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Ubali, der Panther

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Page 1: Ubali, der Panther
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1.

Das Erwachen war wie an jenem Tag in der Steppe, als

wir das Einhorn jagten. Es war heiß, und die Trage

schaukelte leicht. In das Gefühl des Schwindels und

der Übelkeit mischte sich ein stechender Schmerz im

Hinterkopf, der den strahlend blauen Himmel schwarz

vor meinen Augen werden ließ – so schwarz wie das

grinsende, schweißbedeckte Gesicht Malaubs, dessen

weiße Zähne blitzten, als er rief:

»Hoa! Halt! Ubali ist wieder bei uns!«

Ich erinnerte mich, wie wir ausschwärmten, und an

das Stampfen der mächtigen Beine des Kolosses, an

den gewaltigen Schädel, der plötzlich im hohen Gras

vor mir auftauchte, das schimmernde Horn zum Stoß

gesenkt. Danach an den Schmerz.

Diesmal fehlte Malaubs Gesicht, sonst wäre diese

Erinnerung vollkommen gewesen. Einen Augenblick

wenigstens, dann wußte ich, daß es Bilder aus meiner

Kindheit waren und daß Shi-buts Steppen in

unendlicher Ferne lagen.

Andere Erinnerungen quälten mich und gaben mir

das Gefühl von Gefahr und sagten mir, daß der blaue

Himmel fremd war, in den ich mit

zusammengekniffenen Augen starrte.

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Das sanfte Schaukeln war nicht das einer Trage,

sondern glich mehr dem eines Schiffes. Das war

seltsam. Dann geisterte Arrics Gesicht mit einem

verschlagenen Lächeln durch mein erwachendes

Bewußtsein, und ich setzte mich mit einem Ruck auf.

Der Schmerz löschte einen Augenblick lang alles aus.

Meine Hände krallten sich an den Kopf und fanden die

Wunde. Ich erinnerte mich der angriffslustigen Wolke

und ihrer Wehrhaftigkeit, als Arric mit dem Feuer auf

sie losging. Der Steinhagel. Und ausgerechnet mich

mußte es treffen. Immerhin, ich lebte noch.

Mit halbgeöffneten Augen starrte ich um mich. Was

ich sah, erschreckte mich. Ich lag auf einem weißen,

weichen Gebilde, das der Wind vor sich herzutreiben

schien. Ich versuchte mich aufzurichten, aber es war

schwierig bei den schaukelnden Bewegungen. Als ich

stand, sah ich den auf und ab tanzenden Horizont weit

entfernt. Der Anblick verursachte mir Übelkeit. Es war

nicht wie auf dem Luftschiff des Königs, es war mehr,

als triebe man im Einbaum in rauher See. Aber das

Entsetzen vertrieb die Übelkeit rasch.

Ich befand mich auf der Wolke, und des Königs

Götter mochten wissen, wie ich hierherkam. Der Wind

trieb mich irgendwohin. Ich war allein. Damit hatte

Arric freie Hand. Und er würde sie nützen.

Ich versuchte an den Rand der Wolke zu gelangen,

aber irgend etwas warnte mich eindringlich – wie eine

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innere Stimme. Ich blieb in sicherer Entfernung,

obwohl es sehr unbefriedigend war, weil ich nichts von

dem Land unter mir sehen konnte, nur den Horizont

ringsum, und der bestand aus den Wipfeln von

Bäumen, so weit das Auge reichte.

Es war alles andere denn ermutigend.

Ich wußte nicht, wie lange ich schon auf dieser

Wolke trieb – Stunden? Tage? Ich hatte es oft genug

gesehen, daß es Tage währen mochte, bis der Geist

wieder in den Körper zurückkehrte, wenn der Schlaf

kräftig genug war. Der Wind mochte mehrmals

gewechselt haben, und wenn ich mich recht erinnere,

besaß die Wolke nicht zu unterschätzende eigene

Bewegungsmöglichkeiten.

Ich hatte nicht die geringsten Anhaltspunkte, wo ich

mich befand, noch in welcher Richtung das Weltentor

lag.

Ich ließ mich nieder, als mich erneut ein

Schwindelgefühl befiel. Als es nachließ, versuchte ich

mir auszumalen, was geschehen war. Das letzte, woran

ich mich erinnerte, war der Hagel von Steinen, der vom

Himmel herabkam, und Arrics rennende Gestalt.

Ich hatte das Gefühl, daß jemand meinen Gedanken

lauschte, so als redete ich vor mich hin, und jemand

hörte mir zu. Und nach einem Augenblick ertappte ich

mich dabei, daß ich tatsächlich laut sprach. Aber es

machte keinen Unterschied, denn ich war allein.

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Wenn jemand mir zuhören konnte, war es die Wolke

oder der Wind. Vielleicht war es die Wolke. Etwas

stimmte mir zu. Ich schüttelte verwundert den Kopf.

Das beendete für eine Weile alle tiefschürfenden

Gedanken. Ich hatte die Wunde vergessen, und der

Schmerz kostete mich meine ganze Kraft. Als er

nachließ, spürte ich eine Welle von Bedauern.

Jemand bedauerte mich!

Diese Jahre in Begleitung König Dragons hatten

mich vieles gelehrt, auch daß in den Kräften der Natur

nichts Dämonisches ist, daß hinter aller Magie meist

ein Mensch zu suchen ist und daß alles Dämonische im

Menschen selbst ist. Aber der alte Glauben unseres

Stammes lehrte mich eine andere Wahrheit – daß die

Götter in den Dingen schlummern und uns mit den

Augen der Dinge sehen und uns mit den Kräften der

Dinge richten.

Das alles ging mir durch den Kopf, während ich

dieses Bedauern fühlte. Ich hatte keine Furcht. Wer

oder was immer mich bedauerte, schien mir freundlich

gesinnt. Aber wer oder was mich bedauerte, konnte

mir vielleicht auch helfen.

Ich war durch ein Weltentor gegangen. Ich wußte

nichts von dieser Welt. Es waren die unbekannten

Dinge, die Gefahr bedeuteten. Menschen hatte ich nie

gefürchtet, und der Panther starb von meiner Klinge

ebenso wie die schuppige Echse der Flüsse in meiner

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Heimat.

Aber hier mochte Gefahr überall lauern, in jeder

Gestalt.

Ich mußte versuchen zurückzukommen zum

Weltentor und zu Arric. Vor allem zu Arric. Aber mir

war klar, daß ich in jedem Fall zu spät kommen würde.

Wenn Arric den Angriff der Wolke überlebt hatte,

dann war er längst mit dem Götterwagen auf und

davon und hatte wahrscheinlich das Weltentor zerstört,

um Dragon und mir jede Möglichkeit zu nehmen, ihn

zu verfolgen. Es war ja alles für die Vernichtung des

Tores vorbereitet. Aber selbst ohne die Vernichtung

wäre es unmöglich gewesen, ihn zu verfolgen, denn es

mußte eine Reise von Jahren in unbekannter eisiger

Wildnis sein bis Myraniens Küsten, und wer konnte

sagen, wo Arrics Ziel lag. Der Götterwagen mochte ihn

überall hintragen. Nein, ich wußte, es war unmöglich,

Arric wiederzufinden.

Aber zum Tor mußte ich zurück. Nur dort konnte

ich hoffen, den König wiederzufinden.

Viel Feuer und Rauch, dachte ich verwundert. Feuer

und Rauch?

Donnernder Berg.

Donnernder Berg? Ich war drauf und dran, erneut

den Kopf zu schütteln, dachte aber rechtzeitig an den

Schmerz. Jemand wollte mir etwas mitteilen, jemand,

der offenbar in meinen Kopf hineinsehen und meine

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Gedanken hören konnte.

Die Wolke? Ich hielt es nicht für unmöglich. Sie war

das einzige in meiner Nähe. Sie hatte mich wohl am

Kampfplatz aufgelesen. Natürlich – sie mußte wissen,

was mit Arric geschehen war und mit dem Tor.

Vielleicht konnten diese Wolken denken wie die

Menschen. Es war eine andere Welt, von der das

Mädchen Danila viel wundersames berichtet hatte. Ich

zweifelte nicht daran, daß ich auf einer dieser

Wanderwolken gefangen war. Und es sah so aus, als

würde ich ebenso verschleppt wie das Mädchen.

Kein sehr erfreulicher Gedanke. Aber ich konnte

nicht viel tun. Nicht bevor die Wolke irgendwo

landete. Aus der Erzählung des Mädchens wußte ich,

daß die Wolken landeten und Nahrung brauchten.

Das war beruhigend. Ich spürte zwar selbst keinen

Hunger, aber meine Kehle war wie ausgedörrt, und der

Gedanke eines kühlen Tuches auf meinem Hinterkopf

oder gar eines Bades war äußerst verlockend.

Gab es eine Möglichkeit, diese Wolke zum Landen

zu bewegen? Ich sah mich um. Drei oder vier Schritte

weit sah die Oberfläche ziemlich fest aus. Dahinter

wirkte sie wie ein leichtes Gespinst. Trotzdem, ich

mußte einen Blick in die Tiefe riskieren.

Wahrscheinlich änderte es nichts an meiner Lage, aber

ich mußte sehen, was unter mir war. Es mochte mir

später helfen, mich zurechtzufinden.

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Vorsichtig kroch ich auf den Knien zum Rand.

Wieder dachte ich, daß es gefährlich war, aber das

waren nicht meine Gedanken. Die Wolke versuchte mir

klarzumachen, daß ich mich in Gefahr begab. Aber

diesmal ließ ich mich nicht abschrecken. Der Boden

wurde ein wenig nachgiebiger unter mir, das erhöhte

meine Vorsicht. Mein Kopf schmerzte von der

Anstrengung. Ich mußte innehalten und warten, bis die

Schwärze vor meinen Augen verschwand, dann

rutschte ich auf dem Bauch an den Rand vor. Das

Gespinst hielt, aber es war schwierig, mich

festzuhalten. Der Wind schien heftiger und der Flug

der Wolke unruhiger geworden zu sein.

Aber ich konnte hinabsehen. Wir schwebten ein

gutes Stück über den Baumwipfeln. Der Wald

erstreckte sich endlos in allen Richtungen. Mutlosigkeit

befiel mich bei dem Anblick. Ich wußte, daß ich zu Fuß

niemals durch diesen Wald zurückfinden würde. Ich

kannte die Urwälder an den Grenzen Shi-buts. Aber sie

waren nicht von der erdrückenden Dichte wie hier. Ich

sah keine Lichtung, so weit das Auge reichte, nur ein

unergründliches Meer von Pflanzen.

Ich schauderte unwillkürlich bei dem Gedanken, ich

könnte hinabstürzen. Es war nicht der tödliche

Aufprall, der mich erschreckte, sondern die

Möglichkeit, in diesem sonnenlosen Dschungel

weiterleben zu müssen.

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Ich tastete an meinen Gürtel, und der kühle Griff des

Schwertes beruhigte mich. Auch das Messer steckte in

seiner Hülle. Daß ich meine Waffen noch hatte, ein

Umstand, der mir erst jetzt auffiel, hob meine Laune

beträchtlich.

Lediglich der Durst war quälend. Eine Weile mühte

ich mich ab, mich zu orientieren, denn der Wald war

nicht eben, sondern erstreckte sich über den Hügel und

niedere Bergrücken. Aber es gab keine auffallenden

Punkte. Alles war so vollkommen überwuchert.

Doch dann tauchte etwas auf, das mein Herz höher

schlagen ließ. Ein See. Er war nicht groß, aber allein der

Glanz der Sonne auf seiner glatten Oberfläche hob ihn

wie einen silbernen Schild aus dem grünen Meer

heraus.

»Wasser!« sagte ich laut, nein, brüllte ich. Wenn

diese Wolke tatsächlich verstand, was ich fühlte und

dachte, und mir, wie es den Anschein hatte, sogar

Mitgefühl entgegenbrachte, dann sollte sie wissen, daß

ich im Augenblick nichts mehr begehrte, als in diese

schimmernden Fluten zu tauchen.

Tatsächlich verstand es mein seltsames Luftschiff. Ja,

dachte ich, trinken. Aber es waren nicht meine

Gedanken. Die Wolke änderte ihre Flugrichtung leicht

und hielt nun auf den See zu. Dabei legte sie sich ein

wenig schräg, und ein Teil ihrer selbst fächerte aus wie

ein großes Segel. Ich betrachtete es mit Staunen und

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Bewunderung. Welch ein Himmelsschiff, das selbst

lenkte und dachte. Es hatte viel gemeinsam mit dem

Götterwagen des Königs.

Wenn es mir nur gelänge, daß es nach meinem

Willen fuhr. Aber ich verbarg die Gedanken sorgfältig.

Ich wollte nicht riskieren, daß sie mich aussetzte. Nur

sie konnte mir den beschwerlichen Weg durch den

Dschungel ersparen. Nur sie wußte, in welcher

Richtung das Weltentor lag. Ich begann mich zu fragen,

wie klug sie war.

Viel Feuer und Rauch, hatte sie mir zu verstehen

gegeben. Und: Donnernder Berg. War das im

Zusammenhang mit Arric? Wenn ja, dann bedeutete es

vielleicht, daß der Rote das Weltentor zerstört hatte.

Und was die Wolke beschrieb, war nichts anderes, als

entfesseltes Donnerpulver.

Sicher ließ sich mit Geduld Gewißheit verschaffen.

Ich durfte nichts überstürzen. Ich fragte mich, wo der

König und Danila jetzt sein mochten. Vielleicht

irgendwo in diesem Wald da unten? König Dragon war

ein tapferer Mann, ein halber Gott mit Erinnerungen an

ein längst vergangenes Leben. Aber hier würden sie

ihm nicht viel nützen.

Die Wolke hatte den See fast erreicht. Sie ging tiefer,

und ich kämpfte gegen das schwindelerregende

Gefühl, zu fallen. Dann streiften wir fast die

Baumwipfel am Ufer des Sees. Ich schloß geblendet die

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Augen, so hell gleißte das Wasser. Irgendein

betäubender Geruch lag in der Luft.

Verwundert merkte ich, daß es mir schwerfiel, die

Augen wieder zu öffnen. Eine lähmende Müdigkeit

lockte mit der Dunkelheit des Schlafs. Instinktiv schrie

ich auf. Es war mehr als Schlaf, es war ein Abgrund,

der sich auftat – hungrig ...

Und mitten in mein Schreien mischte sich ein

Kreischen. Die Wolke schwang hoch, aber nur ein

Stück. Dann war es, als würde sie von unsichtbaren

Fäden festgehalten. Sie sank zurück. Der Boden unter

mir begann sich aufzulösen. Ich wollte auf die Beine,

aber weiße Arme legten sich um mich und hielten mich

bewegungslos. Etwas zischte. Ein Luftwirbel riß die

Wolke erneut hoch, wobei sie sich um sich selbst

wirbelte. Es ging schnell und mit großer Gewalt, und

ich war zu sehr mit meinen Eingeweiden beschäftigt,

um Einzelheiten zu sehen. Aber ich spürte, wie die

Wolke freikam, wie ihr Triumph mich erfüllte, danach

Schmerz. Während wir hochglitten, sah ich voll

Entsetzen, daß die spiegelnde Wasseroberfläche sich

zum größten Teil aufgelöst hatte in einzelne winzige

funkelnde Teilchen, die im Wind schwankten.

Glänzende Blätter, zwischen denen mächtige Ranken in

die Luft peitschten und vergeblich die Wolke zu

erreichen versuchten. Sie schienen zum Teil Erfolg

gehabt zu haben, denn große weiße Stücke

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verschwanden in dem zuckenden Blättermeer.

Wir stiegen und stiegen. Der Wind zerrte an uns.

Die Wolke zitterte. Ob vor Schmerz über die verlorenen

Teile oder einfach nur vor Erleichterung über den Sieg,

konnte ich nicht erkennen. Der Wind trieb uns über

den tödlichen See hinweg, der nur eine Falle war,

hinter der hungrige Pflanzen lauerten. Als er weit

hinter uns lag, war er wieder glatt und ruhig – dunkel

und lockend.

Langsam richtete die Wolke sich auf, bis ich wieder

sicher auf ihrer Oberfläche lag. Ihre weißen Arme, die

mich so sicher festgehalten hatten, gaben mich frei.

Ein Wort war plötzlich in meinen Gedanken, das ich

zuvor noch nie gehört hatte:

Skortsch.

Angst schwang darin mit. Todesangst. Einen

Augenblick lang hatte ich sie auch verspürt, als diese

Ranken nach uns peitschten und die Blätter sich

öffneten wie Reihe um Reihe spitzer, schimmernder

Zähne.

Ein Mann sieht einem Feind furchtlos ins Auge,

Mensch oder Tier. Aber dieser grauenhafte Tod mußte

dem Tapfersten das Blut in den Adern gefrieren.

Langsam, während wir mit dem Wind trieben,

schwand das Grauen.

Auch die Wolke gewann ihre Zuversicht rasch wieder.

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Der Schmerz schien vergessen, die verlorenen Teile

schienen nicht mehr von Bedeutung. Der Durst wurde

nicht besser, aber ich hütete mich vor weiteren

Wünschen. Dennoch begriff sie, daß ich Wasser

brauchte und schien eine andere Möglichkeit entdeckt

zu haben, mir zu meinem Bad zu verhelfen.

Der Boden unter mir gab ein wenig nach, so daß ich

in einer kleinen Mulde lag. Gleich darauf wurde die

seltsame Haut der Wolke feucht, wie von Schweiß.

Tropfen begannen zu fließen, immer mehr, bis sich um

meine Füße eine kleine Lache gebildet hatte.

Erst wollte ich davor zurückweichen, voller Ekel,

doch dann spürte ich, wie belebend kühl und wie rein

dieses Wasser war. Ich zweifelte nicht daran, daß es

Wasser war. Es war ganz natürlich, regnete es doch

sonst von den Wolken herab. Ich trank und löschte den

brennenden Durst. Dann wusch ich die Wunde und

genoß die kühlende Wirkung.

Ich machte keinen Hehl aus meiner Dankbarkeit. Ich

erhielt zwar keine Antwort, aber ihr Flug wurde ein

wenig wilder, und ich hatte das Empfinden von

Freude. Wenigstens deutete ich es so. Dabei begann ich

den leisen Verdacht zu hegen, daß sie mich entführt

hatte, um einen Gefährten zu haben, einen, der denken

und sprechen konnte, mit dem sie sich unterhalten

konnte auf ihren langen Flügen. Ich konnte mir

vorstellen, daß solch eine Gemeinschaft für den

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menschlichen Teil sehr reizvoll sein mochte, sofern er

bei der Bestimmung des Weges mitzureden hatte. Und

sofern er einen Magen hatte, der sich nicht bei jeder

Schlingerbewegung umdrehte.

Ich fing an, auf sie einzureden. Ich erzählte ihr, wie

wichtig es war, daß ich an das Weltentor zurückkehrte.

Aber ich bekam keine Reaktion, obwohl ich spürte, daß

sie in meinen Gedanken lauschte. Sie schien es nicht zu

verstehen. Sie war wie eine Katze, sie lauschte

zufrieden schnurrend dem Fluß meiner Gedanken,

aber nicht dem Sinn. Entmutigt gab ich es schließlich

auf, sie von meinen Plänen überzeugen zu wollen.

Später, wenn sie an mich gewöhnt war, konnte ich sie

vielleicht lenken.

Aber dann mochte es zu spät sein.

Mein Ärger schien sie zu erschrecken, und um mich

zu besänftigen, begann sie wieder Wasser

auszuscheiden, was ich erneut weidlich genoß. Aber

mir war klar, daß ihr Wasservorrat begrenzt sein

mußte, was mir Hoffnung auf eine Landung gab. Die

Sonne brannte herab auf ihren Rücken, soweit man bei

einer Wolke von Rücken sprechen konnte.

Ich nannte sie Waramau, ein Wort aus meiner

Muttersprache das soviel bedeutete wie

Himmelssegler. Wir trieben bis zum späten

Nachmittag, ohne daß der Wind seine Richtung

änderte. Als die Sonne bereits ziemlich tief stand,

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spürte ich, wie Waramau die Richtung änderte. Ich war

wohl ziemlich schläfrig geworden und in der

angenehmen Abendluft halb eingenickt, denn ich

schrak hoch, als sie sich leicht neigte. Sie hatte ihr

Hauptsegel ausgebreitet und kreuzte mit dem Wind.

Ich fühlte mich frischer. Ich hatte eine gute Stunde

geschlafen, dem Sonnenstand nach zu schließen, doch

war diese Schätzung trügerisch, denn ich wußte nichts

über diese Welt – weder über die Zeit, noch über

Richtungen.

Der Wald war noch immer unter uns, aber vor uns

am Horizont kündigte ein wachsender, im Widerschein

der Sonne rötlich glänzender Streifen sein Ende an.

Wasser lag vor uns, und mochten die Götter geben, daß

es nicht wieder eine Falle war!

Bald zeigte sich, daß die Küste eines Meeres vor uns

liegen mußte. Das bedeutete, daß auch offenes Land

nicht weit weg war. Waramau schien durch meine

plötzliche Zuversicht sehr angeregt, denn sie nahm die

Böen waghalsiger, und wir bekamen mächtig Fahrt

drauf.

Das war auch gut, denn die Aussicht auf offenes

Land weckte den Appetit auf frisches Fleisch. Ich war

mit einem Mal hungrig. Ich hoffte, daß es nicht zu

schwierig sein würde, Waramau beizubringen, daß sie

mich auf die Jagd gehen lassen mußte, wenn sie auf

meine Gesellschaft weiter Wert legte.

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Als die Sonne wie ein rotes Fanal unter den

spiegelnden Horizont tauchte, schwebten wir über dem

Meer, und ein salziger Wind machte Waramau zu

schaffen. Ich mußte mich festhalten. Wir folgten der

Küste, die felsig und unzugänglich war. Kurz vor

Einbruch der Dunkelheit tauchte offenes Land vor uns

auf. Ich stand auf Waramaus Rücken und balancierte

während des halsbrecherischen Fluges in den

Küstenwinden. Dann war die hügelige Steppe unter

uns.

»Hinunter, Waramau!« rief ich. Bei den Göttern, es

würde gut sein, wieder festen Boden unter den Füßen

zu haben.

Es gab keinen Ärger in dieser Frage. Ich nahm an,

daß sie ohnehin die Absicht hatte, zu landen. Sie hielt

auf einen Hügel zu, der einen guten Überblick über das

Land bot, frei nach allen Seiten. Dort ging sie nieder,

und ich glitt von ihrem Rücken wie ein Seefahrer, der

seit Jahren kein Land mehr betreten hatte. Eine ganze

Weile schwankte der Boden unter mir.

2.

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Waramau schien das Interesse an mir verloren zu

haben. Sie gab sich ganz einer Tätigkeit hin, die mir

klarmachte, daß auch sie Hunger hatte. Sie äste, oder

wie immer man das bei Wolken nennen mochte. Sie

schwebte in der Dunkelheit knapp über dem Boden

und fraß das hohe, gelbe Steppengras.

Für mich war die Nacht zu rasch gekommen. Ich

kannte das Gelände nicht. Es mochte viele Gefahren

geben, die ich nicht kannte, und die Aussicht auf Beute

war in dieser Finsternis gering. Ich sah, daß der

Himmel sich aus der Richtung, aus der wir gekommen

waren, immer mehr bedeckte. Die eine Hälfte war

bereits pechschwarz und ohne Sterne.

So beschloß ich, hungrig zu schlafen und am

Morgen auf Jagd zu gehen. Trotz des heftigen Windes

vom Meer her war die Nacht nicht zu kalt. Ich sah mich

nach einem geeigneten Schlafplatz um. Wenn ich nicht

mit dem Dolch in der Faust schlafen wollte, gab es nur

eine Wahl. Ich stolperte in der Finsternis hinter

Waramau her und kletterte auf ihren Rücken. Sie

schien zu erschrecken und versuchte mich abzuwehren

– aber nur einen Augenblick, dann erinnerte sie sich

und half mir hoch. Dann lag ich und starrte in den

Himmel, und es erschien mir sehr seltsam, daß das

alles kein Traum war.

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Ein Gefühl furchtbarer Angst weckte mich. Es war

nicht meine Angst. Es Waramaus Angst. Ich begriff

nicht sofort, was geschah. Die Welt schien in Aufruhr.

Sie war pechschwarz und im nächsten Augenblick

erfüllt von Feuer, das vom Himmel zuckte. Donner

rollte über uns hinweg, daß die Erde bebte. Aber gleich

darauf erkannte ich, daß es nicht die Erde war, die

bebte, sondern Waramau. Sie zuckte, daß ich Mühe

hatte, mich aufzurichten. Himmelsfeuer und Donner

folgten Schlag auf Schlag. Es war vollkommen

windstill, und die Luft roch nach Regen. Er mußte

jeden Augenblick beginnen.

Noch nie war ich diesen magischen

Himmelsgewalten so nah gewesen. Es sah aus, als

wollten sie uns zerschmettern. Aber ich hatte gelernt,

sie in Demut hinzunehmen. Die Götter verachteten

Furcht.

Ich spürte, wie Waramaus Angst wuchs. Ich

versuchte ihr zuzureden, ihr klarzumachen, daß ihre

Furcht nur den Zorn der Elemente wecken mußte, und

daß es nur einen Weg gab, die Prüfung zu erdulden.

Doch während ich sprach, zuckte das Himmelsfeuer

nicht weit von uns in einen Präriebaum, der in

Flammen aufging, während der Donner wie ein

fühlbarer Schlag über uns hinwegfegte.

Mit einem Aufschrei, in dem ich das Wort Skortsch

zu hören glaubte, fuhr Waramau hoch. Ich hatte Mühe,

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mich festzuhalten. Ich erkannte sofort, daß kein Ziel in

ihrem Tun lag. Sie war blind vor Furcht und Entsetzen.

Und mir begann es ähnlich zu gehen, als wir steil in

den Himmel schwebten, und der brennende Baum

kleiner und kleiner wurde. Es war, als ob Waramau vor

dem Feuer floh, doch der ganze Himmel bot keine

Sicherheit, denn die Feuer ließen ihn aufflammen wie

am hellen Tag. Und das Donnern war so laut, daß

Waramau meine beschwörenden Rufe gar nicht hören

konnte, selbst wenn sie auf mich gehört hätte. Ihr

ganzer Wolkenkörper war von einem Pfeifen erfüllt, als

ob viele Münder aus vollen Backen bliesen. Sie raste

blind durch die Nacht, zuckte zusammen unter den

herabzuckenden Feuerpfeilen und wirbelte im Donner

wie in einem gewaltigen Wind.

Meine Panik war in dieser verzweifelten Lage nicht

geringer. Jeden Augenblick konnte ich in die Tiefe

stürzen. Es gab nichts, woran ich mich hätte festhalten

können. Doch was immer Waramau auch mit mir

verband, es war stark genug, daß sie mich nicht vergaß.

Arme legten sich um mich und hielten mich wie schon

einmal fest. Ich konnte nicht mehr fallen, aber meine

Lage schien mir dadurch nicht viel besser. So wie

Waramau durch die Lüfte raste, mußte sie früher oder

später gegen ein Hindernis prallen, und die Götter

mochten wissen, was dann geschah. Manchmal sah ich

im Licht des Himmelfeuers die Prärie knapp unter uns,

Page 20: Ubali, der Panther

dann wieder rasch entschwinden. Aber ich merkte, daß

Waramau müde wurde, wie eine Herde auf der Flucht

vor dem Präriefeuer ihre panische Furcht schließlich

anhielt, so erlahmte rasch ihre Kraft. Ich versuchte

beruhigend auf sie einzureden.

Plötzlich begann es zu regnen. Große, schwere

Tropfen kamen herab, und was ich nicht vermocht

hatte, schafften sie. Ruhe kam über die Wolke, trotz des

Feuers, das noch immer den Himmel aufflammen ließ.

Sie schwebte ruhig im Regen, der bald in dichten

Schleiern herabfiel und schien aus ihm neue Kräfte zu

schöpfen. Innerhalb eines Augenblicks war ich

vollkommen durchnäßt, aber während das Wasser an

mir abfloß, sog sie es auf wie ein Schwamm.

Es regnete einen guten Teil der Nacht. An Schlaf war

dabei nicht zu denken. Der Prärieboden unter uns sah

nicht viel anziehender aus als die Oberfläche der

Wolke, so daß mir gar nicht erst der Wunsch kam, sie

zu verlassen. Aber ich dachte an eine behagliche,

trockene Höhle, bevor ich endlich einschlief.

Die Sonne weckte mich. Sie drang gedämpft durch das

Dach meiner Höhle. Höhle?

Es dauerte eine Weile, bevor ich mich zurechtfand.

Wenn ich bisher auch noch Zweifel gehabt hatte

darüber, ob Waramau wirklich denken konnte, und in

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meinen Gedanken lesen, so hatte ich nun den Beweis.

Denn ich lag in keiner Höhle, sondern noch immer auf

meiner Himmelsseglerin. Aber aus ihrem hautartigen

Gespinst hatte sie ein Dach über mir errichtet, das mich

vor Regen und heißer Sonne schützen konnte.

Ich sagte: »Hab Dank, Waramau.« Ich hatte auf eine

Antwort gehofft, aber es kam keine. Ich erwartete

zuviel, weil ich ungeduldig war. Gewiß, es schien, als

ob sie mich verstand. Sie erkannte meine Wünsche und

Nöte, meine Gefühle. Aber es war wohl zu schwierig

für sie, ganz meinen Gedanken zu folgen. Immerhin

hatte sie bereits mit mir gesprochen, und ich war

ziemlich sicher, daß ich sie richtig verstanden hatte.

Das Weltentor war zerstört, oder wenigstens hatte

Arric den Versuch gemacht. Es war ein

niederdrückender Gedanke, in dieser fremden Welt

gestrandet zu sein.

Meine einzige Hoffnung lag daran, daß ich den

König fand. Wenn einer noch einen Ausweg finden

konnte, dann er.

Eine trübe Zukunft. Urgor und Myra waren nur

Erinnerungen, und alles sprach dafür, daß sie es auch

blieben. Und Shi-but war so weit wie die Sterne weg.

Aber ich war nie ein Mann von Träumereien

gewesen. Erst an des Königs Seite hatte ich ein wenig

begonnen, wie er zu denken – daß es eine Zukunft gab,

und eine Vergangenheit, und daß es falsch war, nur in

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der Gegenwart zu leben.

Ich war immer ein Abenteurer gewesen, der für den

Augenblick lebte, aber nie einer, der seinen Weg allein

ging. Es hatte immer jemanden gegeben, dessen Kampf

ich focht, immer jemanden, für dessen Sache ich die

Klinge führte, immer jemanden, der mir sagte, was zu

tun war. Aber erst an des Königs Seite lernte ich, daß

kein Mann die Klinge nur um der Klinge willen führen

sollte, und daß die Weisheit unter den Dingen nicht

nur ein guter oder böser Zauber war, den sich der

Magier zunutze machte, sondern wie wahre Kraft, die

jedermann leiten sollte. Erst in König Dragons Diensten

bin ich ein Mann geworden, der sein Schwert nicht nur

mit der Faust führte.

Vielleicht half mir der Verstand auch, Waramau

dazu zu bringen, daß sie mich flog, wohin ich wollte.

Es war einen Versuch wert, um so mehr als eine

Wanderung durch den Dschungel ungleich mehr Zeit

in Anspruch nehmen mußte. Aber ich wußte, daß es

eine harte Geduldsprobe werden würde.

Vorerst hatte ich nagenden Hunger.

Ich verließ meine ungewöhnliche Kajüte. Waramau

schwebte knapp über den Boden. Vor uns erstreckte

sich eine endlose, flache Prärie. Ein leichter Wind

schaukelte die Wolke. Sie schien noch immer Gras in

sich hineinzustopfen. Sie hatte bereits eine ganz gelbe

Färbung angenommen. Verwundert bemerkte ich, daß

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sie mit einem Teil ihres Gespinstes eine Art Ankertau

gebildet hatte, mit dem sie sich am Boden festhielt. Sie

erinnerte mich immer mehr an ein Schiff. Ein Schiff der

Lüfte.

Ich ließ mich an diesem Tau hinab auf den Boden.

Waramau schien nichts dagegen einzuwenden zu

haben. Nun würde sich entscheiden, ob ich ihr

Gefangener war, wie Danila sich gefühlt hatte, oder ob

sie mich als Gefährten betrachtete.

»Ich gehe auf die Jagd, Waramau«, sagte ich. »Ich

habe Hunger. Ich komme hierher zurück – wenn du

auf mich wartest.«

Keine Antwort. Sie fraß ruhig weiter an dem hohen

Präriegras. Ein wenig unsicher begann ich mich zu

entfernen. In der Tat schien ich frei, zu tun und lassen,

was ich wollte.

Plötzlich hatte ich Angst, sie würde nicht mehr da

sein, wenn ich zurückkam. Dann saß ich hier fest, mit

nur einem einzigen Anhaltspunkt – dem Wald, der am

Horizont begann. Das war die Richtung des

Sonnenaufgangs, also Osten. Vielleicht hatte ich in der

kommenden Nacht mehr Glück und konnte mir einige

Sterne zur Orientierung einprägen.

Dann aber trieb mich der Hunger vorwärts. Ich

brauchte etwas zu beißen. Nach Norden und Osten

war die Prärie eben. Das Meer lag hinter den Hügeln.

Ich konnte die Brandung deutlich hören. Da es gleich

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war, wo ich meine Suche begann, lief ich auf die Hügel

zu, erklomm den nächsten und sah mich um. Viel war

nicht zu sehen, und vor allem keine Tiere. In der

weiten Ebene regte sich nichts, außer dem sanften

Wogen des Grases im Wind, der von Nordosten

herkam und die Prärie wie ein gelbes Meer erscheinen

ließ. Es erinnerte mich sehr an meine Heimat.

Was ich mir sehnlichst wünschte, war ein Bogen. Ich

war zwar immer ein guter Läufer, aber es war eine

mühsame Sache, allein mit einem Dolch oder einem

Schwert in der offenen Steppe zu jagen.

Irgendwie wirkte diese Prärie trostlos, und der

Wind trug den Gestank von Fäulnis mit sich. Ich

schüttelte mich unwillkürlich. Der knurrende Magen

setzte meine Beine in Bewegung. Ich lief in dieses gelbe

Meer hinein, und es war gut, wieder zulaufen.

Bis die Sonne im Zenit stand, hatte ich eine ziemlich

große Strecke zurückgelegt, so daß ich an Umkehr

dachte. Ich hatte absolut nichts gefunden, nicht einmal

Fährten. Wenn es hier etwas Eßbares gab, dann hielt es

sich gut versteckt. Auch den Himmel hatte ich immer

wieder vergeblich abgesucht.

Ich war müde, und der Hunger war nicht besser

geworden. Meine Augen brannten, und die

Kopfwunde schmerzte wieder. Außerdem war ich

unsicher, ob Waramau warten würde, und schalt mich,

daß ich nicht früher diese nutzlose Suche abgebrochen

Page 25: Ubali, der Panther

hatte. Ich befand mich also in nicht gerade bester

Stimmung. Einzig meinen Durst konnte ich aus dem

Beutel stillen, den ich vorsorglich aus den Vorräten der

Wolke gefüllt hatte. Auf eine Wasserstelle war ich nicht

gestoßen. Diese Wasserlosigkeit mochte auch der

Grund sein, warum hier nichts lebte. Der Boden hatte

den Regen der Nacht vollkommen aufgesogen. Die

Erde war bereits wieder trocken und rissig, wo kein

Gras wuchs. Es gab vereinzeltes Buschwerk, aber auch

dieses barg nichts Eßbares.

Ich machte kehrt. Meine einzige Hoffnung war nun

Waramau – oder der Dschungel.

Der Rückmarsch war nicht erfolgreicher. Das Land

war leergefegt, als hätte jemand verkündet: Hier

kommt Ubali, und der ist hungrig! Wenn ihr nicht in

seinem Magen enden wollt, dann macht euch

unsichtbar!

3.

Die Sonne stand bereits ziemlich tief im Westen, als ich

wieder Küstennähe erreichte. Der Wind war stärker

Page 26: Ubali, der Panther

geworden. Er kam noch immer aus östlicher Richtung,

vom Dschungel her.

Plötzlich glaubte ich einen Schrei zu hören. Ich hielt

an und sah mich um. Ich vernahm ihn erneut, schrill

vor Angst und Schmerz. Diesmal wußte ich sofort, wer

schrie, denn ich hatte den Schrei nicht mit den Ohren

vernommen, sondern mit den Gedanken.

Waramau war in Gefahr!

Im nächsten Augenblick sah ich im Glanz der

tiefstehenden Sonne eine Bewegung über den Hügeln.

Ich hielt die Hand schützend über die Augen, dann sah

ich, daß dort nicht nur eine Wolke schwebte, sondern

drei. War es möglich, daß es Feinde waren? Feindliche

Wanderwolken?

Meine Müdigkeit verflog unter Waramaus

Hilfeschreien. Ich lief auf die Hügel zu, obwohl ich mir

nicht vorstellen konnte, was ich gegen zwei

Wanderwolken ausrichten sollte.

Als ich näher kam, entdeckte ich mehrere Gestalten

auf den beiden angreifenden Wolken. Sie hielten lange

Spieße in den Händen und bearbeiteten sowohl ihre

eigenen Wolken als auch Waramau. Diese Spieße

schienen so etwas zu sein wie Zügel und Sporen für ein

Pferd, denn diese Wolken gehorchten den Männern

wie ein gutes Pferd. Aber die Speere waren auch der

Grund für Waramaus schmerzerfüllte Schreie. Die

Männer versuchten sie sich gefügig zu machen, und es

Page 27: Ubali, der Panther

gab kein Entkommen für sie, denn die Männer lenkten

ihre Wolken geschickt immer wieder um sie herum

und drückten sie langsam zu Boden nieder.

Ich zählte die Männer und kam auf ein Dutzend. Je

zwei sprangen auf Waramau über und bearbeiteten sie

weiter auf erbärmlichste Weise mit ihren Speeren. Es

war kaum zu ertragen. Es war mir, als fühlte ich selbst

den Speer in den Eingeweiden, wie er herumgedreht

und herumgerissen wurde.

Sie entdeckten mich erst, als ich bereits den Hügel

hinanklomm mit dem Schwert in der Faust.

»Halt!« rief ich. »Das ist meine. Laßt die Finger

davon!« Ich war nicht sicher, ob sie meine Worte

verstanden. Mißverstehen konnte sie mich schwerlich.

Sie taten es auch nicht, und sie waren offenbar nicht

gewillt, ihre Beute gehenzulassen. Sie griffen nach

ihren Waffen und trieben ihre Wolken auf mich zu.

Offenbar wurden die vier auf Waramau bereits allein

mit ihr fertig, was mich in eine verdammt

unangenehme Lage brachte, denn mit acht konnte ich

es nur schlecht aufnehmen, wenn diese noch dazu auf

Wolken dahergeritten kamen.

Sie waren ein wilder Haufen, dunkle,

sonnengebräunte Gesichter, nicht eines ohne Narben.

Die meisten trugen wadenlange Beinkleider, einige

nackte Oberkörper, ein paar Umhänge, die sie mit

einem breiten Gürtel zusammenrafften. Sie wären in

Page 28: Ubali, der Panther

Jellis Piratenbruderschaft nicht aufgefallen, und ich

erwartete nicht viel Gutes von ihnen.

Ich sah, daß sie keine Bogen hatten, nur Schwerter

und Dolche, abgesehen von den langen Spießen, mit

denen sie die Wolken lenkten. Das bot mir eine

Fluchtchance, wenn es keine andere Möglichkeit mehr

gab. Hätten sie Bogen gehabt, wäre ich nicht weit

gekommen. Ich blickte ihnen so zuversichtlich

entgegen und versuchte gleichzeitig, an ihnen

vorbeizukommen, um die bedrängte Waramau zu

erreichen. Dabei bemerkte ich, daß das Lenken der

Wolken nicht so einfach schien, denn sie hatten Mühe,

mir den Weg abzuschneiden. Der Wind war es, der

ihnen zu schaffen machte.

»Ho! Schwarzhaut!« rief einer. »Deine, sagst du?«

Sie waren mir nah genug, daß ich nicht ohne Kampf an

ihnen vorbeikam. Die drei Wolken waren hinter dem

Hügel verschwunden, aber noch immer drang deutlich

Waramaus Schreien in meine Gedanken, wenn auch

schwächer.

»Ja, meine«, erwiderte ich und ließ sie nicht aus den

Augen.

Sie grinsten. »Was fällt euch auf?« fragte einer. »Seht

ihr einen Wolkenspeer?«

»Weit und breit nichts«, meinte ein anderer.

»Vielleicht lenkt er sie mit schönen Worten«, schlug

ein dritter vor, und sein Grinsen verbreiterte sich.

Page 29: Ubali, der Panther

»Sie versteht mich«, erklärte ich. »Sie versteht meine

Gedanken ...«

Sie lachten, und einer drehte seinen Speer, der eine

halbe Körperlänge in der Wolke steckte, mit einem

Ruck herum. Ich vernahm nichts, keinen Schrei, aber

ich sah, wie sich die Wolke aufbäumte, daß die vier

Mühe hatten, sich auf den Beinen zu halten.

»Das ist es, was sie verstehen, Schwarzhaut. Sonst

gar nichts. Und das wird dein Baby auch in Kürze

heraushaben.«

»Wer weiß«, meinte ein anderer, »wenn er soviel

gemeinsam mit ihr hat, versteht er vielleicht auch diese

Sprache am besten.« Er zog seinen Speer aus der Wolke

und richtete ihn auf mich.

Ich spannte mich und beobachtete ihn abschätzend,

ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Es wurde

ernst. Ich hoffte, daß er den Speer warf, aber er war

klug genug, es nicht zu tun. Es hätte mir leicht eine

wesentlich vorteilhaftere Waffe verschafft, als mein

Schwert es im Augenblick war.

»Ich will keinen Streit«, sagte ich.

»Schon möglich, Schwarzhaut.« Sie begannen ihre

Wolken auf mich zuzutreiben. Ich wich zurück. »Das

kannst du alles Darraco erzählen.«

»Darraco? Wer ist das?«

»Unser Anführer. Ich schätze, es wird ihn

interessieren, was eine Schwarzhaut hier zu suchen hat.

Page 30: Ubali, der Panther

Wenn du klug bist, wirfst du dein Schwert fort und

kommst freiwillig mit.«

Ich hatte nicht vor, das zu tun. Dieser Darraco

interessierte mich zwar, aber ich hatte keine große Lust,

ihn als Gefangener kennenzulernen. Wenn es mir

gelang, ihnen eine dieser Wolken abzujagen! Aber

meine Chancen gegen acht dieser Kerle standen nicht

sehr gut, obwohl die Tatsache, daß sie mich lebend

haben wollte, mir bestimmt Vorteile verschaffen

würde.

Während ich in Gedanken versuchte, Waramau zu

erreichen, zog ich mich vorsichtig zurück und

beobachtete, wie sie ihre Wolken mit den langen

Speeren nähertrieben. Je zwei der Männer lenkten sie,

während die anderen ihre Schwerter zogen. Einer

besaß offenbar nur ein Messer, und er hielt es in der

Hand, als ob er es werfen wollte. Es sah so aus, als

wollten sie mich im Zweifelsfalle auch tot zu ihrem

Anführer schaffen. Da ich selbst ein recht guter Werfer

bin, noch dazu mit der linken, nahm ich auch meinen

Dolch aus dem Gürtel.

Es war nicht klar festzustellen, ob es den anderen

beeindruckte, denn die Wolke bäumte sich auf, als der

eine Steuermann sie gegen den Wind zu lenken

versuchte, und alle vier hatten einen Moment damit zu

tun, sich festzuhalten.

Waramau antwortete meinen rufenden Gedanken

Page 31: Ubali, der Panther

nicht. Ich hörte sie auch nicht mehr schreien. Ich

konnte nur raten, was hinter dem Hügel geschah. Ich

komme wieder, dachte ich. Waramau, ich komme

wieder, und dann werden sie jeden Speerstich

bezahlen!

Mit einem kribbelnden Gefühl wandte ich mich um

und lief in die Richtung, aus der der Wind kam. Der

Wald war ziemlich weit weg, und so wenig einladend

er mir noch vor kurzem erschienen war, nun wünschte

ich, er wäre näher. Ein Blick zurück zeigte mir, daß die

Wolkenreiter sich redlich bemühten, mir auf den

Fersen zu bleiben. Aber mein Verbündeter, der Wind,

machte ihnen schwer zu schaffen. Sie mußten gegen

den Wind kreuzen, wie Boote. Ich konnte meinen

Vorsprung rasch vergrößern, aber langsam machte sich

meine Müdigkeit bemerkbar und die Tatsache, daß ich

seit geraumer Weile nichts gegessen hatte. Lange hielt

ich den Lauf nicht mehr durch. Ich brauchte einen

Unterschlupf, oder einen güngstigen Platz für einen

Kampf. Beides konnte mir nur der Wald bieten.

Die Wolken waren nun weit hinter mir, und ich fiel

einen Augenblick in gemächlichen Schritt, um wieder

zu Atem zu kommen. Scharf beobachtete ich die fernen

Hügel, aber von Waramau war nichts zu sehen. Etwas

anderes fiel mir jedoch auf und ließ mich sofort wieder

mein Tempo beschleunigen. Auf den verfolgenden

Wolken waren nur sechs der acht Männer zu erkennen.

Page 32: Ubali, der Panther

Das konnte nur eines bedeuten: zwei waren

abgestiegen und zu Fuß auf meiner Spur. Und sie

waren sicher besser ausgeruht als ich.

Leise fluchend hielt ich an und versuchte sie in dem

hohen Gras zu entdecken. Nach einem Augenblick

hatte ich sie gefunden. Sie waren mir bereits verdammt

nahe. Ich mußte es bis zum Wald schaffen. Wenn ich

sie hier erwartete, dann mußten die Wolkenreiter uns

einholen, bevor der Kampf vorüber war. Ich fürchtete

die beiden nicht, aber ein Kampf würde den

Vorsprung, den mir der Wind verschafft hatte,

gefährlich schrumpfen lassen, deshalb hastete ich

weiter.

Ich kam dem Wald noch ein ganzes Stück näher und

vergrößerte auch den Vorsprung beträchtlich, bevor es

mir zu riskant wurde, meinen Verfolgern länger den

Rücken zuzuwenden. Die beiden kamen zielstrebig auf

mich zu. Vor mir lag eine weite Mulde, in der dorniges

Buschwerk wuchs. Kluge Leute hätten sie umgangen,

aber mir blieb keine Wahl. Außerdem gelangte ich

dabei für kurze Zeit aus dem Blickfeld der Männer. Es

war kein idealer Kampfplatz, aber ein besserer, als ich

erwartet hatte. Mit Dolch und Schwert bahnte ich mir

einen Weg durch das Buschwerk. Spuren zu

verwischen, hätte wenig Sinn gehabt. Sie wußten, daß

ich hier war, und daß ihnen nichts weiter übrig blieb,

als hinter mir herzulaufen, wenn sie mich haben

Page 33: Ubali, der Panther

wollten.

Es wurde verdammt dicht. Ich achtete nicht mehr

auf die Dornen. Sie waren das kleinere Übel. Die

beiden hinter mir besaßen längere Stachel!

Bald erreichte ich den Grund der Mulde. Hier war

der Boden noch immer feucht von den Regenfällen der

vergangenen Nacht. Allerlei Pflanzen wucherten

ringsum, aber nirgends entdeckte ich ein Tier. Selbst

der bloße Anblick hätte dieses nagende Hungergefühl

vertrieben. Ich fröstelte. Von der Hitze der Savanne

war hier nicht viel zu spüren. Einen Moment hielt ich

an und lauschte. Weit hinter mir erklang das Brechen

von Ästen. Sie hatten sich nicht abschrecken lassen. Ich

eilte weiter. Der Boden stieg wieder an. In kurzer Zeit

mußte ich wieder die offene Prärie erreichen. Damit

war nichts gewonnen.

Kurzerhand ließ ich mich ins Buschwerk fallen und

wartete mit dem Dolch in der Faust. Mit dieser

Schwarzhaut würden sie ihre Erfahrungen machen,

dachte ich grimmig.

Bald näherten sich hastige Schritte und fluchende

Stimmen. Gleich darauf sah ich den ersten auftauchen.

Er kam auf mich zu, stürmte an mir vorbei, dicht

gefolgt von dem zweiten. Sie verschwanden im

Dickicht. Plötzlich trat Stille ein. Sie mußten gemerkt

haben, daß sie die deutliche Spur verloren hatten. Ich

sah sie nicht mehr, hörte aber ihre Stimmen, in denen

Page 34: Ubali, der Panther

Ärger und Verblüffung mitschwangen.

Sie suchten meine unmittelbare Umgebung ab, aber

sie dachten nicht, daß sie mich bereits überholt hatten,

und kamen meinem Versteck nicht nahe genug.

Nun, da ich der Verfolger war, mußte ich meine

gewaltig verbesserten Chancen nutzen, bevor die

Wolkenreiter zu nahe kommen konnten. Ich verließ

mein Versteck und schlich vorsichtig hinter den beiden

her. Ich vernahm sie rechts und links, konnte sie aber

nicht sehen. Offenbar hatten sie sich getrennt. Um so

besser.

Ich nahm den rechten. Es war nicht schwer, ihn

aufzustöbern. Er trampelte wie ein aufgescheuchtes

Wild durch die Büsche und fluchte halblaut über die

Dornen, an denen er mit den Kleidern immer wieder

haften blieb, und von denen er sich nur mühsam

losreißen konnte. So war es nicht schwierig, lautlos an

ihn heranzukommen. Er muß mich für einen

leibhaftigen Dämon gehalten haben, als ich so plötzlich

hinter ihm auftauchte. Er riß die Augen auf und den

Mund für einen Schrei. Ich hatte ihn an der Kehle und

holte mit dem Schwertknauf aus, um ihn für eine Weile

von der Sorge um seine mißlungenen Pläne zu

befreien. Doch er war von einer unerwarteten

Schnelligkeit. Er riß die Arme hoch und drehte sich mir

zu. Mein Griff löste sich, und mein Schlag traf ihn an

der Schulter. Er stöhnte und brachte sein Schwert

Page 35: Ubali, der Panther

herab. Instinktiv parierte ich mit dem Dolch. Ich hätte

den gewaltigen Schlag niemals aufgehalten, aber die

Götter wollten es, daß das Messer die Schwertklinge

ablenkte und sich in vollem Schwung in seine Brust

grub.

Der Fremde starb lautlos mit einem vergeblichen

Versuch, Luft für einen warnenden Schrei in seine

Lungen zu bekommen. Ich wartete, bis seine

verkrampften Arme schlaff wurden, und ließ ihn zu

Boden gleiten.

Angestrengt lauschte ich. Nichts war zu hören, auch

keine Geräusche von meinem zweiten Verfolger. Das

beunruhigte mich etwas. Es war möglich, daß er den

Kampf bemerkt hatte. Zu sehen war nichts. Ich bückte

mich rasch zu dem Toten. Ich nahm ihm den breiten

Ledergürtel ab und schnürte ihn mir um die Mitte.

Neben zwei Messern enthielt er zwei Beutel, deren

Inhalt interessant sein mochte. Ich konnte sie während

des Weges untersuchen. Um den Hals trug er eine

Kette aus Metall. Diese nahm ich ihm ebenfalls ab. Sie

schien aus gewöhnlichem Eisen zu sein und war auch

nicht besonders kunstvoll angefertigt worden. Aber

vielleicht war sie ein Schutz gegen Dämonen in dieser

Welt.

Hastig sah ich mich um, bevor ich mich erhob. Ohne

besonders auf Lautlosigkeit zu achten, setzte ich

meinen ursprünglichen Weg in die Richtung des

Page 36: Ubali, der Panther

Waldes fort. Mehrmals hielt ich kurz an und lauschte,

aber niemand schien mir zu folgen.

Die Überraschung erwartete mich am Ende der

dornigen Mulde. Als ich aus dem Buschwerk

auftauchte, stand der Kerl plötzlich vor mir. Er hielt

sein Schwert stoßbereit in der Rechten und sagte

grinsend:

»Ich dachte mir‘s doch, daß du nicht umkehren

würdest. Jetzt setzen wir erst unsere Unterhaltung ...«

Er brach ab, als er die Kette und den Gurt bemerkte.

Sein Grinsen erstarb. Sein Gesicht wurde bleich.

»Was ist mit Verino?«

»Er war unvorsichtig«, antwortete ich gleichmütig.

»Du verdammter schwarzhäutiger Hund hast ihn

umgebracht!« entfuhr es ihm. Er sprang auf mich zu.

Daß ich nicht zurückwich, sondern nur die Klinge ein

wenig hob, um sie für die Abwehr bereit zu haben,

hielt ihn von einem Angriff ab. Er starrte mich nur

wütend an. »Verino war mein Freund«, zischte er.

Ich zuckte die Achseln. »Ich wollte keinen Streit.

Jetzt geh mir aus dem Weg.«

Das brachte ihn völlig aus der Fassung. Mit einem

Wutschrei stürzte er sich auf mich. Er schien trotz

seiner Erregung nicht unbesonnen. Ein wahrer Hagel

von Schlägen prasselte auf mich los. Während ich

parierte, tänzelte ich um ihn herum, so daß ich mich

bald in einer besseren Stellung befand, denn er mußte

Page 37: Ubali, der Panther

gegen mich hochkämpfen. Auch konnte ich die

westliche Savanne übersehen. Die Wolkenreiter waren

ziemlich nahe herangekommen.

Mein Gegner war nicht besonders gut mit der

Klinge, und sein Arm begann zu erlahmen, als seine

Wut verraucht war. Die Hiebe kamen langsam. Er holte

weiter aus, um mehr Kraft hineinzulegen. Das war

unverzeihlich unvorsichtig. Ich nutzte den Augenblick

zwischen zwei Schwertstreichen und bohrte ihm meine

Klinge in die Schulter. Er schrie auf und sackte

zusammen, als ich mein Schwert herausriß.

Ich hätte ihn töten können, aber nichts wäre damit

gewonnen gewesen. Als Gegner konnte er mir ohnehin

nicht mehr gefährlich werden.

»Sag deinem Anführer, daß er Ubali ein Leben

schuldet.«

»Fahr zur Hölle«, würgte er mit

zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ich überhörte seinen Wunsch. »Wenn du dich laut

genug bemerkbar machst, werden deine Freunde dich

schon finden«, erklärte ich.

Die Wolken arbeiteten sich langsam heran. Es wurde

Zeit für mich. Der Wald war greifbar nahe. Ich setzte

mich wieder in Trab. Die Reiter auf den Wolken

entdeckten mich und schüttelten drohend ihre Waffen.

Nach einer Weile sah ich, daß sie ihren Genossen

entdeckt hatten und sich um ihn kümmerten. Das hielt

Page 38: Ubali, der Panther

sie beträchtlich auf, und ich dachte schon, sie würden

die Verfolgung aufgeben. Aber kurz bevor ich den

Wald erreichte, kreuzten sie bereits wieder.

4.

Die Düsternis des Waldes nahm mich auf. Ich warf

einen letzten Blick auf die beiden Wolken, die sich

mühsam herankämpften. Weit in der Ferne glaubte ich

Waramau zu sehen, aber ich konnte mich auch irren.

Ich war erschöpft. Der Hunger war fast unerträglich

geworden. Daran änderte auch der Fäulnisgestank

nichts, der mich umgab. Ich versuchte, mir einen Weg

durch das Dickicht zu bahnen. Nach wenigen Schritten

war vom Himmel nichts mehr zu sehen. Es wurde

dunkler, aber nicht kühler. Die feuchte Hitze nahm mir

fast den Atem. Die Stämme der mächtigen Bäume

waren kaum zu erkennen, so sehr waren sie von

Büschen und Ranken umwuchert. Eine seltsame Stille

herrschte, als wäre der Dschungel ohne Leben. Nur der

Wind rauschte und raschelte am Waldrand entlang.

Hier drinnen bewegte sich kein Blatt.

Mir war nicht sehr wohl zumute. Nur mühsam

unterdrückte ich den Drang, wieder hinaus in die freie

Steppe zu laufen, um dieses bedrückende Gefühl

Page 39: Ubali, der Panther

loszuwerden. Selbst die Aussicht, den Wolkenreitern

entgegentreten zu müssen, erfüllte mich mit weniger

Unbehagen.

Unwillkürlich griff ich nach der Metallkette, die ich

dem Toten abgenommen hatte. Sie fühlte sich kühl

an – unberührt von der düsteren Drohung des

Dschungels. Es beruhigte mich. Ebenso kühl mußte ich

sein. Von irgendwoher kam der betäubende Duft von

Blüten, süßlich und schwer wie myranischer Wein. Ich

sah mich um, konnte aber nicht feststellen, woher es

kam. Hundert verschiedene Schattierungen von Grün

wucherten in jeder Richtung. Trotz der Reglosigkeit

konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß

sich alles um mich zusammendrängte. Der Gedanke

verursachte mir ein Kribbeln im Nacken, und ich

dachte an den dämonischen See, dem Waramau nur

mit knapper Not entronnen war.

Hastig starrte ich auf das Laub um mich und schalt

mich einen furchtsamen Narren. Nichts regte sich.

Keiner der Äste senkte sich herab, kein Blatt bewegte

sich. Das Dach über mir war grün und geschlossen.

Aber ich sah die Lücke im Gebüsch, durch die ich

gekommen war. Sie beruhigte mich. Ich wußte, daß es

nur die unglaubliche Dichte des Waldes und dieser

Geruch nach faulenden Pflanzen waren, die mich

unruhig machten.

Stimmen kamen von irgendwoher. Es mußten die

Page 40: Ubali, der Panther

meiner Verfolger sein. Sie erklangen erneut, zu meiner

Rechten. Ich hatte den Waldrand hinter mir vermutet.

Es zeigte mir, wie rasch man in diesem Dickicht die

Orientierung verlieren konnte.

Ich verhielt mich ruhig. Es war ein Zufall, wenn sie

mich hier fanden. Wenn sie ebenfalls die Beklemmung

verspürten, würden sie nicht lange nach mir suchen.

Andererseits waren sie in dieser Welt zu Hause und

mochten den Dschungel als ganz natürlich empfinden

und seine Gefahren kennen. Dennoch war es besser,

wenn ich wartete. Das unvermeidliche Geräusch

meiner Flucht hätte sie nur erst recht auf meine Spur

gebracht.

Eine Weile geschah nichts. Ich untersuchte den

ersten der beiden Beutel des Toten. Er enthielt eine Art

trockenes Kraut, das angenehm roch, und eine glatte,

gebrannte Tonschale. Das ließ darauf schließen, daß

diese trockenen Blätter mit heißem Wasser aufgegossen

wurden und wahrscheinlich ein Getränk ergaben.

Diese Überlegung brachte mir den Hunger wieder voll

ins Bewußtsein. Ich schnürte den Beutel wieder zu und

öffnete den zweiten. Die Götter meinten es gut mit mir.

Er enthielt gebratenes Fleisch. Rückschlüsse auf das

Tier ließen sich keine mehr ziehen. Es schmeckte

ungemein gut. Deshalb brachte ich erst einmal meinen

knurrenden Magen zur Ruhe. Es reichte bei weitem

nicht, das große Loch in mir zu füllen, aber es gab mir

Page 41: Ubali, der Panther

Kraft zurück. Außerdem ließ der Umfang des Beutels

vermuten, daß sie mit ihren Wolken keine allzu weiten

Ausflüge machten. Im Umkreis von ein, zwei Tagen

mußte es jagdbares Wild geben. Darraco würde sein

Lager nicht in einem Gebiet aufschlagen, in dem er mit

seinen Männern hungern mußte. Andererseits war ein

Tag Umkreis für Wolkenreiter eine riesige Entfernung.

Waramau hatte mich in einem halben Tag über ein

Stück Dschungel getragen, zu dessen Durchquerung

ich einen halben Mond brauchen würde.

Aber ich machte mir keine allzu großen Gedanken

darüber. Ein Dschungel wie dieser mußte einfach

etwas Eßbares bieten – wenn keine Tiere, dann

wenigstens Beeren oder Früchte.

Eine Weile war das Problem ja nun aufgeschoben.

Ich befestigte den leeren Beutel wieder am Gürtel und

richtete meine Aufmerksamkeit auf den Waldrand

rechts. Die Stimmen waren nähergekommen. Ich

vermeinte, sie jetzt aber links zu hören. Seltsam. Ich

lauschte mit angehaltenem Atem. Ja, sie kamen von

links. Ich konnte auch einige Wortfetzen verstehen. Es

ging darum, daß sie sich nicht einig waren, ob sie in

den Dschungel eindringen sollten. Einige warnten

davor. Einer meinte, der Dschungel würde die

Schwarzhaut schon schaffen, denn hier wären nur die

wenigsten wieder lebend herausgekommen, und die

wenigen besessen von Teufeln, die sich in ihre Seelen

Page 42: Ubali, der Panther

genistet hatten. Kein sehr angenehmer Ausblick. Aber

ein anderer drängte darauf, daß sie sicherlich in

Darracos Gunst steigen würden, wenn sie ihm die

Beute mitbrachten. Weit konnte der Schwarze ja noch

nicht gekommen sein. Und Verinos Tod sollte auch

nicht ohne Sühne bleiben.

Es war wohl doch besser, wenn ich tiefer im

Dschungel verschwand. Aber ich war mir nicht mehr

klar über die Richtung. Vorhin hatte ich die Stimmen

von rechts gehört, nun von links. Der Waldrand konnte

aber nur in einer Richtung liegen. Ich war sicher, daß

ich mich nicht von der Stelle bewegt, oder gedreht

hatte. Der mächtige, verwachsene Baum befand sich

noch immer in meinem Rücken, die winzige Lichtung

vor mir.

Gleich darauf vernahm ich das Brechen von Ästen,

als die Männer sich in den Dschungel arbeiteten. Es

kam von links. Dann fiel mir etwas anderes auf: Das

Buschwerk um mich war wie eine Wand –

undurchdringlich. Nicht die kleinste Öffnung zeigte

sich mehr.

Ich war eingeschlossen!

Ich unterdrückte das panische Angstgefühl. Irgend

etwas Unheimliches ging vor, und die

Bewegungslosigkeit des Laubes um mich schien mir

plötzlich wie eine Tarnung, hinter der etwas lauerte.

Auch das Laubdach über mir war näher. Ich fühlte

Page 43: Ubali, der Panther

mich mit einemmal wie in einer Falle!

Der Blütenduft war betäubend, aber nirgends in

dem Grün war eine Blüte zu erkennen. Dennoch

verschwamm mir alles vor den Augen wie im Rausch,

wie unter dem Einfluß der Kräuter, die wir in Mlmau

am Lagerfeuer rauchten.

Halbblind tastete ich mit dem Schwert um mich. Ich

mußte hier weg!

Ich schlug taumelnd die Blätter auseinander, aber

ich fand nicht die Kraft, mich durchzudrängen. Alles

war wie gelähmt.

Ein Schrei kam aus dem Dschungel, spitz und schrill

vor Grauen. Gleich darauf war es, als hielte der

Dschungel den Atem an, um zu lauschen. In der Stille

hörte ich ein mahlendes, schlürfendes Geräusch – wie

von einem riesigen Mund.

Ich bin nicht furchtsam, aber nun spürte ich, wie

sich mir die Nackenhaare aufzustellen begannen. Dann

erscholl ein zweiter, markerschütternder Schrei. Gleich

darauf aufgeregte Stimmen, darunter eine, die ein

paarmal einen Namen rief. Brechen von Ästen und

Rascheln folgte. Zweifellos hasteten die Männer zu

ihren Wolken zurück. Und ich hatte gute Lust, das

gleiche zu tun.

Plötzlich hieb ein Schwert durch die Laubwand, die

mich umgab, und einer der Männer zwängte sich

durch die Äste. Mit Entsetzen sah ich, daß alles

Page 44: Ubali, der Panther

verwachsen um mich war zu einem Käfig. Erneut fiel

mir der See ein. Die kalte Furcht drängte das

Schwindelgefühl in den Hintergrund, das sich meiner

wieder zu bemächtigen drohte.

Der Mann starrte mich an. Sein Gesicht war bleich,

aber ein Zug von Triumph belebte es, als er erkannte,

daß er mich aufgestöbert hatte. Er wollte auf mich zu.

Dabei kippte er nach vorn, aber er fiel nicht. Entsetzt

sah ich, daß seine Beine regelrecht von Schlingpflanzen

umwachsen waren. Auch seine Arme hingen bereits

halb in grünen Schlingen. Er schrie und kämpfte

verzweifelt gegen das immer dichter werdende Gewirr,

das ihn immer schneller umschlang. Hinter ihm war

eine regelrechte Wand aus Ästen. Ich nahm alles nur

undeutlich wahr. Es verschwamm vor meinen Augen.

Der Kopf des Mannes kam hoch. Seine Augen starrten

mich flehend an.

Irgendwo im Innersten war der Wunsch, ihm zu

helfen, nicht tatenlos mit anzusehen, wie die Schlingen

sich immer dichter um seinen Körper legten und

zusammenzogen. Aber es war so unendlich schwer,

den Arm zu bewegen. Die Muskeln fühlten sich an, als

wären sie aus Eisen, so starr.

Plötzlich richtete sich der Blick des Mannes auf

einen Punkt über mir, und solches Grauen verzerrte

sein Gesicht, daß ich trotz der lähmenden Starre den

Kopf hochruckte. Was ich sah, ließ mir einen

Page 45: Ubali, der Panther

Augenblick das Herz stillstehen.

Das Blätterdach hatte sich geöffnet. Ich starrte in den

riesigen Kelch einer weit geöffneten violetten Blüte,

deren betäubenden Duft ich bereits kannte. Sie

bedeckte die ganze Lichtung, und sie kam langsam

herab. Vier lange, fleischige Stiele krümmten sich herab

wie gigantische Raupen. Das Innere öffnete sich zu

einem runden, tief roten Schlund, der von Zähnen

eingesäumt schien. Es gab ein schmatzendes Geräusch.

Mit einem Aufschrei schüttelte ich die Lähmung ab.

Ich handelte noch immer ungelenk wie im Traum, aber

ich handelte. Ich stolperte auf den hilflosen Mann zu,

der gequält schrie, als sich die Schlingen fester

zuzogen. Sein Umhang riß. Blut quoll aus der Haut. Ich

brachte meinen Arm hoch und hieb in die Schlingen.

Mehrere rissen und gaben einen Teil seines Gesichtes

frei. Sie zuckten nach mir. Ich hieb erneut zu. Und

wieder, und mit jedem Hieb wurde es leichter. Der

Bann fiel immer mehr von mir ab, je wilder ich auf die

Äste und Schlingen einschlug. Einen Moment später

hatte ich den Mann frei. Er fiel zu Boden. Es war nicht

zu erkennen, ob er noch lebte. Ich konnte mich auch

nicht um ihn kümmern. Die riesige Blüte hatte mich

fast erreicht. Verzweifelt hieb ich auf das Astwerk ein.

Ein Wimmern erfüllte die Lichtung. Etwas berührte

mich heiß an der Schulter. Blind schlug ich um mich

und durchschnitt das raupenartige Gebilde, das nach

Page 46: Ubali, der Panther

mir gegriffen hatte.

Ekel erfüllte mich. Eine grüne Flüssigkeit quoll

hervor und übergoß mich. Ihre Berührung war wie Eis.

Sie verdoppelte meine Kräfte.

Die Wand vor mir riß auf. Ich taumelte durch,

wandte mich um, griff blind nach den Beinen des

Mannes und zog ihn hinter mir her. Keinen Augenblick

zu früh. Mit einem knirschenden Geräusch senkte sich

der violette Kelch auf den Boden. Die spitzen

Blütenblätter rammten sich in die Erde, als wären sie

aus Eisen. Daraus hätte es kein Entfliehen mehr

gegeben. Ein raschelndes Geräusch drang von innen

heraus, und ich konnte mir vorstellen, wie die grünen

Raupen über den Boden tasteten, um nach der Beute zu

suchen – um nach mir zu suchen. Ich schüttelte mich

und zog erschöpft die leblose Gestalt hinter mir ins

harmlos scheinende Unterholz. Schwäche war in

meinen Knien. Ich versuchte, den Mann auf meine

Schultern zu heben, aber ich schaffte es nicht, so

schleifte ich ihn am Oberkörper mit. Schließlich glaubte

ich mich weit genug weg von dieser teuflischen Gefahr.

Erschöpft sah ich mich um.

Nirgends war ein Ende des Dickichts zu erkennen.

Ich versuchte mich zu orientieren, mußte aber

erkennen, daß ich jeden Sinn für Richtung verloren

hatte.

Ich bückte mich zu dem Wolkenreiter und fühlte

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nach seinem Herzen. Es schlug ganz leicht, aber er war

nicht bei sich. Seine Verletzungen waren nicht

gefährlich. Die Haut war an mehreren Stellen

aufgerissen, aber die Knochen hatten dem Druck

standgehalten. Er würde früher oder später aufwachen.

Ich wußte nicht, ob ich darüber froh sein sollte.

Ich ließ mich neben ihm nieder, um auszuruhen. Die

Geräusche in einiger Entfernung kündeten deutlich,

daß die hungrige Blüte noch immer nach dem

verlorenen Leckerbissen suchte.

Davon abgesehen war es totenstill. Die Gefährten

des Wolkenreiters waren entweder alle tot, oder hatten

den Ausgang aus dem Dschungel gefunden. Wir hatten

diese Entscheidung noch vor uns, und ich war gar

nicht sicher, wie sie ausgehen würde.

Vorerst konnte ich nicht viel mehr tun, als warten,

bis mein unfreiwilliger Gefährte aufwachte. Es waren

nicht nur menschenfreundliche Gefühle, die mich dazu

veranlaßten. Schließlich war er ein Bewohner dieser

Welt. Und wenn einer sich hier zurechtfand, dann er.

Wenn er klug war, sah er ein, daß wir zu zweit eine

bessere Chance zu überleben hatten. Unsere

Feindschaft konnten wir ja später wieder aufnehmen,

wenn wir der gemeinsamen Gefahr entronnen waren.

Ich jedenfalls wollte nicht von seiner Seite weichen.

Aber ich war längst nicht mehr so sicher, daß ich

Waramau oder den König je wiedersehen würde.

Page 48: Ubali, der Panther

Er hatte es nicht eilig, in diese Welt zurückzukehren.

Auch der Dschungel zeigte vorerst keine weiteren

feindseligen Absichten. Vielleicht war es nur eine

Verschnaufpause, die mir gegönnt war. Ich fragte mich,

welchen Gefahren wohl König Dragon und Danila

ausgesetzt waren, und ob sie sie heil überstanden

hatten. Seine Chancen, am Leben zu bleiben, waren

nicht größer als die meinen. Es war eine grausame

Ungewißheit. Er mochte längst tot sein. Aber er hatte

Gefahren überlebt, wie sie nur wenigen Sterblichen

widerfuhren, und die nur wenigen Sterblichen

vergönnt waren, durchzustehen. Es war etwas

Magisches an ihm, etwas beinah Göttliches.

Wem sonst sollte es gegeben sein, mehr als tausend

Jahre zu schlafen und aufzuerstehen – als einem Gott?

Auch der Wolkenreiter zu meinen Füßen hatte einen

Beutel mit Fleisch bei sich. Ich nahm ihm die Hälfte ab.

Der kleine Vorrat beruhigte mich. Das Fleisch war

gesalzen. Das machte sich bereits unangenehm

bemerkbar. Ich hatte Durst. Mit einigem Glück

mochten wir eine Quelle finden. Mit etwas weniger

Glück mochten wir auch daran vorbeigehen.

Aber ich bin nicht so leicht zu entmutigen. Es hatte

alles schon schlechter ausgesehen. Und ich lebte noch!

Keinen Augenblick ließ ich die Bäume und Büsche

aus den Augen. Ich war mißtrauisch wie ein Einhorn.

Page 49: Ubali, der Panther

Alles sah friedlich aus. Es gefiel mir nicht. Denn ich

spürte die Gefahr. Sie lauerte überall um uns.

Ein paarmal schlug ich den Mann leicht ins Gesicht

und kniff ihn, für den Fall, daß er sich nur schlafend

stellte. Er war jedoch noch immer fort.

Das spärliche Licht schwand langsam. Es wurde

finster. Wahrscheinlich sah man während der Nacht

nicht einmal die Hand vor Augen. In dieser Schwärze

umherzuirren, hätte wenig Sinn gehabt.

Ich begann mich nach Brennbarem umzusehen, fand

jedoch nichts. Es gab keine dürren Äste oder welken

Blätter. Es gab keine toten Pflanzen. Alles war mit

Leben erfüllt.

So hieb ich einige grüne Äste ab. Dann nahm ich

dem Schlafenden den Umhang ab, riß mehrere Stücke

davon ab und brachte sie in kurzer Zeit zum Brennen.

Das Feuer hatte eine seltsame Wirkung. Ich hatte das

Gefühl, daß die Umgebung plötzlich weiter wurde, der

Raum um mich freier, als wiche alles vor den Flammen

zurück.

Als ich die Äste darauf werfen wollte, sah ich, daß

sie sich krümmten und wanden wie Schlangen, und

versuchten, das Buschwerk zu erreichen. Ich sprang

nach und trampelte darauf herum. Aber sie verloren

nichts von ihrer Lebendigkeit, so oft sie auch geknickt

waren.

Page 50: Ubali, der Panther

Das brennende Stück Stoff erlosch, und ich stand in

der Dunkelheit. Alles war schwarz, bis auf das leichte

Glimmen der Aschenreste.

Etwas kroch an meinen Füßen hoch und wand sich

um meine Beine. Ich stolperte zurück und fiel, als sich

einer der Äste um meine Knöchel zusammenzog.

Kaum daß ich die Erde berührte, waren sie an mir, an

Armen und Hals. Es war ein mörderisches Gefühl. Ich

wand mich und bekam den Dolch aus dem Gürtel. Mit

mehreren Schnitten befreite ich mich von den

lebendigen Fesseln und taumelte zum Lagerplatz

zurück. Hinter mir raschelten die Äste über den Boden.

Ein Lufthauch erfüllte die Lichtung, als wäre etwas

Großes in Bewegung.

Mit zitternden Fingern brachte ich ein weiteres

Stück Tuch zum Glimmen. Im Licht der ersten kleinen

Flamme sah ich jedoch, daß sich nichts verändert hatte.

Nur von einem der Bäume kroch ein Stück Liane über

den moosigen Boden. Ich war nicht sicher, ob sie schon

vorher dagewesen war. In ihrer Richtung befand sich

der Kopf meines unfreiwilligen Gefährten, und ich

ging kein Risiko ein. Ich hob seinen Oberkörper hoch

und lehnte ihn gegen mich.

Lange würden wir nicht aushalten. Der Stoff

verbrannte zu rasch. Ohne Feuer aber würden wir die

Nacht nicht überleben.

Tausend grüne Finger konnten in der Finsternis

Page 51: Ubali, der Panther

nach uns greifen. Sie sahen so wenig wie wir, aber sie

fühlten uns. Mein Herz schlug verräterisch laut in der

Stille.

Der Mann wurde wach in meinen Armen. Ich hielt

ihn ein wenig weg von mir und tastete nach seinem

Dolch und seinem Schwert im Gürtel. So würde ich

rechtzeitig sehen, ob er danach griff.

In der Tat fuhr seine Hand zum Dolch, gewahrte

dort meine. Er richtete sich stöhnend auf. »Wer bist

du?«

»Ubali«, sagte ich. »Die Schwarzhaut, auf die ihr so

scharf wart.«

Er schwieg einen Augenblick. »Du hast mir das

Leben gerettet?«

»Es ist das zweite, das mir Darraco schuldet. Bring

mich zu ihm.«

»Nichts lieber als das. Wenn du mir den Weg aus

diesem verdammten Dschungel zeigst!«

»Den hoffe ich von dir zu erfahren«, erwiderte ich.

»So sind wir verloren«, entfuhr es ihm. »Verflucht

die Stunde, da ich dir begegnet bin ...!«

»Ich war auch nicht erfreut über unsere

Begegnung«, sagte ich schroff. »Ich könnte jetzt ...«

»Was ist das?« unterbrach er mich heftig.

Ich hörte es auch, das Rascheln ganz in unserer

Nähe.

»Sie kommen wieder«, stellte ich fest.

Page 52: Ubali, der Panther

»Wer?« Furcht war in seiner Stimme.

»Die Pflanzen.« Ich griff nach einem weiteren Stück

Stoff und mühte mich ab, es zu entzünden. »Hilf mir«,

sagte ich. »Rasch. Das Zeug ist das einzige, das

brennt.«

Mit zitternden Händen machte er sich an meiner

Seite zu schaffen. Als der Stoff endlich aufglomm, und

er ihn sorgfältig zur hellen Glut blies, sah ich

erschrocken, daß der ganze Lichtungsboden von

Lianen bedeckt war, die nun halb aufgerichtet lauerten

und sich vor der Glut zurückkrümmten.

»Blasen«, rief ich, als er innehielt und starr vor

Entsetzen auf die Pflanzen stierte.

Gleich darauf brannte der Stoff.

»Wir müssen hier fort. Varins Erbarmen, wir müssen

hier fort!« stammelte er.

»Ja«, stimmte ich bei und half ihm hoch. »Aber

wohin?«

»Egal wohin.« In seiner Stimme war ein

wimmernder Klang. »Nur fort von hier. Oh, Varin, hilf

mir!«

»Ist das dein Gott?« fragte ich ihn.

»Ja, ja«, erwiderte er hastig.

»Dann hoffe ich, daß er mächtiger ist als die meisten,

die ich kenne«, stellte ich fest. »Ich habe mir

abgewöhnt, die Götter um Hilfe anzurufen. Die

meisten taugen zu nicht viel mehr als zum Fluchen.«

Page 53: Ubali, der Panther

»Es geht aus! Es geht aus ...«, jammerte er.

Rasch hielt ich den Rest des Stoffes über die

verlöschenden Flammen. Er loderte hell auf. Bevor er

mich aufhalten konnte, rannte ich unter die hastig

zurückweichenden Lianen und schleuderte ihnen den

brennenden Lappen entgegen. Sie waren nicht rasch

genug. Die Flammen leckten nach ihnen. Sie begannen

zu brennen. Wie trockenes Holz flammten sie

knackend auf. Sie wanden sich und steckten andere an.

Prasselnd breitete sich der Brand aus, griff nach den

Bäumen, hüpfte von Ast zu Ast wie ein Dämon. Die

Lichtung war hell wie am Tag und in einen wahren

Gluthauch getaucht.

Es war äußerst befriedigend zu sehen, wie diese

höllischen Pflanzen verzehrt wurden.

Der Wolkenreiter kam grinsend an meine Seite. »Ich

bin Larkin«, sagte er mit einem halben Grinsen.

Erleichterung schwang in seiner Stimme. »Sieht so aus,

als hättest du dieses Leben schon wieder gerettet.«

Ich nickte. »Ich hoffe, dieser Darraco weiß das zu

würdigen.«

»Dafür kann ich nicht garantieren«, meinte er. »Aber

ich werde es nicht vergessen.«

»Noch sind wir nicht draußen«, sagte ich warnend.

»Außerdem greift das Feuer so rasch um sich, daß uns

nicht viel Zeit bleibt. Verbrennen ist auch kein Tod

nach meinem Geschmack ...«

Page 54: Ubali, der Panther

»Besser als gefressen werden ... von Pflanzen ...!« Er

schüttelte sich.

»Dann vorwärts, Larkin«, drängte ich. »Solange wir

dieses Licht haben. Dort drüben muß die Stelle sein, an

der du mich gefunden hast, wenn mich nicht alles

täuscht. Denkst du, daß du von dort aus den Rückweg

findest?«

»Ich weiß es nicht. Aber es ist einen Versuch wert.

Warte ...« Er schüttelte den Kopf. »Das ist

eigentümlich. Ich ... das Feuer treibt von uns weg ...

genau in die andere Richtung. Das muß der Wind sein.

Um diese Jahreszeit ist der Ostwind am heftigsten. Das

muß bedeuten, daß die Steppe in dieser Richtung liegt.

Wir brauchen nur dem Feuer zu folgen.«

»Der Wind könnte umschlagen«, warf ich ein. »Ich

bin ziemlich sicher, daß wir aus der anderen Richtung

...«

»Nein. In einigen Tagen wird sich der Wind ändern,

aber jetzt ist es noch zu früh.«

»Also gut«, stimmte ich zu. »Folgen wir dem Feuer.

Es ist auch der sicherste Weg.«

Das Feuer loderte hoch auf, aber es wirkte auf mich

irgendwie kraftlos. Etwas Seltsames geschah: Statt sich

weiter auszubreiten, schien es, als würde es

eingedämmt. Tatsächlich schienen die Pflanzen so

etwas wie einen Selbstschutz auf die Beine gestellt zu

haben. Die Luft war plötzlich erfüllt von feinem Regen,

Page 55: Ubali, der Panther

der stark nach Holz roch, als käme er direkt aus dem

Herzen der Bäume.

»Sie löschen es«, rief Larkin halblaut.

Er hatte recht. Qualm stieg auf. Der Regen

verdichtete sich. In wenigen Augenblicken war das

große Feuer erstickt. Dunkelheit senkte sich herab, so

schwarz und undurchdringlich wie zuvor.

»Was jetzt?« fragte Larkin.

»Wir gehen in dieser Richtung weiter«, schlug ich

vor.

»Dann haben wir uns nach wenigen Schritten

verloren. Ich kann die Hand nicht vor den Augen

sehen. Warum bleiben wir nicht bis zum Morgen hier

auf der Lichtung. Es ist alles verbrannt und verkohlt.

Wir sind ziemlich sicher ...«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »In kurzer

Zeit ist das alles wieder überwuchert. Sie kriechen über

den Boden wie Schlangen. Wir müssen weg hier. Aber

nicht vorwärts, sondern zurück.«

»Zurück? Bist du von Sinnen? Noch tiefer in den

Dschungel?«

»Im Gegenteil. Dort hinten liegt der Weg ins Freie.

Ich bin sicher, daß wir aus dieser Richtung kamen.«

»Aber das Feuer ...«

»Was immer das Feuer in diese Richtung trieb, war

nicht der Ostwind. Bis das Feuer ausbrach, war hier

nicht der leichteste Lufthauch zu spüren. Kein Blatt hat

Page 56: Ubali, der Panther

sich bewegt. Der ganze Dschungel ist eine Falle, Larkin.

Ich hörte anfangs eure Stimmen von rechts, gleich

darauf von links, obwohl sich nichts verändert hatte.

Innerhalb kürzester Zeit hatte ich jedes Gefühl für

Richtungen verloren. Das ist kein Zufall. Das ist

Absicht ...«

»Das ist Unsinn, Schwarzer«, unterbrach er mich.

»Ich heiße Ubali«, knurrte ich.

»Gut, Ubali also. Es ist Unsinn. Diese Bäume denken

nicht. Sie sind Pflanzen, und nicht mehr, auch wenn sie

Fleisch fressen.«

»Möglich. Aber sie sind verdammt unersättlich. Bis

jetzt haben wir nicht ein einziges Tier gesehen, nicht

einmal eine Fliege. Und draußen in der Steppe war

auch alles leer. Jedes Lebewesen scheint diese

gefährliche Gegend zu meiden. Nur Narren wie wir

sehen die Gefahr nicht. Und ich könnte mir vorstellen,

daß sich der Dschungel im Laufe der Jahre auf diese

Art von Beute eingestellt hat. Jedes Lebewesen paßt

sich an oder stirbt. Das ist im Busch in meiner Heimat

Shi-but nicht anders.«

»Vielleicht hast du recht. Schw ... Ubali. Aber in

dieser Dunkelheit werden wir niemals den rechten

Weg finden. Wir sind erledigt, bevor wir auch nur ein

paar Schritte über diese Lichtung hinaus getan haben.

»Wir haben noch unsere Beinkleider ...«

»Die nicht brennen werden, weil sie naß vom Regen

Page 57: Ubali, der Panther

sind«, wandte Larkin ein.

»Wir müssen es versuchen«, sagte ich ärgerlich.

»Oder willst du lieber tatenlos verrecken?«

Das rüttelte ihn ein wenig auf. Ich hörte ihn gleich

darauf, wie er seine Beinkleider aufriß und sich

fluchend mit dem Dolch daran zu schaffen machte.

Wenig später schlug er Funken mit wenig Erfolg. Es

war unheimlich still und drückend. Jeden Augenblick

erwartete ich, daß sich etwas um meine Beine schlang,

oder um meinen Hals. Das Schwert lag klamm in

meiner Hand. Larkin hatte kein Glück mit dem Feuer.

Ich dachte an die getrockneten Kräuter in dem einen

Beutel. Sie mochten vielleicht ein guter Zunder sein,

der auch das feuchte Zeug in Brand steckte.

»Ich griff nach dem Beutel und hielt überrascht inne.

Durch das Dickicht vor uns kam ein fahles, grünes

Leuchten. Es bewegte sich. Es schien aus mehreren

hellen Punkten zu bestehen.

»Larkin«, flüsterte ich und tastete in der Finsternis

nach seiner Schulter. Er hielt inne. »Siehst du es?«

»Ja«, antwortete er. »Was mag das sein?«

»Das wissen die Götter. Wir werden es uns näher

ansehen. Jedenfalls ist es eine Art von Licht. Und wir

brauchen Licht am allernotwendigsten. Komm.«

Gleich darauf zeigte sich, daß wir gar nicht darauf

zuzugehen brauchten. Die gespenstischen Lichter

kamen direkt auf uns zu. Aber wir konnten nicht

Page 58: Ubali, der Panther

erkennen, was es war, bis es durch das Buschwerk

brach und auf die Lichtung kam.

»Menschen!« entfuhr es mir.

»Larkin gab keine Antwort. »Dank sei Varin«,

murmelte er nur.

Sie kamen hintereinander auf die Lichtung. Sie

waren zierlich und kleiner als ich, kleiner selbst als

Larkin, den ich um einen Kopf überragte. Ihre Haut

war dunkel, das konnte ich selbst in dem fahlen,

grünlichen Licht erkennen, das von fackelartigen

Holzstücken ausströmte, die sie in Händen hielten. Es

war kein Feuer, sondern ein Licht, das nicht flackerte,

nur glühte. Doch die Glut reichte aus, ihnen den Weg

zu zeigen. Nicht jeder hielt ein solches Licht in der

Hand. Viele hatten kleine Bogen mit angelegten

Pfeilen, manche Speere. Bis auf einen knappen

Lendenschurz waren sie unbekleidet.

»Die sehen nicht sehr freundlich aus«, meinte

Larkin.

Ja, den Eindruck hatte ich auch. Meine anfängliche

Freude darüber, in diesem Teufelsdschungel

menschlichen Wesen zu begegnen, legte sich rasch.

Fünf oder sechs Dutzend der Gestalten drängten sich

auf die Lichtung, die unter den Lichtern ziemlich hell

wurde. Ihre kleinen Augen musterten uns irgendwie

kalt.

»Was tun wir?« flüsterte Larkin.

Page 59: Ubali, der Panther

Ich zuckte die Achseln.

»Abwarten«, sagte ich.

»Ich würde lieber die Beine in die Hand nehmen«,

entgegnete er.

»Es sind zu viele, und sie haben den Vorteil, daß sie

sich hier auskennen. Du würdest nicht weit kommen«,

warnte ich. »Ich bin kaum einem Stamm begegnet,

dessen Krieger nicht von Furchtlosigkeit beeindruckt

gewesen wären. Laß dir lieber nicht anmerken, daß du

Angst hast. Wenn es zum Kampf kommt, bleib in

meinem

Rücken ...«

»Dazu wird es gar nicht kommen. In dem

Augenblick, in dem wir das Schwert heben, sehen wir

aus wie die Stachelschweine.«

»Ein rascher Tod«, erwiderte ich. »Er schreckt mich

nicht.«

»Mich schon. Und sie sehen uns an, als ob sie uns

schon in ihrem Kochtopf hätten.«

Da hatte er recht. Sie standen um uns herum,

schweigend, und starrten uns mit ihren glitzernden

Augen an. Irgendwie wirkten sie knorrig mit ihrer

runzeligen Haut, den faltigen Gesichtern, den dünnen

Armen und Beinen, deren Gelenke wie Knoten waren.

Nach einem Augenblick trat einer aus der Menge,

der ihr Anführer schien. Er kam furchtlos heran bis auf

eine Manneslänge Abstand und begutachtete uns wie

Page 60: Ubali, der Panther

Rindvieh auf dem Markt. Larkin empfand es wohl

ebenso, denn er trat fluchend einen Schritt auf den

Mann zu und hob wütend sein Schwert. Im nächsten

Augenblick war der Boden vor ihm gespickt mit

Pfeilen. Mit einem Aufschrei hielt er inne.

Damit schien die Lage geklärt. Ohne ein Wort

wandte sich der Anführer um und winkte einigen

seiner Leute. Sie stellten sich wie eine Eskorte auf

beiden Seiten auf. Mir lagen ein paar Fragen auf der

Zunge, aber diese Männer waren offenbar nicht sehr

für Erklärungen. Kein Wort war gefallen, seit sie auf

die Lichtung gekommen waren. Ich hatte das Gefühl,

daß ich die Antworten auf meine Fragen früh genug

selbst herausfinden würde. Und ich war sicher, daß sie

mir nicht gefallen würden.

Inzwischen war nicht viel mehr zu tun als

abzuwarten. Die Lage hatte sich immerhin verbessert.

Wir hatten Licht und Gesellschaft.

Larkins Gesicht war blaß. Ich nickte ihm beruhigend

zu. Diese weiße Haut taugte nicht viel. Sie verriet

zuviel von dem, was im Innern eines Mannes vorging.

Unsere Eskorte setzte sich in Bewegung, und wir

auch, nachdem sie uns mit den Speeren

vorwärtsdrängten.

Page 61: Ubali, der Panther

5.

Der Dschungel sah seltsam verzaubert aus im

Schimmer des fahlen Lichtes. Man konnte nur einen

kleinen Umkreis erkennen. Knorrige Äste wirkten wir

Arme, wie Gesichter, Beine und verwachsene Leiber –

mitten in der Bewegung erstarrt, als hätte der

Lichtschein sie ertappt bei einer mörderischen Tat. Ich

konnte mich eines Schauderns nicht erwehren, und

Larkin empfand es wohl ebenso, denn er ging leicht

gebückt vor mir her, so als suchte er in seiner Eskorte

Schutz. Im Augenblick war ich ebenfalls dankbar für

unsere Begleitung. Lange hätten wir allein in dieser

Dunkelheit nicht überlebt.

Es war ein langer Weg, mit einer leuchtenden

Karawane vor uns und einer ebenso langen hinter uns.

Die Männer schienen keine Angst zu haben.

Mehrmals machten wir Umwege um mächtige

Stämme, kleine Lichtungen und eine kleine

Wasserstelle. Der Durst machte sich bei ihrem Anblick

wieder bemerkbar. Einer der Krieger aus nächster

Nähe deutete meine Lippenbewegung offenbar richtig,

denn er bückte sich nach etwas auf dem Boden und

warf es in den Teich. Voller Grauen sah ich, wie die

spiegelnde Oberfläche sich auflöste wie unter einem

Page 62: Ubali, der Panther

starken Regenschauer, aufschäumte, und zu tausend

spitzen funkelnden messerartigen Blättern wurde, die

über dem Gegenstand zusammenschnappten, den der

Mann geworfen hatte.

Ein scharfes, schabendes Geräusch erklang, das mir

eine Todeskälte den Rücken hinabjagte.

»Varin, Erbarmen!« flüsterte Larkin vor mir.

Und mir war der Durst vergangen.

Endlich schienen wir am Ziel angelangt zu sein,

obwohl in meinen Augen bereits ein Flecken dieses

Urwaldes wie der andere aussah. Vor uns befand sich

ein gewaltiger Baum. Drei Dutzend der Krieger hätten

ihn nicht mit ihren Armen umspannen können. Von

seiner Rinde war nichts zu sehen. Sie war umwuchert

von Schlingpflanzen.

Die ersten Krieger begannen an ihm hochzuklettern.

Sie benutzten ganz bestimmte Stellen, auf denen sie

kletterten. Es sah von unten aus wie unsichtbare

Stufen. Sie hielten sich auch kaum fest, während sie

hochstiegen.

Als wir an die Reihe kamen, entdeckte ich, daß

gleichmäßige Streben wie die einer Leiter aus dem

Baum ragten, an denen man wie auf Stufen

hochklettern konnte. Die Krieger besaßen eine

unglaubliche Gewandtheit. Ich selbst mußte mich

ständig an den Lianen festhalten, und Larkin erging es

nicht anders. Auch erfaßte mich bald ein

Page 63: Ubali, der Panther

Schwindelgefühl, wie ich es selbst auf Waramaus

Rücken nicht verspürt hatte. Vielleicht lag es an der

Schwärze unter mir, und daß ich wußte, welch tödliche

Gefahren da unten lauerten.

Die gewundene Schlange der grünen Lichter

verschwand über mir im Laubdach. Ein Ende unserer

Kletterei war nicht abzusehen. Larkin stapfte keuchend

voran, und auch ich fühlte, wie meine Kräfte

schwanden.

Aber es gab kein Einhalten. Die Krieger hinter uns

stießen uns mit ihren Lanzen vorwärts. Vom Boden

war bald nichts mehr zu sehen. Die scheinbar

bodenlose Schwärze wich dem Grün eines

vielschichtigen Laubgewirrs, das uns fast wie ein Raum

in einer Hütte umgab und ein Gefühl der Behaglichkeit

vermittelte. Die unsichtbare Drohung, die bei jedem

Schritt auf mir gelastet hatte, schwand immer mehr. Ich

fühlte mich frei und sicher.

Nur müde.

Der Aufstieg nahm wahrhaftig kein Ende, nur

gewann ich nach einer Weile den Eindruck, daß der

Stamm des Baumes merklich dünner wurde und freier

von Lianen. Da und dort sah man die dunkle Rinde.

Einmal gab es eine Pause. Vor uns, scheinbar auf

Plattformen, die auf Ästen errichtet worden waren,

standen viele der Krieger mit ihren Lichtern. Was

geschah, war nicht zu erkennen. Niemand sprach ein

Page 64: Ubali, der Panther

Wort. Es war, als ob sie überhaupt nicht sprechen

könnten. Als ob sie stumm wären. Auch Geräusche gab

es keine, die etwas über die Vorgänge hätten aussagen

können. Nur als ich erschöpft meinen Kopf gegen die

Rinde preßte, war es mir, als hörte ich einen

langgezogenen, menschlichen Schrei, der nach unten

hin verklang.

So als käme er aus dem Innern des Baumes.

Dann ging es weiter. Sie zerrten Larkin hoch, der

sich wütend gegen die zudringlichen Arme wehrte.

Mich stießen die Lanzen wieder in die Kehrseite, was

mich auch zunehmend mehr mit Ärger erfüllte. Sie

hatten uns die Waffen seltsamerweise nicht

abgenommen, und der Drang, nach dem Schwert zu

greifen und diese knorrigen Kerle vom Baum zu fegen,

war manchmal übermächtig. Wohl auch in Larkin,

denn ich sah ihn manchmal nach dem Knauf greifen.

Ich fragte mich ernsthaft, wie groß unsere Chancen

waren, wenn wir es zum Kampf kommen ließen. Etwa

zwei Dutzend Krieger befanden sich unter uns. Zu

viele. Außerdem waren sie wesentlich gewandter, und

wie gut ihre Bogen waren, davon hatten sie uns ja

bereits eine Kostprobe gegeben.

Andererseits erschien mir unsere Lage ziemlich

aussichtslos, wenn wir erst in der Krone dieses Baumes

angekommen waren. Es machte eine Flucht beinahe

unmöglich. Sie konnten uns jederzeit mit Leichtigkeit

Page 65: Ubali, der Panther

einholen.

Wir erreichten die Stelle, an der es den Aufenthalt

gegeben hatte. Es waren keine richtigen Plattformen,

sondern eine so starke Umwucherung der Äste mit

rankenartigen Pflanzen, daß sich zwischen den Ästen

ein fester Boden gebildet hatte. Niemand befand sich

mehr hier, und unsere Eskorte kletterte weiter hinauf.

Die Götter mochten wissen, wieviele Stunden wir hier

hochsteigen mußten, bis dieser Baum ein Ende hatte.

Knapp über der natürlichen Plattform sah ich eine

große dunkle Öffnung in der Rinde. Ein ekelhafter

Geruch strömte daraus hervor, und ich war froh, als

wir es hinter uns ließen. Ich merkte mir die Stelle

jedoch. Sie mochte ein guter Schlupfwinkel für eine

Flucht sein. In diesem Gestank würde niemand nach

uns suchen.

Einen augenblicklichen Fluchtgedanken gab ich

jedoch auf, denn dieses mehr oder weniger bequeme

Hochsteigen hatte auch noch einen Vorteil. Wenn der

Tag anbrach, mußten wir aus dem Wipfel des Baumes

sicherlich des Ende des Dschungels und die Prärie

sehen können. Wenn nicht von diesem Vater aller

Bäume, dann wohl von keinem anderen. Ich war ganz

zufrieden bei dem Gedanken. Die Götter hatten es

nicht so unübel mit uns gemeint. Wir hätten ein

Dutzend Bäume unter allergrößten Schwierigkeiten

besteigen können, ohne Gewähr, daß wir auch wirklich

Page 66: Ubali, der Panther

über die anderen hinwegsahen.

Hier hingegen schien es mir ziemlich sicher. Also

aufwärts – und wenn dort nichts anderes war als das

Ende der Welt!

Ich hatte auch den Eindruck, daß es bereits ein

wenig heller geworden war, obwohl der grüne

Lichtschimmer noch immer einen geschlossenen Raum

aus Laub ausleuchtete.

Es war schwer abzuschätzen, wie hoch wir uns

bereits befanden. Dreißig oder vierzig Manneslängen

vielleicht. Wir hatten den mächtigen Stamm ein gutes

Dutzend mal umrundet. Er war nun bereits recht dünn

geworden – wenigstens im Vergleich zu unten, denn

noch immer bedurfte es wenigstens eines halben

Dutzends, um ihn zu umspannen.

Wieder tauchte eine dicht umwucherte Schicht von

Ästen auf, auf der man bequem stehen konnte, und

diesmal schien das Ziel erreicht. Ein wenig war ich

enttäuscht, denn noch immer bot das Grün ringsum

keinen Ausblick in die Welt dahinter, auf den

Sternenhimmel. Nichts wäre mir in diesem Augenblick

lieber gewesen, als einen Stern zu sehen.

Larkin sank erschöpft vor mir nieder. Ich lehnte

mich keuchend gegen den Stamm. Erst jetzt bemerkte

ich, daß die Plattformen weit auf die Äste

hinausreichten, und daß darauf runde Gebilde standen,

die in dem fahlen Licht wie Hütten aussahen, die

Page 67: Ubali, der Panther

jemand aus Ästen und Laub errichtet hatte. Auch

Gestalten waren zu erkennen.

Die Lanzenspitzen trieben uns vorwärts, auf die

Hütten zu.

Der Boden war nachgiebig und federnd. Ich hatte

Mühe, mich aufrecht zu halten. Larkin torkelte vor mir

her. Nach ein paar Schritten sah ich mich um, als das

Licht immer düsterer wurde. Unsere Eskorte war

zurückgeblieben und starrte uns nach. Einige der

Männer winkten drohend mit den Speeren und warfen

sie, als ich innehalten wollte.

Es waren verdammt gute Würfe. Kurz vor unseren

Füßen bohrten sich die Speere schwankend in die Äste.

Einer verschwand in den Lianen zwischen meinen

Füßen. Ich griff danach und faßte den hölzernen Schaft,

bevor er ins Bodenlose verschwinden konnte. Rasch

drehte ich mich herum und stieß Larkin vorwärts,

einesteils, um den Speer zu verbergen, den ich erbeutet

hatte, andererseits, um weiteren Würfen zu entgehen.

Man wollte offenbar, daß wir uns zu den Hütten

begaben. Die Gestalten, die uns dort erwarteten, waren

unbewaffnet, soweit ich das erkennen konnte.

Sie hatten auch keine Lichter. Konnte es sein, daß sie

Gefangene waren wie wir?

»Vorwärts«, drängte ich Larkin.

»Es gefällt mir nicht«, keuchte er. »Wer sind die da

vorn?«

Page 68: Ubali, der Panther

»Das werden wir gleich wissen.« Ich warf einen

erneuten Blick zurück. Sie standen noch immer um den

Stamm und warteten. Ich fragte mich, wie weit sie ihre

Speere werfen konnten.

In der Stille vernahm ich einen Ton, den ich am

wenigsten erwartet hätte.

Das Schreien eines Säuglings.

6.

»Die wollten uns wohl zu unserem Glück zwingen«,

meinte Larkin.

»Es hat den Anschein«, stimmte ich zu. »Dein Varin

scheint es tatsächlich recht gut mit uns zu meinen. Das

ist der erste menschliche Laut, den ich in dieser Nacht

höre, wenn ich von deiner Gesellschaft absehe.«

Zwei der Gestalten kamen uns entgegen. Sie waren

ziemlich klein. Als sie heran waren, erkannten wir, daß

die eine ein junger Mann war, fast ein Knabe. Die

andere war ein Mädchen, ebenfalls fast noch ein Kind.

Beide waren vollkommen nackt und trugen langes

Haar, das über die Körpermitte hing. Das Mädchen

Page 69: Ubali, der Panther

trug ein Kind, das nicht mehr lange bei ihr sein würde,

dem stark geschwollenen Leib nach zu schließen.

Sie sahen uns neugierig an. Furcht war in ihren

Augen und eine Mutlosigkeit in ihren Zügen, wie ich

sie oft bei Sklaven gesehen hatte. Sie sprachen nichts.

Larkin sagte völlig überflüssigerweise: »Wohnt ihr

hier? Ist das euer Lager?« Er deutete auf die Hütten.

Sie antworteten ihm nicht. Sie hatten nur Augen für

mich. Es kam mir in den Sinn, daß sie vielleicht noch

nie einen schwarzhäutigen Menschen gesehen hatten.

Sie mußten hier völlig abgeschieden leben, wie viele

der Stämme meiner Heimat und tief im Süden des

Landes.

Vielleicht war es die Furcht in ihren Augen, die mich

bewog, vielleicht auch nur ein unbewußtes Mitleid, das

ich selbst nicht verstand – ich streckte den beiden

meine Hände entgegen und lächelte.

Sie wichen ein wenig zurück, aber dann schwand

die Furcht aus ihren Augen. Sie versuchten mein

Lächeln zu erwidern, aber es war, als hätten sie noch

nie gelächelt.

Dann griffen sie zögernd nach meinen Händen,

vorsichtig, berührten sie und faßten sie nach einem

Augenblick mit festem Griff.

Larkin hob den Speer auf, den ich neben mich auf

den Boden gelegt hatte, und die beiden wichen

erschrocken zurück.

Page 70: Ubali, der Panther

»Habt keine Angst«, sagte ich rasch, ungewiß, ob sie

mich verstanden.

Jedenfalls verstanden sie den beruhigenden Tonfall

meiner Stimme.

»Er ist ein Freund. Larkin.« Ich deutete auf ihn. »Ich

bin Ubali.«

»Larkin«, wiederholte der Junge.

»Ubali«, sagte das Mädchen.

Sie sahen einander an und nickten. Dann wandten

sie sich um und gingen ein paar Schritte auf die Hütten

zu. Sie blickten zurück, ob wir ihnen folgten, was wir

auch taten. Ich warf meinerseits einen Blick zurück

zum Stamm, wo noch immer die Krieger standen,

reglos, wie kleine Statuen.

»Vorwärts, Ubali«, drängte Larkin.

»Ich will diese Kerle nicht mehr sehen. Es kribbelt

mich bei ihrem Anblick. Mit denen stimmt etwas nicht.

Haben sie dich angefaßt?«

»Nein«, entgegnete ich.

»Ihr Griff ist hart wie diese verdammten Lianen, aus

denen du mich befreit hast. Die sind nicht aus Fleisch

und Blut wie wir ...«

»Bestimmt irrst du dich«, widersprach ich.

»Sollte mir recht sein«, murmelte er. »Varins Blut,

ich bin müde. Darraco wird mir niemals glauben, was

ich hier gesehen habe.«

»Du hast einen guten Zeugen«, sagte ich.

Page 71: Ubali, der Panther

»Du kommst wahrhaftig mit?« Er schüttelte mutlos

den Kopf. »Es sieht allerdings so aus, als sollten wir

unser Leben auf diesem Baum beschließen. Eine

kümmerliche Aussicht.« Mit einem halben Grinsen

fügte er hinzu: »Obwohl mir die Kleine gefällt ...«

Die beiden deuteten auf eine Hütte, vor der sich

bereits eine ganze Schar angesammelt hatte. Auf einen

Blick sah ich, daß sie alle sehr jung waren, nicht viel

mehr als Kinder. Die meisten der Mädchen waren

schwanger. Auch ihre Gesichter waren erfüllt von

Neugier und einer tiefen Furcht, die ein Teil ihres

Wesens zu sein schien. Ihre Haut war weiß, ihre Gestalt

zierlich – die der Knaben ebenso wie die der Mädchen.

Wir traten in die Hütte. Drinnen befand sich nichts

außer einer dichten Laubschicht, die als Lager diente.

»Wenn ich das hier sehe, habe ich nur noch einen

Wunsch, zu schlafen«, murmelte Larkin. Er ließ sich in

das Laub sinken und schlief im nächsten Augenblick.

Ich beneidete ihn darum. Die Müdigkeit brannte mir

in den Augen, aber der Gedanke an Schlaf erfüllte mich

mit Schrecken.

Draußen war alles still und dunkel. Ich starrte aus

dem Eingang. Unsere Eskorte war mit ihren Lichtern

verschwunden. Es war gleichmäßig dunkel innerhalb

und außerhalb der Hütte. Ob die versammelte Schar

noch draußen stand, konnte ich nicht erkennen.

Jemand berührte mich sanft und drängte sich an mir

Page 72: Ubali, der Panther

vorbei, gefolgt von einem zweiten. Mit einem Seufzen

sanken sie in das Laub und schliefen einen Augenblick

später, wie ihre gleichmäßigen Atemzüge verrieten.

Das mußten der Junge und das Mädchen sein.

Und was blieb mir nun übrig, als das zu tun, wovor

ich mich gefürchtet hatte. Aber alle schliefen, und das

war nicht verwunderlich. In dieser Schwärze konnte

man gar nichts anderes tun als schlafen.

Ich fragte mich, wie der Tag hier oben aussehen

mochte. Eine müßige Frage, denn ich würde ihn ja

erleben.

So rastlos ich war, es gab nichts mehr, das ich hätte

unternehmen können. Jeder Schritt vor der Hütte

mochte ein trügerischer Schritt in den Abgrund sein.

Also ließ ich mich ebenfalls nieder und streckte mich

zwischen den dreien aus. Ihr gleichmäßiges Atmen war

beruhigend. Es war, als ob ich in meiner Hütte läge mit

meinem Vater und seinen beiden Frauen. Alte

Erinnerungen tauchten auf, während ich trotz aller

Unruhe dem Schlaf nachgab.

Doch irgend etwas hielt mich wach, etwas, das mich

immer wieder an Larkins Bemerkung erinnerte: »Die

sind nicht aus Fleisch und Blut wie wir ...«

Der Satz geisterte durch meinen Kopf. Er war wie

eine Tür, hinter der sich ein Geheimnis verbarg. Ich

brauchte sie nur auf zustoßen.

Und plötzlich wußte ich es: das Atmen! Dieses

Page 73: Ubali, der Panther

beruhigende Atmen war der Schlüssel!

Die ganze Zeit über war es mir nicht aufgefallen.

Während Larkin und ich uns keuchend an dem Baum

emporarbeiteten, hatten sie nicht einen Atemzug getan!

Aber selbst mit diesem erschreckenden Gedanken

schlief ich schließlich ein.

Als ich aufwachte, war das Lager neben mir leer. Die

Bewohner der Hütte waren verschwunden, nur Larkin

lag schnarchend am anderen Ende.

Ich brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden.

Dann stemmte ich mich überrascht hoch. Ein

dämmriges Licht fiel in die Hütte. Es mußte Morgen

sein. Oder Tag.

Im Eingang stand ein Mädchen und starrte mich

neugierig an. Sie hatte ein ernstes Gesicht, über dem

der gleiche Schatten der Furcht lag, wie über den

anderen Baumbewohnern, so als würden sie bereits

damit geboren.

Ich versuchte ihr zuzulächeln, aber es wurde mehr

ein Grinsen, und mein entblößtes Gebiß erschreckte sie

wohl, weil sie erwartet hatte, daß meine Zähne ebenso

schwarz wie meine Haut wären. Sie verschwand rasch.

Nachdenklich starrte ich in das dämmrige Grün

hinaus. Das Bild wäre friedlich gewesen ohne diese

Page 74: Ubali, der Panther

Furcht in ihren Augen.

Ich weckte Larkin mit einem unsanften Stoß. »He,

Larkin! Wach auf!«

Als er mit einem Fluch hochfuhr, der wieder einmal

mit seinem Varin zu tun hatte, stand ich auf und trat

aus der Hütte. Ein halbes Hundert Menschen saß auf

den weiten Plattformen herum, darunter eine Menge

Kinder verschiedenen Alters. Nirgends sah ich Alte.

Keiner schien mir älter als fünfzehn, sechzehn Sommer.

Ich nickte grüßend, sie sahen mich an, die meisten

von ihnen neugierig, einige der Mädchen verlangend,

daß mir das Blut in den Kopf stieg.

Das schwangere Mädchen aus der Hütte kam zu

mir, nahm mich an der Hand und führte mich an eine

Stelle der Plattform, auf der verschiedene Früchte

lagen. Keine von ihnen hatte ich je zuvor gesehen.

Sie nahm eine große, violette Frucht, die mich

unangenehm an mein Erlebnis mit der violetten Blüte

erinnerte. Sie brach sie, nahm einen großen Kern

heraus, den sie fortwarf, und reichte mir den

fleischigen Rest.

Ich versuchte zögernd, aber sie schmeckte wirklich

gut und war saftig genug, um auch den Durst zu

stillen. Ich aß zwei davon, dann war ich ordentlich satt.

Das Mädchen setzte sich neben mich und sah mir

zu. Ein paarmal berührte sie meine Haut, ermutigt, als

ich sie nicht abwehrte. Als ich fertig war mit dem

Page 75: Ubali, der Panther

Essen, nahm sie meine Hände und drückte sie auf ihre

kleinen Brüste. Dann, bevor ich mich von meinem

Erstaunen erholt hatte, denn einen ähnlichen Brauch

gab es auch in meiner Heimat, ließ sie mich los und

schritt auf das ferne Ende der Plattform zu. Sie winkte

mir, ihr zu folgen.

Ich erhob mich schließlich und folgte ihr mit

gemischten Gefühlen. Die Männer Shi-buts lagen nicht

mit ihren Frauen, wenn sie Ungeborene trugen.

Andererseits kannte ich hier die Bräuche nicht, und

Bräuche waren für jeden Stamm etwas Heiliges. Auch

wäre es unklug gewesen, die Gefühle meiner

Gastgeberin zu verletzen. Und ich würde lügen, wenn

ich sagte, daß ich nicht bereit dazu gewesen wäre, das

Verlangte zu geben.

Auch Larkin erlitt ein ähnlich erfreuliches Schicksal,

dem er sich bereitwillig genug ergab. Danach schienen

wir beide in den Stamm aufgenommen. Die Scheu war

verschwunden.

Ich versuchte mit ihnen zu sprechen, doch ohne viel

Erfolg. Mein Fragenschwall ermutigte sie zu ein paar

Worten, die ich nicht verstand, und die offenbar den

Großteil ihres Sprachschatzes ausmachten.

Sie bewunderten alles, was wir bei uns hatten und

reichten es aufgeregt von Hand zu Hand, besonders

die Dolche und Schwerter. Ich gab ihnen Verinos

Gürtel, an dem sie das Innerste nach außen kehrten,

Page 76: Ubali, der Panther

behielt aber meinen um, da es mir zu gefährlich schien,

ihnen die Beutel mit Feuerstein und dergleichen zu

überlassen.

»Verinos Gürtel?« fragte Larkin unvermittelt. Sein

Gesicht verdüsterte sich.

Ich nickte.

Er grinste plötzlich. »Er war nie ein guter Kämpfer.

Hatte das Maul immer weit offen ...«

»Du irrst«, erwiderte ich. »Er war verdammt flink,

und er hätte mich beinahe erledigt.«

Das Baumvolk lauschte unseren Worten

verwundert. Noch nie hatte wohl jemand in ihrer Mitte

ein so langes Gespräch geführt.

Es schien auch völlig überflüssig, daß sie sprachen.

Worüber auch? Sie saßen oder lagen herum, gaben sich

der Leidenschaft ihrer Sinne hin, oder aßen. Sie spielten

nicht. Irgendwie schien nichts aus ihnen selbst zu

kommen, obwohl sie diese Neugier besaßen, uns, den

Fremden gegenüber.

Ich sah mich die ganze Zeit über gründlich um. Von

unseren Entführern war nichts zu sehen. Das Laubdach

besaß nirgends eine Öffnung. Die Plattformen

erstreckten sich gute zwanzig Manneslängen in allen

Richtungen. Dahinter verloren sich die starken Äste,

die unter dem Gewicht der Bewohner kaum erzitterten,

in der undurchdringlichen Wand aus Laub.

Ich gab Larkin ein Zeichen und sagte ihm, daß ich

Page 77: Ubali, der Panther

mich umsehen wollte, und daß er die Gesellschaft bei

Laune halten sollte. Unbemerkt setzte ich mich bald

darauf ab, nachdem ich vorgegeben hatte, etwas für

mein leibliches Wohl zu tun, was die Bewohner an

einer bestimmten Stelle in der Nähe des Stammes

erledigten, wo das Ganze in großen Hohlräumen in

den Ästen verschwand.

Vorsichtig starrte ich dabei um mich durch

halbgeschlossene Augen. Aber auch hier, in der Nähe

des Stammes war nichts von den Bewachern zu sehen.

Vielleicht waren sie verschwunden? Vielleicht

waren wir gar nicht gefangen? Und sie hatten uns nur

hierhergebracht, damit wir sicher waren vor den

Gefahren am Waldboden, und weil sie uns für

verwandt mit diesem Baumvolk hielten.

Es gab ein paar Möglichkeiten, es herauszufinden.

Zuerst einmal der Weg nach oben. Ich hoffte, daß auch

weiter hinauf noch Stufen führten, denn den weiten

Abstand zwischen den Ästen zu überbrücken war

selbst einem guten Kletterer wie mir unmöglich.

Ich schritt um den Baum herum und fand die

Sprossen dieser gewaltigen Baumleiter. Sie führten

hinauf.

Und sie führten hinab. Dies war nur ein Stockwerk.

Vielleicht eines von vielen. Und der Weg nach oben

und nach unten war offen. Einen Moment überlegte

ich, ob ich nicht gleich Larkin mitnehmen sollte, statt

Page 78: Ubali, der Panther

mich allein auf dieses Wagnis einzulassen. Vier Augen

sahen eine Gefahr rascher als zwei.

Aber der Augenblick mochte nie wieder so günstig

sein. Ich begann die Stufen hochzusteigen.

Eine Stimme ließ mich herumfahren.

»Ubali.«

Der Junge, der die Hütte mit dem schwangeren

Mädchen teilte, stand vor mir. Er sah mich angstvoll

an. Mein erster Gedanke war, daß er mich wohl zum

Kampf aufforderte, weil ich mit seinem Mädchen

zusammengewesen war. Aber nichts dergleichen. Er

deutete auf die Stufen und schüttelte den Kopf. Es war

keine Drohung, nur Furcht in seinem Gesicht zu lesen.

»Was willst du mir sagen?« fragte ich ihn.

Er deutete erneut auf die Stufen. Wieder schüttelte

er furchterfüllt den Kopf.

Er wollte mich warnen.

»Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte ich in

beruhigendem Ton. »Ich muß trotzdem gehen.«

Er verstand mich nicht, aber er war erfreut, daß ich

mit ihm sprach. Er ergriff mich am Arm und sagte

erneut: »Ubali.« Dann deutete er auf seine Brust und

sagte etwas, das wie Moao klang.

Es war wohl sein Name, und ich bemühte mich

redlich, ihn so wiederzugeben, wie er ihn gesagt hatte:

»Moao.«

Er nickte heftig. Dann winkte er mir, ihm zurück zu

Page 79: Ubali, der Panther

den Hütten zu folgen.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nach oben

steigen, Moao«, erklärte ich. »Vielleicht verstehst du es

nicht, aber ich muß einen Weg hinaus finden. Ich kann

nicht hierbleiben, auch wenn mir dein schönes

Mädchen gefällt.« Während ich ihm das erklärte, nahm

ich meinen Gürtel ab und hing ihn quer über meinen

Oberkörper, damit mir das Schwert nicht hinderlich

beim Klettern war. Ich wollte mich nicht davon

trennen.

Dann winkte ich dem Jungen zu und begann

hochzusteigen. Einen Augenblick später war er aus

meinem Blickfeld verschwunden.

Ich stieg rasch voran, und bald sah ich das Baumdorf

unter mir. Larkin sah ich inmitten der Bewohner sitzen.

Sie hörten ihm offenbar zu. Moao konnte ich nirgends

entdecken. Zurückgelaufen war er wohl doch noch

nicht, sonst wären aller Gesichter zu mir hochgerichtet

gewesen. Doch da unten war alles friedlich.

Und über mir sah es weniger friedlich aus.

Es war ein verwirrendes Gefühl, hinunterzublicken.

Es schien ein weiches Laubbett, das den Stamm

vollkommen umgab. Es vermittelte den Eindruck, daß

es ein herrliches Gefühl wäre, einfach hineinzufallen.

Allein der Verstand warnte davor, er ließ sich nicht von

solchen Gefühlen täuschen. Es würde ein endloser Fall

Page 80: Ubali, der Panther

sein, bei dem der Körper bis zur Unkenntlichkeit

zerschmettert wurde. Dennoch blieb die Lockung,

Niemand hielt mich auf, und langsam hatte ich den

Eindruck, daß es heller um mich wurde, als würde das

Laubdach dünner. Der Himmel mußte hinter jenen

Blättern sichtbar sein, Ein Aufschrei ließ mich

herumfahren. Er kam ganz aus meiner Nähe. Ich

konnte nichts sehen, aber gleich darauf tauchte ein

weißer Arm um die Krümmung des Stammes und

suchte verzweifelt Halt. Mit einem neuen

Entsetzensschrei hastete Moao die Stufen hoch, gefolgt

von einem der Baumkrieger, der mit der Lanze zum

tödlichen Stoß ausholte.

Es blieb keine Zeit zu überlegen. Ich hatte meinen

Dolch in der Faust und warf ihn. Der Speerstoß ging

ins Leere. Der Mann verlor den Halt und stürzte in die

Tiefe. Mehrmals hörten wir ein knirschendes Geräusch,

wenn der Körper auf Äste prallte. Dann hatte ihn die

Tiefe verschlungen.

Moao starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen

nach, während ich mich umsah, ob der Angreifer der

einzige gewesen war. Ich konnte aber keinen weiteren

entdecken. Möglicherweise war es ein Wachtposten

gewesen. Ich mußte vorsichtiger sein. Weiter oben

mochten noch andere lauern.

Dann zog ich den vor Entsetzen gelähmten Jungen

zu mir hoch und redete beruhigend auf ihn ein. Ich war

Page 81: Ubali, der Panther

alles andere als erfreut darüber, daß er mir gefolgt war,

aber ich konnte ihn nicht allein zurückschicken. Er

wäre eine zu leichte Beute für sie gewesen. Dieses

Baumvolk schien vollkommen unkriegerisch, und ich

wunderte mich immer mehr, wie das Zusammenleben

mit dem anderen kriegerischen Stamm vor sich ging.

Es mußte sicherlich eine sehr tapfere Tat für Moao

gewesen sein, mir zu folgen, ein Entschluß, den ich

keinem zugetraut hätte, so tatenlos und furchterfüllt,

wie sie herumgelegen hatten.

Moao beruhigte sich zusehends. Seine Starre löste

sich. Er sah mich dankbar an, aber auch wie einen, der

nicht mehr lange zu leben hatte. Daß ich den Krieger

getötet hatte, war wohl ein ungeheures Verbrechen in

seinen Augen.

Plötzlich nahm er meine Hand, legte sie auf seinen

Kopf, den er demütig senkte. Dabei sagte er ein neues

Wort, das aber nicht viel anders klang als Moao. Aber

ich verstand ihn trotzdem. Er wollte mir sagen, daß

sein Leben nun mir gehörte, so wie ich meines für ihn

riskiert hatte.

Nun, wir waren beide noch recht lebendig, und

wenn es nach mir ging, würden wir das auch bleiben.

Moaos Gesellschaft war mir jetzt ganz recht. Er wußte

wahrscheinlich, wo Gefahr lauerte.

»Vorwärts«, sagte ich. Das verstand er. Ich ließ ihn

an mir vorbei und folgte ihm.

Page 82: Ubali, der Panther

Eine Weile kletterten wir ohne Zwischenfall.

Plötzlich öffnete sich das Laubdach über uns. Es war

nur eine kleine Lücke, aber es gab nichts, das ich lieber

gesehen hätte. Und auch Moao starrte aufgeregt in das

dunkle Blau. Ich fragte mich, ob er in seinem Leben

überhaupt schon Farben außer grün und braun

gesehen hatte.

Wir arbeiteten uns rascher voran mit dem Ziel so

greifbar vor Augen.

Die Sprossen hörten mit einemmal auf, und das

Weiterklettern war mühevoll. Doch die Äste waren

nun nah genug beisammen, daß man sich von einem

zum anderen ziehen konnte. Immer mehr öffnete sich

das Laub über uns. Es gab keinen Zweifel mehr, wir

hatten die Krone erreicht. Ah, ihr Götter, dieser

Himmel war ein beseligender Anblick!

Schließlich erreichten wir einen Punkt, von dem aus

man das Dschungeldach überblicken konnte. Und vor

uns, greifbar nahe, war die baumlose Steppe. Moao

beobachtete sie mit glänzenden Augen.

Ich glaubte weiße Punkte über dem Dschungelrand

zu sehen. Drei an der Zahl. Vielleicht waren es die

Wolken, unter ihnen Waramau. Es mochte wohl sein,

daß sie auf Larkin warteten. Vielleicht auch auf mich.

Es war teuflisch, Waramau so nahe zu sehen und sie

nicht erreichen zu können.

Ich versuchte mich zu orientieren. Ich hatte

Page 83: Ubali, der Panther

mitgezählt. Wir hatten den Stamm ein Dutzend und ein

halbes mal umrundet, bevor wir an den Ästen

hochkletterten. Das bedeutete, daß das Baumdorf

östlich des Stammes lag. Aber es war unmöglich,

daraus Schlüsse zu ziehen, so wie es in diesem grünen

Käfig unmöglich war, eine Richtung zu bestimmen. Bis

wir am Boden anlangten, waren wir so verloren wie

zuvor.

Es gab keine Möglichkeit, diese Richtung im Auge

zu behalten.

Mutlos lehnte ich mich an den Stamm. Die Kletterei

war umsonst gewesen. Wir waren so verloren wie

zuvor. Wir wußten nur, daß die rettende Steppe zum

Greifen nahe war.

Der Abstieg war schwieriger, der stete Blick nach

unten schwindelerregend. Wie von Sinnen spürte ich

manchmal das Verlangen, loszulassen,

hineinzuspringen in dieses grüne Bett. Krampfhaft

hielt ich mich fest.

Dann wurden wir noch auf etwas aufmerksam, das

wir beim Aufstieg offenbar übersehen hatten. Moao rief

plötzlich: »Ubali!« Dabei deutete er auf die Äste über

uns. Sein Gesicht war angstverzerrt.

Und auch meiner bemächtigte sich ein leises Grauen

bei dem Anblick.

Dutzende von menschenähnlichen Gestalten hingen

an den Ästen wie Früchte. Ihre Knie waren an den Leib

Page 84: Ubali, der Panther

gepreßt, der Rücken leicht gekrümmt, so daß der Kopf

auf den Knien ruhte. Die Arme hingen ausgestreckt an

den Ästen.

Was aber am gespenstischsten aussah, waren die

Speere, die sie zwischen die Schenkel geklemmt hatten,

und die Bogen, die um ihre Schultern hingen mit dem

gefüllten Köcher.

Sie schienen zu schlafen.

Aber ich hatte das drohende Gefühl, daß sie jeden

Augenblick die Augen öffnen würden, um uns

anzusehen. Es war ein grauenvoller Gedanke.

Ich preßte den Finger warnend an die Lippen und

hoffte, daß Moao diese Geste verstand. Das tat er

sichtlich, denn er nickte mit weißem Gesicht. Vorsichtig

kletterten wir weiter und brachten den Stamm

zwischen uns und diese hängenden Gestalten. Doch

auch hier waren die Äste voll von ihnen. Einer hing so

nah, daß ich ihn mit dem Schwert hätte erreichen

können. Wie hatten wir sie nur vorhin übersehen?

Ich betrachtete die Gestalt genau, während ich so

lautlos wie möglich daran vorbeikletterte.

Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Hände

nicht um den Ast geklammert, sondern irgendwie mit

ihm verwachsen waren.

Wie bei einer Frucht, die am Stengel hing!

Ich dachte an die vergangene Nacht. Wurden sie zu

Menschen, wenn sie reiften, zu einer Art

Page 85: Ubali, der Panther

Baummenschen? Die wahrhaftig denken konnten?

Es war ein ungeheuerlicher Gedanke! Aber war

nicht Cnossos mit seiner wandelbaren Gestalt ein

ebensolches Wunder?

Unangefochten erreichten wir das Dorf. Ich

berichtete Larkin, was wir entdeckt hatten, und Moao

sprach zu seinen Gefährten.

Zum erstenmal erkannte er wohl, wie wichtig es

war, Worte zu haben. Er merkte jedenfalls, daß sie ihm

fehlten. Ein gutes Dutzend sprudelte er hervor, und

zwei davon waren Ubali und Moao. Den großen Rest

dazwischen aber füllte er mit Gesten und Grimassen.

Es war sehr eindrucksvoll. Es wäre zum Lachen

gewesen, aber keiner lachte über den Jungen, der zum

erstenmal den Himmel gesehen hatte.

7.

Larkin drängte sofort zum Aufbruch, trotz meiner

Warnung, daß wir keine Möglichkeit hatten, den

richtigen Weg zu finden. Er glaubte, daß seine

Gefährten keine weitere Nacht warten würden. Das

Page 86: Ubali, der Panther

befürchtete ich auch, aber es erschien mir das kleinere

Übel.

Das größere war, daß ich die Sonne bereits ziemlich

tief im Westen gesehen hatte. Das bedeutete, daß die

Nacht bald kam, und wir hatten durch den überlangen

Erschöpfungsschlaf keine Gelegenheit gefunden, uns

mit den notwendigen Mitteln zur Flucht zu versorgen.

Eines davon war Licht, das zweite ein Vorrat von

Nahrungsmitteln.

Beides konnten wir uns heute nacht beschaffen und

dann am Morgen die Flucht wagen. Wir hatten außer

dem einen, der Moao überfiel, keinen Wächter gesehen.

Vielleicht schliefen sie alle am Tag. Vielleicht lagerten

sie alle weiter unten. Das mußten wir herausfinden.

Aber dazu war es heute bereits zu spät. Bis wir den

Boden erreichten, brach die Dunkelheit an.

Womit ich ihn schließlich überzeugte, war die

Tatsache, daß die Steppe kaum zwei Marschstunden

entfernt lag. Wenn wir früh am Morgen begannen,

konnten wir mehrere Richtungen versuchen, den Weg

markieren und wieder zurückgehen, wenn es der

Falsche war. Die Chancen standen gut, daß wir auch

den richtigen fanden. Aber nicht bei Nacht. Auch nicht

mit Lichtern.

Page 87: Ubali, der Panther

Es war ein ruheloses Warten auf den Abend.

Das Baumvolk betrachtete uns mit großen,

furchtsamen Augen, was wohl auf Moaos Erzählung

zurückzuführen war.

Larkin verschwand für eine Weile mit einem

Mädchen. Auch ich war bald nicht mehr allein, aber

welche bessere Art mochte es geben, die Zeit

totzuschlagen, als in leidenschaftlichen Armen.

Als die Dunkelheit hereinbrach und die Welt um das

Dorf düster wurde, verschwand das Baumvolk nach

und nach in den Hütten. Schließlich saßen nur noch

Larkin und ich im Freien.

»Wir müssen uns den Weg zum Stamm genau

einprägen«, mahnte ich. »Ein falscher Tritt ist das

Ende.«

Er nickte. Plötzlich schlug er mit der Faust auf sein

Knie. »Verdammt! Wir hätten es doch versuchen

sollen!«

»Unsinn. Morgen haben wir die besseren Chancen.«

»Vielleicht ist es dann zu spät«, erwiderte er heftig.

»Was weißt du noch?« fragte ich scharf. »Du hast

irgend etwas erfahren, nicht wahr?«

»Ja ... und nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Was ist es?«

»Ich weiß nicht, ob ich sie recht verstanden habe. Sie

reden ja mit Händen und Füßen ... aber es sieht so aus,

Page 88: Ubali, der Panther

als würde der Baum zu bestimmten Zeiten ein Opfer

aus ihrer Mitte wählen, und sie haben verdammte

Angst davor ...«

»Ein Opfer? Was geschieht damit?«

»Das wissen sie nicht. Aber es verschwindet für

immer.«

»Wissen sie, wann?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht heute. Wenn ich

es richtig verstanden habe, kommen die

Baummenschen mit ihren Lichtern und holen einen aus

den Hütten – offenbar den nächstbesten, den sie

erwischen ...«

»Bei allen myranischen Göttern!« entfuhr es mir.

»Das sagst du mir erst jetzt?« Wütend starrte ich ihn

an. »Das kann auch einer von uns sein. Ist dir das

klar?«

»Es war bereits zu spät«, knurrte er. »Ich kam lange

nicht dahinter, was sie meinten. Erst die Kleine, mit der

ich vorhin zusammen war, brachte mich auf den

Gedanken, daß heute nacht noch etwas los sein könnte.

Sie wollte mich unbedingt in ihrer Hütte haben, und sie

hatte verteufelte Angst. Als ich ihr zu verstehen gab,

daß ich vorhatte, mit dir zusammenzubleiben, war sie

einigermaßen erbost.«

Er schwieg. Brütend saßen wir eine Weile.

Ich griff nach meinem Schwert und legte er quer

über die Knie.

Page 89: Ubali, der Panther

»Wir werden ihnen die Lust nehmen«, sagte ich.

»Vielleicht kommen diese armen Teufel dann auch auf

den Gedanken, daß man sich wehren kann. Moao

scheint in dieser Hinsicht schon einiges gelernt zu

haben.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sehen es anders, Ubali,

und das kann man ihnen nicht aus den Köpfen reißen.

Sie haben Angst, natürlich, wer hat nicht Angst vor

dem Tod – vor solch einem Tod? Aber für sie ist es eine

Art Bezahlung dafür, daß sie hier in Frieden ein

glückliches Leben führen dürfen ...«

»Glücklich?« unterbrach ich ihn.

»Auf ihre Art, ja, glaube ich schon. Sie leben hier

geschützt. Unten am Boden wären sie verloren. Sie

kennen nichts anderes. Warum sollten sie unzufrieden

sein? Und der Baum scheint seine Opfer nicht zu oft zu

fordern. Wenigstens in solchen Abständen, daß

genügend nachwachsen. Die meisten Mädchen tragen

Kinder, und sie sind höchst erpicht darauf, diesen

Zustand zu erreichen. Würde mich nicht wundern,

wenn unter den Früchten, die ihnen gebracht werden,

welche sind, die ihnen einheizen. Ich kenne selbst

einige Säfte, die eine ähnliche Wirkung haben.«

Ich nickte. »Das erklärt auch, warum es keine Alten

hier gibt. Aber was geschieht mit ihnen?«

»Ich kann mir nicht vorstellen«, erwiderte er mit

heiserer Stimme, »daß in diesem Dschungel irgend

Page 90: Ubali, der Panther

etwas nicht gefressen wird. Der Baum hat sich eine

Vorratskammer angelegt. Und wir sind drin. Wie

gefällt dir das, Freund Ubali?«

Ich starrte ihn an und spürte eisige Kälte mein

Rückgrat hochkriechen. Ich dachte an die

übelriechende Öffnung, an der wir in der Nacht

vorbeigeklettert waren. Das konnte nur eines gewesen

sein:

Der Mund.

Allmächtige Götter! Und sie hatten jemanden

hineingestoßen. Ich hatte seinen Schrei gehört.

»Wir beide sind die ältesten hier«, sagte ich. »Sie

werden vielleicht einen von uns holen.«

Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und ich

fuhr erschrocken herum.

Moao stand neben mir. Er deutete drängend auf die

Hütte.

Ich nickte ihm zu. »Es ist besser, wir gehen rein.

Streng deinen Kopf an, Wolkenreiter. Wir brauchen

einen guten Plan. Einen verdammt guten Plan!«

Es wurde stockdunkel – die zweite dieser Nächte

begann.

Das Baumvolk war in seinen Hütten, aber ich war

ziemlich sicher, daß keiner schlief. Sie warteten alle.

Moao und das schwangere Mädchen hatten sich in

den Hintergrund der Hütte zurückgezogen und saßen

Page 91: Ubali, der Panther

umschlungen in der Dunkelheit. Larkin und ich

standen im Eingang und starrten in die Finsternis.

Nichts regte sich.

»Varins Blut, das Warten ist nichts für mich«,

knirschte Larkin.

Ich nickte stumm. Es zerrte auch an meiner Geduld.

»Wenn nicht bald etwas geschieht, werde ich

losgehen«, fuhr er bestimmt fort. »Und du wirst mich

nicht aufhalten. Ich bin ein Wolkenreiter und kein

Baumhocker!«

Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen.

Glühende Punkte erwachten überall am Baum, auf den

Ästen, zwischen den Blättern, und tauchten alles in

grünliches Licht.

Es sah atemberaubend aus. Der Baum glühte wie

mit unzähligen Kerzen übersät.

»Ihr Götter!« entfuhr es Larkin. »Vielleicht hast du

nicht so unrecht, wenn du meinst, daß sie Früchte sind.

Ich habe hier soviel Teuflisches gesehen, daß ich alles

glaube.«

Dann beobachteten wir stumm, wie sich die

glühenden Punkte zu bewegen begannen. Nicht alle

jedoch, manche der schwächer glimmenden blieben

hängen, aber ihre größere Zahl wanderte an den Ästen

nach innen zum Stamm. Und schließlich kam eine

lange Schlange von Lichtern die Stufen herab. Es waren

so viele, daß wir den Gedanken an eine nächtliche

Page 92: Ubali, der Panther

Flucht aufgaben. Was immer auch geschah, wir

konnten nur warten. Der ganze Baum war lebendig,

und tausend Augen würden jeden unserer Schritte

bemerken.

Larkin lehnte sich fluchend in die Dunkelheit der

Hütte zurück.

Ich beobachtete, wie sich eine große Anzahl von

Lichtern auf unserer Plattform versammelte. Das

bedeutete gar nichts Gutes. Eine lange Reihe von

Lichtern verlor sich entlang des Stammes nach unten.

Während ich sie mit angehaltenem Atem

beobachtete, setzte sich die Gruppe in Bewegung auf

unsere Hütten zu.

»Sie kommen«, murmelte ich und griff nach dem

Schwert.

»Unsere Chancen stehen nicht besonders gut«,

bemerkte Larkin gepreßt. »Warum verschwinden wir

nicht gleich durch das Loch da hinten, so lange es

draußen noch dunkel genug ist? Wenn wir uns

außerhalb der Plattformen an die Äste hängen, fallen

wir vielleicht nicht einmal auf ...«

»Und wie lange, glaubst du, halten wir das durch?

Nein, ich bin dafür, daß wir warten, und uns ansehen,

was sie wollen. Vielleicht wollen sie nichts von uns,

dann verhalten wir uns ruhig, bis sie am Morgen

wieder auf ihren Ästen verschwinden. Still jetzt!«

Das letzte zischte ich. Die ersten Krieger hatten den

Page 93: Ubali, der Panther

weiten Platz vor den Hütten erreicht und hielten an.

Sie gruppierten sich in einem Halbkreis und standen

scheinbar abwartend. Einige lösten sich aus der Menge

und traten an die erste Hütte am anderen Ende des

kleinen Dorfes. Der ganze Platz war von den grünen

Lichtern so hell wie am Tag. Eine weitere Gruppe von

vier Kriegern begab sich in die Hütte neben uns.

Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Angstvolle

menschliche Laute drangen von irgendwoher und

verstummten wieder. Ein Schluchzen ertönte auch in

unserer Hütte. Furchterfüllt klammerte sich das

schwangere Mädchen an Moao.

»Zurück«, flüsterte ich halblaut und drängte Larkin

ins Hütteninnere zurück.

Zwei Krieger tauchten im Eingang auf und hielten

die Stiele mit den Lichtern ins Innere. In dem engen

Raum war der Schein grell. Die Augen der Krieger

glänzten dunkel wie die von Insekten, schwarze

Kugeln ohne Augapfel, ohne Lider. Jetzt aus nächster

Nähe erschienen mir auch ihre Gesichter weniger

menschlich, ihre Nasen verwachsen, ohne Öffnungen,

ihre Münder schmale klaffende Spalten.

Es war ein grausiger Anblick.

»Varin, steh mir bei«, entfuhr es Larkin, und ich

ertappte mich dabei, daß ich ebenfalls hoffte, dieser

Gott würde etwas unternehmen.

Die Krieger kamen plötzlich ins Innere, und wir

Page 94: Ubali, der Panther

sahen, daß ihnen zwei weitere folgten. Dann hatten wir

keinen Blick mehr für das, was dahinter geschah, denn

die beiden Kerle griffen nach Larkin.

Ich nahm den rechten, und Larkin den linken, als

hätten wir es abgesprochen. Mit Verinos Dolch in der

Linken stieß ich die hölzerne Lanze beiseite.

Gleichzeitig brachte ich die Klinge seitlich herab. Sie

schnitt durch einen Panzer, der knirschend splitterte,

als wäre er aus Holz, und sank tief in die weichen Teile

darunter.

Meinem Gegner entfuhr kein Laut. Er wehrte sich

nicht sehr erfolgreich, indem er mit seiner Lanze

mehrfach ins Leere stieß, dann trennte ich ihm mit

einem weitausholenden Schwerthieb den Kopf vom

Rumpf.

Während der Kopf nach hinten kippte, erlosch das

Licht, das er in der Linken hielt.

Ich stieß die fallende Gestalt auf den Eingang zu, wo

eben zwei ihrer Gefährten die Hütte betreten hatten.

Sie taumelten unter dem Aufprall zurück und bohrten

ihre Lanzen in den Toten. Ich gab ihnen keine

Gelegenheit, sie wieder herauszuziehen. Mit zwei

Hieben streckte ich sie mit gespaltenen Schädeln zu

Boden.

Hastig sah ich mich um. Larkin war weniger

glücklich gewesen. Sein Arm blutete, und sein Gegner

hatte seine Lanze losgelassen und hielt Larkins Kehle

Page 95: Ubali, der Panther

umfaßt, während dieser sein Schwert immer wieder in

den Leib des Gegners bohrte und sich dabei aus dessen

Griff zu befreien versuchte. Aber die Hand hielt ihn

unbarmherzig, und die Schwertstiche schienen dem

Krieger überhaupt nichts auszumachen. Mit einem

raschen Hieb machte ich dem gespenstischen Kampf

ein Ende. Der Kopf schien das einzige zu sein, an dem

man ihnen etwas anhaben konnte.

Mit dem Verlöschen des letzten Lichtes wurde es

wieder dunkel in der Hütte. In dem Schein, der von

draußen hereinkam, sah ich Moaos schreckverzerrtes

Gesicht.

Während Larkin sich aus dem Griff der toten Hand

befreite und stöhnend hochtaumelte, untersuchte ich

die Toten und fand bestätigt, was ich mir insgeheim

bereits gedacht hatte. Sie waren keine Menschen.

Was mein Schwert durchschlagen hatte, war kein

Panzer, keine Rüstung, sondern die Haut dieser Wesen.

Sie war hart wie Holz an der Brust und am Leib und an

den Gliedern, am Hals aber biegsam wie junge Äste.

Innen befand sich etwas, das wie das Mark in manchen

Schilfpflanzen aussah – weich und schwammig.

»Du hast recht«, sagte ich zu Larkin, der sich zu mir

beugte. »Sie sind nicht aus Fleisch und Blut.«

»Woraus dann?« fragte er bleich.

»Aus einer anderen Art von Fleisch, einer, die auf

Bäumen wächst.«

Page 96: Ubali, der Panther

»Dann denkt dieser Baum ...?« flüsterte er.

»Auf seine Art«, gab ich zu. »Hier, ihre Lichter sind

ein Teil ihres Körpers, sie sind mit der Faust

verwachsen. Sie verlöschen, wenn sie sterben ...«

Geräusche von draußen ließen uns aufhorchen. Da

diese Wesen nicht miteinander sprachen, besaßen sie

vielleicht eine andere Art, sich zu verständigen.

Möglicherweise wußten die draußen bereits, was

vorgefallen war.

Mit angehaltenem Atem starrten wir aus dem

Eingang. Eine weitere Gruppe kam auf die Hütte zu.

Ein halbes Dutzend diesmal. Zwei von ihnen hatten

Bogen. Sie würden ihnen im Handgemenge nicht viel

nützen.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte ich Larkin.

»Nur ein Kratzer«, erwiderte er. »Ich hoffe, ich kann

meinen Dank abstatten.«

»Dazu hast du vielleicht bald Gelegenheit«,

murmelte ich und deutete auf die Herankommenden.

»Bleib auf der anderen Seite des Eingangs. Die ersten

beiden erledigen wir, wenn sie hereinkommen. Der

Kopf ist ihr schwacher Punkt. Und behalte die Bogen

im Auge.«

Er nickte. Reglos warteten wir im Halbdunkel. Moao

und das Mädchen gaben keinen Laut von sich. Sie

starrten nur mit weit offenen Augen auf den Eingang,

durch den sich die zwei Krieger zwängten.

Page 97: Ubali, der Panther

»Jetzt!«

Unsere Schwerter kamen herab, mähten die Köpfe

wie zwei Blumen. Die Lichter verlöschten. Ich riß

meinen Gegner zur Seite ins Innere und sah befriedigt,

daß auch Larkin den gleichen Gedanken hatte. Die

beiden folgenden Gestalten hatten offenbar noch gar

nicht richtig begriffen, was geschehen war. Sie kamen

mit unbewegten Gesichtern ins Innere und erlitten das

gleiche Schicksal.

Aber diesmal unterlief mir ein fataler Fehler. Ich

bekam die fallende Gestalt nicht rechtzeitig zu fassen.

Sie kippte nach draußen.

Im nächsten Augenblick war die ganze Plattform in

Bewegung. Zuckende Lichter huschten über den Platz,

als die ganze Horde auf die Hütte zustürmte.

»Ihr Götter!« rief ich. »Rasch, das Feuer!«

Aber es war zu spät. Larkin beugte sich, um mit

zitternden Händen Funken zu schlagen und unsere

Beinkleider in Brand zu stecken, deren wir uns

entledigt hatten. Es war das letzte brennbare Zeug, das

wir an uns hatten.

Aber er brachte sie nicht mehr zum Brennen. Die

Hütte war plötzlich voller Gestalten, die wir nicht mehr

aufhalten konnten. Ihre Leiber erdrückten uns fast. Es

war unmöglich, mit dem Schwert einen guten Hieb zu

tun. Nur mit dem Dolch gelang es mir noch, zwei

Lichter zum Verlöschen zu bringen, bevor wir in ihren

Page 98: Ubali, der Panther

Armen wie in Fesseln hingen, unfähig, auch nur einen

Finger zu bewegen.

Sie zerrten uns aus der Hütte. Das letzte, was ich

sah, war ein aufgewühltes Gesicht im Hintergrund der

Hütte. Moaos.

Auf der Plattform schwirrten sie um uns herum.

Ihre dunklen, kalten Augen musterten uns mitleidlos.

»Das war es wohl«, stellte Larkin fest. »Tut mir leid,

daß ich mich nicht mehr revanchieren konnte. Du

warst ein guter Kamerad, Schwarzhaut. Mit dir wär ich

gern über Wosagan geritten. Ah, es gibt nichts

Besseres, als auf den Wolken zu stehen und sie in den

Wind zu steuern, und zu nehmen, was man möchte ...«

Er stöhnte. Sein Arm schien zu schmerzen, und die

Kreaturen nahmen darauf keine Rücksicht.

»Verdammt!« rief er und versuchte sich vergeblich

zu wehren. »Oh, Varin, sie verfüttern uns an diesen

Baum. Nein!«

Schreiend kämpfte er gegen die Wesen an. Nach

einer Weile beruhigte er sich.

Die Hilflosigkeit war vollkommen. Ich hielt noch

immer das Schwert in der Faust, aber ich konnte es

nicht bewegen. Ebenso den Dolch. Sie hielten uns

umschlungen und stiegen mit unglaublicher Sicherheit

die Sprossen hinab.

»Ubali?« rief Larkin unter mir.

»Ja, Larkin?«

Page 99: Ubali, der Panther

»Sieht so aus, als ob ich der erste wäre.«

»Sieht so aus«, stimmte ich zu. Es hatte wenig Sinn,

ihm Mut zuzusprechen. Ich wußte, daß es das Ende

war. Es gab noch immer die unwahrscheinliche

Möglichkeit, daß sie uns am Boden aussetzten, wo sie

uns gefunden hatten, aber daran glaubte ich nicht.

Sehr ruhig entgegnete er: »Weißt du was,

Schwarzhaut ...«

»Ubali«, widersprach ich.

»Ah, zum Teufel, was sind schon Namen? Ein Kerl

ist, was er ist. An meiner Klinge klebt Blut – nicht

immer gerecht vergossenes.«

»Bedauerst du es?«

»Manches ... ja.«

»Weil du Angst hast ...?«

»Nein. Nicht deshalb. Weil jetzt Zeit ist, daran zu

denken. Varin, ich wünschte mir, durch eine Klinge zu

sterben ... nicht auf diese ... Weise. Wenn du eine Hand

frei hättest, würdest du mir diesen Wunsch erfüllen,

Schwarzhaut?«

»Nein«, erwiderte ich grimmig. »Wenn ich eine

Hand frei hätte, würden eine ganze Menge dieser

Teufel sterben!«

»Ja«, sagte Larkin. »Ich bin doch ein verdammter

Feigling.«

Wir kamen rasch voran. Die Gefahr war noch immer

nicht gegenwärtig genug, um mich die Angst

Page 100: Ubali, der Panther

empfinden zu lassen, wie sie Larkin verspürte. Ich

vermied es, an dieses stinkende Loch zu denken, an

den langgezogenen Schrei, den ich gehört hatte. Ich

beschäftigte mich nur mit einem Gedanken, meine

Hände loszureißen, wenn sich der Druck nur ein wenig

lockerte. Meine Handgelenke starben fast ab, so fest

hielten mich die Kreaturen hinter mir, und mit den

Beinen war es nicht anders. Es kostete mich eine große

Willensanstrengung, das Schwert in der gefühllos

werdenden Faust zu halten.

Ich krümmte mich plötzlich zusammen. Die

unerwartete Bewegung brachte den Zug ein wenig ins

Schwanken, aber das war alles. Keuchend gab ich die

Gegenwehr auf.

Unter uns tauchte die Plattform auf.

Das war das Ende, dachte ich. Und welch ein Ende!

In einer fremden Welt als Futter für Pflanzen. Aber ich

hatte gesehen, wie sie in Keomoa gefesselte Kinder als

Köder für Raubkatzen aussetzten.

War das ein besserer Tod?

Ist der Tod nicht immer der gleiche, nur die Furcht

nie dieselbe?

Mit einem Gefühl des Grauens dachte ich an den

Teich, der mit messerscharfen Blättern lauerte, an die

violette Blüte und ihre sich windenden, schleimigen

Raupengebilde. Was mochte hier drinnen in diesem

Baum lauern, erfüllt von der Gier nach Fleisch?

Page 101: Ubali, der Panther

Es geschah alles sehr rasch.

Wir erreichten die Plattform, und nun bestand kein

Zweifel mehr über unser Schicksal. In Windeseile

trugen sie uns um den Stamm herum auf die Öffnung

zu. Der Geruch war betäubend. Mein Körper schüttelte

sich vor Ekel.

Vor mir schoben sie Larkin auf die Öffnung zu. Er

begann sich wieder zu wehren. Ich hörte ihn schreien.

Dann verschwand er im Baum, und sein Schrei

verhallte.

Aus, dachte ich mit kalter Wut über die

Hilflosigkeit. Ich wappnete mich, als sie mich

vorwärtsstießen. Aus dem Innern des Baumes kam ein

mahlendes Geräusch.

Ich hatte plötzlich ganz erbärmliche Angst. Ich hatte

dem Tod schon oft ins Auge gesehen, und noch nie

hatte ich ihn gefürchtet.

Gleich darauf stellte sich heraus, daß sie mit mir

andere Pläne hatten. Ich war offenbar für eine spätere

Mahlzeit vorgesehen. Sie rissen mir die Waffen aus den

Händen, hoben mich zu einem Ast hoch, von dem sich

dünne Ranken um meine Gelenke schlangen. Dann

ließen sie mich los.

Als ich hing, verschwendeten sie keinen weiteren

Blick mehr an mich. Sie verschwanden der Reihe nach

in der Tiefe, vermutlich, um neue Beute

Page 102: Ubali, der Panther

heranzuschaffen, denn von der kleinen menschlichen

Herde da oben konnte solch ein gewaltiger Baum nicht

satt werden.

Es wurde dunkel um mich, je weiter sich ihre Lichter

entfernten. Bald sah ich nichts mehr, außer der

schwarzen Öffnung direkt unter mir, aus der in

regelmäßigen Abständen Geräusche kamen, die mich

an das Kauen eines mächtigen Gebisses erinnerten. Ich

versuchte nicht an Larkins Tod zu denken. Sein Gott

Varin hatte es nicht gut mit ihm gemeint.

Ich kämpfte gegen die würgende Übelkeit an. Mehr

und mehr überwog aber schließlich der Schmerz in den

Armen und Handgelenken. Er steigerte sich bis zur

Unerträglichkeit, so daß es Augenblicke gab, da ich den

Tod da unten beinah herbeisehnte.

Unter mir lagen mein Schwert und Varinos Dolch,

und es war noch einmal so peinvoll, sie so nutzlos dort

liegen zu sehen, wenn ein einziger Schnitt mich von

allen Qualen befreien konnte.

Einige Male versuchte ich die Schlingen an meinen

Gelenken gewaltsam abzustreifen, aber sie zogen sich

nur noch fester zu.

Wie lange ich so hing, war sehr schwer abzuschätzen.

Mir erschien es eine Ewigkeit. Alles war still und

dunkel, der Dschungel um mich lautlos, als lauschte er

auf die Qualen der Lebenden.

Page 103: Ubali, der Panther

Plötzlich vernahm ich ein leises Geräusch am Stamm

hinter mir. Ich versuchte mich umzudrehen, aber ich

sah nichts, und jede Bewegung war schmerzvoll.

Kamen sie, um mich loszuschneiden und in den

Schlund hineinzuwerfen? Ich lauschte mit

angehaltenem Atem, und was ich vernahm, erleichterte

mich über alle Maßen.

Es war das Atmen eines Menschen.

Gleich darauf huschte eine Gestalt auf mich zu.

Undeutlich sah ich, wie sie sich nach den Waffen

bückte.

In diesem Augenblick leuchteten mehrere der

Lichter hinter mir auf. Die gebückte Gestalt fuhr

überrascht hoch, mit dem Schwert in der Faust.

Es war Moao!

Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, dann

hatte ihn die erste der Baumkreaturen erreicht. Der

Instinkt lenkte Moaos Klinge, daß sie den Speer

abwehrte und den Krieger am Schädel traf. Ich wußte,

daß es nur Zufall war, und es war unglaublich

qualvoll, so hilflos hier zu hängen und zusehen zu

müssen, wie das Unabwendbare geschah.

Der Krieger verlöschte und fiel, aber die Lanzen der

beiden nächsten durchbohrten den Jungen, der einen

Augenblick zappelte wie ein Fisch und mit brechenden

Augen zu mir hochsah, als sie ihn in den Schlund

stießen.

Page 104: Ubali, der Panther

Tränen der Wut kamen mir in die Augen. Während

die Baumkrieger so rasch verschwanden, wie sie

erschienen waren, machte ich mir bitterste Vorwürfe.

Es war meine Schuld, daß Moao tot war. Ich hatte den

Widerstand in ihm wachgerufen. Ich hatte ihm gezeigt,

daß man das Schicksal nicht einfach hinnehmen mußte.

Und er war gekommen, um mich zu retten, um zu

zeigen, daß er verstand, daß Tapferkeit in ihm war. Ich

war schuld, daß das schwangere Mädchen nun allein in

ihrer Hütte schlummerte.

Aber ich wußte gleichzeitig, daß diese

Beschuldigungen nur ein Ausdruck des Gefühls waren,

nicht der Vernunft.

Denn im Grunde hatte mein Vorbild nichts

geändert. Es hätte ihm höchstens eine Chance gegeben.

Früher oder später hätte er hier den unvermeidlichen

Tod erlitten, der dem ganzen Baumvolk bestimmt war.

Und es war weniger grausam, als es mir mein

Gefühl einzureden versuchte. Es war ein Abkommen –

einer gab dem anderen.

Ich hatte den Jungen in mein Herz geschlossen, und

hatte dabei vergesse, daß er nicht mehr als eine Art

Zuchtvieh war, und daß ich nichts daran ändern

konnte. Selbst wenn ich frei wäre.

Page 105: Ubali, der Panther

Man kann nur eine bestimmte Zeit auf den Tod

warten. Wenn es zu lange dauert, beginnt man wieder

an das Leben zu denken.

Während ich hier hing, fragte ich mich, ob mich

jemand bewachte, und ob die Krieger, die Moao getötet

hatten, hier in der Nähe lagerten oder ihm bereits von

weiter oben auf den Fersen gewesen waren.

Es konnte meine Lage nicht verschlimmern, wenn

ich es feststellte. Ich versuchte den Ast in schwingende

Bewegung zu versetzen, vielleicht brach er. Aber ich

merkte bald, daß er zu unnachgiebig war. Dann

versuchte ich eine Weile, ihn mit den halb

abgestorbenen Fingern zu erreichen, aber auch darin

war ich nicht sehr erfolgreich.

Immerhin bekam ich die Lianen zu fassen. Ich

sammelte Kraft und stieß meinen Körper in einer Rolle

hoch. Mit einem verräterischen Rascheln im Laub

landete ich mit dem Bauch am Ast, wo ich erst einmal

keuchend liegenblieb.

Niemand kam. Offenbar erwarteten sie nicht, daß

ich mich aus dieser hoffnungslosen Lage befreien

konnte. Sie würden sich wundern. Ich war plötzlich

voller Tatendrang. Ich fühlte bereits, wie sich meine

Hände erholten, nun da sie nicht mehr in den

erbarmungslosen Schlingen hingen. Aber ich erkannte

auch, daß ich sie nicht lösen konnte. Ich bekam die

Hände nicht nahe genug zusammen.

Page 106: Ubali, der Panther

War es doch hoffnungslos?

Dann fiel mir etwas anderes auf. Nein, ich war nicht

ganz wehrlos. Die Kette an meinem Hals. Verinos

Kette. Wer hätte gedacht, daß dieser Tote mir so gute

Dienste leisten würde. Sein Eigentum wenigstens.

Vorsichtig ruckte ich am Ast vor, bis ich den Kopf nahe

der rechten Hand hatte. Es war ein Geduldsspiel, aber

schließlich konnte ich meine Finger um die Kette

krallen und sie vom Kopf ziehen. Der Gedanke, daß sie

meinen Fingern entgleiten und hinunterfallen könnte,

verursachte mir ein eisiges Kribbeln. Dann hatte ich sie

los und sah erleichtert, wie sie auf meinen Arm glitt.

Selbst wenn ich sie losließ, würde sie nun an meinem

Arm hängen bleiben.

Danach brauchte ich eine kurze Verschnaufpause.

Ich zitterte am ganzen Körper.

Um mich regte sich nichts. Sie waren auf meine

Tätigkeit noch nicht aufmerksam geworden.

Dann begann ich mit den scharfen Kanten der

Kettenglieder die Liane zu bearbeiten. Es war eine

mühsame Tätigkeit, aber sie war schließlich von Erfolg

gekrönt. Ich bekam eine Hand frei. Danach war es nicht

mehr schwierig, auch die zweite Hand zu befreien.

Eine Weile saß ich und massierte meine wunden

Gelenke, bis ich das volle Gefühl in den Händen

wiederhatte.

Dabei überlegte ich meine nächsten Schritte. Hier

Page 107: Ubali, der Panther

konnte ich nicht bleiben. Sicher hatten sie nicht vor,

mich noch einen Tag hier hängen zu lassen. Ich

verwettete meine schwarze Haut, daß sie noch im Lauf

der Nacht kamen, um das hungrige Maul des Baumes

zu stopfen.

Aber nicht mir mir! Jetzt hatte ich wieder ein wenig

mitzureden. Es war inzwischen fast stockdunkel

geworden. Ich sah kaum noch den Boden unter mir.

Dort mußte irgendwo der Dolch liegen. Das Schwert

hatte Moao mit in die Tiefe genommen, und ich hoffte,

daß es diesem gefräßigen Baum in der Kehle stecken

blieb.

Ich war waffenlos, und der Dolch reizte mich. Aber

es erschien mir doch zu riskant. Ich würde im Dunkeln

kaum mehr auf diesen Ast zurückfinden. Wohin ich

auch kletterte, hinauf oder hinab, überall würde ich

früher oder später auf die Krieger stoßen. Aber diese

kleineren Zwischenäste, die dicht von Laub

umwuchert waren, mochten mir genügend Schutz

bieten. Dieser hier war noch zu gefährlich. Ein Blick

nach oben mit ihren Lichtern, und sie mußten mich

sehen. Aber es waren weitere über mir, die ich leicht

erreichen konnte. In dieser Dunkelheit allerdings war

es ein Wagnis.

Ich tastete vorsichtig über mich. Es war unglaublich

schwierig, auf dem Ast Gleichgewicht zu halten, wenn

die Augen nichts sahen, als Schwärze. Langsam

Page 108: Ubali, der Panther

richtete ich mich ein Stück auf und fand Blätter über

mir, und gleich darauf den Ast. Er war kräftig genug,

und ich zog mich daran hoch. Ich lauschte.

Noch immer regte sich nichts. Auch zu sehen war

nichts, außer einigen schwachen Lichtpunkten weit

über mir und weit unten. Ich rutschte den Ast entlang,

immer weiter hinaus. Er war sehr kräftig und gabelte

sich in zahllose Nebenäste. Schließlich fand ich eine

breite Gabelung, in der ich bequem liegen konnte. Hier

würde ich es eine Weile aushalten.

Es gab Augenblicke, da nickte ich ein. Ich hatte

überhaupt kein Maß für die Zeit. Aus einem dieser

Augenblicke des Schlafs schreckte ich hoch durch

Geräusche unter mir.

Angespannt starrte ich nach unten. Die Plattform

war hell erleuchtet, und eine Menge Krieger schwirrten

auf und ab. Kein Zweifel, sie vermißten mich. Genaues

konnte ich nicht erkennen, denn die Blätter verdeckten

den Ausblick. Darüber war ich auch froh, denn sie

schützten mich vor Entdeckung.

Sie waren ein verdammt gründlicher Haufen, und

ich dachte schon, sie würden ihre Suche überhaupt

nicht mehr abbrechen. Als sie es endlich doch taten,

war der größte Teil der Nacht vorbei. Ich rührte mich

nicht aus meinem Versteck, bis der Morgen sein

düsteres Licht durch das Laubdach schickte.

Page 109: Ubali, der Panther

Mit verglimmenden Lichtern huschten die

Baumwesen schließlich hoch hinauf in die Krone. Ich

nahm an, daß sie sich auf den Ästen verteilten, um

ihren Tagesschlaf zu beginnen. Manche verlöschten

ganz in meiner Nähe, und ich wußte, daß ich sehr

vorsichtig hinunterklettern mußte. Daß sie auch am

Tage aufwachen konnten, hatte ich ja bereits erfahren.

Schließlich war alles ruhig, und ich wagte mich an

den Abstieg. Nun im Licht war es einfacher, auf dem

Ast zurückzuklettern. Zwei der Baumwesen hingen

direkt über meinem Pfad. Mit angehaltenem Atem glitt

ich an ihnen vorbei, jeden Augenblick auf ihr Erwachen

gefaßt.

Aber ich erreichte die Plattform ohne Zwischenfall.

Der Dolch lag noch an seiner alten Stelle. Ich nahm ihn

auf und fühlte mich weniger nackt.

Einen Moment lang stand ich unentschlossen. Sollte

ich hochklettern und versuchen, das Baumvolk mit mir

zu nehmen. Nein, sie wären eine zu leichte Beute am

Boden. Vielleicht würde ich eines Tages zurückkehren.

Wenn ich je einen Weg aus diesem Dschungel fand.

Ich machte mich an den langen Abstieg.

Page 110: Ubali, der Panther

8.

Seit Stunden lief ich durch den Dschungel. Es gab

überall Tod, der auf den Unachtsamen lauerte, und

mancher Schritt führte mich fast in mein Verderben. In

der ewigen Düsternis hungerte alles nach Fleisch und

kämpfte darum mit Tricks, für die sie ein Magier

beneiden mußte.

Der Dolch war es, der mehrmals mein Leben rettete.

Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Am

gefährlichsten waren die Lianen, die ein eigenes Leben

zu besitzen schienen und wie Schlangen über Bäume

und Boden krochen. Immer wieder geschah es, daß sie

unvermutet herabzuckten und sich mit gefährlicher

Schnelligkeit um meinen Körper wanden. Auch ihr

Druck war wie der eine großen Würgeschlange. Ich

hielt den Dolch immer bereit, um diese lebenden

Fesseln rasch zu zerschneiden, bevor sie sich mit

tödlicher Kraft zusammenzogen.

Aber das waren nicht die einzigen Gefahren, die von

oben drohten. Äste peitschten herab, und grünliche,

giftige Säfte ergossen sich über mich, die auf meiner

Haut wie Feuer brannten.

Ich hatte mich an meinen Plan gehalten und hatte

meinen Weg markiert. Als mir schien, daß ich lange

Page 111: Ubali, der Panther

genug unterwegs war, daß ich den Dschungelrand

hätte erreichen müssen, kehrte ich um. Ich fand den

Weg zurück auf eine kleine Lichtung in der Nähe des

Baumes, auf dem ich gefangen gewesen war. Von dort

aus schlug ich eine andere Richtung ein. Ich verfuhr

wie beim erstenmal, wieder ohne Erfolg, und fand auch

hier wieder den Weg zurück.

Inzwischen mußte längst Mittag sein, und ich war

zu Tode erschöpft.

Dies war die dritte Richtung, und sie sah nicht

vielversprechender aus. Aber ich durfte mir keine Rast

gönnen. Ich wußte, daß ich eine weitere Nacht nicht

mehr überleben würde. In dem Beutel befand sich noch

immer das Fleisch, das ich Larkin abgenommen hatte,

aber es roch nicht mehr gut, und ich aß es mit

Widerwillen, und nur, um den nagenden Hunger zu

stillen. Nirgends hatte ich bisher Früchte gesehen, wie

ich sie im Dorf des Baumvolkes gegessen hatte.

Der Durst wurde immer quälender. Ich blutete aus

zahllosen Wunden, und das Blut schien diese

höllischen Pflanzen direkt anzuziehen. Ich hatte

manchmal das Gefühl, daß sie hinter mir herwaren,

daß sie einander verständigten und mir auflauerten.

Aber diesmal schien ich Glück zu haben. Vor mir

wurde es heller. Das konnte nur eines bedeuten – daß

der Dschungel da vorne irgendwo ein Ende nahm. Das

erfüllte mich mit neuen Kräften, und ich kämpfte mich

Page 112: Ubali, der Panther

rascher vorwärts. Das zunehmende Licht machte mich

unvorsichtig. Ich glaubte mich schon frei, und war es

nicht.

Die Büsche taten sich vor mir auf und gaben den

Blick auf eine wunderschöne Blume frei, die meinen

Blick magisch anzog. Ich konnte gar nicht anders, als in

ihren breiten, feurigen Kelch zu blicken, der sich mir

zuneigte, majestätisch und von vollkommener Anmut.

Etwas unleugbar Weibliches haftete ihr an und lockte

mit Freuden, die ich nur erahnen konnte.

Ohne Furcht schritt ich vorwärts. Eine ungeheure

Erwartung war in mir und erfüllte jede Faser meines

Körpers. Nur irgendwo im Hintergrund, im letzten

Winkel meines Seins, warnte mich etwas vor einer

drohenden Gefahr. Aber es war so fern, so ungreifbar,

im Vergleich zu den Lockungen.

Plötzlich barst das Feuer vor mir. Ich hob schützend

die Arme vor die Augen. Mein Körper fühlte sich an,

als hätte jemand tausend Nadeln in ihn gestochen, die

brannten wie das wahrhaftige Feuer in dem Kelch.

Gleichzeitig fiel der Bann von mir ab. Ich nahm die

Arme von den Augen. Eine furchtbare Angst erfüllte

mich. Der Kelch vor mir schloß sich wie das Maul eines

großen Fisches. Er war häßlich und abstoßend, ein

hungriger Mund, wie alle Pflanzen in diesem

Dschungel.

Ich war halb von Sinnen vor Schmerzen. Ich

Page 113: Ubali, der Panther

entdeckte, daß mein ganzer Körper übersät war von

winzigen Pfeilen, die grün aus meiner Haut ragten.

Selbst Kinn und Hals waren voll davon.

Ich versuchte sie herauszureißen und gab es nach

einigen sehr schmerzhaften Versuchen auf. Sie saßen

fest in der Haut, und während ich sie betrachtete,

verloren sie ihre grünliche Färbung. Dafür wurde

meine Haut grünlich rund um die Einstiche.

Gift, dachte ich. Nun ist alles aus. Ich konnte nur

zusehen, wie es in meinen Körper floß. Ich konnte nicht

mehr tun, als meine Unvorsichtigkeit verfluchen.

Halb blind vor Schmerz taumelte ich vorwärts. Ich

wollte wenigstens nicht in diesem Dschungel sterben,

wenn die Freiheit so nahe war. Ich wollte wenigstens

die Prärie erreichen.

Alles drehte sich um mich. Ich stürzte in einen

bodenlosen Abgrund, aber er war nicht so tief, wie ich

gedacht hatte, denn ich schlug gleich darauf hart auf,

und das erlöste mich von allen Qualen.

Ich hatte einen Traum.

Nein, die Wirklichkeit konnte es nicht gewesen sein,

obwohl die letzten Tage meines Lebens ein einziger

Alptraum gewesen waren.

Aber dies war ein schöner Traum, einer voller

Page 114: Ubali, der Panther

Leben. Ich sah, daß ich eine Erde fand, in der ich

gedieh, in der meine Wurzeln reiche Nahrung fanden.

Ich fühlte, wie ich wuchs, wie meine Blätter höher und

höher kletterten zwischen mächtigen Stämmen, und

den tarnenden Vorhang bildeten.

Es ging so rasch. Und schließlich war meine Blüte

bereit sich zu öffnen, reif und voll von ekstatischer

Erwartung, einen Beweglichen zu befruchten ...

Ich mußte diesen Ort finden, an dem ich aufwachsen

konnte. Und nichts würde mich daran hindern ...

Ich erwachte durch einen starken Schmerz am ganzen

Körper. Ich schnappte nach Luft. Meine Lungen

drohten zu platzen. Ich brauchte Luft.

Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß mich mehrere

Lianen umschlungen hatten und sich daran machten,

ihre Beute zu zerdrücken.

Mit einem unartikulierten Schrei rollte ich mich

herum und spannte die Muskeln. Einen Augenblick

war der Schmerz unerträglich, aber dann zerrissen die

Pflanzen wie ein morsches Tau. Ich schleuderte sie von

mir.

Ich verstand nicht, woher diese Kräfte kamen, aber

ich spürte sie deutlich in mir, und eine rasch

auflodernde Wut auf alles, das sich mir

entgegenzustellen wagte. Der vage Schmerz in meinem

Fleisch bedeutete nichts. Er war nicht wichtig. Nicht

Page 115: Ubali, der Panther

jetzt und nicht später. Nichts konnte mich aufhalten.

Ich schleuderte den Dolch von mir. Er war nutzlos.

Meine Fäuste waren diesem Dschungel gewachsen. Sie

würden beiseiteräumen, was sich mir in den Weg

stellte.

Ich stapfte vorwärts mit gefletschten Zähnen.

Wie das mächtige Einhorn lief ich durch den

Dschungel und rannte nieder, was sich mir in den Weg

zu stellen versuchte. Eine dunkle Erinnerung war in

mir – an Schwäche, Blut und Schmerzen, an

Hilflosigkeit, an ein anderes, zielloses Leben. Ja, ein

Leben ohne das Ziel!

Ich schüttelte wild den Kopf, denn diese

Erinnerungen waren hartnäckig.

Dann preschte ich durch das letzte Dickicht. Die

weite Steppe lag vor mir. Sie mußte ich überqueren.

Ich setzte meinen Weg fort. Die Richtung war nicht

von Bedeutung. Jenseits dieser Steppe war Erde für

mich, war ein Reich für mich, mit Beweglichen, wie es

sie vor langen Zeiten auch in diesem Dschungel

gegeben hatte, die meinen Samen in alle Winde tragen

würden.

Nichts hielt mich nun auf. Ich war rasch wie der

Wind, meine Beine trugen mich voran wie Flügel.

Aus den Augenwinkeln sah ich große weiße

Gebilde. Es waren Wolken, die tief über der Prärie

hingen. Meine Erinnerungen jubilierten. Irgend etwas

Page 116: Ubali, der Panther

an den Wolken war mir vertraut.

Ich hielt an und beobachtete sie. Etwas warnte mich.

Waramau, dachte ich plötzlich. Ich war nicht sicher,

was es bedeutete. Es war in den Erinnerungen meines

Trägerleibes verankert. Dann gewahrte ich Bewegliche

auf den Wolken. Sie stießen mit großen Speeren in die

Wolken.

Sie kamen auf mich zu. Es gefiel mir nicht, wie rasch

sie näher kamen. Sie wollten kämpfen.

Pah, wenn sie kämpfen wollten, so sollten sie den

Kampf haben! Ich wartete, bis sie heran waren, dann

bewegte ich mich so schnell, daß sie dachten, ein

Sturmwind wäre in ihre Reihen gefahren. Ich war auf

der ersten Wolke mit einem gewaltigen Sprung und

warf die Beweglichen in hohem Bogen in die Tiefe, daß

ihre langen Speere splitterten und ihre Knochen

barsten wie fauliges Holz.

Ich sah, wie das Entsetzen sie erfaßte, wie sie ihre

Wolken voranzutreiben versuchten und mit den

Speeren in ihre Seelen stießen, daß mich die stummen

Schreie ihrer Qual in Raserei brachten.

Die Beweglichen schrien, als ich die zweite der

Wolken erklomm, und die Gestalten wie dürres Holz in

meinem Arm zerdrückte. Ihre Waffen vermochten mir

nichts anzuhaben. Meine Haut war hart wie ein

Stamm.

Die übrigen drei Beweglichen hatten die letzte

Page 117: Ubali, der Panther

Wolke verlassen. Sie dachten mir auf ihren schwachen

Beinen zu entkommen. Ich holte sie ein, einen nach

dem anderen. Sie hätten ebensogut versuchen können,

dem Wind zu entkommen.

Dann war Stille auf der Prärie, die stummen und die

lauten Schreie erloschen, und ich spürte, wie mein

Trägerkörper müde wurde. Ich ließ mehr von meinen

Kräften in ihn strömen, aber er war verbraucht.

Er war reglos.

Eine fremde Ausstrahlung kam von irgendwo.

Gedanken, die ich nicht verstand, die nicht mir galten,

die etwas fast Vergessenes weckten ... etwas, das Ubali

hieß ...

Mich ... mich ...

Etwas hob mich sanft hoch.

Ich schaukelte leicht im Wind. Ein gelbliches Dach war

über meinem Kopf und schützte mein Gesicht vor den

heißen Strahlen der Sonne. Ich spürte, daß ich nicht

allein war, daß etwas mitfühlend in meinen Gedanken

lauschte.

Und ich erinnerte mich.

Waramau!

Ich setzte mich auf. Ha, ich war auf Waramau. Wir

trieben im leichten Ostwind eine Lanzenlänge über

dem wogenden Gras.

Der Alptraum war vorüber!

Page 118: Ubali, der Panther

Der Dschungel war ein dunkler Strich am Horizont.

Dann sah ich, daß noch zwei Wolken von der Größe

Waramaus uns folgten. Sie waren leer. Ich erinnerte

mich an den Traum. War es doch kein Traum gewesen?

Hatte ich die Wolkenreiter besiegt? Hatte ich

wahrhaftig diesen dämonischen Kampf überlebt?

Waramaus freudige Empfindungen bestätigten es.

Ich hatte den Eindruck, daß sie mich für einen

gewaltigen Helden hielt.

Aber es war etwas in mir, was ich nicht verstand.

Ich war nicht allein.

Anfangs dachte ich, daß es Waramaus Gedanken

und Empfindungen wären, oder jene der beiden

anderen Wolken. Diese spürte ich auch manchmal, aber

schwächer, als wären sie abgestumpft unter der

Herrschaft ihrer Reiter, und entwickelten sie jetzt

erneut, da sie frei waren.

Waramau sah es mit Stolz, daß sich die beiden ihr

anschlossen, und daß sie mich bewunderten, und daß

ich ihr Nicht-Reiter war. Das war eines der wenigen

direkten Worte, die sie verwendete. Nicht-Reiter. Das

bedeutete soviel wie Freund.

Sie gab mir Wasser, um meinen Durst zu löschen,

und danach, um mich zu baden. Dabei erkannte ich,

daß es Stellen an meinem Körper gab, an denen die

Berührung mit Wasser alles andere denn angenehm

war.

Page 119: Ubali, der Panther

Mir war klar, daß ich eine Menge Wunden

davongetragen haben mußte. Aber ich fand nicht einen

Kratzer, nicht einen Schnitt. Dafür entdeckte ich etwas

anderes, das mich mit Furcht erfüllte. An den Stellen,

an denen das Wasser schmerzte, besaß die Haut eine

grünliche Färbung. Und sie war hart und knotig, wie

die eines Kaktus.

Waramau spürte meine Furcht. Ich versuchte ihr

klarzumachen, daß ich nichts fürchtete, das mit ihr

zusammenhing, sondern daß ich etwas Fremdes in mir

spürte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was ich

meinte. Ich stimmte überrascht zu, als sie fragte, ob ich

vielleicht meinte, daß ich einen Reiter hätte. Reiter, das

bedeutete für sie Feind und Schmerz und Zwang – das,

was sie in den letzten Tagen in der Gewalt der

Wolkenreiter erlebt hatte.

Diese übermenschlichen Kräfte während des

Kampfes waren nicht meine gewesen, daran zweifelte

ich nicht mehr. Ich erinnerte mich an die Blume und

die Wolke von Stacheln, die sie auf mich abgeschossen

hatte.

Und dann an den Traum.

Ich wollte wachsen und gedeihen in fruchtbarer

Erde und mir alles Bewegliche Untertan machen ...

Ich erschrak über diese Gedanken, weil sie von

solcher Kraft waren.

Ich erinnerte mich an das grüne Gift, das aus den

Page 120: Ubali, der Panther

Stacheln in meinen Körper geflossen war.

Das war es, was ich in mir hatte. Etwas, das stark

war, und das herrschen wollte. Etwas, das neuen

Lebensraum suchte. Das Bewegliche wie mich als

Trägerkörper benutzte.

Ich wurde bleich bei den Gedanken. Auch die

schwarze Haut kann erbleichen.

Noch besaß ich die Oberhand. Aber wie lange noch?

Oder besaß ich sie überhaupt noch?

Wie gefährlich war dieses Etwas in mir? Ich konnte

diese Frage nicht beantworten. Ich konnte nicht einmal

raten.

Ich spürte, wie sich Waramau angstvoll vor meinen

Überlegungen zurückzog. Sie verstand mich nicht

mehr. Ihr Wesen war einfach, ihr Herz gerade. Sie

mochte mich, aber sie verstand den Widerstand nicht.

Ich mußte handeln, solange ich noch handeln

konnte.

»Waramau«, bat ich sie. »Bring mich zurück!«

»Zurück?«

»Wo du mich gefunden hast?«

»Gefunden?«

Ich versuchte mich an das Weltentor zu erinnern

und in Bildern zu denken.

Nach einer Weile verstand sie mich. Aber sie sagte

nicht ja und nicht nein. Sie gab mir keine Antwort. Sie

trieb nur im Wind.

Page 121: Ubali, der Panther

Ich sagte ihr, daß ich sterben würde, wenn sie mich

nicht zurückbrächte.

»Sterben?«

Mir fiel das Wort ein, das sie gebraucht hatte, um

ihre größte Furcht zu beschreiben.

»Skortsch«, sagte ich.

Ich spürte, wie sie zusammenzuckte. Und dann

tröstete sie mich auf ihre Art mit beruhigenden

Gedanken und Gefühlen. Sie änderte die Richtung. Es

fiel mir erst nicht auf, nur als der Wind an ihr rüttelte,

erkannte ich, daß sie gegen den Wind kreuzte. Ihre

beiden Begleiterinnen folgten getreulich. Ich ließ sie

meine Freude fühlen und meine Erleichterung.

Waramau war sehr froh, daß ihr Nicht-Reiter seine

dunklen Gedanken verloren hatte. Freude war eine

ihrer liebsten Empfindungen. Dafür würde sie bis ans

Ende der Welt fliegen.

Ich legte mich wieder unter das Dach und genoß die

Sicherheit und Geborgenheit. Vielleicht würde ich den

König wiedersehen. Myra. Die Freunde, die ich an

seiner Seite gefunden hatte.

Gewiß war nur eines: Es würde ein langer Weg

werden.

Page 122: Ubali, der Panther

9.

Der Kampf begann ein wenig später, als wir noch

immer über der Prärie kreuzten.

Das Fremde in mir war nicht einverstanden mit der

Richtung, die wir eingeschlagen hatten. Es lehnte sich

auf! Es tobte in meinem Körper, daß ich mich rasend

vor Schmerzen wälzte.

Weit entfernt vernahm ich Waramaus angstvolle

Gedanken. Dann verstummten auch sie. Ich rief nach

ihr, aber eine unüberbrückbare Wand schien uns zu

trennen. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper. Das

Fremde hatte ihn in seiner Gewalt.

Als ich wieder zu mir fand, lief ich über die Prärie

mit dem Wind im Rücken. Ich lief nach Westen. Es galt

die Steppe zu überqueren. Jenseits lag das Ziel.

Manchmal, wenn ich mich umsah, bemerkte ich

hinter mir drei Wolken tief über dem Gras, die mir in

sicherem Abstand folgten. Sie weckten Erinnerungen in

mir, die aber wieder erloschen, bevor ich mich darauf

besinnen konnte.

Auch eine rufende Stimme glaubte ich manchmal zu

hören, die einen Namen rief, der mir fremd und

bekannt zugleich war.

Ubali!

Page 123: Ubali, der Panther

Aber ich kümmerte mich nicht darum. Es durfte

keine Zeit mehr vergeudet werden. Alles reifte in mir

und schrie nach der Erde des Waldes, den ich am

westlichen Horizont wachsen sah.

Bald jedoch wurde mein Lauf langsamer, und ich

verfluchte meine Schwäche. Ich kam kaum zu Atem,

und ich verfluchte das Atmen.

Ich sank zu Boden trotz des wütenden Drängens in

mir, weiterzulaufen. Während ich mich in das

Präriegras fallen ließ, entdeckte ich, daß meine ganze

Brust grün geworden war und hart wie der Panzer von

Insekten. Aber nur ein Teil meiner selbst schauderte.

Der andere schien es als ganz natürlich zu empfinden.

Schluchzend grub ich meinen Kopf in den Boden.

Ich merkte nicht einmal, daß die Nacht hereinbrach.

Seltsame Bilder gaukelten durch meinen Kopf.

Oder waren sie wirklich?

Ich sah einen Menschen, der halb Blume war – ein

schwarzer Kopf auf dem Kelch, aus dessen Innerem

eine Stimme kam. Sie sprach seltsame Worte, die ich

nicht deutlich genug hören konnte, um sie zu

verstehen.

Ich wußte, daß das Bild nur ein Traum war. Aber ich

spürte ganz deutlich, daß jemand zu mir zu sprechen

versuchte. Ich hatte plötzlich das Empfinden, daß es

gut war, was mit mir geschah. Daß ich einen Zweck

Page 124: Ubali, der Panther

erfüllte.

Ich sah die pralle Blüte aufbrechen und ihre Wolke

von kleinen Pfeilen hinausschleudern, und es war mein

Leib, aus dem sie kam.

Dann verschwand der Fieberspuk plötzlich. Ich

spürte die kühle Nachtluft, roch das Gras, die Erde.

Ich wußte, was geschehen war. Ich spürte die

Veränderungen meines Körpers, aber keine Schmerzen.

Ein völlig unmenschliches Gefühl trieb mich nach

Westen. Gleichzeitig spürte ich ein anderes, ein

menschliches Gefühl – Hunger. Ganz einfach Hunger.

Es sah so aus, als hätten wir uns geeinigt – das

Fremde und ich. Als hätten wir erkannt, daß keiner viel

ohne die Hilfe des anderen tun konnte. Und es galt ein

paar Dinge zu tun.

Das Fremde würde mich gewähren lassen, meinen

Hunger zu stillen, und ich würde es gewähren lassen,

den Ort zu finden, nach dem es suchte.

Auf dem Weg kam ich an die Stelle, an der wir die

Wolkenreiter geschlagen hatten. Ich nahm einem der

Toten ein Schwert ab, einem anderen einen Dolch.

Damit konnte ich meinen Hunger stillen, wenn

jagdbares Wild auftauchte – Bewegliche, wie es sie

nannte. Das Fremde erhob keinen Einspruch.

Einen guten Teil der Nacht war ich unterwegs. Dann

brauchte ich Rast und schlief, bis die Sonne aufging.

Page 125: Ubali, der Panther

Der Wald lag nah vor uns. In einiger Entfernung

hingen drei kleine Wolken reglos in der Luft. Arme

Waramau. Sie verstand nicht, was vorging. Aber jetzt

war keine Zeit, es ihr klarzumachen.

Jetzt galt es erst Dinge zu tun, nach denen alles mich

drängte. Ich setzte mich wieder in Bewegung auf den

Wald zu.

Waramau war nicht einverstanden mit dem, was

geschehen war. Ich hatte sie aus Gründen verlassen,

die ihr nicht ganz klar waren Die Verwandlungen in

mir waren zu verwirrend rasch vor sich gegangen.

Nicht ich hatte verlangt, abzusteigen, sondern das

Fremde in mir.

Einen Augenblick las sie meine Gedanken, im

nächsten die anderen. Es verwirrte ihren einfachen

Verstand. Sie wußte nur eines: daß sie dabei war, ihren

geliebten Nicht-Reiter zu verlieren.

Irgendwo im Hintergrund meiner Gedanken

empfand ich es auch als schmerzlich.

Ich hörte, wie sie mich rief.

»Ubali! Ubali!«

»Ja, Waramau?«

»Willst du nicht gegen den Wind?«

»Gegen den Wind?« dachte ich verwundert. Nein,

ich wollte nicht gegen den Wind. Was ich suchte, lag

vor mir. Mit dem Wind! Im Westen. Im Wald vor mir.

Nein, nicht gegen den Wind. Da kam ich her. Da

Page 126: Ubali, der Panther

wuchs ich.

Ich? Ubali?

Verwundert schüttelte ich den Kopf. Bilder von

einem Götterwagen waren plötzlich in meinem Kopf.

Aber sie schienen so unendlich fern. Ein Gesicht

tauchte auf, das eines Königs. Dragons. Königin

Amees. Parthos. Nabibs. Iwas.

Etwas zog einen dunklen Vorhang vor die Bilder.

Es nahm mir Stück um Stück meines Ichs.

Ubali starb. Wurde nach und nach vergessen.

»Leb wohl, Waramau« dachte das Fremde in mir.

»Da vorn ist mein Ziel. Dort werde ich für alle Zeiten

bleiben.«

»Nein!« rief ich entsetzt, aber meine Gedanken

hallten wider wie in einer kleinen Kammer. »Nein, ich

will nicht. Waramau, hilf mir!«

Aber ich konnte sie nicht erreichen. Das Fremde

hatte mich eingeschlossen. Ich war mein eigenes

Gefängnis.

»Leb wohl, Ubali. Leb wohl, Nicht-Reiter!« kamen

traurig Waramaus Gedanken.

Dann sah ich schluchzend, wie sie sich entfernten,

wie sie langsam mit dem Wind über den Wald trieben

und höher stiegen – drei gelblich weiße Punkte im

dunklen Blau des Himmels.

Ich setzte mich in Bewegung auf den Wald zu.

Page 127: Ubali, der Panther

Ich war rasch. Ich verspürte wieder die ungeheuren

Kräfte in mir. Sie trieben mich wie mit Flügeln

vorwärts. Die Erfüllung war so nah.

Der Wald war so anders als der andere, den ich

bereits kannte. Er war erfüllt von Leben. Nichts roch

nach Tod oder Fäulnis. Ich zitterte vor Erwartung, und

während ich langsam über den fruchtbaren,

lebensvollen Boden schritt, fühlte ich meine

Eingeweide schwellen, meine Arme spreizten sich wie

Blätter. Meine Füße schienen sich mit jedem Schritt in

den Boden zu wühlen.

Das Kreischen von Vögeln erfüllte die Luft, und es

gab andere Geräusche von größeren Beweglichen.

Plötzlich waren meine Füße fest. Sie bewegten sich

nicht mehr vom Boden. Etwas Grauenvolles geschah,

und ich wehrte mich dagegen. Aber es war zu spät.

Eine tiefe Befriedigung war in mir, die mich mit

Schauder erfüllte.

Etwas noch Fremderes berührte meine Gedanken,

hieß mich Geduld zu haben und geschehen zu lassen,

was geschah.

Aber ich schrie plötzlich und wehrte mich. Ich war

Ubali, und Shi-buts heilige Götter konnten es nicht

geschehen lassen, daß ich hier starb. Ich riß mich aus

der Erde los und begann wieder zu laufen. Meine Wut

und Furcht rissen die Wände meines Käfigs auf. Ich

war wieder ich! Ich fühlte Hunger, Schmerz,

Page 128: Ubali, der Panther

leidenschaftliches Verlangen zu leben.

Wie ein von einem Dämon besessener, wie ein

Berserker raste ich durch den Wald und kam

unvermutet auf eine Lichtung.

Überrascht blieb ich stehen.

Eine Gazelle graste friedlich und unbesorgt, als gäbe

es keine Gefahren. Verwundert dachte ich, was dieser

Steppenbewohner hier auf einer Dschungellichtung zu

suchen hatte. Der Anblick des Wildes weckte sofort das

vergessene Hungergefühl. Jagdleidenschaft ergriff von

mir Besitz und unterdrückte die tobenden Kräfte in

meinem Innern.

Im nächsten Augenblick sah es aus, als ob ich um

meine Beute betrogen wäre. Ich hatte den Dolch bereits

in der Faust, und hielt mitten in der Bewegung inne.

Aus den Büschen jenseits der Lichtung trat eine

große, gefleckte Raubkatze und beobachtete ebenfalls

die Gazelle. Aber sie machte keine Anstalten, ihre

Beute anzufallen.

Es war ein Leopard, ein mächtiges, ausgewachsenes

Tier, und ich war nicht erpicht darauf, mich mit ihm

anzulegen. Er machte keine Anstalten zu

verschwinden, im Gegenteil, er versetzte mich noch

mehr in Verwunderung. Er lief auf die Gazelle zu, die

ihm entgegensah und nicht wegzulaufen versuchte.

Entweder war sie von seinem plötzlichen Auftauchen

gelähmt, oder ...

Page 129: Ubali, der Panther

Aber mir fiel kein anderer Grund ein, warum sie

sonst so ruhig bleiben sollte im Angesicht des Todes.

Jetzt hatte er sie erreicht, doch nichts geschah. Die

beiden so ungleichen Tiere beäugten sich, dann graste

die Gazelle ruhig weiter, während die Raubkatze ihren

Weg fortsetzte.

Ich war darüber so verwundert, daß ich zu spät

bemerkte, daß die gefleckte Katze direkt auf mich

zukam. Für eine Flucht war es bereits zu spät. Sie hatte

mich gesehen. Sie hielt an. Dann kam sie einige Schritte

näher, während ich langsam mein Schwert aus dem

Gürtel zog.

Ich beging nicht den Fehler, zurückzuweichen. Das

ist etwas, das die meisten Raubtiere zum Angriff reizt.

Ich blieb ruhig stehen mit dem Schwert in der Rechten

und dem Dolch in der Linken.

Sie kam noch einige Schritte näher, aber nicht zum

Sprung geduckt, sondern mit blitzenden, neugierigen

Augen. Dann senkte sie den Kopf ein wenig, und ich

sah einen länglichen Streifen auf Schädel und Nacken,

wie ich ihn noch auf keinem Leoparden gesehen hatte.

Dann verschwand die große Katze seitlich im

Gebüsch. Ich lauschte, bis das Brechen des Unterholzes

in der Ferne verklang. Aufatmend steckte ich mein

Schwert zurück.

Die Beute gehörte nun mir. Ich schlich mich näher

an die Gazelle heran, bis ich den Augenblick für einen

Page 130: Ubali, der Panther

guten Wurf sah. Der Dolch stieß genau ins Herz, ich

hatte nichts verlernt. Mit einem klagenden Laut brach

das Tier zusammen. Als ich es erreichte, war es tot.

Ich riß den Dolch heraus, öffnete den Einstich weit

und nahm einen Schluck des Blutes, das aus dem

Herzen hervorströmte. Es belebte mich, und ich trank

erneut.

Es war wie ein innerlicher Balsam, der den Schmerz

linderte, den Durst löschte und mich wach machte, viel

wacher, als ich in den letzten Stunden gewesen war.

Ich begann mich wieder menschlich zu fühlen.

Mein Blick fiel auf den Kopf des Tieres. Verwundert

bemerkte ich wie auch bei dem Leoparden einen

weißen Streifen auf Hinterkopf und Nacken. Aber das

konnte nur Zufall sein bei zwei so verschiedenen

Tieren.

Die Gazelle würde einen guten Braten abgeben, wie

ich ihn seit einer Ewigkeit entbehrt hatte. Wenigstens

kam es mir so vor. Ich mußte mir einen geschützten

Lagerplatz besorgen. Wenn ich erst satt war, ließen sich

Pläne schmieden. Irgendwo im Norden mußte das

Volk der Wolkenreiter leben. Wenn ich es fand, würde

es vielleicht auch möglich sein, den König zu finden,

oder Danilas Stamm, und zum Tor zurückzukehren.

Als ich das Tier hochheben wollte, fiel mein Blick

auf den Waldrand.

Ich erstarrte.

Page 131: Ubali, der Panther

Ein gutes Dutzend großer, schwarzer Gestalten

stand dort. Gleich darauf vernahm ich das Brüllen

eines Gorillabullen, und die ganze Horde hetzte wie

schwarze Teufel auf mich zu.

Ich ließ die Gazelle los und lief, was die Beine

hergaben. Im Laufen riß ich das Schwert aus dem

Gürtel, aber wenn der ganze Haufen über mich herfiel,

blieb nicht viel von mir übrig. Zwei oder drei mochte

ich erledigen mit einigem Glück. Aber einer ihrer

Schläge konnte meinen Schädel zertrümmern wie eine

Nußschale. Ich hatte es schon einmal mit eigenen

Augen mit angesehen während eines Jagdzugs in

einem Gebiet weit nördlich von Mlmau. Die meisten

Krieger fürchteten die großen Affen mehr als den

Panther, mehr als den Elefantenbullen.

Als ich den schützenden Wald erreicht hatte, wagte

ich einen Blick zurück auf die Lichtung. Verwundert

sah ich, daß sie mir nicht gefolgt waren, sondern sich

aufgeregt um die Gazelle scharten.

Sie schüttelten drohend ihre mächtigen Arme in

meine Richtung. Es war eine fast menschliche Gebärde,

aber in vielen Stämmen Shi-buts waren die Gorillas

mehr als nur Affen. Man nannte sie auch die Mau-anos,

die wilden Waldmenschen.

Sie waren zweifellos kluge Tiere, und wenn ich nur

halb so klug war, dann machte ich mich aus dem Staub.

Als ich aber sah, wie sie die Gazelle hochhoben und auf

Page 132: Ubali, der Panther

den jenseitigen Waldrand zumarschierten, überwog

meine Neugier. Es war so gar nicht nach Art der Affen.

Ich umrundete vorsichtig die Lichtung. Es war nicht

schwer, ihnen auf der Spur zu bleiben, denn sie

stapften geräuschvoll durch den Wald, als wären sie

die Herren, und niemand könnte ihnen etwas anhaben.

Vielleicht waren sie es. Ein beunruhigender

Gedanke. Das Verhalten der Tiere, die ich bis jetzt

gesehen hatte, war sehr seltsam gewesen.

Aber das war eine andere Welt. Das mochte vieles

erklären, wenn ich es auch noch nicht verstand. Früher

oder später würde ich dahinterkommen – wenn ich

lange genug lebte.

Danilas Welt barg viele Geheimnisse. Und ich hatte

erst einen kleinen Teil gesehen. Es würde viel zu

erzählen geben an den Lagerfeuern, wenn wir lebend

zurückkehrten.

Ich blieb in sicherer Entfernung. Bald waren sie auf

einem ausgetretenen Pfad. Sie hatten es ziemlich eilig.

Sie wandten sich nicht einmal um.

Aber nicht weit vor mir teilten sich plötzlich die

Büsche am rechten Pfadrand, und der Leopard trat

heraus. Ich hielt an. Er hatte mich noch nicht bemerkt.

Aber er mußte es, wenn er den Kopf in meine Richtung

drehte. Ich hielt den Atem an. Wenn es zum Kampf

kam, würden auch die Affen aufmerksam werden und

über mich herfallen, wenn ich überlebte.

Page 133: Ubali, der Panther

Die Katze blickte nicht in meine Richtung. Sie lief

hinter den Affen her.

So groß aber war meine Neugier nicht, daß ich

weiter folgte. Ich brauchte einen Unterschlupf und

etwas zu essen. Die belebende Wirkung des Blutes

hatte nachgelassen, und ich fühlte mich müde und leer.

Ich dachte an Waramau. Und dann erinnerte ich mich

an das Fremde in mir.

Ich starrte an meinem Körper hinab. Die grüne

Färbung war fast verschwunden. Die Haut fühlte sich

geschmeidig an. Nur am Bauch schimmerte noch Grün

durch.

Ich lauschte in mich hinein. War ich allein? Eine

undeutliche Erinnerung geisterte durch meine

Gedanken, ein vergessener Drang, nach einer Erde zu

suchen, in der ich gedieh und wuchs.

Der Traum einer Blume.

Ich schüttelte den Kopf. Ich mußte sehr krank

gewesen sein, daß die Dämonen des Fiebers von mir

Besitz ergreifen konnten.

10.

Page 134: Ubali, der Panther

Wenig später gelang es mir, ein kleineres Tier zu

erlegen. Wiederum überkam mich der Drang, das noch

warme Blut zu trinken, und wiederum belebte es mich

durch und durch.

Das Merkwürdige daran ist, daß ich nie bei allen

meinen früheren Jagden auch nur das geringste

Verlangen nach frischem Blut hatte. Im Gegenteil, der

Geschmack erfüllte mich mit Ekel. Es mußte wohl mit

diesem Fieber zusammenhängen, denn mein Kopf

wurde klar und frei.

Bald darauf fand ich einen geeigneten Lagerplatz.

Ich trug brennbare Äste zusammen und hatte bald

darauf ein Feuer.

Ich häutete meine Beute und briet sie, und der Duft

von frisch gebratenem Fleisch war noch einmal so

belebend wie das Blut.

Satt und voller Wohlbehagen wie ich war, sah

Danilas Welt mir plötzlich paradiesisch aus.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich mein

Lager abbrach. Bis zum Abend konnte ich noch ein

ganzes Stück Wegs zurücklegen. Ich hatte allerdings

nicht vor, mich durch den Urwald zu kämpfen. Ich

wollte zur Prärie zurückkehren und dem Waldrand in

nördlicher Richtung folgen, bis ich auf Spuren der

Wolkenreiter stieß.

Der Wald war längst nicht so dicht und verwachsen

Page 135: Ubali, der Panther

wie der Dschungel, in den ich vor den Wolkenreitern

geflohen war. Es gab immer wieder Ausblicke auf den

freien Himmel, auch zahllose Lichtungen. Der ganze

Wald atmete, er erstickte nicht an seiner Fäulnis wie

der andere.

Und er war erfüllt von Leben, wie die Wälder

meiner Heimat.

Ich schlug eine ungefähre nordöstliche Richtung ein,

dann würde ich früher oder später die Prärie erreichen.

Nicht ganz ohne Unbehagen beobachtete ich die

Bäume und suchte sie nach meinen Freunden, den

Affen ab.

Unvermutet kam ich zu einem kleinen Teich. Er lag

dunkelgrün inmitten beinah undurchdringlichen

Dickichts. Ich hatte Mühe, mir einen Weg durch das

Gestrüpp zu hauen. Dann lag seine Oberfläche dunkel

und glatt und wenig einladend vor mir, und mein

Verlangen zu trinken schwand rasch.

Es lag an dem ungewohnten Geruch, der von dem

Wasser aufstieg. Er war nicht abstoßend, aber auch

nicht einladend. Außerdem wirkte das Wasser ölig

dick, als ich mit einem Ast hineintauchte. Die Wellen

glätteten sich fast sofort.

Dennoch schöpfte ich schließlich eine Handvoll. Es

wirkte angenehm kühl und war ganz klar. Dennoch

sah man nicht auf den Grund, nicht einmal am Ufer.

Gerade wollte ich es kosten, als ich ein Zischen ganz

Page 136: Ubali, der Panther

in meiner Nähe vernahm.

Ich erstarrte.

Ganz langsam brachte ich die Hand mit dem Wasser

an meinen Körper und ließ es lautlos an meinen

Schenkeln hinabfließen. Dann tastete ich so langsam,

daß es kaum wie eine Bewegung aussah, nach meinem

Dolch und zog ihn aus dem Gürtel. Während ich den

Kopf zu drehen versuchte, um zu sehen, wo sich die

Schlange befand, ertönte das Zischen erneut, dicht

hinter meinem Ohr.

Ich hielt sogar den Atem an. In der Stille zischte sie

wieder, länger anhaltend diesmal, und ich sah ihren

Kopf aus den Augenwinkeln in mein Blickfeld

pendeln. Ich kannte genug Schlangen meiner Heimat

und hatte viele gefangen, um das Gift dem Priester

unseres Stammes zu bringen, aber solch eine hatte ich

noch nie gesehen. Sie war fast schwarz mit roten

Flecken am ganzen Rücken. Sie war nicht sehr groß, sie

mochte ebensogut ein Würger wie eine Giftschlange

sein, und ich hatte nicht vor, es herauszufinden.

Ich griff zu, bekam den Kopf zu fassen, riß ihn zu

Boden, um ihn mit dem Dolch festzunageln. In diesem

Augenblick krümmte sich der Leib um mich, und der

Stoß ging daneben.

Keuchend taumelte ich hoch, ohne den Kopf

loszulassen. Er war nun meine einzige Chance.

Während mir unter dem Druck des Schlangenleibes

Page 137: Ubali, der Panther

fast schwarz vor den Augen wurde, brachte ich den

Kopf in die Nähe meines Messers – und schnitt.

Als der Kopf sich löste, verlor auch der Körper seine

Kraft. Ich bekam Luft und versuchte mich

auszuwickeln. Unter dem Gewicht verlor ich plötzlich

meinen festen Stand und torkelte fast bis zum Hals in

die kühlen Fluten des Teiches. Der Schlangenkörper

löste sich von mir. Ernüchtert, aber von angenehmen

Prickeln durchschauert, genoß ich das unfreiwillige

Bad einen Moment. Dann aber machte ich, daß ich ans

Ufer kam. Ich konnte nicht wissen, welches Tierzeug

hier zu Hause war. Das eine Erlebnis reichte vorerst.

Fröstelnd stieg ich aus dem Wasser. Es war

verdammt kühl. Während ich mich noch schüttelte, ließ

mich ein Plätschern herumfahren.

Erstaunt sah ich den Kopf eines Mädchens, der aus

dem Wasser aufgetaucht war. Sie war dunkelhäutig

wie ich, hatte schwarzes Haar und schwamm mit

kräftigen Stößen ans Ufer.

Als sie aus dem Wasser stieg, betrachtete ich

bewundernd ihren schwarzen Körper. Sie war

wunderschön. Ich konnte den Blick nicht von ihrem

Gesicht wenden, das mich unverwandt ansah.

Ihre Lider waren halb gesenkt. Aber jetzt öffnete sie

sie weit, und ich erschrak. Ihre Augen waren glutrot,

dunkler und kräftiger als die eines Albinos.

Sie hielt meinen Blick magisch fest. Es war

Page 138: Ubali, der Panther

unmöglich, ihn abzuwenden.

Fast hilflos wartete ich, als sie auf mich zukam. Sie

öffnete den geschwungenen Mund und entblößte ihre

Zähne. Ein Zischen kam dazwischen hervor. Sie neigte

den Kopf hin und her, und ihre Zunge zuckte wie die

einer Schlange zwischen ihren Zähnen hin und her.

Sie kam ganz nahe. Dann schlugen ihre Zähne in

meine Schulter. Der Schmerz befreite mich

augenblicklich aus dem Bann. Mit einem Aufschrei

griff ich nach ihrem Haar und riß sie zurück.

Sie zischte gefährlich.

Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie griff

erneut an, umklammerte mich, wand sich um mich wie

ein Reptil und versuchte wieder, ihre Zähne in meinen

Körper zu schlagen. Ihre Kraft war erstaunlich. Ich

rang nach Luft. Noch immer scheute ich davor zurück,

eine Waffe zu benützen, obwohl ich deutlich genug

fühlte, daß ich kein Mädchen vor mir hatte, sondern

eine Bestie.

Mit einem gewaltigen Ruck kam ich frei und

schleuderte sie von mir. Sie ringelte sich zusammen,

während sie fiel und erhob sich mit einer fließenden,

beinah schlangenartigen Bewegung. Sie zischte

gefährlich. Ich war einen Augenblick nicht sicher, ob es

aus ihrem Mund kam.

Als sie erneut auf mich losschnellen wollte, hatte ich

das Schwert in der Rechten zum Hieb erhoben.

Page 139: Ubali, der Panther

Sie war kein menschliches Wesen. In ihren roten

Augen war kein Funken Vernunft. Sie war ein Dämon,

den ich aus seinem Teich aufgestört hatte. Und nun

hatte ich Mühe, ihn wieder loszuwerden. Das Schwert

schreckte sie nicht ab.

Sie griff erneut an. Wütend. Kalt. Tödlich.

Und dennoch brachte ich es nicht fertig, ihr das

Schwert in den Körper zu stoßen. Aber ich ließ sie

meine Faust fühlen. Sie ging zu Boden, nur halb

betäubt und ich versetzte ihr einen zweiten Schlag.

Dann lag sie still.

Keuchend ließ ich mich neben ihr nieder und drehte

sie auf den Rücken. Ich betrachtete nachdenklich ihr

Gesicht. Es war menschlich und doch nicht menschlich.

Es war ohne Wärme. Und sehr schön, wie ihr Körper.

Sie war ein menschliches Raubtier. Und sie wäre

eine interessante Gefährtin.

Ich nahm meinen Gürtel ab, rollte das Mädchen auf

den Bauch und fesselte ihr die Hände auf den Rücken.

Dies tat ich sehr gründlich. Ich wollte sicher sein, daß

die kleine Bestie mich nicht so schnell wieder in ihre

Arme bekam.

Dabei fiel mein Blick auf ihren Rücken. Ich erschrak.

Über das Rückgrat hinab zog sich ein deutliches

Muster roter Flecken – so wie die Schlange sie besessen

hatte!

Konnte es sein, daß ...

Page 140: Ubali, der Panther

Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie mußte

eine Göttin sein. Sie war in menschlicher Gestalt

auferstanden. Vielleicht war sie eine Zauberin, die hier

in diesem Teich wohnte.

Rasch löste ich die Fesseln wieder. Ich hatte schon

genug ihres Zorns auf mich geladen, auch wenn es

keine Absicht gewesen war.

Je mehr Abstand zwischen mir und diesem Teich

lag, desto besser.

Ich kam nicht sehr weit.

Am Schweigen der Vögel merkte ich, daß ich nicht

der einzige Eindringling in diesem Gebiet war. Die

Stille ließ nichts Gutes ahnen.

Ich beobachtete die Bäume. Es war möglich, daß die

Affen sich an meine Spur gehängt hatten. Auf einer

Lichtung hielt ich an und wartete im hohen Gras. Es

dauerte nicht lange, und die Gestalten erschienen im

Waldrand.

Mehr als zwei Dutzend. Sie beobachteten die

Lichtung, als wüßten sie, daß ich mich noch hier

verborgen hielt. Ich wand mich durch das hohe Gras

und erreichte den jenseitigen Waldrand, als sie sich in

Bewegung setzten.

Sie holten rasch auf.

Bald hörte ich sie links und rechts, dann vor mir,

und dann kam der Augenblick, den ich gefürchtet

Page 141: Ubali, der Panther

hatte. Ein halbes Dutzend der Tiere sprang von einem

Baum direkt vor mir und versperrte mir drohend den

Weg. Auch hinter mir standen sie abwartend.

Ich war etwas erstaunt darüber, daß sie nicht sofort

angriffen. Aber ich wußte, sie würden es jeden

Augenblick tun. Ich starrte auf die mächtigen, dunklen

Schädel mit den vorspringenden Schnauzen und die

muskelbepackten Schultern. Ihre Blicke ruhten ebenso

abschätzend auf mir.

Der Bulle trat schließlich auf allen vieren einen

Schritt vor und entblößte sein Gebiß. Er hob den

rechten Arm und deutete den Weg zurück, den ich

gekommen war.

Die Geste war eindeutig. Sie wollten mich irgendwo

hinbringen. Das war ungewöhnlich. Dachten diese

Tiere? Oder gehorchten sie jemandem? Oder waren sie

wirklich wilde Halbmenschen?

Ich war jedenfalls ihr Gefangener, was sie auch

immer waren. Ich ließ das Schwert sinken. Es war

klüger, nachzugeben. Gegen diese Horde konnte ich

nicht viel ausrichten. Ein halbes Dutzend umringte

mich. Einer nahm mir das Schwert aus der Faust, ein

anderer den Dolch. Dann stießen sie mich vorwärts. Sie

behielten mich ständig in ihrer Mitte. Die Nähe ihrer

Körper machte mir erst recht bewußt, wie stark sie

waren. Ohne das Schwert hatte ich keine Chance.

Wir kamen an dem Teich vorbei, an dem noch

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immer das Mädchen lag. Sie hoben es auf und trugen

es mit sich. Es erinnerte mich daran, wie sie die Gazelle

weggetragen hatten.

Sie wirkten sehr zielstrebig.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als wir endlich

haltmachten. Das Mädchen begann zu sich zu

kommen. Sie standen fürsorglich um sie herum und

sprangen brüllend auseinander, als das Mädchen

zischend hochfuhr und den erstbesten in den Arm biß.

Es gelang ihm, sie abzuschütteln, aber sie ging immer

wieder zum Angriff über. Schrille Laute ausstoßend,

sprangen die Affen um sie herum, bis sie sie an den

Armen zu fassen bekamen. Ein ständiges Zischen kam

aus ihrem Mund.

Ich nutzte den Augenblick. Ich entriß dem einen

neben mir mein Schwert und stieß ihn zur Seite. Mit

drei Sprüngen stand ich vor dem überraschten Bullen.

Es war meine einzige Chance. Ich wußte, daß die

Bullen um die Führerschaft der Horde kämpften – bis

zum Tod. Er sollte wissen, daß ich nicht sein

Gefangener war, sondern sein Rivale.

»Kämpfe!« sagte ich. Das verstand er vielleicht nicht,

aber was ich wollte, mußte er erkennen.

Die Affen hatten sich von ihrer Überraschung erholt.

Sie stürmten auf mich zu, und ich hob drohend das

Schwert. Zwei oder drei würde ich mitnehmen.

Der Anführer hob seinen Arm, und die

Page 143: Ubali, der Panther

Heranstürmenden hielten inne.

Er schlug mit der geballten Faust gegen seine Brust.

Meine Herausforderung schien angenommen.

Während die Affen einen Kreis um uns bildeten,

winkte der Anführer einem zu, der ihm etwas zuwarf.

Erstaunt bemerkte ich, daß es sich um meinen Dolch

handelte.

Der Anführer fing ihn geschickt, ließ ihn mehrmals

zwischen beiden Händen hin und her wirbeln und trat

mir einen Schritt entgegen. Er entblößte sein Gebiß zu

einem Grinsen. Das war wenigstens der Eindruck, den

ich hatte. Die Zuschauer knallten die Fäuste

gegeneinander, offensichtlich erfreut über das

Schauspiel.

In einem Wirbel von Bewegung kam der Affe auf

mich zu. Sein Dolch klirrte gegen mein abwehrend

erhobenes Schwert. Seine Faust traf mich an der Brust,

und die Wucht des Schlages fegte mich zu Boden.

Einen Moment war mir schwarz vor Augen.

Undeutlich vernahm ich das begeisterte Kreischen der

Affen, dann war ich wankend auf den Beinen. Ich

zweifelte nicht mehr länger, daß er mehr als ein Affe

war, vielleicht auch die anderen, denn er benahm sich

nicht wie eine wilde Bestie. Er wartete, bis ich mich

erhoben hatte, bevor er wieder angriff.

Diesmal war ich gewappnet. Ich wehrte seinen

Dolch nicht ab, sondern wich ihm aus. Während der

Page 144: Ubali, der Panther

Schwung ihn vorwärtsriß, hieb ich mit der Klinge zu.

Es war ein gewaltiger Hieb, der einen schwächeren

Gegner niedergestreckt hätte. Nicht ihn. Mit einer

tiefen Schnittwunde quer über die mächtigen Schultern

rollte er sich ab und kam unter einem Schauer von

Blutstropfen auf die Beine.

Die Zuschauer waren still geworden.

Ich wartete nicht, bis er vorwärtsstürmte. Ich sprang

ihm entgegen. Der Dolch zuckte in meinen Arm,

während meine Klinge ihn durchbohrte.

Ich wartete nicht, bis sich die Zuschauer von ihrer

Überraschung erholten. Ich zog das Schwert aus

seinem toten Körper und ließ ihn zu Boden gleiten.

Ohne mich um meine Armwunde zu kümmern stieg

ich aus dem Kreis und schritt den Pfad entlang in die

Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich wollte aus

ihren Augen sein, bevor sie es sich anders überlegten.

Aber sie hatten nicht die Absicht, mich gehen zu

lassen.

Sie schwirrten hinter mir her, wie ein Schwarm

wütender Hornissen. Mit dem Rücken zu einem Baum

erwartete ich sie. Flucht wäre sinnlos gewesen. Sie

sollten sehen, daß sie einen entschlossenen Gegner vor

sich hatten.

Tatsächlich bremste sie meine Kampfbereitschaft

einen Moment. Wir standen uns abschätzend

gegenüber. Dann stürzten sie mit schwingenden

Page 145: Ubali, der Panther

Armen auf mich los. Sie hatten knorrige armdicke Äste

in den Fäusten, die sie wie Keulen schwangen.

Ich sprang mitten unter sie und bohrte die Klinge in

ihre schwarzen Leiber. Vier oder fünf streckte ich zu

Boden, bevor mich der erste Schlag erwischte. Ich ging

zu Boden wie ein Stein. Ein zweiter Hieb traf meine

Brust, und ich sah erstaunt, wie mein Brustkorb sich

nach innen krümmte, und alles rot wurde von Blut.

Dann traf ein weiterer mein Gesicht und löschte alles

aus.

Es war nicht das Ende.

Ich erwachte durch eine schaukelnde Bewegung.

Meine Augen waren rot verschleiert und ich fühlte die

warme Klebrigkeit von Blut überall im Gesicht. Über

mir schwankte das Baumdach des Dschungels,

manchmal aufgerissen, mit einem Stück tiefblauen

Himmels darüber.

Sie trugen mich irgendwo hin. Ich sah undeutlich

schwarze Gestalten um mich.

Meine Brust schmerzte, aber nicht sehr. Es war, als

gehörte sie nicht zu mir. Ich hatte auch kein Gefühl in

den Armen und Beinen. So ähnlich mußte es sein,

wenn man starb – daß man kein Gefühl mehr besaß.

Aber noch spürte ich den Schmerz. Schwach. Ich

wußte, daß ich sterben würde. Dann wurde es wieder

dunkel um mich.

Page 146: Ubali, der Panther

Ich träumte.

Ich lag auf einer Lichtung. Ich befand mich nicht

allein dort. Das Schlangenmädchen lag nicht weit von

mir. Sie wehrte sich und wand sich zischend, aber sie

war festgebunden. Um mich lagen die stillen Formen

der toten Affen – alle, die ich erschlagen hatte. Eine

stattliche Zahl, dachte ich. Sie hatten meinen Tod teuer

bezahlt.

War ich tot?

Es war alles so still. Ich spürte nichts. Nur, daß ich

lag.

Dann sah ich das Mädchen. Ihre Augen waren auf

mich gerichtet. Sie war dunkelhäutig. Das schwarze

Haar fiel in dichten Strähnen über ihre Brüste. Bis auf

einen Gürtel aus einem goldenen Geflecht und ein

seltsames Amulett, das funkelnd zwischen ihren

Schenkeln lag, war sie nackt. Ein unergründliches

Lächeln war auf ihren Lippen, halb verwischt von

einem traurigen Zug.

In der rechten Hand hielt sie einen weißen Stab, wie

das Zepter einer Königin.

Auf ihr Zeichen kam wie auf die ausholende

Bewegung eines Magiers Bewegung in die lautlose

Szene, und ich hörte ihre melodische Stimme:

»Es ist viel Blut geflossen. Bringt sie in den Teich des

Lebens, meine Freunde. Es ist Vitus Wille!«

Page 147: Ubali, der Panther

Die großen Affen, die ihr wie Schoßtiere gehorchten,

begannen ihre toten Gefährten aufzunehmen und zu

einem großen Teich zu tragen.

Sie warfen sie in das dunkle Wasser. Dann kamen

sie erneut und hoben mich auf. Ich spürte es nicht, aber

ich sah das Wasser auf mich zukommen.

Ich wollte schreien, aufbegehren, aber wie in allen

Träumen, gibt es nichts, das man tun kann.

Träume, heißt es in meinem Volk, sind die Spiele der

Götter.

Ich sank tiefer und tiefer, als hätte dieser Teich

keinen Grund.

Lungen brauchen Luft. Und meine brauchten sie so

dringend, daß ich einen stummen Schrei zu den

Göttern schickte. Sie erhörten mich, denn gleich darauf

durchbrach ich die Oberfläche des Wassers und konnte

meine Brust mit guter, kühler Luft füllen. Ein Grollen

kam aus meiner Kehle. Es war schwierig zu

schwimmen.

War doch alles kein Traum gewesen?

Ich fühlte mich lebendig, jeder Muskel geballt vor

Kraft, keine Müdigkeit, kein Schmerz.

Es war dunkel, und die Nachtluft war voll vom

Geruch brennenden Harzes. Zahlreiche Fackeln

erhellten das Ufer. Eine merkwürdige Gesellschaft

erwartete mich am Ufer. Ein Dutzend dunkelhäutige

Männer standen um ein Mädchen geschart, das ich im

Page 148: Ubali, der Panther

Traum bereits gesehen hatte. Und weiter im

Hintergrund standen die Affen. Sie alle blickten

andächtig in den Teich.

Sie schienen auf mich zu warten, und irgend etwas

versetzte sie in Aufregung. Sie winkten mir zu. Ich sah

mich um, ob etwas hinter mir war, das sie sehen

mochten.

Nein, da war nichts.

Endlich erreichte ich Grund. Ich rief ihnen zu. Es

war ein halbes Brüllen, wie von einem Raubtier, das

aus meiner Kehle kam. Es erschreckte mich. Ich

machte, daß ich aus dem Wasser kam. Am Ufer

schüttelte ich mich. Ich wollte mich aufrichten ...

Und erstarrte!

Ich stand auf breiten schwarzen Tatzen. Aus

meinem schwarzen Fell tropfte noch immer das

Wasser. Mit einem Aufschrei, der wie ein Grollen

klang, sprang ich zurück zum Wasser. Im hellen

Fackellicht, das sich im Wasser spiegelte, starrte mich

der gewaltige Schädel eines schwarzen Panthers an.

Hilfesuchend wandte ich mich zu den Männern und

dem Mädchen um. Ich hatte mehr Angst vor mir als

sie. Sie schienen es ganz natürlich zu finden.

»Willkommen, Ubali«, sagte das Mädchen

freundlich.

ENDE

Page 149: Ubali, der Panther

Während Dragon zusammen mit dem Mädchen

Danila längst die relativ sichere Zone erreicht hat, in

der die Mitglieder von Odaliks Stamm leben, dem auch

Danila angehört, ist Ubali, der sterbend in einen von

Vitus Teichen geworfen wurde, zu neuem Leben

erwacht – im Körper eines Schwarzen Panthers ...

Über Ubalis weitere Abenteuer lesen Sie im nächsten

Dragon-Band. Der Roman ist ebenfalls von Hugh

Walker verfaßt und erscheint unter dem Titel:

IM REICH DER TIERMENSCHEN