitragen. Erstens: Der Staat muss imInnern und nach aussen gefestigt sein. Lage imIrak: Das Land droht entlang der ethnischenGrenzen auseinanderzufallen. Zweitens: DieRegeln für den Übergang sind ausgehandeltworden zwischen den ehemaligen Machtha-bern und den Vertretern der demokratischenOpposition. Im Irak wurden die ehemaligenMachthaber von den Amerikanern vertrieben,ohne dass es eine Planung für den Übergang

zu neuen geordneten politischen Verhältnissengab. Drittens: Der Übergang ist ein Kompro-miss zwischen den ehemaligen und den neuenMachthabern. Die Unterstützung der früherenElite kann gewonnen werden, indem sie an derMacht beteiligt wird. Im Irak wurden die ehe-maligen Machthaber durch den Krieg gestürzt,die Sunniten sehen sich marginalisiert.

Die Voraussetzungen für eine nachhaltigeDemokratisierung sind im Irak denkbarschlecht. Im Moment herrschen im Land cha-otische Zustände und ein Ende scheint nicht inSicht zu sein. Das werde sich auch nicht soschnell ändern, ist Krebs überzeugt: «Weil über-haupt noch nicht absehbar ist, wie sich derMachtkampf entwickelt, setzen alle Parteienalle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein,um ihre Positionen zu stärken.» Im Gegensatzdazu seien im Libanon die politische Macht zwi-schen den ethnischen Gruppen bereits aufgeteilt

und das Land trotz grosser ethnischer Span-nungen einigermassen stabil.

Worauf laufen die im Rahmen des NCCR-Projektes betriebenen Analysen hinaus? Gibt esbald praktische Anweisungen, wie Demokrati-sierungen am besten durchzuführen seien?Wohl kaum. Für Hug ist klar, dass es so etwaswie ein einziges Rezept für das Gelingen vonDemokratisierungsprozessen nicht gibt undnicht geben wird: «Wir möchten zuerst einmalherausfinden, wie die Prozesse regionalspezi-fisch ablaufen. Wahrscheinlich wird man kul-turelle, gesellschaftliche und ökonomischeEigenheiten weit stärker berücksichtigen müs-sen als bisher.» Deshalb werde man am Endedes Tages wahrscheinlich keine grosse, allge-mein gültige Theorie aufstellen können für denfriedlichen Ablauf von Demokratisierungs-prozessen, sagt Hug, «wir möchten aber zugewissen Generalisierungen kommen unddiese in die öffentliche Debatte einbringen».

KONTAKT [email protected]

«Ethnische Spannungen werden geschürt und inszeniert, sie sind dasResultat der Strategien von Eliten.» Simon Hug, Politologe

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WIE DEMOKRATISCH SIND DEMOKRATIEN?

Die Demokratie gilt gemeinhin als die besteund am höchsten entwickelte Organisations-form des politischen Lebens. Wir sind stolzdarauf, in demokratisch verfassten Staaten zuleben. Doch ist diese Errungenschaft in Steingemeisselt? Was passiert mit der Demokratie,wenn machthungrige und rücksichtslose Regie-rungschefs wie Silvio Berlusconi auf den Plantreten? Oder wenn Ereignisse wie 9/11 dazuführen, dass grundlegende Bürgerrechte plötz-lich nicht mehr so wichtig erscheinen? Und:Interessiert sich das oft zitierte «Volk» über-haupt noch dafür, seine politischen Rechtewahrzunehmen?

Die Politologen Lisa Müller und Marc Bühl-mann möchten es gerne genauer wissen. Sieentwickeln deshalb ein neues Instrument, umdie Qualität von Demokratie zu messen, das«Demokratiebarometer». Das Projekt, das 2005am Institut für Politikwissenschaft der Univer-sität Zürich gestartet wurde und bis mindestens2008 laufen soll, ist Teil des Nationalen For-schungsschwerpunktes «Herausforderungender Demokratie im 21. Jahrhundert».

DEMOKRATIE VERÄNDERT SICH

Das Demokratiebarometer ist nicht der erste Ver-such, den politischen Zustand von Ländern zumessen und zu bewerten. Die bekanntesten der-artigen Analysen stammen von der US-amerika-nischen Organisation Freedom House, die all-jährlich den so genannten «Freedom HouseIndex» veröffentlicht, in dem sie sämtlichenLändern der Erde punkto Demokratie Notenvon eins bis sieben erteilt. Doch erhalten beidiesem eher grob gestrickten Rating die westli-chen Industrienationen ohnehin stets die höchs-ten Weihen, nämlich das Prädikat «free». Kriti-sche Fragen, ob es in diesen Ländern nicht nochDinge zu verbessern oder problematische Ent-wicklungen zu verhindern gäbe, werden so aus-

geblendet. Das ist problematisch: «Auch gefes-tigte Demokratien brauchen kritische Beobach-tung», erklärt Projektleiter Marc Bühlmann.«Deshalb möchten wir auch die Unterschiedezwischen den etablierten Demokratien messbarmachen.» Mit dem Demokratiebarometer sollendabei nicht nur sämtliche OECD-Länder vergli-chen, sondern auch der Wandel innerhalb ein-zelner Länder untersucht werden, denn, so Bühl-mann: «Wir vermuten, dass sich die Qualitätder Demokratie beispielsweise in Italien durchBerlusconi gewandelt hat und jene in den USAdurch die Politik von Bush. Solche Veränderun-gen würden wir gerne mit Zahlen belegen.»

FREIHEIT, GLEICHHEIT, KONTROLLE

Bevor das Barometer eingesetzt werden kann,müssen allerdings grundlegende Fragen geklärtwerden: Was ist überhaupt eine Demokratie?Und wie lässt sich das in Fakten und Zahlenfassen? Die beiden Politologen verstehenDemokratie als einen Aushandlungsprozess.«Es gibt nicht die eine und einzige beste Formvon Demokratie, an der alle anderen gemes-sen werden können», meint Bühlmann.

Dem Barometer liegt denn auch ein Modellzugrunde, das von drei Prinzipien ausgeht, die ineinem ausgewogenen Verhältnis zueinander ste-hen müssen, damit von einer funktionierendenDemokratie gesprochen werden kann: Gleich-heit, Freiheit und – nein, nicht etwa Brüderlich-keit, sondern: Kontrolle. Das Gleichgewicht derdrei Prinzipien macht es aus: «Eine einseitigeBetonung des Aspekts der Freiheit etwa würdezu einem reinen survival of the fittest führen»,erläutert Bühlmann. Und wäre die Gleichheitaller Mitglieder einer Demokratie sakrosankt,gäbe es keinen Raum für individuelle Lebens-gestaltung mehr. Je nach Land und Zeit sei dasVerhältnis von Gleichheit, Freiheit und Kon-trolle allerdings verschieden gewichtet. Aus die-

Sie gilt als höchst entwickelte Organisationsform des politischen Lebens. Wie gutfunktionieren realexistierende Demokratien aber tatsächlich? Ein Demokratieba-rometer soll künftig die Qualität von politischen Systemen messen. Von Tanja Wirz

sen drei Prinzipien leitet das Forschungsteam diekonkreten Indikatoren ab, die die Beurteilungder Demokratiequalität erlauben sollen. Soetwa: Haben alle gleiche Chancen, ihr Stimm-und Wahlrecht auszuüben? Wie viele und wel-che Möglichkeiten gibt es, politisch direkt zupartizipieren? Sind die Gewählten repräsenta-tiv für die Gesamtbevölkerung? Wie steht es umdas politische Wissen? Gibt es Pressezensur?Korruption? Wie stark ist das Land abhängigvon der internationalen Marktwirtschaft?

Um diese und viele weitere Fragen zu beant-worten, erheben Lisa Müller und Marc Bühl-mann keine neuen Daten, sondern arbeiten mitbereits erhobenen Datensätzen aus dem Zeit-raum von 1990 bis heute. Wichtig ist ihnendabei, nicht nur die Normen, also etwa dieschriftliche Verfassung eines Landes, zuberücksichtigen, sondern die tatsächliche «Ver-fassungswirklichkeit» zu untersuchen. Zudemmöchten sie ihre Daten möglichst transparentmachen. Das ist bei manchen der bestehendenIndices für Demokratiequalität nämlich eben-falls problematisch: Der Freedom House Indexetwa basiert nicht nur auf harten Fakten, son-dern auf Einschätzungen von Experten. «Inmanchen Fällen ist das auch gar nicht andersmöglich», erklärt Bühlmann, «da für viele Län-der die entsprechenden Daten nicht zugäng-lich sind.» Damit ist schlecht nachvollziehbar,wie der jeweilige Experte zu seiner Aussagekam. Und möglicherweise wären Experten ausanderen Ländern als der USA ja auch zu ganzanderen Schlüssen gelangt. Das Zürcher Demo-kratiebarometer hingegen soll möglichst trans-parent werden. Sowohl das Barometer selberwie auch sämtliche verwendeten Daten wer-den als Open-Source-Datenbank öffentlichzugänglich sein. Damit soll eine kontinuierlicheDiskussion geführt werden können, was einegute Demokratie ausmacht. Und das Messin-strument könnte stetig verbessert werden.

KONTAKT Dr. Marc Bühlmann, [email protected] und Lisa Müller, [email protected]

DOSSIER DEMOKRATIE

VITZNAU — BUNKERPARTY

BEI EGLISWIL — 1.-AUGUST-VORBEREITUNG

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DIE MILLIONÄRSFRAGE

Oft beginnt es mit dem Wechsel des Wohnortes:Das berufstätige Akademikerpaar verdient ohneKinder schnell einmal mehr, als es ausgibt. Undjetzt, wo das erste Kind unterwegs ist, zieht essie hinaus aus der engen Stadt. Sie wollen eineigenes Haus mit etwas Umschwung. Wo genauist nicht so wichtig, Hauptsache, die Gemeindeist angenehm und bietet eine gute Infrastruktur.Und natürlich: Der Arbeitsweg in die Stadt wirdnicht allzu weit. Schon haben sie den Vertrag fürden Kauf des Hauses unterschrieben, nichtahnend, dass sie dafür möglicherweise auchmit einer kleinen Veränderung in ihrem Wesenbezahlen werden. Zwar nicht sofort, aber nachein paar Monaten oder Jahren. Vielleicht fällt esihnen nicht einmal auf, dass sie irgendwannstatt links-grün wie bisher auf einmal rechts-liberal wählen.

Weshalb das so sein wird? «Das ist die Mil-lionärsfrage», sagt Professor Daniel Kübler vomInstitut für Politikwissenschaft der UniversitätZürich. Ziehen die Menschen dorthin, wo schonähnlich Gesinnte wohnen? – etwa an der Zür-cher «Goldküste», wo die Immobilienpreisehoch sind und sich fast nur noch gut Betuchteniederlassen. Oder wird man politisch von derGemeinde geprägt, in der man wohnt?

KERNSTADT ODER AGGLO?

«Wir haben starke Hinweise auf Letzteresgefunden», erklärt Daniel Kübler. Die Wohnge-meinde prägt demnach die politische Gesin-nung. Zur Illustration vergleicht Kübler dasZürcher Seefeld-Quartier mit der angrenzen-den Gemeinde Zollikon. In beiden setze sichdie Bevölkerung sehr ähnlich zusammen – gutgebildet, wohlhabend –, «doch die Menschenim Seefeld denken anders als jene in Zollikon.»Der Zürcher Politologe schreibt dies dem urba-nen Einfluss zu: der Grösse der Gemeinschaft,der verdichteten Bauweise, der Komplexität der

Institutionen: «Im städtischen Kontext werdenandere Diskussionen geführt als in den umlie-genden kleineren Gemeinden.» Sogar das oftverschriene Schwamendingen sei eindeutigKernstadt und nicht «Agglo»: «Die Schwamen-dinger», so Kübler, «denken anders als dieangrenzenden Dübendorfer, genauso wie dieAltstetterinnen anders denken als die Schliere-merinnen.»

Brisant ist dieser Befund im Hinblick auf dieEingemeindungen, die in jüngster Zeit wiederaktuell geworden sind. Seit dem Zweiten Welt-krieg ist in dieser Hinsicht nichts mehr Wesent-liches passiert. Erst im Jahr 2004 lancierte dieStadt Lugano eine neue Entwicklung, als siemit acht umliegenden Gemeinden fusionierte.«Es wird interessant sein zu beobachten, wiesich der Charakter dieser neuen Stadtteile nunentwickelt», freut sich Kübler. Die jüngsteGemeinde-Heirat ist aus dem Kanton Luzernzu vermelden: Im Juni dieses Jahres hat Littau

der Stadt Luzern das Ja-Wort gegeben. Der Poli-tologe schmunzelt: «Wenn den Littauernbewusst gewesen wäre, dass sie nun wahr-scheinlich langsam linker und grüner werden,hätten sie vielleicht nicht zugestimmt.» Tat-sächlich wurden Eingemeindungen bisherimmer nur unter den wirtschaftlichen Aspektendiskutiert. «Wir wollen mit unserer Arbeit zei-gen, dass sie auch das politische Denken undHandeln verändern», sagt Kübler.

Solche Anpassungen scheinen dringendnötig, damit die einzelnen Teile der wachsen-den urbanen Siedlungsgebiete überhaupt nochgemeinsam funktionieren können. Anders als in

Die Schweizer Agglomerationen dehnen sich aus. Gleichzeitig driften sie politischimmer weiter auseinander. Das ist verhängnisvoll, denn um die gemeinsamenProbleme zu lösen, müssen die Gemeinden zusammenspannen. Von Katja Rauch

anderen Ländern wachsen die Agglomeratio-nen in der Schweiz nämlich nicht in die Höhe– wo gibt es bei uns schon wirkliche Hochhäu-ser? –, sondern in die Breite. Das heisst, dieKernstädte gewinnen nicht mehr Einwohner,sondern verlieren eher solche. Dafür breitetsich der städtische «Siedlungsbrei» immer wei-ter aus. Zum Teil überschreitet er bereits Kan-tons- und Landesgrenzen. Wurden früher dieStädte bei Abstimmungen ständig von den länd-lichen Gebieten überstimmt, so geraten sie nungegenüber ihrem eigenen Agglomerationsum-land ins Hintertreffen.

TIEFE POLITISCHE GRÄBEN

Mit dem Wachsen der Agglomerationen habensich in den letzten Jahrzehnten auch die politi-schen Gräben tief in diese Gebiete hineinge-fressen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, so Küb-ler, habe hier eine Dreiteilung stattgefunden: ImZentrum stehen die eher links-grünen Kern-städte; dann kommen die national-konservati-ven oder rechtspopulistischen «suburbanen»Zonen; und schliesslich, weiter aussen, die libe-ral-konservativen «periurbanen» Gebiete.

Typisch suburban ist zum Beispiel das Lim-mattal mit den Gemeinden Schlieren, Dietikonund Spreitenbach. Oder das Glatttal mit Dietli-kon oder Wallisellen. Die suburbanen Gegendenschliessen unmittelbar an die Kernstadt an. Siesind geprägt von Industrie- und Grosshandels-betrieben, ein Shoppingcenter reiht sich hieran das andere. Städtebaulich bieten dieseGemeinden meist ein eher tristes Bild: Ein win-ziger Dorfkern aus vergangenen Zeiten istumgeben von hässlichen Geschäftsgebäuden,anonymen Wohnblock-Quartieren, Industrie-zonen sowie Hektaren von Parkplätzen. DieBevölkerung besteht zu einem grossen Teil aus

«Eingemeindungen verändern das politische Denken und Handeln der Einwohner.» Daniel Kübler, Politologe

DOSSIER DEMOKRATIE

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ausländischen Arbeitern und Angestellten. «Diealt eingesessenen Einwohner sind in der Min-derheit», konstatiert der Politologe, «Überfrem-dungsangst gepaart mit Vergangenheitsnostal-gie ergeben deshalb einen fruchtbaren Nähr-boden für rechtspopulistische Parteien.»

Ganz anders die periurbanen Gemeinden.Sie sind in der Regel etwas weiter aussen undschön gelegen. Hierhin zieht, wer sich ein Ein-familienhaus im Grünen leisten kann: Men-schen mit überdurchschnittlichem Einkom-men, die beruflich erfolgreich sind und meis-tens einem traditionellen Familienmodell nach-leben. Diese Gruppe sympathisiert eher mitwirtschaftsfreundlichem Gedankengut undwählt liberal-konservative Parteien. Aus denKernstädten sind im 20. Jahrhundert vieleFamilien aus höheren sozialen Schichten insperiurbane Umland abgewandert. Zurückgeblieben ist die weniger begüterte traditio-nelle Arbeiter-Linke, zu der seit den 1990er-Jahren eine neue intellektuelle Linke hinzu-gekommen ist: die «Yuppies» und «Dinkies», diedas urbane Flair mit seinem grossstädtischenKulturangebot suchen.

Diese politische Dreiteilung hält Kübler fürgefährlich. Es lässt sich ja kaum behaupten,dass die Agglomerationen frei von Problemensind. Und sehr oft können diese nicht von ein-zelnen Gemeinden allein, sondern nur gemein-sam gelöst werden. Ohne gemeinsame Planungwürden die Agglomerationen im Autoverkehrersticken, der öffentliche Verkehr käme nichtvom Fleck, die Drogenabhängigen würden wei-ter zwischen den Gemeinden hin und hergeschoben, und zentrale urbane Leistungenwürden zwar weiterhin von allen rundherumgenutzt, könnten aber irgendwann nicht mehrfinanziert werden.

Politische Gräben helfen da kaum. Was alsotun? Dies ist eine der wichtigsten Fragen, denenProfessor Kübler und seine Doktoranden UrsScheuss, Philippe Koch und Larissa Plüss inihrem Beitrag zum Nationalen Forschungs-schwerpunkt «Herausforderungen an dieDemokratie im 21. Jahrhundert» nachgehen.Die vier Forschenden untersuchen in ihremProjekt «Verstädterung des Politischen: Struk-turwandel und Demokratie in Agglomeratio-nen der Schweiz», wie sich die Konfliktlinien

innerhalb der fortschreitenden Verstädterungder Schweiz entwickelt haben – und eben auch,wie über die wachsenden Gräben hinweg ineinem demokratischen Rahmen zusammenge-arbeitet werden kann.

INSTITUTIONELLES MOSAIK

Ein Rezept wurde schon genannt: Gemeinde-strukturen zusammenfassen. In keinem ande-ren europäischen Land sind die Agglomeratio-nen so zerstückelt wie in der Schweiz. DieAgglomeration Zürich etwa besteht aus 132politischen Gemeinden. Dabei entspricht dasinstitutionelle Mosaik aus kleinen und kleins-ten Kommunen längst nicht mehr den realenräumlichen Verhältnissen in den urbanenGebieten. Kübler: «Man kann heute kein Trammehr nur bis an die Gemeindegrenze bauen.»

Ein zweites Rezept setzt bei der Hierarchiean. Es wirkt sich günstig aus, wenn der Kantonoder der Bund die Agglomeration bei derLösung ihrer gemeinsamen Probleme unter-stützt. Bekanntes Beispiel dafür ist die Agglo-merationspolitik, die der Bund seit 2001 mit sei-

nem Infrastrukturfonds betreibt: Er beteiligtsich finanziell an der Infrastruktur für denAgglomerationsverkehr, wenn die Gemeindendiese gemeinsam planen und tragen. In denletzten Jahren habe der Bund gezielt mit solchenInstrumenten gearbeitet, erklärt Daniel Küb-ler. Denn: Wer lehnt ein Geschenk aus Bern ab?«So wirkt das Bundesgeld als Schmiermittel fürdie Beziehungen innerhalb der Agglomeratio-nen.» Die Frage ist nur, wie sich dieseZusammenarbeit über mehrere Ebenen hin-weg mit der Demokratie verträgt respektive wie sehr die direkte Demokratie eine solcheZusammenarbeit überhaupt zulässt.

Ein Paradebeispiel für diese Politik ist dieneue Tramlinie Zürich-West. Der Bund willdafür mitbezahlen, falls sich auch die Stadt undder Kanton Zürich zusammenraufen können.Und die beiden, sonst oft eher Spinnefeind alseitel Freund, haben es tatsächlich geschafft, ein

gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen.In einer Stadtzürcher Abstimmung wurde esbereits abgesegnet. Nun steht noch der Testbevor, ob sich auch die Bevölkerung des übri-gen Kantons dahinter stellen wird. Die(direkt)demokratischen Spielregeln bieten dieMöglichkeit, ein solches Projekt zu blockieren.Momentan sieht Kübler die Schweiz allerdingsauf gutem Weg. Aber was, wenn der Bund ein-mal kein Geld mehr haben sollte, um die Koope-rationen zu «schmieren»? Für Kübler ist klar:Es braucht vermehrt Kanäle und Institutionen,zum Beispiel so genannte Agglomerationsräte,die das Gemeinschaftsgefühl der Agglomera-tionsbevölkerung fördern, bündeln und ihmeine politische Öffentlichkeit verschaffen.

Ohne ein Mindestmass an Solidarität wirdjedenfalls nichts zu machen sein. Eine Solida-rität, wie sie zum Beispiel auch der innerkan-tonale Finanzausgleich vorsieht. In den 90er-Jahren wurden diese Systeme in vielen Kanto-nen so angepasst, dass nun bei der Umvertei-lung von Steuereinnahmen unter den Gemein-den auch zentralörtliche Leistungen der Kern-

städte berücksichtigt werden. Die Zentrumslas-ten der Kernstädte würden so heute weitausbesser kompensiert als noch vor ein paar Jah-ren, konstatiert Kübler. Trotzdem gebe es nachwie vor Versuche, den Lastenausgleich zuumgehen. So wurde an der Gemeindever-sammlung einer reichen Kommune am Seekürzlich darüber diskutiert, wie man gezieltarme Familien anziehen könnte, damit dieSteuereinnahmen insgesamt kleiner würdenund somit auch der Beitrag in den Topf desFinanzausgleichs. «Ich weiss nicht, wie sie dasbewerkstelligen wollen», fragt der Politologepointiert, «vielleicht, indem sie ein paar Sied-lungen verlottern lassen?»

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«Bundesgelder wirken als Schmiermittel für die Beziehungen innerhalbder Agglomerationen.» Daniel Kübler, Politologe

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ESSAY von Markus Christen

PLANET HIRN

Der Blick auf die Entwicklung der (Natur-)Wis-senschaften verleitet regelmässig zur Festle-gung einer «Leitwissenschaft» – einer übereinen gewissen Zeitraum vorherrschendenStrömung im Wissenschaftsbetrieb. DerenDominanz kann sich in vielerlei Hinsicht aus-drücken: In der hohen Zahl der in ihr produ-zierten Erkenntnisse, der Anwendung ihrerMethoden in anderen Bereichen, der Steige-rungsrate der akquirierten Forschungsmitteloder in ihrer populärwissenschaftlichen Rezep-tion. Die Hirnforschung dürfte derzeit in all die-sen Kategorien gut abschneiden. Sie geniesstauf der Bühne der Öffentlichkeit viel Aufmerk-samkeit, Mittel sind leichter zu generieren alsetwa in der Botanik oder für Projekte der theo-retischen Philosophie. Zahlreiche «Bindestrich-Wissenschaften», wie etwa Neuro-Pädagogikoder Neuro-Finance, verweisen zudem auf (zu)hochgesteckte Erwartungen hinsichtlich derAnwendung ihrer Methoden in anderen Gebie-ten. Vergleicht man die Publikationsrate in derNeurowissenschaft mit jener des gesamten Wis-senschaftsbetriebs, so zeigt sich seit den 1960er-Jahren ein überdurchschnittliches Wachstum.Fürwahr scheint damit die Hirnforschung zueiner Leitwissenschaft des 21. Jahrhundertsavanciert zu sein.

Der Idee einer «Leitwissenschaft» haftenaber auch kritische Komponenten an. IhreAnsprüche mögen überzogen, ihre Resultateüberbewertet und Forschungsgelder zu starkin eine Richtung gedrängt worden sein. Zudemnährt der Begriff ein Bild einer monolithischenWissenschaft, die unablässig Wissen akkumu-liert, machtvolle Technologie produziert unddamit die Gestaltungskraft des Menschen un-ablässig ausdehnt. Dass die Dinge komplizier-ter liegen, lehrt die Wissenschaftsgeschichteschon lange. Der Begriff «Hirnforschung»umfasst zahlreiche unterschiedliche Wissens-traditionen. Aus diesem Grund möchte ich dieNeurowissenschaft einmal aus einer ganz an-deren Perspektive beschreiben – im Sinn einer«Tektonik der Hirnforschung».

Dieser aus den Geowissenschaften stammendeBegriff ist bewusst gewählt. Man kann sich dieverschiedenen Theoriegemeinschaften, die dasProjekt Hirnforschung bilden, als tektonischePlatten eines «Hirnplaneten» vorstellen, dessenLandflächen das Wissen über das Gehirn reprä-sentieren und die von verschiedenen Hirnfor-scher-Stämmen besiedelt werden. Im Bild derPlattentektonik ist das Wissen dynamisch: Eskann zusammenprallen und sich vereinen,wobei gewisse Wissenstraditionen in lichteHöhen gelangen und neue Theorie-Gebirge for-men, während andere in die Tiefe gedrücktwerden. Manchmal senken sich Platten unterden Meeresspiegel und werden von den Hirn-forschern aufgegeben. Gebirge erodieren undihr Theorie-Material lagert sich in Ebenen ab,die im Lauf der Zeit wieder vom Meer über-spült werden. Zuweilen kommt es zu vulkani-scher Aktivität, wenn neue Gedanken sich denWeg zur Oberfläche bahnen und Inseln odergar einen Kontinent formen, der dann in eintektonisches Wechselspiel mit den anderenKontinenten treten kann. Bruchlinien und Stör-zonen liefern Anlass für Erschütterungen. Auchdie verschiedenen Stämme des Volkes der Hirn-forscher sind sich nicht immer freundlichgesinnt, suchen aber den Kontakt zueinander –was zuweilen riskante Seefahrten zwischen denKontinenten nötig macht. Das Bild der Tektoniksoll nun benutzt werden, um eine Skizze deraktuellen Hirnforschung zu zeichnen.

*Es gibt einen alten, schon seit langem besie-delten Doppelkontinent auf dem Hirnplaneten.Er entstand, als die neuroanatomische mit derneuropsychologischen Platte zusammenstiessund dabei ein grosses Gebirge, den anatomisch-neuropsychologischen Rücken, auffaltete. Die-ser Doppelkontinent befindet sich im Zentrumder Landkarte unseres Planeten und dieGebirgskette verläuft in Nord-Süd-Richtung. Ander westlichen Flanke lebt der Stamm der Neu-roanatomen, die Schädel öffnen und die Struk-

tur der darunter liegenden Gehirne erkunden.An der östlichen Flanke des anatomisch-neu-ropsychologischen Rückens siedelt der Stammder Neuropsychologen, die mittels Einzelfall-studien bei kranken Mitgliedern des Volkes derHirnforscher Zusammenhänge zwischen Ver-haltensauffälligkeiten und Hirnschädigungensuchen. So manche hohe Bergspitze des anato-misch-neuropsychologischen Rückens ist in denNebel der Unwissenheit gehüllt. Dennoch istdas Gebirge alt und die Erosion hat schon vielSchutt produziert und in die umliegendenMeere gespült.

Eine Ebene im nordöstlichen Teil der neu-ropsychologischen Platte – das Psychoanalyse-Tiefland – ist schon derart vom Schutt zuge-deckt, dass sie wieder weitgehend im Ozeander Spekulation versunken ist. Es entstand einseichtes Wattenmeer, das aber noch einige vonAnalytikern und Therapeuten bewohnte Inselnaufweist. Das Psychoanalyse-Tiefland bildetzudem eine Subduktions-Zone mit einem jün-geren Kontinent im nordöstlichen Teil unsererLandkarte – dem Kontinent der Neuropharma-kologie. Das sich dort erst kürzlich aufgefalte-te Psychopharmaka-Gebirge erfreut sich beimdort lebenden Stamm der Neuropharmakolo-gen wie auch bei den Neuropsychologen, die alsTouristen das Gebiet bereisen, derzeit grosserBeliebtheit. Vielen Kranken des Volkes der Hirn-forscher werden derzeit Kuren im Psychophar-maka-Gebirge angeboten – wobei aber mancheMitglieder des Stammes der Neuropsychologendavor warnen, die Patienten nur dorthin zuschicken. Zuweilen seien auch längere Aufent-halte auf den Analytiker- und Therapeuten-Inseln ebenso heilsam. Der Reiseveranstalterfür die Patienten hingegen hält die Aufenthalteauf den Inseln meist für zu teuer.

In der nordwestlichen Ecke unserer Land-karte befindet sich der Kontinent der Neuro-techniker. Hier lebt ein Stamm von Hirnfor-schern mit physikalischem und mathemati-schem Theoriehintergrund, die das Meer derSpekulation ganz anders erkunden wollen alsdie anderen. Sie bauen Dämme in das Meer hin-aus, gewinnen Neuland und bezeichnen das soerschlossene Land als das wahre und verstan-dene Wissen über das Gehirn. Anderen Hirn-forschern ist deren Mischung aus Basteltrieb

ILLUSTRATION Orlando Eisenmann

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und theoretischer Rigorosität suspekt. Dennochzeigen geologische Untersuchungen, dass esfrüher eine Landverbindung zwischen demKontinent der Neurotechniker und dem Konti-nent der Neuroanatomen gegeben haben muss– den Gehirn-Computer-Isthmus, eine nun ver-sunkene Landenge. Demnach war es wohl einstzu einer Besiedelung dieses Kontinents von derneuroanatomischen Platte aus gekommen. DieAuswanderer hofften, ihr anatomisches Wissenüber das Gehirn in Schaltpläne übersetzen zukönnen, um zusammen mit den Ureinwohnerndes Kontinents der Neurotechniker – Clans vonMathematikern und Physikern – eine neueForm von Hirnforschung zu betreiben.

Das Dreieck zwischen dem Land der Neuro-techniker, dem anatomisch-neuropsychologi-schen Doppelkontinent und dem Kontinent derNeuropharmakologen ist derzeit Schauplatzeines gewaltigen vulkanischen Spektakels mitnoch ungewissen Folgen für das Klima auf demHirnplaneten. Hier findet der Plastizitäts-Vul-

kanismus statt, der unaufhörlich neue Inselnschafft, die sich dereinst zu einem neuen,grossen Kontinent vereinen könnten. Der Vul-kanismus brachte zu Tage, dass das Gehirnoffenbar weit wandlungsfähiger ist, als manbisher dachte. Bereits bereisen Mitglieder derunterschiedlichen Stämme diese noch neuenInseln. So erhoffen sich beispielsweise die Neu-ropsychologen, auf den Inseln Erklärungen fürdie doch erstaunliche Varianz bei ihren Fall-beschreibungen, die Verhaltensauffälligkeitenmit Hirnabnormität in Verbindung bringen, zu

finden. Jedenfalls sind sich alle einig, dass derPlastizitäts-Vulkanismus ein bedeutendes Er-eignis auf dem Hirnplaneten ist.

*Auch im südöstlichen Bereich unserer Land-karte zeigt sich eine interessante Entwicklung.Viele der Ablagerungen des anatomisch-neu-ropsychiatrischen Rückens, die die Erosion insMeer gespült hatte, sind durch eine Hebungwieder ans Tageslicht gekommen und bildenden Emotions-Kontinent – ein beliebter undrasch besiedelter Kontinent auf unserem Hirn-planeten. Er ist so en vogue, dass versucht wird,mit Bildgebungs-Brücken den Kontinent mitdem anatomisch-neuropsychologischen Dop-pelkontinent zu verbinden – doch die Sache istnicht so einfach und Brückenpfeiler versinkenimmer wieder in Untiefen.

Ganz im Osten unserer Landkarte befindetsich ein weit entfernter Kontinent. Erst langsamsiedelt sich dort ein Stamm von Hirnforschern

an, der soziale Aspekte der Hirnforschunguntersuchen will. Er stellt sich die Frage, wiesoziale Interaktionen Gehirne formen und wieman das überhaupt untersuchen kann. Noch istdas Land eher karg und es fehlen geeigneteWerkzeuge, um es zum Blühen zu bringen.Auch ist die Seereise lang und hart. Zuweilenfegen neuroethische Stürme über das Meer undversenken die Schiffe. So hat sich langsam derKonsens etabliert, dass eine Besiedlung desKontinents der sozialen Hirnforschung nur viaden Emotions-Kontinent gelingen kann.

Schliesslich gibt es auch Mythen auf unseremHirnplaneten. Der wichtigste Mythos ist jenereines Kontinents mit dem Namen «Bewusst-seins-Atlantis», der sich irgendwo in der nord-westlichen Ecke unserer Landkarte befindensoll. Auf diesem Kontinent sollen die endgülti-gen Antworten über die Natur des Geistes derHirnforscher verborgen sein. Schon mancherHirnforscher ist aufgebrochen, dieses gelobteLand zu finden – mit der vollmundigen Ver-sprechung, die heutigen Schiffe könnten die-ses problemlos erreichen. Einige kamen zurückund berichteten gar, sie hätten den Seeweg zumBewusstsein-Atlantis gefunden – doch wirklichüberzeugen konnten die Rückkehrer dieDaheimgebliebenen bisher nicht und mancheräusserte den Verdacht, den Reisenden sei dieendlos weite Reise auf dem Ozean der Speku-lation in den Kopf gestiegen.

Doch seit kurzem ereignet sich eine vulka-nische Aktivität im Südwest-Ozean. Hot-Spots,die das philosophische Tiefengestein der Intro-spektion aufschmelzen, bilden eine Inselkette –die «First-Person-Neuroscience»-Inseln –, dieden Weg ins sagenhafte Bewusstsein-Atlantisweisen könnte. Einige Hirnforscher wollendiese besiedeln, um das innere Erleben vonBewusstsein mit objektiv messbaren Vorgän-gen verbinden zu können. Wären da nur nichtdiese weisen Männer und Frauen, die als ein-same Wanderer alle Kontinente des Hirnplane-ten durchstreifen und von der Vergeblichkeit, inRichtung Bewusstsein-Atlantis aufbrechen zuwollen, warnen. Gewiss werden diese «Philo-sophen» genannten Weisen oft als hoffnungslosaltmodisch verspottet – doch tief im Innernschlummert bei so manchem Hirnforscher dieUngewissheit, ob das Meer der Spekulation viel-leicht doch tektonische Platten verbirgt, die niean die Oberfläche des Hirnplaneten gelangen.

Markus Christen promovierte am Institut für Neuro-informatik der Universität/ETH Zürich und arbeitetderzeit am Graduiertenprogramm für interdiszipli-näre Ethikforschung der Universität Zürich sowie alsWissenschaftsjournalist. Dieser Text ist inspiriert voneinem kürzlich erschienenen Buch des Autors: «Hirn-Gespinste. Gespräche und Klärungen zur Hirnfor-schung». Herausgegeben wurde es in der Reihe «Uto-pie Mensch», die vom interdisziplinären Institut fürEthik im Gesundheitswesen Dialog Ethik und demBieler verlag die brotsuppe gemeinsam getragen wird.

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PORTRÄT

VIREN IN DEN SELBSTMORD TREIBEN

Die Virologin Karin Moelling hat entdeckt, wie das HI-Virus überlistet werdenkann. Jetzt, mit 64, sucht sie nach Wegen, wie sich Forschende nach der Emeritie-rung noch in die Gesellschaft einbringen könnten. Von Paula Lanfranconi

Die Journalistin muss warten. Der Abgabeter-min für eine wichtige Arbeit eines Mitarbeiterssteht bevor, da hat das Gespräch über die eigenePerson zweite Priorität. Und dann kommt sie, dieschmale ältere Dame, die man immer dann imFernsehen sieht, wenn gefährliche Seuchendrohen – SARS, Vogelgrippe, Influenza. Wie istes eigentlich, im Rampenlicht zu stehen, so wievor einigen Wochen wieder, als die internatio-nalen Medien titelten: «Zürcher Professorinfindet Killer-Enzym gegen Aids»? Die Virologinwinkt ab. Ihr geht es um die Sache.

Karin Moelling, Direktorin des Instituts fürMedizinische Virologie, fasst die Besucherin mitklugen braunen Augen in den Blick und erläu-tert in einfachen Worten ihre neueste Entde-ckung. «Anstatt ein Medikament anzuvisieren,das die Vermehrung des HIV hemmt, machenwir das Gegenteil: Wir veranlassen das Virus,einen Schritt zu tun, den es bei der Vermeh-rung ohnehin tut – aber zu früh.» Dieser Schrittaktiviert eine RNase H, eine «molekulare Sche-re», die das Erbgut des Virus zerschneidet, bevordieses eine Kopie davon angefertigt hat. Sobegeht der Erreger Selbstmord, noch bevor erin die Zelle eingedrungen ist.

Es ist die Eleganz der Methode, die die Viro-login fasziniert: «Mein Ansatz», sagt sie miteinem feinen Lächeln, «ist zwar spezifisch fürdas HI-Virus, aber er erhält vielleicht Unter-stützung von den zellulären Scheren.» Ausser-gewöhnlich an Moellings Ansatz ist zudem, dassdas Virus auch im Blut zerstört werden kann. Dahat es die Forscherin schon ein bisschen ent-täuscht, dass die grosse Publizität ihr keineAnfragen von Pharmafirmen eintrug, dennimmerhin könnte ihre Entdeckung endlich zueinem funktionierenden Mikrobiozid führen,zum Beispiel in Form von Scheidenzäpfchen,

die Frauen vor der Ansteckung mit dem HI-Virus schützen.

MOLEKULARE SCHERE GEGEN AIDS

Mit der Welt der Viren steht die Physikerin undBiochemikerin seit bald 40 Jahren auf Du undDu. Schon als Doktorandin entdeckte sie dieRNase H, ein Enzym. Erst vor wenigen Jahrenist ihr klar geworden, dass sie mit dieser mole-kularen Schere einen möglichen Schlüssel fürdie Bekämpfung von Aids gefunden hatte.«Meine Schere ist kombinierbar mit dem Silen-cing, dem Abschalten von Genen, für das letz-tes Jahr der Nobelpreis vergeben wurde.» Auchsonst hat Karin Moelling früh bahnbrechendeEntdeckungen gemacht, zum Beispiel zur Über-tragung von Signalen in den Zellen. Viele ihrerBefunde stehen heute in den Lehrbüchern, wer-den aber nicht mit ihr in Verbindung gebracht.Für ihre neuste Entdeckung interessiert sichzwar die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Aberdas heisse noch lange nicht, dass auch Geldfliessen werde, meint die Forscherin, die seit

14 Jahren in Zürich lehrt und ein Institut mit 45Mitarbeitenden aufgebaut hat. Trotzdem ist siezuversichtlich: «Mein Prinzip ist so völlig an-ders, dass ich vielleicht eine Chance habe.»

Was hilft ihr am meisten, wenn ein Projekt inder Sackgasse steckt? Eigentlich ist das die fal-sche Frage an eine Forscherin, doch KarinMoelling ist ein höflicher Mensch. Dass es nichtklappe, komme oft vor. Dann hängt sie sich rein,bis sie weiss, warum sie etwas nicht verstanden

hat. Karin Moelling ist schnell, nicht nur imDenken. Und sie ist Norddeutsche. Am Anfanghatte sie es nicht einfach in Zürich. «Man war,noch mehr als heute, eine Überraschung fürdie anderen.»

Ordentliche Medizinprofessorinnen wieKarin Moelling sind an der MedizinischenFakultät der Universität Zürich auch heute nochdie Ausnahme. Warum das so ist, kann die Wis-senschaftlerin nicht sagen. Nur so viel: «Nichtjede Frau will ein so wenig familienfreundli-ches Leben führen wie ich.» Sie ist kinderlosgeblieben. Dass sich Familie und Beruf nichtvereinbaren lassen, glaubt sie aber nicht, dafürhat sie in den USA genügend erfolgreiche Bei-spiele gesehen. «Bei uns», bedauert sie, «gibt esleider immer nur Individuallösungen, jedermuss seinen eigenen Weg finden.» Wie langihre Arbeitswochen sind, weiss die Forscherinnicht genau, dafür betreibt sie ihr Metier zu lei-denschaftlich. Die Virologie, sagt sie, sei vonungeheurer Relevanz. «Viren geben einen Ein-blick in die Evolution, sie sind die Präger fürjene Gene, die Krebs verursachen. Die Krebs-forschung entstand in der Virologie.»

WOLKENKRATZER AUS PAPIER

Karin Moelling weiss, dass sie in einer hochabstrakten Welt lebt. Inspirationen holt sie sichgerne von ausserhalb. Schaut, wie fachfremdeForschende auf neue Ideen kommen. OderKünstler. Kürzlich fuhr sie nach Venedig aneinen Kongress über Evolution – fachlich gese-hen eine unnötige Veranstaltung für eine Viro-

login. Es wurde einer der inspirierendsten Kon-gresse, die sie je besucht hat. Und weil sie auchein Augenmensch ist, ging sie an die Biennale.«Manchmal gucke ich bei einem Kunstwerk nur und denke: Toll! Darauf muss man erst mal kommen.» Ihr selbst bleibt nicht mehr vielZeit für neue Projekte. In ihrem spartanischeingerichteten Büro wachsen ihre Papers wiekleine Wolkenkratzer in die Höhe. «Das sindmeine Lebensringe», sagt die 64-Jährige. Ende

«Viren sind die Präger für jene Gene, die Krebs verursachen. DieKrebsforschung entstand in der Virologie.» Karin Moelling

BILD Jos Schmid

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August 2008 läuft ihr Vertrag aus. «Dann istSchluss, aber wie der gestaltet werden könn-te, darüber sollte man noch ein bisschennachdenken», findet sie. Unsere Lebenser-wartung sei heute höher als zu BismarcksZeiten, doch die beruflichen Strukturen hät-ten sich dieser Lebenserwartung noch nichtangepasst. In Deutschland, wo Karin Moel-ling ebenfalls lehrt, bitte Kanzlerin Merkelheute die Professoren, mit 65 ihre Leitungs-funktionen abzugeben, aber bis 68 noch guteLehre zu machen oder Projekte zu Ende zuführen. Diese Entwicklung werde in fünfJahren auch in der Schweiz stattfinden. «Ichbin», lacht sie, «einfach wieder mal ein biss-chen zu früh.» Sie hat sich auch schon über-legt, ob man einen Zusammenschluss vonpensionierten Forschern machen und gleich-zeitig auch für einen Austausch zwischen Altund Jung sorgen sollte.

AUF STELLENSUCHE WIE EIN POSTDOC

Noch hat sie etliche Projekte am Laufen. Sitztmitten in einem Klinischen Trial über Krebs,möchte die Arbeit an ihrer molekularenSchere weitertreiben. Dafür bräuchte siezwei, drei Mitarbeitende. Und ein bisschenLabor müsste auch noch sein. Am liebsten inZürich. Klar, sie könnte das auch in Berlintun, wo sie lange am Max-Planck-Institut fürMolekulare Genetik gearbeitet hat und heutenoch an der Freien Universität lehrt. Aberdort müsste sie alles neu aufbauen. Würde sieim Nachhinein etwas anders machen? Siedenkt lange nach, zitiert dann die berühmteBerliner Altersstudie, wonach der Menschmit dem Erreichten umso zufriedener sei, jeälter er werde. Ihr eigenes Motto: In allenschwierigen Situationen sagen: Schau, wasman daraus machen kann, und geh einfachmal nach vorn! «Im Moment», sagt sie undlacht, «fühle ich mich wie ein Postdoc aufStellensuche.» Zum Schluss führt sie dieBesucherin auf das Dach ihres Institutes undzeigt mit leuchtenden Augen auf den See undden Kranz von Schneebergen. Ein wenigWurzeln scheint die Frau aus dem Norden inZürich eben doch geschlagen zu haben.

KONTAKT [email protected]

Herr Rössler, Ihre Forschungsgruppe hat im Sommer eine Studie publiziert, die nahelegt, dass der steigende Cannabiskonsum für die Zunahme von Schizophrenienverantwortlich sein könnte. Haben wir es miteiner unterschätzten Droge zu tun?

WULF RÖSSLER: Ja, ich denke schon, Canna-bis hat in den letzten Jahren ein zu positivesImage als «Heilkraut» erlangt. Cannabis ist zwarnicht extrem gefährlich, aber es ist eine Drogeund hat wie alle Drogen Wirkungen, Nebenwir-kungen und ein Suchtpotenzial. Bis vor wenigenJahren waren sich die Studien nicht einig, wel-che Auswirkungen Cannabis auf die psychischeGesundheit hat. Kürzlich ist nun aber in derWissenschaftszeitschrift «Lancet» eine Über-sichtsarbeit publiziert worden. Sie enthält dieklare Warnung insbesondere an junge Men-schen, Cannabis wegen des erhöhten Psychose-risikos zu meiden. Wir konnten in einer eigenenStudie zudem zeigen, dass der häufige Konsumvon Cannabis bei jungen Erwachsenen auchunterhalb der Schwelle einer solchen Diagno-se zu schwerwiegenden Beeinträchtigungenführen kann. Diese Jugendlichen haben zumTeil erhebliche Probleme am Arbeitsplatz undin ihren Beziehungen.

Welche Schlussfolgerungen sollte dieGesellschaft daraus ziehen?

RÖSSLER: Der Konsum von Drogen zieht sichdurch die ganze Menschheitsgeschichte, inso-fern ist eine substanzfreie Gesellschaft wohlundenkbar. Ich will den Konsum von Rausch-mitteln auch gar nicht moralisch bewerten. AlsPublic-Health-Forscher stelle ich aber dieFrage: Wie kann unsere Gesellschaft vernünf-tig mit Substanzen umgehen? Der Konsum isteine Frage des Masses. Problematisch wird es,

wenn einem die Kontrolle darüber entgleitet,und dies zu gesundheitlichen Schäden führtoder sich eben im täglichen Leben auswirkt.Die Forschung zeigt klar, dass weniger Konsumauch zu weniger Folgeschäden führt. Ziel musses deshalb sein, den Konsum zu reduzieren. Als«Königsweg» der Präventivmedizin gilt dabei,den Zugang zu solchen Substanzen zu erschwe-ren. Alkohol und Tabak beispielsweise könnenverteuert werden oder man kann dafür sorgen,dass sie nicht rund um die Uhr an jeder Eckeerhältlich sind. Dasselbe gilt auch für Cannabis.Bis vor wenigen Jahren war es in Zürich ein-fach, sich Cannabis zu besorgen. Inzwischensetzt die Polizei das Verbot des Handels wiederstärker durch.

Nimmt der Konsum von Drogen zu?RÖSSLER: Nicht grundsätzlich, es gibt unter-

schiedliche Tendenzen. Kokain hat Heroin alsModedroge abgelöst, der Konsum von Cannabishat insbesondere in den 1990er-Jahren zuge-nommen und der Konsum von Nikotin ist nichtzuletzt dank Aktionen der Gesundheitspräven-tion rückläufig. Bei Jugendlichen nimmt derKonsum von Substanzen allgemein zu, so istzum Beispiel das Rauschtrinken im Momentangesagt. Andererseits sieht man heute inRestaurants beim Mittagessen kaum mehrLeute Alkohol trinken – das war vor zehn Jah-ren noch anders. Das Gesundheitsbewusstseinhat nämlich auch zugenommen.

Wie passt das zusammen?RÖSSLER: Wir leben in einer individualisier-

ten Gesellschaft, in der die persönliche Ent-scheidungsfreiheit sehr hoch bewertet wird.Das Individuum will heute über alles selber ent-scheiden können, auch über den Konsum von

INTERVIEW

«DAS LEBEN IST EIN ECHTER STRESS»

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung leidet mindestens einmal im Leben an einerpsychischen Störung. Doch vielen kann dank einem «Quantensprung» in der Thera-pie geholfen werden. Mit dem Sozialpsychiater Wulf Rössler sprach Adrian Ritter.

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Drogen. Früher gab die Religion den Rahmenfür die Lebensziele vor. Wenn einem im Lebennicht alles gelungen ist, konnte man zumindestnoch auf ein gutes Leben im Jenseits hoffen.Heute aber ist jeder auf das Leben im Diesseitszurückgeworfen. Entsprechend gilt es, dasMaximum aus diesem einen Leben herauszu-holen. Das kann einerseits bedeuten, gesund-heitsbewusst zu leben, um ein möglichst langesLeben zu haben. Andererseits gehört aber auchder Konsum von Drogen dazu, indem jederschaut, dass es ihm im Hier und Jetzt möglichstgut geht. Gewisse Drogen werden auch konsu-miert, um leistungsfähiger zu werden. DieAnforderung, etwas zu leisten im Leben, ist jaallgegenwärtig. Die Vorstellung, aus seinempersönlichen Leistungsvermögen das Optimumherausholen zu müssen, ist zu einem Grund-gedanken unserer Gesellschaft geworden.

Wenn die persönliche Leistung immerwichtiger wird, scheitern dann auch immermehr Menschen an diesen Anforderungenund werden psychisch krank?

RÖSSLER: Es ist nicht erwiesen, dass die Häu-figkeit von psychischen Störungen zunimmt. Dievorliegenden Studien zeigen keine grossen Ver-änderungen. Es wäre auch erschreckend, wennder Anteil noch zunimmt, denn er ist ohnehinschon sehr hoch. Die so genannte Lebenszeit-prävalenz liegt bei über 50 Prozent. Das heisst,jeder zweite Mensch wird im Laufe seinesLebens mindestens einmal psychisch so krank,dass er behandelt werden muss.

Gibt es Veränderungen hinsichtlich dereinzelnen Störungen? In den Medien istimmer wieder zu lesen, Depressionen undAngststörungen nähmen zu.

RÖSSLER: Die vorliegenden Studien zeigenauch diesbezüglich keine grossen Veränderun-gen. Mir scheint allerdings, dass immer mehrMenschen die subjektive Erfahrung machen:Dieses Leben ist ein echter Stress. Nehmen Sieden Begriff «Burnout». Ich habe in meiner Kar-riere keinen anderen psychiatrischen Begrifferlebt, der in kürzester Zeit eine solche Ver-breitung und Akzeptanz in der Bevölkerungerreicht hat. Aber neun von zehn Menschen,die mich wegen eines Burnouts kontaktieren,

«Neun von zehn Menschen, die mich wegen eines Burnouts kontaktieren,haben im strengen Sinne keinen.» Wulf Rössler

haben kein Burnout im strengen Sinne. DerBegriff wurde aber zum Synonym für subjekti-ves Leiden und dieses wird mit der Arbeitsweltin Beziehung gesetzt: Diese Arbeitswelt ver-langt mir viel ab und ist mindestens mitschul-dig, wenn es mir nicht gut geht.

Sind diese Klagen unberechtigt?RÖSSLER: Nein, man sieht daran einfach, wie

wichtig die persönliche Definition von Leidengeworden ist. Wir wissen aus Untersuchungen,dass so genannte unterschwellige Depressio-nen, also solche, die nicht die offiziellen Dia-gnosekriterien erreichen, mehr Krankheitstageverursachen als diagnostizierte Depressionen.

Psychische Störungen sind auf einem Kontinu-um angeordnet, man ist nicht einfach krankoder nicht krank. Die Menschen leiden auchunterhalb der Schwelle einer psychiatrischenDiagnose. Entsprechend müssen wir auch dieForschung diesem Kontinuum anpassen. Dasergibt einen viel besseren Einblick, was psy-chisches Leiden tatsächlich ist.

Wie lässt sich auf diesem Kontinuumpsychische Gesundheit überhaupt definieren?

RÖSSLER: Gesund ist, wer flexibel mit demLeben umgehen kann und aus unterschied-lichen Strategien auswählen kann, um seinenAlltag zu bewältigen. Gesund ist also, wer Alter-

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nativen hat und diese auch nutzt. Auch dieseFähigkeit ordnet sich aber natürlich auf einemKontinuum an.

Was weiss die Forschung heute über dieEntstehung von psychischen Störungen?

RÖSSLER: Psychische Erkrankungen entste-hen in der Wechselwirkung von Vererbung undUmweltbedingungen. Bezüglich der Vererbungsprechen wir von der persönlichen Vulnerabi-lität, also Verletzlichkeit. Die biologische For-schung hat diesbezüglich viel neues Wissen bei-getragen. Allgemein gesagt bewegt sich die For-schung in der Psychiatrie wie ein Pendel. Vor40 Jahren dominierte die psychosoziale For-schung, die die gesellschaftliche Bedingtheitvon psychischen Krankheiten ins Zentrumrückte. Eine eigentliche biologische Forschungin der Psychiatrie gab es nicht. Man sprach zwardavon, dass die «Konstitution» eines Menschenbei psychischen Störungen mitspiele, aber maninteressierte sich nicht wirklich dafür. Ab den1980er-Jahren schlug das Pendel dann in dieandere Richtung. Neue technische Möglichkei-ten erlaubten beispielsweise den Blick insGehirn. Man untersuchte die Genetik des Sui-zids und glaubte, dem Schizophrenie-Gen aufder Spur zu sein. Die psychosoziale Lebensweltereilte dasselbe Schicksal wie zuvor die Kon-stitution – sie wurde zur Randvariablen.

Wo steht das Pendel heute?RÖSSLER: Die biologische Sichtweise ist noch

dominant, aber mir scheint, das Pendel bewegtsich wieder etwas in die andere Richtung. Dieshängt zum einen damit zusammen, dass auchdie biologische Forschung an ihre Grenzengestossen ist. So konnte zum Beispiel kein Schi-zophrenie-Gen gefunden werden. Gefunden hatman mehrere Gene, die die Vulnerabilität fürdiese Krankheit erhöhen. Allerdings erhöhensie das Risiko etwa im selben Rahmen, wie wirdies auch von verschiedenen psychosozialenFaktoren kennen.

Und das Interesse an diesen psychosozialenFaktoren hat wieder zugenommen?

RÖSSLER: Ja, die gesellschaftlichen Zusam-menhänge von Gesundheit und Krankheit in-teressieren wieder mehr. Eine treibende Kraft

ist dabei die Forschungsförderung der Euro-päischen Union. Sie hat den Anspruch, dass die Bürgerinnen und Bürger in Europa von derForschung profitieren. Dies hat auch damit zutun, dass die Lebensbedingungen in der stän-dig gewachsenen Union so unterschiedlichgeworden sind und sich in Zukunft wiedermehr annähern sollen. Das bedingt natürlichzuerst eine Erforschung dieser Lebensum-stände, eben der Public-Health-Forschung.Heute scheint klar zu sein: Biologische For-schung in der Psychiatrie ist notwendig, aber siegenügt nicht.

Hängt die zunehmende Bedeutung von Public Health auch mit der Suche nach Kosteneffizienz im Gesundheits-wesen zusammen?

RÖSSLER: Zweifellos. Dass man mit densel-ben Ressourcen mehr erreichen will, ist gera-de im Gesundheitswesen heute ein zentralerGedanke. Man kann das kritisieren, dass dieMenschen und sogar ihre Krankheiten ökono-misiert werden. Andererseits ist es eine Tatsa-che, dass sich die Schweiz nach den USA dasteuerste Gesundheitswesen der Welt leistet.Nicht zu vernachlässigen ist zudem, dass esauch einen emanzipatorischen Effekt hat, wennman zur Abwechslung einmal bei psychischenKrankheiten berechnet, welche Kosten dieseverursachen und wie diese Mittel am sinnvolls-ten eingesetzt werden.

Statt nur bei somatischen Krankheiten?RÖSSLER: Ja, ich habe vor zehn Jahren auf-

gezeigt, dass die Behandlung eines Schizo-phrenie-Patienten während eines Jahres gleichviel kostet wie eine Bypass-Operation. Einesolche Operation galt damals nicht als lebens-verlängernd, aber als Lebensqualität erhöhend.Ich habe noch nie gehört, dass die Kosten einersolchen Operation in Frage gestellt wordenwären. Ich erlebe aber in der Psychiatrie seitmeinem ersten Arbeitstag, wie jeder Franken inFrage gestellt wird, insbesondere, wenn eineBehandlung zwar keine eigentliche Heilungbewirken, aber die Lebensqualität verbessernkann. Deshalb betrachte ich es als emanzi-patorisch, zu zeigen, dass da nicht mit den-selben Ellen gemessen wird.

Wird die somatische Medizin als wirkungs-voller wahrgenommen?

RÖSSLER: Ja, aber zu Unrecht. Hinsichtlichder therapeutischen Möglichkeiten ist die Psy-chiatrie heute ebenso weit wie jede anderemedizinische Disziplin. Wir können einenGrossteil der Krankheiten erfolgreich behan-deln. In den letzten 20 Jahren hat die Psychia-trie einen Quantensprung erlebt. Zu meinerZeit als Assistenzarzt waren nur wenige Medi-kamente mit zum Teil erheblichen Neben-wirkungen auf dem Markt. Seither wurden lau-fend neue Behandlungsmöglichkeiten entdeckt.Neue Medikamente haben natürlich einenwesentlichen Beitrag geleistet, gleichzeitighaben sich aber auch die psychotherapeu-tischen Methoden unglaublich verfeinert. Wirbehandeln heute viel störungsspezifischer.Nicht die Identität des Therapeuten beispiels-weise als Psychoanalytiker oder Verhaltens-

«Gesund ist, wer aus unter-schiedlichen Strategien auswählen

kann, um den Alltag zu bewältigen.» Wulf Rössler

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therapeut soll darüber bestimmen, welche Be-handlung jemand erhält, sondern die Frage:Welche Art von Behandlung hat sich bei dieserStörung als wirkungsvoll erwiesen?

Gibt es viele psychisch Kranke, denen manheute noch nicht helfen kann?

RÖSSLER: Es gibt bei fast allen StörungenBetroffene, die in ihrem Leben nur eine Episo-de erleben, andere, die rückfallgefährdet sind,und solche, die eine chronische Störung ent-wickeln. Bei der Schizophrenie beispielsweisetrifft dies auf je etwa ein Drittel der Betroffenenzu. Den beiden ersten Gruppen können wirheute zumeist gut helfen. Schwieriger ist es wieauch in der somatischen Medizin bei den chro-nisch Leidenden. Unsere Möglichkeiten habensich allerdings auch hier verbessert, nicht unbe-dingt im Sinne von Heilung, aber wir können dasLeiden dieser Menschen lindern und ihre

Lebensqualität verbessern. Gerade in der Sozi-alpsychiatrie geht es ja auch stark um die Reha-bilitation im Sinne der Reintegration in dieGesellschaft. Die psychische Störung ist daseine, die Ausgrenzung deswegen das andere.Manchmal ist sie so stark, dass wir von der«zweiten Krankheit» sprechen.

Ihre Forschungsgruppe ist daran beteiligt,mit dem «Supported Employment» ein Modellzu erproben, wie Menschen mit psychischenStörungen wieder in die Arbeitswelt integriertwerden können.

RÖSSLER: Das scheint mir enorm wichtig,denn der Ausschluss aus der Arbeitsweltgeschieht bei psychisch Kranken sehr rasch.Die meisten Betroffenen wollen aber so schnellwie möglich wieder arbeiten. Bisher wurde vorallem die Strategie verfolgt, die Betroffenen angeschützten Arbeitsplätzen auf die Arbeit in derfreien Wirtschaft vorzubereiten. Unser Modellgeht einen anderen Weg. Wir versuchen diedirekte Integration in den freien Arbeitsmarkt,mit einer sorgfältigen längerfristigen Beglei-tung der Erkrankten wie auch der Arbeitgeber.Unsere europaweite Studie zeigt jetzt, dass diesdurchaus funktioniert. Verglichen mit dem her-kömmlichen Vorgehen gelang es uns, doppelt soviele Personen in den Arbeitsmarkt zu inte-grieren. Besonders erfreulich ist, dass sichgleichzeitig das psychische Befinden der Betrof-fenen stark verbessert hat. Wir hoffen nun, dassnach der Publikation unserer Arbeit das neueVorgehen Schule machen wird.

Mit welchen weiteren Fragen beschäftigt sichdie Sozialpsychiatrie aktuell?

RÖSSLER: Die Sozialpsychiatrie erforschtallgemein, welche sozialen Faktoren die Ent-stehung und den Verlauf von psychischenStörungen beeinflussen. Darüber wissen wirschon einiges, etwa über soziale Netzwerke,Integration, Stigmatisierung oder schichtspezi-fische Gesundheitsrisiken. Das komplexe Zu-sammenspiel dieser Risikofaktoren zu erfor-schen, wird uns weiter beschäftigen. Einenspeziellen Fokus werden wir in Zukunft aufpsychische Störungen legen, die bei Lebens-übergängen entstehen. Vom Jugendlichen zumjungen Erwachsenen, vom Erwerbsleben in die

Pension oder von der Paarbeziehung zur El-ternschaft, das sind Risikoperioden bezüglichder psychischen Gesundheit. Um den Betrof-fenen möglichst gut helfen zu können, ist esnötig, dass sich Public Health vermehrt auchausserhalb des klassischen Gesundheitssystemsengagiert.

Das wird unter anderem die betrieblicheGesundheitsförderung betreffen?

RÖSSLER: Richtig, dieses schon jetzt wichti-ge Arbeitsfeld wird noch an Bedeutung gewin-nen. In unserer Dienstleistungsgesellschaft sind die Mitarbeitenden das wichtigste Kapital.Entsprechend haben die Unternehmen schonheute ein grosses Interesse an unserem Fach-wissen. Wir bieten beispielsweise Seminare zuBurnout an, in denen Themen wie Zeitma-nagement oder die Kunst der Abgrenzung be-handelt werden. Es entspricht offensichtlicheinem Bedürfnis der Menschen, zu lernen, wiesie mit dieser komplexen Welt besser umgehenkönnen.

DER GESPRÄCHSPARTNER

Wulf Rössler studierte Medizin und Psycho-logie an der Universität Heidelberg. Er istFacharzt für Psychiatrie und Psychotherapieund zusätzlich ausgebildet in Sozialmedizinund Rehabilitation. Er war Leitender Ober-arzt einer Psychiatrischen Klinik an der Uni-versität Heidelberg und ist seit 1996 Ordina-rius für Klinische Psychiatrie und insbeson-dere Sozialpsychiatrie an der UniversitätZürich. Er ist Direktor der Klinik für SozialePsychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZürichWest der Psychiatrischen UniversitätsklinikZürich (PUK). Wulf Rössler ist zudem Vor-sitzender der Kommission für Suchtmittel-fragen des Kantons Zürich. Anlässlich sei-nes 60. Geburtstages fand Mitte September inZürich ein Symposium zur Zukunft der Sozi-alpsychiatrie statt.

KONTAKT [email protected]

«Die direkte Integration psychischKranker in den Arbeitsmarkt

funktioniert, wenn sie sorgfältigbegleitet werden.» Wulf Rössler

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BÜCHER

VERALTENDE ZUKUNFT

Prognosen und Prophezeiungen, Visionen und Kalkulationen, Planungen undAhnungen: Im Sammelband «Archäologie der Zukunft» wird nach Zukunftsszena-rien vergangener Gegenwarten gegraben. Von David Werner

Schwer wie ein Stein liegt dieses dickleibigeWunderding in der Hand. Von aussen besehenist es mehr Schatztruhe als Buch, mehr Kultob-jekt als Informationsträger, mehr mysteriösesFundstück als frisch ausgeliefertes Drucker-zeugnis. Ein Überbleibsel aus Zeiten, die vonden unseren nichts ahnten. Der schwarze Ein-band flösst einem Respekt ein, man zögert, denDeckel aufzuschlagen – man könnte kalt zu-rückgewiesen werden, könnte abprallen an ver-schlüsselten Zeichen, die dem neugierig-for-schen Zugriff ihre Botschaft nicht preisgeben.Doch dann – Überraschung! – reagiert das Buch,noch bevor man auch nur eine Zeile gelesenhat, und das in einer Art, mit der nicht zu rech-nen war: Es spricht auf Berührung an. Drücktman auf einzelne Stellen des wärmeaktivenEinbandes, leuchten geheimnisvoll anmutendeWortschlangen auf. So ist es mit den Orakeln, sietun sich auf unvorhersehbare Weise kund.

UNMÖGLICHE ÜBERHOLMANÖVER

Vom Vorhersehen und vom Unvorhersehbarenhandelt dieser Band, der sich beim Durchblät-tern als eine sowohl optisch wie inhaltlichabwechslungsreich und kurzweilig gestaltete,zum Schmökern einladende Textsammlungentpuppt. Die rund dreissig Aufsätze, Essaysund Diskussionsprotokolle entstanden anläss-lich einer fächerübergreifenden Seminarreihe,die das Collegium Helveticum in den Jahren2004 und 2005 durchführte. Geschichte undGeschichten der Imagination, Deutung, Erkun-dung und Gestaltung von Zukunft sind dasThema. Dem interdisziplinären Ansatz derReihe verdankt sich eine ausserordentlicheVielfalt an Stoffen und Perspektiven. Der Histo-riker Martin Lengwiler zum Beispiel zeigt, wiedas moderne Versicherungswesen unsere Zu-kunftsvorstellungen verändert hat. Der Sprach-theoretiker Johannes Fehr wirft ein kritisches

Licht auf die Versuche der NASA, mit extrater-restrischen Zivilisationen zu kommunizieren.Roboterforscher Rolf Pfeifer stellt sich derFrage, ob die künstliche Intelligenz eine Fort-setzung der menschlichen Evolution mit wis-senschaftlichen Mittel sei.

Gleich mehrere Beiträge beschäftigen sichmit dem Verhältnis von Science-Fiction undInnovation. Biochemiker Stephan Sigrist er-klärt, inwiefern phantastische Zukunftserzäh-lungen als Treiber für neue Märkte fungieren:Sie stimulieren den Optimismus der Investorenund fördern die Bereitschaft der Konsumenten,neuartige Produkte zu kaufen. Filmwissen-schaftler Simon Spiegel wiederum geht demIdeen- und Begriffstransfer zwischen Science-Fiction und Wissenschaft nach. Man lernt unteranderem, dass der Begriff «Cyberspace» ausWiliam Gibsons Kurzgeschichte «BurningChrome» stammt. Allerdings darf man laut Spie-gel die Bedeutung von Zukunftsromanen und-filmen für die Wissenschaftsentwicklung nichtüberschätzen: Sci-Fi-Autoren machen selbstkeine Erfindungen und Entdeckungen, ihreVorstellungswelten beruhen auf Extrapolatio-nen des Bekannten. Im Zeitenlauf gibt es ebenkeine Überholmanöver, das schlechthin Ande-re der Zukunft lässt sich nicht antizipieren.

VERSTAUBTE UTOPIEN

Das musste, wie der Architekt Jørg Himmel-reich zeigt, auch Walt Disney erfahren. Disneywollte in Florida das Kommende vorwegneh-men – in Form einer begehbaren, gewisser-massen lebensgrossen Modellstadt der Zukunft,genannt «Experimental Prototype City of To-morrow». Er kam nicht über die Planung hinaus.Er musste einsehen, dass Utopien, kaum sind sieRealität geworden, bereits zu verstauben begin-nen. Gebaute Zukunft verwandelt sich in stein-gewordene Vergangenheit. Wie Modeartikel

veralten Zukunftsdarstellungen rasch. Ange-jahrte Science-Fiction-Filme veranschaulichendies besonders drastisch: Angesichts ihres visio-nären Anspruchs tritt ihre Zeitgebundenheiterst richtig hervor. Vorweggenommene Zu-kunft? Lächerlich.

FASZINIERENDE VERZWICKTHEITEN

Es sind faszinierende Verzwicktheiten, mitdenen sich dieses Buch befasst. Verzwickt zumBeispiel ist der Realitätsstatus von Noch-Nicht-Geschehenem: Zukunftserwartungen sind ei-nerseits Fiktionen, anderseits schaffen sie auchWirklichkeit. Sie prägen die Wahrnehmung undlenken damit das Handeln. Thema der Wissen-schaftstheoretikerin Ulrike Felt sind Erwar-tungsfallen in der Forschung. Wissenschaft zieltauf das Neue, Zukunftsträchtige. Wer sich aberzu sehr auf Zukunftsversprechen fixiert, ris-kiert, wie Felt zeigt, in einen Zirkel sich selbsterfüllender Prophezeiungen zu geraten unddamit wirklich Neues gerade zu verfehlen. DieKunst liegt auch für die Wissenschaft in derOffenheit für Unvorhergesehenes.

In diesem Zusammenhang sei – last but notleast – auch auf den Eröffnungstext von Mit-herausgeber Matthias Michel hingewiesen, indem der Unterschied zwischen echter Prophe-zeiung und blosser Prognose erklärt wird: «Diegute Prognose», liest man hier, «ist eindeutig. Diegute Prophezeiung ist vieldeutig: ein Rätsel.»Die berühmteste der klassischen Vorankün-digungen, das Ödipus-Orakel, hält Michel alsProphezeiung für misslungen, «weil die Vorher-sage tatsächlich, in flauer und schaler, nach-gerade geist- und gehaltloser Folgerichtigkeit in Erfüllung geht.» Die gute Prophezeiungrichtet sich nicht auf eine verifizierbare Tatsa-che in der Zukunft. Sie schafft Offenheit in derGegenwart.

Rainer Egloff, Gerd Folkers, Matthias Michel (Hg.):Archäologie der Zukunft, Edition Collegium Helveti-cum 3, Chronos Verlag 2007, 424 Seiten, 48 Franken,Sonderedition 298 Franken

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VIELFALT DURCH WETTBEWERBWas Gesellschaften über sich selbst wissen, daswissen sie zum grössten Teil aus den Medien.Demokratien haben deshalb ein vitales Inter-esse an unabhängiger, qualitativ hochstehenderBerichterstattung. Unter welchen rechtlichen,politischen und ökonomischen Rahmenbedin-gungen aber kann Qualität am ehesten gedei-hen? Die Autoren des Sammelbandes «Ordnungdurch Medienpolitik» sind sich einig, dass diebekannte Ideologiedebatte – mehr Regulationoder mehr Deregulation? – in dieser Frage nichtweiterhilft. Zu viel staatliche Kontrolle gefähr-det auf der einen Seite die Unabhängigkeit derMedien, auf der anderen Seite bedeutet markt-gläubiges Laisser-faire nicht nur mehr Boule-vard und mehr Kampagnenjournalismus, son-dern vor allem Konzentration der Medien in derHand einiger weniger Player.

Im Printmedienbereich, der keinerlei staat-liche Vorgaben kennt, kann man dies gut beob-achten. Hier schreitet der Konzentrationspro-zess seit Jahrzehnten munter voran. Konkur-renz ist jedoch eine wichtige Voraussetzung fürden Qualitätserhalt, sie sorgt für die nötigeAngebotsvielfalt, sie stimuliert den Wettbewerb,sie erlaubt erst die kritische Reflexion desMediengeschehens in den Medien. Im vorlie-genden Band werden aus unterschiedlichenwissenschaftlichen Perspektiven heraus Ideenfür Medienordnungen entwickelt, die Qualitäts-sicherung ermöglichen und den Qualitätswett-bewerb befördern. Im Zentrum stehen dabeivor allem Formen der Selbst- und Co-Regu-lierung, bei denen Medienproduzenten undRezipientengruppen in laufendem Prozessgemeinsam mit politischen und staatlichenAkteuren Richtlinien und Zielvorgaben für diemediale Berichterstattung aushandeln. DurchEinbezug zivilgesellschaftlicher Akteure, so dieHoffnung, könnte eine breit verankerte Verant-wortungskultur gegenüber Medien geschaffenwerden. David Werner

Otfried Jarren, Patrick Donges (Hg.) Ordnung durchMedienpolitik? UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz2007, 412 Seiten, 63 Franken

GIPFELSTÜRMERINNEN«Wollen ist Können», schrieb sie mit ihrem zier-lichen Bergstock ins ewige Eis. Die Rede ist vonHenriette d’Angeville, die bereits 1838 denMontblanc bestiegen hatte. Bergsteigen wardemnach in seinen Anfängen nicht bloss Män-nersache. Zu Beginn des 19. Jahrhundertsbegann das westeuropäische Bürgertum, denAlpenraum für sich zu entdecken, und nutzteihn zur Selbstinszenierung sowie als Projek-tionsfläche für seine Ideale und Wertvorstel-lungen. Im Gegensatz zu den Männern geziem-te es sich für anständige Damen nicht, Berich-te über Bergtouren zu verfassen und stolz übervollbrachte Taten zu berichten. Geschah diestrotzdem, mussten die Frauen damit rechnen,als Hochstaplerinnen dargestellt zu werden.

Wie die Historikerin Tanja Wirz in ihremBuch zur Geschlechtergeschichte des Alpi-nismus darlegt, sahen sich die ersten Bergstei-gerinnen jedoch nicht als Vorkämpferinnen fürdie Sache der Frau. Sie versuchten vielmehr,auch beim Aufenthalt in den Bergen den sozi-alen Normen gerecht zu werden. So galt son-nengebräuntes Gesicht als bäurisch und unda-menhaft. Schleier, unpraktische Röcke, Köl-nischwasser sowie ein Spiegel, um die Gesichts-farbe zu kontrollieren, gehörten zur Grund-ausrüstung einer bürgerlichen Alpinistin.

Bergsteigerinnen erhielten in der Vergan-genheit zwar nie dieselbe Anerkennung wieihre männlichen Gipfelstürmer, konnten aberihrer Leidenschaft frönen, sofern sie sich an diebürgerlichen Normen hielten. Ausschlussten-denzen gab es erst um die Jahrhundertwende.Geprägt durch sozialdarwinistische Ideen ver-weigerte der Schweizerische Alpenclub ab 1907den Frauen den Zutritt. Als Antwort darauf kames 1918 zur Gründung des Schweizer Frauen-Alpenclubs. Mit der zunehmenden Popularisie-rung und Individualisierung des Bergsteigensliess sich der Alpenraum nicht mehr als reinesMänner-Reduit halten. Maurus Immoos

Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechterge-schichte des Alpinismus in der Schweiz 1840–1940, Ver-lag Hier + Jetzt 2007, 446 Seiten, 68 Franken

AFRIKA VERSTEHENDie öffentliche Wahrnehmung von Afrika istseit je negativ geprägt. Krieg, Vertreibung,Hunger, Aids, Korruption, politische wie wirt-schaftliche Instabilität sind nur einige Stich-worte, mit denen der Kontinent in Verbindunggebracht wird. Doch es gibt auch ein positivesBild Afrikas. Optimisten betrachten es alsLebensraum einer reichen Fauna und Flora undals Hort eines unerschöpflichen kulturellenReichtums. Mit dem Sammelband «Afrika imWandel» wird der Versuch unternommen, einenAusgleich zwischen den unterschiedlichen Afri-kabildern zu schaffen. Fachleute verschiedenerDisziplinen setzen sich mit der vielschichtigenRealität des Kontinents auseinander und zeigenauf, dass es so etwas wie ein Afrika nicht existiert.

Am Beispiel der Armut wird deutlich, dasses keine einheitlichen Erklärungs- undLösungsansätze gibt. Botswana, das zum Zeit-punkt seiner Unabhängigkeit 1966 eines derärmsten Länder der Welt war, verfügt heuteüber ein Pro-Kopf-Einkommen von immerhin4340 US-Dollar, Nigeria nur über eines von 390US-Dollar, und in der Demokratischen Repu-blik Kongo liegt es bei bloss 120 US-Dollar.Obwohl alle drei Länder reich an natürlichenRessourcen sind, hat es Botswana besser ver-standen, seine Gewinne aus dem Diamanten-geschäft in die Infrastruktur und in den Tou-rismus zu investieren. Neben den Wunden desKolonialismus sind in vielen Staaten «BadGovernance» und Klientelwirtschaft die Haupt-ursachen für wirtschaftliche und politischeStagnation. Doch wie lässt sich Stabilität über-haupt erreichen? Barbara Becker zeigt auf, dassdie Landwirtschaft in Afrika ein «wichtigerMotor» für die Überwindung der Armut ist.Gesine Krüger, Rebekka Ehret und Julian Tho-mas Hottinger sehen in der Vergangenheitsbe-wältigung, wie sie in Südafrika und Sierra Leonebetrieben wurde, eine Grundvoraussetzung zurErzeugung von Stabilität. Maurus Immoos

Thomas Bearth, Barbara Becker, Rolf Kappel, GesineKrüger, Roger Pfister (Hg.): Afrika im Wandel, VDFHochschulverlag 2007, 296 Seiten, 48 Franken

FLEISCHTHEKENDEMOKRATIE

Da stehen wir also vor der Fleischtheke. Sams-tagmorgens um elf. Neben mir der Herr imCordanzug, frisch rasiert und aftershaved, linksdie Dame in den Flipflops und mit feuchtemHaar, vor mir eine Dame in zerknittertem Deux-pièces, vor der Dame ein graumelierter Herr imFreizeitlook, vor dem Herrn zwei Kinder, die dieNase aufs Glas vor der Auslage drücken. Ichstelle mich auf die Zehen: Grillschnecke oderBratwurst? Bratwurst mit Bärlauch oder na-ture? Oder etwa ein Cervelat? Ich rücke 50Zentimeter nach links und luge über die Cord-anzugschulter. Eine steife Brise Old Spice ver-zieht mir das Gesicht, die Augen verengen sichzu zwei Schlitzen, die Nase schnellt in die Höheund jagt mit einem unvermittelten Ruck Rich-tung Plättliboden. Ein siebenstimmiger Kanonwünscht mir diskret Gesundheit und verlagertdas Gewicht vom einen aufs andere Bein.

Ich bedanke mich leise und schaue verlegenzu Boden, halte die Luft an und stelle mich aufdie Zehen: Lammracks, Lammgigotsteak oderLammfilets? Der Metzger schaut in die Runde:«Wen darf ich als Nächstes bedienen?», «Ichglaube, jetzt sind Sie an der Reihe», «Oh nein,bitte schön, ich lasse Ihnen den Vortritt». Ichrücke 10 Zentimeter vor und verschiebe michum 75 Zentimeter nach rechts. Der Blick wirddurch fruchtigparfümierte, feuchte Haarlo-cken gefiltert und fällt auf: Kalbskoteletts,Holzfällersteaks, Adrio. Ich sehe des FleischersHände eine Kalbsschulter packen, er wirft siein die Luft, klatscht sie aufs Holzbrett und wetztdie Messer. Die Kinder am Absperrglas spre-chen leise von den Wurstrugeli. Eine mächti-ge Dame mit grossen Brüsten in gerafftem Blu-menkleid stellt sich neben mich, die Wangenglühen rot. Sie nickt mir mit einem leisenLächeln zu. Ich lasse mich etwas in die Knie fal-len und schiebe mich unauffällig etwas nach

links: zwischen «l’une und l’autre pièce» tutsich eine Blickspalte auf. Pouletbrüstli, Hüh-nerbrüste und Güggelibeine.

Ich schnelle hoch. Heute möchte ich Güg-gelibeine verspeisen! Ich bin ganz entspannt.Der Entscheid ist gefallen. «Bitte, keine Ursache,Sie sind an der Reihe.» «Steht nicht der Herrschon länger da?» «Ich lasse Ihnen den Vortritt!»«Oh, vielen Dank, das ist aber nett, ich will michnicht vordrängen...» Die Kinder klettern auf den kleinen Absatz vor der Fleischauslage undzeigen auf die Würste, von denen sich Rugelischneiden lassen. Die Flipflops zappen schmat-zend weg. Eine fruchtige Duftwolke wehthinterher. «Güggelibein, Güggelibein», summeich leise vor mich her. Die roten Wangennebenan wenden sich mir fürsorglich zu, dieBlumen tanzen auf dem üppigen Busen. «Güg-gelibein, Güggelibein ... mit Chips und Salat».

Der graumelierte Herr zieht mit prallge-füllten Taschen ab. Die Kinder zeichnen mitden Fingern Wurstrugeli aufs Glas. Der Metz-ger streicht sich eine Haarsträhne aus demglänzenden Gesicht und lächelt. Eine Schweiss-perle funkelt auf seiner Stirn. «Wer ist als Nächs-ter an der Reihe?» «Jetzt sind Sie dran.» «Abernein, sie warten schon so lange...» «Vielleichtkönnte ich ... ich bin ganz schnell fertig.» DieBlumen neben mir wiegen in der Samstag-morgenbrise, die Kinder vor mir schreien:«Wurstrugeli! Wurstrugeli!» Hinter mir drängtsich eine Kleinfamilie, ein Manager ohne Kra-watte stellt sich auf die Zehen. Vor mir liegtdie Fleischauslage. «Wer kommt an die Reihe?»«Jetzt aber, ladies first...» Ich hebe an zum gros-sen Bestellsolo. Der Metzger macht ein trauri-ges Gesicht: «Die Güggelibeine sind leider aus.»

Simona Ryser ist Autorin und Journalistin. Vor kur-zem ist ihr Roman «Maries Gespenster» im LimmatVerlag erschienen.

SCHLUSSPUNKT von Simona Ryser

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©UBS 2007. All rights reserved.

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Ana Cerkez absolviert nach ihrem Wirt-schaftsstudium das Graduate TrainingProgram (GTP) in der Investment Bankvon UBS. Das GTP ist für sie das Sprung-brett für eine Festanstellung im BereichDevisenhandel.

Das Investment Banking gilt als Männer-domäne. War das ein Problem für Sie?Die Zeiten haben sich geändert, mittlerweilesind einige Frauen im Investment Banking tä-tig. Somit war dies für mich nie ein Thema. Mirgefällt das Investment Banking. Man steht im-mer unter Strom.

Was fasziniert Sie am Devisenhandel?Ich habe während des Studiums Finance ver-tieft und kann das Lehrbuchwissen jetzt in derPraxis anwenden. Volkswirtschaftliche Zusam-menhänge sind nicht mehr graue Theorie,sondern ich sehe jeden Tag, wie sie sich auf dieWechselkurse auswirken.

War das Investment Banking nach derUni nicht ein Sprung ins kalte Wasser?Ich denke, jeder Berufseinstieg nach dem Stu-dium ist ein Sprung ins kalte Wasser. Es kommt

eine Flut von Informationen auf einem zu, vonder man sich nicht einschüchtern lassen darf.Für mich war das ein Pluspunkt, denn manlernt jeden Tag Neues dazu.

Was macht in Ihren Augen das GTP aus? Das GTP bot mir die Möglichkeit ins Invest-ment Banking einzusteigen, was sonst direktnach der Uni nicht möglich gewesen wäre. Ichhabe während des GTP viel gelernt und da-durch meinen Traumjob gefunden.

Warum würden Sie UBS als Arbeitgeberinund das GTP empfehlen?UBS bietet einem Hochschulabsolventen un-glaublich viele Möglichkeiten. Beispielsweisekonnte ich durch das GTP ein sechswöchigesTraining in Stamford absolvieren. Meine Arbeitist immer spannend und ich kann mich per-sönlich und fachlich weiterentwickeln.

Investment Banking: Immer unter Strom

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