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walker-hugh
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1.
Das Erwachen war wie an jenem Tag in der Steppe, als
wir das Einhorn jagten. Es war heiß, und die Trage
schaukelte leicht. In das Gefühl des Schwindels und
der Übelkeit mischte sich ein stechender Schmerz im
Hinterkopf, der den strahlend blauen Himmel schwarz
vor meinen Augen werden ließ – so schwarz wie das
grinsende, schweißbedeckte Gesicht Malaubs, dessen
weiße Zähne blitzten, als er rief:
»Hoa! Halt! Ubali ist wieder bei uns!«
Ich erinnerte mich, wie wir ausschwärmten, und an
das Stampfen der mächtigen Beine des Kolosses, an
den gewaltigen Schädel, der plötzlich im hohen Gras
vor mir auftauchte, das schimmernde Horn zum Stoß
gesenkt. Danach an den Schmerz.
Diesmal fehlte Malaubs Gesicht, sonst wäre diese
Erinnerung vollkommen gewesen. Einen Augenblick
wenigstens, dann wußte ich, daß es Bilder aus meiner
Kindheit waren und daß Shi-buts Steppen in
unendlicher Ferne lagen.
Andere Erinnerungen quälten mich und gaben mir
das Gefühl von Gefahr und sagten mir, daß der blaue
Himmel fremd war, in den ich mit
zusammengekniffenen Augen starrte.
Das sanfte Schaukeln war nicht das einer Trage,
sondern glich mehr dem eines Schiffes. Das war
seltsam. Dann geisterte Arrics Gesicht mit einem
verschlagenen Lächeln durch mein erwachendes
Bewußtsein, und ich setzte mich mit einem Ruck auf.
Der Schmerz löschte einen Augenblick lang alles aus.
Meine Hände krallten sich an den Kopf und fanden die
Wunde. Ich erinnerte mich der angriffslustigen Wolke
und ihrer Wehrhaftigkeit, als Arric mit dem Feuer auf
sie losging. Der Steinhagel. Und ausgerechnet mich
mußte es treffen. Immerhin, ich lebte noch.
Mit halbgeöffneten Augen starrte ich um mich. Was
ich sah, erschreckte mich. Ich lag auf einem weißen,
weichen Gebilde, das der Wind vor sich herzutreiben
schien. Ich versuchte mich aufzurichten, aber es war
schwierig bei den schaukelnden Bewegungen. Als ich
stand, sah ich den auf und ab tanzenden Horizont weit
entfernt. Der Anblick verursachte mir Übelkeit. Es war
nicht wie auf dem Luftschiff des Königs, es war mehr,
als triebe man im Einbaum in rauher See. Aber das
Entsetzen vertrieb die Übelkeit rasch.
Ich befand mich auf der Wolke, und des Königs
Götter mochten wissen, wie ich hierherkam. Der Wind
trieb mich irgendwohin. Ich war allein. Damit hatte
Arric freie Hand. Und er würde sie nützen.
Ich versuchte an den Rand der Wolke zu gelangen,
aber irgend etwas warnte mich eindringlich – wie eine
innere Stimme. Ich blieb in sicherer Entfernung,
obwohl es sehr unbefriedigend war, weil ich nichts von
dem Land unter mir sehen konnte, nur den Horizont
ringsum, und der bestand aus den Wipfeln von
Bäumen, so weit das Auge reichte.
Es war alles andere denn ermutigend.
Ich wußte nicht, wie lange ich schon auf dieser
Wolke trieb – Stunden? Tage? Ich hatte es oft genug
gesehen, daß es Tage währen mochte, bis der Geist
wieder in den Körper zurückkehrte, wenn der Schlaf
kräftig genug war. Der Wind mochte mehrmals
gewechselt haben, und wenn ich mich recht erinnere,
besaß die Wolke nicht zu unterschätzende eigene
Bewegungsmöglichkeiten.
Ich hatte nicht die geringsten Anhaltspunkte, wo ich
mich befand, noch in welcher Richtung das Weltentor
lag.
Ich ließ mich nieder, als mich erneut ein
Schwindelgefühl befiel. Als es nachließ, versuchte ich
mir auszumalen, was geschehen war. Das letzte, woran
ich mich erinnerte, war der Hagel von Steinen, der vom
Himmel herabkam, und Arrics rennende Gestalt.
Ich hatte das Gefühl, daß jemand meinen Gedanken
lauschte, so als redete ich vor mich hin, und jemand
hörte mir zu. Und nach einem Augenblick ertappte ich
mich dabei, daß ich tatsächlich laut sprach. Aber es
machte keinen Unterschied, denn ich war allein.
Wenn jemand mir zuhören konnte, war es die Wolke
oder der Wind. Vielleicht war es die Wolke. Etwas
stimmte mir zu. Ich schüttelte verwundert den Kopf.
Das beendete für eine Weile alle tiefschürfenden
Gedanken. Ich hatte die Wunde vergessen, und der
Schmerz kostete mich meine ganze Kraft. Als er
nachließ, spürte ich eine Welle von Bedauern.
Jemand bedauerte mich!
Diese Jahre in Begleitung König Dragons hatten
mich vieles gelehrt, auch daß in den Kräften der Natur
nichts Dämonisches ist, daß hinter aller Magie meist
ein Mensch zu suchen ist und daß alles Dämonische im
Menschen selbst ist. Aber der alte Glauben unseres
Stammes lehrte mich eine andere Wahrheit – daß die
Götter in den Dingen schlummern und uns mit den
Augen der Dinge sehen und uns mit den Kräften der
Dinge richten.
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich
dieses Bedauern fühlte. Ich hatte keine Furcht. Wer
oder was immer mich bedauerte, schien mir freundlich
gesinnt. Aber wer oder was mich bedauerte, konnte
mir vielleicht auch helfen.
Ich war durch ein Weltentor gegangen. Ich wußte
nichts von dieser Welt. Es waren die unbekannten
Dinge, die Gefahr bedeuteten. Menschen hatte ich nie
gefürchtet, und der Panther starb von meiner Klinge
ebenso wie die schuppige Echse der Flüsse in meiner
Heimat.
Aber hier mochte Gefahr überall lauern, in jeder
Gestalt.
Ich mußte versuchen zurückzukommen zum
Weltentor und zu Arric. Vor allem zu Arric. Aber mir
war klar, daß ich in jedem Fall zu spät kommen würde.
Wenn Arric den Angriff der Wolke überlebt hatte,
dann war er längst mit dem Götterwagen auf und
davon und hatte wahrscheinlich das Weltentor zerstört,
um Dragon und mir jede Möglichkeit zu nehmen, ihn
zu verfolgen. Es war ja alles für die Vernichtung des
Tores vorbereitet. Aber selbst ohne die Vernichtung
wäre es unmöglich gewesen, ihn zu verfolgen, denn es
mußte eine Reise von Jahren in unbekannter eisiger
Wildnis sein bis Myraniens Küsten, und wer konnte
sagen, wo Arrics Ziel lag. Der Götterwagen mochte ihn
überall hintragen. Nein, ich wußte, es war unmöglich,
Arric wiederzufinden.
Aber zum Tor mußte ich zurück. Nur dort konnte
ich hoffen, den König wiederzufinden.
Viel Feuer und Rauch, dachte ich verwundert. Feuer
und Rauch?
Donnernder Berg.
Donnernder Berg? Ich war drauf und dran, erneut
den Kopf zu schütteln, dachte aber rechtzeitig an den
Schmerz. Jemand wollte mir etwas mitteilen, jemand,
der offenbar in meinen Kopf hineinsehen und meine
Gedanken hören konnte.
Die Wolke? Ich hielt es nicht für unmöglich. Sie war
das einzige in meiner Nähe. Sie hatte mich wohl am
Kampfplatz aufgelesen. Natürlich – sie mußte wissen,
was mit Arric geschehen war und mit dem Tor.
Vielleicht konnten diese Wolken denken wie die
Menschen. Es war eine andere Welt, von der das
Mädchen Danila viel wundersames berichtet hatte. Ich
zweifelte nicht daran, daß ich auf einer dieser
Wanderwolken gefangen war. Und es sah so aus, als
würde ich ebenso verschleppt wie das Mädchen.
Kein sehr erfreulicher Gedanke. Aber ich konnte
nicht viel tun. Nicht bevor die Wolke irgendwo
landete. Aus der Erzählung des Mädchens wußte ich,
daß die Wolken landeten und Nahrung brauchten.
Das war beruhigend. Ich spürte zwar selbst keinen
Hunger, aber meine Kehle war wie ausgedörrt, und der
Gedanke eines kühlen Tuches auf meinem Hinterkopf
oder gar eines Bades war äußerst verlockend.
Gab es eine Möglichkeit, diese Wolke zum Landen
zu bewegen? Ich sah mich um. Drei oder vier Schritte
weit sah die Oberfläche ziemlich fest aus. Dahinter
wirkte sie wie ein leichtes Gespinst. Trotzdem, ich
mußte einen Blick in die Tiefe riskieren.
Wahrscheinlich änderte es nichts an meiner Lage, aber
ich mußte sehen, was unter mir war. Es mochte mir
später helfen, mich zurechtzufinden.
Vorsichtig kroch ich auf den Knien zum Rand.
Wieder dachte ich, daß es gefährlich war, aber das
waren nicht meine Gedanken. Die Wolke versuchte mir
klarzumachen, daß ich mich in Gefahr begab. Aber
diesmal ließ ich mich nicht abschrecken. Der Boden
wurde ein wenig nachgiebiger unter mir, das erhöhte
meine Vorsicht. Mein Kopf schmerzte von der
Anstrengung. Ich mußte innehalten und warten, bis die
Schwärze vor meinen Augen verschwand, dann
rutschte ich auf dem Bauch an den Rand vor. Das
Gespinst hielt, aber es war schwierig, mich
festzuhalten. Der Wind schien heftiger und der Flug
der Wolke unruhiger geworden zu sein.
Aber ich konnte hinabsehen. Wir schwebten ein
gutes Stück über den Baumwipfeln. Der Wald
erstreckte sich endlos in allen Richtungen. Mutlosigkeit
befiel mich bei dem Anblick. Ich wußte, daß ich zu Fuß
niemals durch diesen Wald zurückfinden würde. Ich
kannte die Urwälder an den Grenzen Shi-buts. Aber sie
waren nicht von der erdrückenden Dichte wie hier. Ich
sah keine Lichtung, so weit das Auge reichte, nur ein
unergründliches Meer von Pflanzen.
Ich schauderte unwillkürlich bei dem Gedanken, ich
könnte hinabstürzen. Es war nicht der tödliche
Aufprall, der mich erschreckte, sondern die
Möglichkeit, in diesem sonnenlosen Dschungel
weiterleben zu müssen.
Ich tastete an meinen Gürtel, und der kühle Griff des
Schwertes beruhigte mich. Auch das Messer steckte in
seiner Hülle. Daß ich meine Waffen noch hatte, ein
Umstand, der mir erst jetzt auffiel, hob meine Laune
beträchtlich.
Lediglich der Durst war quälend. Eine Weile mühte
ich mich ab, mich zu orientieren, denn der Wald war
nicht eben, sondern erstreckte sich über den Hügel und
niedere Bergrücken. Aber es gab keine auffallenden
Punkte. Alles war so vollkommen überwuchert.
Doch dann tauchte etwas auf, das mein Herz höher
schlagen ließ. Ein See. Er war nicht groß, aber allein der
Glanz der Sonne auf seiner glatten Oberfläche hob ihn
wie einen silbernen Schild aus dem grünen Meer
heraus.
»Wasser!« sagte ich laut, nein, brüllte ich. Wenn
diese Wolke tatsächlich verstand, was ich fühlte und
dachte, und mir, wie es den Anschein hatte, sogar
Mitgefühl entgegenbrachte, dann sollte sie wissen, daß
ich im Augenblick nichts mehr begehrte, als in diese
schimmernden Fluten zu tauchen.
Tatsächlich verstand es mein seltsames Luftschiff. Ja,
dachte ich, trinken. Aber es waren nicht meine
Gedanken. Die Wolke änderte ihre Flugrichtung leicht
und hielt nun auf den See zu. Dabei legte sie sich ein
wenig schräg, und ein Teil ihrer selbst fächerte aus wie
ein großes Segel. Ich betrachtete es mit Staunen und
Bewunderung. Welch ein Himmelsschiff, das selbst
lenkte und dachte. Es hatte viel gemeinsam mit dem
Götterwagen des Königs.
Wenn es mir nur gelänge, daß es nach meinem
Willen fuhr. Aber ich verbarg die Gedanken sorgfältig.
Ich wollte nicht riskieren, daß sie mich aussetzte. Nur
sie konnte mir den beschwerlichen Weg durch den
Dschungel ersparen. Nur sie wußte, in welcher
Richtung das Weltentor lag. Ich begann mich zu fragen,
wie klug sie war.
Viel Feuer und Rauch, hatte sie mir zu verstehen
gegeben. Und: Donnernder Berg. War das im
Zusammenhang mit Arric? Wenn ja, dann bedeutete es
vielleicht, daß der Rote das Weltentor zerstört hatte.
Und was die Wolke beschrieb, war nichts anderes, als
entfesseltes Donnerpulver.
Sicher ließ sich mit Geduld Gewißheit verschaffen.
Ich durfte nichts überstürzen. Ich fragte mich, wo der
König und Danila jetzt sein mochten. Vielleicht
irgendwo in diesem Wald da unten? König Dragon war
ein tapferer Mann, ein halber Gott mit Erinnerungen an
ein längst vergangenes Leben. Aber hier würden sie
ihm nicht viel nützen.
Die Wolke hatte den See fast erreicht. Sie ging tiefer,
und ich kämpfte gegen das schwindelerregende
Gefühl, zu fallen. Dann streiften wir fast die
Baumwipfel am Ufer des Sees. Ich schloß geblendet die
Augen, so hell gleißte das Wasser. Irgendein
betäubender Geruch lag in der Luft.
Verwundert merkte ich, daß es mir schwerfiel, die
Augen wieder zu öffnen. Eine lähmende Müdigkeit
lockte mit der Dunkelheit des Schlafs. Instinktiv schrie
ich auf. Es war mehr als Schlaf, es war ein Abgrund,
der sich auftat – hungrig ...
Und mitten in mein Schreien mischte sich ein
Kreischen. Die Wolke schwang hoch, aber nur ein
Stück. Dann war es, als würde sie von unsichtbaren
Fäden festgehalten. Sie sank zurück. Der Boden unter
mir begann sich aufzulösen. Ich wollte auf die Beine,
aber weiße Arme legten sich um mich und hielten mich
bewegungslos. Etwas zischte. Ein Luftwirbel riß die
Wolke erneut hoch, wobei sie sich um sich selbst
wirbelte. Es ging schnell und mit großer Gewalt, und
ich war zu sehr mit meinen Eingeweiden beschäftigt,
um Einzelheiten zu sehen. Aber ich spürte, wie die
Wolke freikam, wie ihr Triumph mich erfüllte, danach
Schmerz. Während wir hochglitten, sah ich voll
Entsetzen, daß die spiegelnde Wasseroberfläche sich
zum größten Teil aufgelöst hatte in einzelne winzige
funkelnde Teilchen, die im Wind schwankten.
Glänzende Blätter, zwischen denen mächtige Ranken in
die Luft peitschten und vergeblich die Wolke zu
erreichen versuchten. Sie schienen zum Teil Erfolg
gehabt zu haben, denn große weiße Stücke
verschwanden in dem zuckenden Blättermeer.
Wir stiegen und stiegen. Der Wind zerrte an uns.
Die Wolke zitterte. Ob vor Schmerz über die verlorenen
Teile oder einfach nur vor Erleichterung über den Sieg,
konnte ich nicht erkennen. Der Wind trieb uns über
den tödlichen See hinweg, der nur eine Falle war,
hinter der hungrige Pflanzen lauerten. Als er weit
hinter uns lag, war er wieder glatt und ruhig – dunkel
und lockend.
Langsam richtete die Wolke sich auf, bis ich wieder
sicher auf ihrer Oberfläche lag. Ihre weißen Arme, die
mich so sicher festgehalten hatten, gaben mich frei.
Ein Wort war plötzlich in meinen Gedanken, das ich
zuvor noch nie gehört hatte:
Skortsch.
Angst schwang darin mit. Todesangst. Einen
Augenblick lang hatte ich sie auch verspürt, als diese
Ranken nach uns peitschten und die Blätter sich
öffneten wie Reihe um Reihe spitzer, schimmernder
Zähne.
Ein Mann sieht einem Feind furchtlos ins Auge,
Mensch oder Tier. Aber dieser grauenhafte Tod mußte
dem Tapfersten das Blut in den Adern gefrieren.
Langsam, während wir mit dem Wind trieben,
schwand das Grauen.
Auch die Wolke gewann ihre Zuversicht rasch wieder.
Der Schmerz schien vergessen, die verlorenen Teile
schienen nicht mehr von Bedeutung. Der Durst wurde
nicht besser, aber ich hütete mich vor weiteren
Wünschen. Dennoch begriff sie, daß ich Wasser
brauchte und schien eine andere Möglichkeit entdeckt
zu haben, mir zu meinem Bad zu verhelfen.
Der Boden unter mir gab ein wenig nach, so daß ich
in einer kleinen Mulde lag. Gleich darauf wurde die
seltsame Haut der Wolke feucht, wie von Schweiß.
Tropfen begannen zu fließen, immer mehr, bis sich um
meine Füße eine kleine Lache gebildet hatte.
Erst wollte ich davor zurückweichen, voller Ekel,
doch dann spürte ich, wie belebend kühl und wie rein
dieses Wasser war. Ich zweifelte nicht daran, daß es
Wasser war. Es war ganz natürlich, regnete es doch
sonst von den Wolken herab. Ich trank und löschte den
brennenden Durst. Dann wusch ich die Wunde und
genoß die kühlende Wirkung.
Ich machte keinen Hehl aus meiner Dankbarkeit. Ich
erhielt zwar keine Antwort, aber ihr Flug wurde ein
wenig wilder, und ich hatte das Empfinden von
Freude. Wenigstens deutete ich es so. Dabei begann ich
den leisen Verdacht zu hegen, daß sie mich entführt
hatte, um einen Gefährten zu haben, einen, der denken
und sprechen konnte, mit dem sie sich unterhalten
konnte auf ihren langen Flügen. Ich konnte mir
vorstellen, daß solch eine Gemeinschaft für den
menschlichen Teil sehr reizvoll sein mochte, sofern er
bei der Bestimmung des Weges mitzureden hatte. Und
sofern er einen Magen hatte, der sich nicht bei jeder
Schlingerbewegung umdrehte.
Ich fing an, auf sie einzureden. Ich erzählte ihr, wie
wichtig es war, daß ich an das Weltentor zurückkehrte.
Aber ich bekam keine Reaktion, obwohl ich spürte, daß
sie in meinen Gedanken lauschte. Sie schien es nicht zu
verstehen. Sie war wie eine Katze, sie lauschte
zufrieden schnurrend dem Fluß meiner Gedanken,
aber nicht dem Sinn. Entmutigt gab ich es schließlich
auf, sie von meinen Plänen überzeugen zu wollen.
Später, wenn sie an mich gewöhnt war, konnte ich sie
vielleicht lenken.
Aber dann mochte es zu spät sein.
Mein Ärger schien sie zu erschrecken, und um mich
zu besänftigen, begann sie wieder Wasser
auszuscheiden, was ich erneut weidlich genoß. Aber
mir war klar, daß ihr Wasservorrat begrenzt sein
mußte, was mir Hoffnung auf eine Landung gab. Die
Sonne brannte herab auf ihren Rücken, soweit man bei
einer Wolke von Rücken sprechen konnte.
Ich nannte sie Waramau, ein Wort aus meiner
Muttersprache das soviel bedeutete wie
Himmelssegler. Wir trieben bis zum späten
Nachmittag, ohne daß der Wind seine Richtung
änderte. Als die Sonne bereits ziemlich tief stand,
spürte ich, wie Waramau die Richtung änderte. Ich war
wohl ziemlich schläfrig geworden und in der
angenehmen Abendluft halb eingenickt, denn ich
schrak hoch, als sie sich leicht neigte. Sie hatte ihr
Hauptsegel ausgebreitet und kreuzte mit dem Wind.
Ich fühlte mich frischer. Ich hatte eine gute Stunde
geschlafen, dem Sonnenstand nach zu schließen, doch
war diese Schätzung trügerisch, denn ich wußte nichts
über diese Welt – weder über die Zeit, noch über
Richtungen.
Der Wald war noch immer unter uns, aber vor uns
am Horizont kündigte ein wachsender, im Widerschein
der Sonne rötlich glänzender Streifen sein Ende an.
Wasser lag vor uns, und mochten die Götter geben, daß
es nicht wieder eine Falle war!
Bald zeigte sich, daß die Küste eines Meeres vor uns
liegen mußte. Das bedeutete, daß auch offenes Land
nicht weit weg war. Waramau schien durch meine
plötzliche Zuversicht sehr angeregt, denn sie nahm die
Böen waghalsiger, und wir bekamen mächtig Fahrt
drauf.
Das war auch gut, denn die Aussicht auf offenes
Land weckte den Appetit auf frisches Fleisch. Ich war
mit einem Mal hungrig. Ich hoffte, daß es nicht zu
schwierig sein würde, Waramau beizubringen, daß sie
mich auf die Jagd gehen lassen mußte, wenn sie auf
meine Gesellschaft weiter Wert legte.
Als die Sonne wie ein rotes Fanal unter den
spiegelnden Horizont tauchte, schwebten wir über dem
Meer, und ein salziger Wind machte Waramau zu
schaffen. Ich mußte mich festhalten. Wir folgten der
Küste, die felsig und unzugänglich war. Kurz vor
Einbruch der Dunkelheit tauchte offenes Land vor uns
auf. Ich stand auf Waramaus Rücken und balancierte
während des halsbrecherischen Fluges in den
Küstenwinden. Dann war die hügelige Steppe unter
uns.
»Hinunter, Waramau!« rief ich. Bei den Göttern, es
würde gut sein, wieder festen Boden unter den Füßen
zu haben.
Es gab keinen Ärger in dieser Frage. Ich nahm an,
daß sie ohnehin die Absicht hatte, zu landen. Sie hielt
auf einen Hügel zu, der einen guten Überblick über das
Land bot, frei nach allen Seiten. Dort ging sie nieder,
und ich glitt von ihrem Rücken wie ein Seefahrer, der
seit Jahren kein Land mehr betreten hatte. Eine ganze
Weile schwankte der Boden unter mir.
2.
Waramau schien das Interesse an mir verloren zu
haben. Sie gab sich ganz einer Tätigkeit hin, die mir
klarmachte, daß auch sie Hunger hatte. Sie äste, oder
wie immer man das bei Wolken nennen mochte. Sie
schwebte in der Dunkelheit knapp über dem Boden
und fraß das hohe, gelbe Steppengras.
Für mich war die Nacht zu rasch gekommen. Ich
kannte das Gelände nicht. Es mochte viele Gefahren
geben, die ich nicht kannte, und die Aussicht auf Beute
war in dieser Finsternis gering. Ich sah, daß der
Himmel sich aus der Richtung, aus der wir gekommen
waren, immer mehr bedeckte. Die eine Hälfte war
bereits pechschwarz und ohne Sterne.
So beschloß ich, hungrig zu schlafen und am
Morgen auf Jagd zu gehen. Trotz des heftigen Windes
vom Meer her war die Nacht nicht zu kalt. Ich sah mich
nach einem geeigneten Schlafplatz um. Wenn ich nicht
mit dem Dolch in der Faust schlafen wollte, gab es nur
eine Wahl. Ich stolperte in der Finsternis hinter
Waramau her und kletterte auf ihren Rücken. Sie
schien zu erschrecken und versuchte mich abzuwehren
– aber nur einen Augenblick, dann erinnerte sie sich
und half mir hoch. Dann lag ich und starrte in den
Himmel, und es erschien mir sehr seltsam, daß das
alles kein Traum war.
Ein Gefühl furchtbarer Angst weckte mich. Es war
nicht meine Angst. Es Waramaus Angst. Ich begriff
nicht sofort, was geschah. Die Welt schien in Aufruhr.
Sie war pechschwarz und im nächsten Augenblick
erfüllt von Feuer, das vom Himmel zuckte. Donner
rollte über uns hinweg, daß die Erde bebte. Aber gleich
darauf erkannte ich, daß es nicht die Erde war, die
bebte, sondern Waramau. Sie zuckte, daß ich Mühe
hatte, mich aufzurichten. Himmelsfeuer und Donner
folgten Schlag auf Schlag. Es war vollkommen
windstill, und die Luft roch nach Regen. Er mußte
jeden Augenblick beginnen.
Noch nie war ich diesen magischen
Himmelsgewalten so nah gewesen. Es sah aus, als
wollten sie uns zerschmettern. Aber ich hatte gelernt,
sie in Demut hinzunehmen. Die Götter verachteten
Furcht.
Ich spürte, wie Waramaus Angst wuchs. Ich
versuchte ihr zuzureden, ihr klarzumachen, daß ihre
Furcht nur den Zorn der Elemente wecken mußte, und
daß es nur einen Weg gab, die Prüfung zu erdulden.
Doch während ich sprach, zuckte das Himmelsfeuer
nicht weit von uns in einen Präriebaum, der in
Flammen aufging, während der Donner wie ein
fühlbarer Schlag über uns hinwegfegte.
Mit einem Aufschrei, in dem ich das Wort Skortsch
zu hören glaubte, fuhr Waramau hoch. Ich hatte Mühe,
mich festzuhalten. Ich erkannte sofort, daß kein Ziel in
ihrem Tun lag. Sie war blind vor Furcht und Entsetzen.
Und mir begann es ähnlich zu gehen, als wir steil in
den Himmel schwebten, und der brennende Baum
kleiner und kleiner wurde. Es war, als ob Waramau vor
dem Feuer floh, doch der ganze Himmel bot keine
Sicherheit, denn die Feuer ließen ihn aufflammen wie
am hellen Tag. Und das Donnern war so laut, daß
Waramau meine beschwörenden Rufe gar nicht hören
konnte, selbst wenn sie auf mich gehört hätte. Ihr
ganzer Wolkenkörper war von einem Pfeifen erfüllt, als
ob viele Münder aus vollen Backen bliesen. Sie raste
blind durch die Nacht, zuckte zusammen unter den
herabzuckenden Feuerpfeilen und wirbelte im Donner
wie in einem gewaltigen Wind.
Meine Panik war in dieser verzweifelten Lage nicht
geringer. Jeden Augenblick konnte ich in die Tiefe
stürzen. Es gab nichts, woran ich mich hätte festhalten
können. Doch was immer Waramau auch mit mir
verband, es war stark genug, daß sie mich nicht vergaß.
Arme legten sich um mich und hielten mich wie schon
einmal fest. Ich konnte nicht mehr fallen, aber meine
Lage schien mir dadurch nicht viel besser. So wie
Waramau durch die Lüfte raste, mußte sie früher oder
später gegen ein Hindernis prallen, und die Götter
mochten wissen, was dann geschah. Manchmal sah ich
im Licht des Himmelfeuers die Prärie knapp unter uns,
dann wieder rasch entschwinden. Aber ich merkte, daß
Waramau müde wurde, wie eine Herde auf der Flucht
vor dem Präriefeuer ihre panische Furcht schließlich
anhielt, so erlahmte rasch ihre Kraft. Ich versuchte
beruhigend auf sie einzureden.
Plötzlich begann es zu regnen. Große, schwere
Tropfen kamen herab, und was ich nicht vermocht
hatte, schafften sie. Ruhe kam über die Wolke, trotz des
Feuers, das noch immer den Himmel aufflammen ließ.
Sie schwebte ruhig im Regen, der bald in dichten
Schleiern herabfiel und schien aus ihm neue Kräfte zu
schöpfen. Innerhalb eines Augenblicks war ich
vollkommen durchnäßt, aber während das Wasser an
mir abfloß, sog sie es auf wie ein Schwamm.
Es regnete einen guten Teil der Nacht. An Schlaf war
dabei nicht zu denken. Der Prärieboden unter uns sah
nicht viel anziehender aus als die Oberfläche der
Wolke, so daß mir gar nicht erst der Wunsch kam, sie
zu verlassen. Aber ich dachte an eine behagliche,
trockene Höhle, bevor ich endlich einschlief.
Die Sonne weckte mich. Sie drang gedämpft durch das
Dach meiner Höhle. Höhle?
Es dauerte eine Weile, bevor ich mich zurechtfand.
Wenn ich bisher auch noch Zweifel gehabt hatte
darüber, ob Waramau wirklich denken konnte, und in
meinen Gedanken lesen, so hatte ich nun den Beweis.
Denn ich lag in keiner Höhle, sondern noch immer auf
meiner Himmelsseglerin. Aber aus ihrem hautartigen
Gespinst hatte sie ein Dach über mir errichtet, das mich
vor Regen und heißer Sonne schützen konnte.
Ich sagte: »Hab Dank, Waramau.« Ich hatte auf eine
Antwort gehofft, aber es kam keine. Ich erwartete
zuviel, weil ich ungeduldig war. Gewiß, es schien, als
ob sie mich verstand. Sie erkannte meine Wünsche und
Nöte, meine Gefühle. Aber es war wohl zu schwierig
für sie, ganz meinen Gedanken zu folgen. Immerhin
hatte sie bereits mit mir gesprochen, und ich war
ziemlich sicher, daß ich sie richtig verstanden hatte.
Das Weltentor war zerstört, oder wenigstens hatte
Arric den Versuch gemacht. Es war ein
niederdrückender Gedanke, in dieser fremden Welt
gestrandet zu sein.
Meine einzige Hoffnung lag daran, daß ich den
König fand. Wenn einer noch einen Ausweg finden
konnte, dann er.
Eine trübe Zukunft. Urgor und Myra waren nur
Erinnerungen, und alles sprach dafür, daß sie es auch
blieben. Und Shi-but war so weit wie die Sterne weg.
Aber ich war nie ein Mann von Träumereien
gewesen. Erst an des Königs Seite hatte ich ein wenig
begonnen, wie er zu denken – daß es eine Zukunft gab,
und eine Vergangenheit, und daß es falsch war, nur in
der Gegenwart zu leben.
Ich war immer ein Abenteurer gewesen, der für den
Augenblick lebte, aber nie einer, der seinen Weg allein
ging. Es hatte immer jemanden gegeben, dessen Kampf
ich focht, immer jemanden, für dessen Sache ich die
Klinge führte, immer jemanden, der mir sagte, was zu
tun war. Aber erst an des Königs Seite lernte ich, daß
kein Mann die Klinge nur um der Klinge willen führen
sollte, und daß die Weisheit unter den Dingen nicht
nur ein guter oder böser Zauber war, den sich der
Magier zunutze machte, sondern wie wahre Kraft, die
jedermann leiten sollte. Erst in König Dragons Diensten
bin ich ein Mann geworden, der sein Schwert nicht nur
mit der Faust führte.
Vielleicht half mir der Verstand auch, Waramau
dazu zu bringen, daß sie mich flog, wohin ich wollte.
Es war einen Versuch wert, um so mehr als eine
Wanderung durch den Dschungel ungleich mehr Zeit
in Anspruch nehmen mußte. Aber ich wußte, daß es
eine harte Geduldsprobe werden würde.
Vorerst hatte ich nagenden Hunger.
Ich verließ meine ungewöhnliche Kajüte. Waramau
schwebte knapp über den Boden. Vor uns erstreckte
sich eine endlose, flache Prärie. Ein leichter Wind
schaukelte die Wolke. Sie schien noch immer Gras in
sich hineinzustopfen. Sie hatte bereits eine ganz gelbe
Färbung angenommen. Verwundert bemerkte ich, daß
sie mit einem Teil ihres Gespinstes eine Art Ankertau
gebildet hatte, mit dem sie sich am Boden festhielt. Sie
erinnerte mich immer mehr an ein Schiff. Ein Schiff der
Lüfte.
Ich ließ mich an diesem Tau hinab auf den Boden.
Waramau schien nichts dagegen einzuwenden zu
haben. Nun würde sich entscheiden, ob ich ihr
Gefangener war, wie Danila sich gefühlt hatte, oder ob
sie mich als Gefährten betrachtete.
»Ich gehe auf die Jagd, Waramau«, sagte ich. »Ich
habe Hunger. Ich komme hierher zurück – wenn du
auf mich wartest.«
Keine Antwort. Sie fraß ruhig weiter an dem hohen
Präriegras. Ein wenig unsicher begann ich mich zu
entfernen. In der Tat schien ich frei, zu tun und lassen,
was ich wollte.
Plötzlich hatte ich Angst, sie würde nicht mehr da
sein, wenn ich zurückkam. Dann saß ich hier fest, mit
nur einem einzigen Anhaltspunkt – dem Wald, der am
Horizont begann. Das war die Richtung des
Sonnenaufgangs, also Osten. Vielleicht hatte ich in der
kommenden Nacht mehr Glück und konnte mir einige
Sterne zur Orientierung einprägen.
Dann aber trieb mich der Hunger vorwärts. Ich
brauchte etwas zu beißen. Nach Norden und Osten
war die Prärie eben. Das Meer lag hinter den Hügeln.
Ich konnte die Brandung deutlich hören. Da es gleich
war, wo ich meine Suche begann, lief ich auf die Hügel
zu, erklomm den nächsten und sah mich um. Viel war
nicht zu sehen, und vor allem keine Tiere. In der
weiten Ebene regte sich nichts, außer dem sanften
Wogen des Grases im Wind, der von Nordosten
herkam und die Prärie wie ein gelbes Meer erscheinen
ließ. Es erinnerte mich sehr an meine Heimat.
Was ich mir sehnlichst wünschte, war ein Bogen. Ich
war zwar immer ein guter Läufer, aber es war eine
mühsame Sache, allein mit einem Dolch oder einem
Schwert in der offenen Steppe zu jagen.
Irgendwie wirkte diese Prärie trostlos, und der
Wind trug den Gestank von Fäulnis mit sich. Ich
schüttelte mich unwillkürlich. Der knurrende Magen
setzte meine Beine in Bewegung. Ich lief in dieses gelbe
Meer hinein, und es war gut, wieder zulaufen.
Bis die Sonne im Zenit stand, hatte ich eine ziemlich
große Strecke zurückgelegt, so daß ich an Umkehr
dachte. Ich hatte absolut nichts gefunden, nicht einmal
Fährten. Wenn es hier etwas Eßbares gab, dann hielt es
sich gut versteckt. Auch den Himmel hatte ich immer
wieder vergeblich abgesucht.
Ich war müde, und der Hunger war nicht besser
geworden. Meine Augen brannten, und die
Kopfwunde schmerzte wieder. Außerdem war ich
unsicher, ob Waramau warten würde, und schalt mich,
daß ich nicht früher diese nutzlose Suche abgebrochen
hatte. Ich befand mich also in nicht gerade bester
Stimmung. Einzig meinen Durst konnte ich aus dem
Beutel stillen, den ich vorsorglich aus den Vorräten der
Wolke gefüllt hatte. Auf eine Wasserstelle war ich nicht
gestoßen. Diese Wasserlosigkeit mochte auch der
Grund sein, warum hier nichts lebte. Der Boden hatte
den Regen der Nacht vollkommen aufgesogen. Die
Erde war bereits wieder trocken und rissig, wo kein
Gras wuchs. Es gab vereinzeltes Buschwerk, aber auch
dieses barg nichts Eßbares.
Ich machte kehrt. Meine einzige Hoffnung war nun
Waramau – oder der Dschungel.
Der Rückmarsch war nicht erfolgreicher. Das Land
war leergefegt, als hätte jemand verkündet: Hier
kommt Ubali, und der ist hungrig! Wenn ihr nicht in
seinem Magen enden wollt, dann macht euch
unsichtbar!
3.
Die Sonne stand bereits ziemlich tief im Westen, als ich
wieder Küstennähe erreichte. Der Wind war stärker
geworden. Er kam noch immer aus östlicher Richtung,
vom Dschungel her.
Plötzlich glaubte ich einen Schrei zu hören. Ich hielt
an und sah mich um. Ich vernahm ihn erneut, schrill
vor Angst und Schmerz. Diesmal wußte ich sofort, wer
schrie, denn ich hatte den Schrei nicht mit den Ohren
vernommen, sondern mit den Gedanken.
Waramau war in Gefahr!
Im nächsten Augenblick sah ich im Glanz der
tiefstehenden Sonne eine Bewegung über den Hügeln.
Ich hielt die Hand schützend über die Augen, dann sah
ich, daß dort nicht nur eine Wolke schwebte, sondern
drei. War es möglich, daß es Feinde waren? Feindliche
Wanderwolken?
Meine Müdigkeit verflog unter Waramaus
Hilfeschreien. Ich lief auf die Hügel zu, obwohl ich mir
nicht vorstellen konnte, was ich gegen zwei
Wanderwolken ausrichten sollte.
Als ich näher kam, entdeckte ich mehrere Gestalten
auf den beiden angreifenden Wolken. Sie hielten lange
Spieße in den Händen und bearbeiteten sowohl ihre
eigenen Wolken als auch Waramau. Diese Spieße
schienen so etwas zu sein wie Zügel und Sporen für ein
Pferd, denn diese Wolken gehorchten den Männern
wie ein gutes Pferd. Aber die Speere waren auch der
Grund für Waramaus schmerzerfüllte Schreie. Die
Männer versuchten sie sich gefügig zu machen, und es
gab kein Entkommen für sie, denn die Männer lenkten
ihre Wolken geschickt immer wieder um sie herum
und drückten sie langsam zu Boden nieder.
Ich zählte die Männer und kam auf ein Dutzend. Je
zwei sprangen auf Waramau über und bearbeiteten sie
weiter auf erbärmlichste Weise mit ihren Speeren. Es
war kaum zu ertragen. Es war mir, als fühlte ich selbst
den Speer in den Eingeweiden, wie er herumgedreht
und herumgerissen wurde.
Sie entdeckten mich erst, als ich bereits den Hügel
hinanklomm mit dem Schwert in der Faust.
»Halt!« rief ich. »Das ist meine. Laßt die Finger
davon!« Ich war nicht sicher, ob sie meine Worte
verstanden. Mißverstehen konnte sie mich schwerlich.
Sie taten es auch nicht, und sie waren offenbar nicht
gewillt, ihre Beute gehenzulassen. Sie griffen nach
ihren Waffen und trieben ihre Wolken auf mich zu.
Offenbar wurden die vier auf Waramau bereits allein
mit ihr fertig, was mich in eine verdammt
unangenehme Lage brachte, denn mit acht konnte ich
es nur schlecht aufnehmen, wenn diese noch dazu auf
Wolken dahergeritten kamen.
Sie waren ein wilder Haufen, dunkle,
sonnengebräunte Gesichter, nicht eines ohne Narben.
Die meisten trugen wadenlange Beinkleider, einige
nackte Oberkörper, ein paar Umhänge, die sie mit
einem breiten Gürtel zusammenrafften. Sie wären in
Jellis Piratenbruderschaft nicht aufgefallen, und ich
erwartete nicht viel Gutes von ihnen.
Ich sah, daß sie keine Bogen hatten, nur Schwerter
und Dolche, abgesehen von den langen Spießen, mit
denen sie die Wolken lenkten. Das bot mir eine
Fluchtchance, wenn es keine andere Möglichkeit mehr
gab. Hätten sie Bogen gehabt, wäre ich nicht weit
gekommen. Ich blickte ihnen so zuversichtlich
entgegen und versuchte gleichzeitig, an ihnen
vorbeizukommen, um die bedrängte Waramau zu
erreichen. Dabei bemerkte ich, daß das Lenken der
Wolken nicht so einfach schien, denn sie hatten Mühe,
mir den Weg abzuschneiden. Der Wind war es, der
ihnen zu schaffen machte.
»Ho! Schwarzhaut!« rief einer. »Deine, sagst du?«
Sie waren mir nah genug, daß ich nicht ohne Kampf an
ihnen vorbeikam. Die drei Wolken waren hinter dem
Hügel verschwunden, aber noch immer drang deutlich
Waramaus Schreien in meine Gedanken, wenn auch
schwächer.
»Ja, meine«, erwiderte ich und ließ sie nicht aus den
Augen.
Sie grinsten. »Was fällt euch auf?« fragte einer. »Seht
ihr einen Wolkenspeer?«
»Weit und breit nichts«, meinte ein anderer.
»Vielleicht lenkt er sie mit schönen Worten«, schlug
ein dritter vor, und sein Grinsen verbreiterte sich.
»Sie versteht mich«, erklärte ich. »Sie versteht meine
Gedanken ...«
Sie lachten, und einer drehte seinen Speer, der eine
halbe Körperlänge in der Wolke steckte, mit einem
Ruck herum. Ich vernahm nichts, keinen Schrei, aber
ich sah, wie sich die Wolke aufbäumte, daß die vier
Mühe hatten, sich auf den Beinen zu halten.
»Das ist es, was sie verstehen, Schwarzhaut. Sonst
gar nichts. Und das wird dein Baby auch in Kürze
heraushaben.«
»Wer weiß«, meinte ein anderer, »wenn er soviel
gemeinsam mit ihr hat, versteht er vielleicht auch diese
Sprache am besten.« Er zog seinen Speer aus der Wolke
und richtete ihn auf mich.
Ich spannte mich und beobachtete ihn abschätzend,
ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Es wurde
ernst. Ich hoffte, daß er den Speer warf, aber er war
klug genug, es nicht zu tun. Es hätte mir leicht eine
wesentlich vorteilhaftere Waffe verschafft, als mein
Schwert es im Augenblick war.
»Ich will keinen Streit«, sagte ich.
»Schon möglich, Schwarzhaut.« Sie begannen ihre
Wolken auf mich zuzutreiben. Ich wich zurück. »Das
kannst du alles Darraco erzählen.«
»Darraco? Wer ist das?«
»Unser Anführer. Ich schätze, es wird ihn
interessieren, was eine Schwarzhaut hier zu suchen hat.
Wenn du klug bist, wirfst du dein Schwert fort und
kommst freiwillig mit.«
Ich hatte nicht vor, das zu tun. Dieser Darraco
interessierte mich zwar, aber ich hatte keine große Lust,
ihn als Gefangener kennenzulernen. Wenn es mir
gelang, ihnen eine dieser Wolken abzujagen! Aber
meine Chancen gegen acht dieser Kerle standen nicht
sehr gut, obwohl die Tatsache, daß sie mich lebend
haben wollte, mir bestimmt Vorteile verschaffen
würde.
Während ich in Gedanken versuchte, Waramau zu
erreichen, zog ich mich vorsichtig zurück und
beobachtete, wie sie ihre Wolken mit den langen
Speeren nähertrieben. Je zwei der Männer lenkten sie,
während die anderen ihre Schwerter zogen. Einer
besaß offenbar nur ein Messer, und er hielt es in der
Hand, als ob er es werfen wollte. Es sah so aus, als
wollten sie mich im Zweifelsfalle auch tot zu ihrem
Anführer schaffen. Da ich selbst ein recht guter Werfer
bin, noch dazu mit der linken, nahm ich auch meinen
Dolch aus dem Gürtel.
Es war nicht klar festzustellen, ob es den anderen
beeindruckte, denn die Wolke bäumte sich auf, als der
eine Steuermann sie gegen den Wind zu lenken
versuchte, und alle vier hatten einen Moment damit zu
tun, sich festzuhalten.
Waramau antwortete meinen rufenden Gedanken
nicht. Ich hörte sie auch nicht mehr schreien. Ich
konnte nur raten, was hinter dem Hügel geschah. Ich
komme wieder, dachte ich. Waramau, ich komme
wieder, und dann werden sie jeden Speerstich
bezahlen!
Mit einem kribbelnden Gefühl wandte ich mich um
und lief in die Richtung, aus der der Wind kam. Der
Wald war ziemlich weit weg, und so wenig einladend
er mir noch vor kurzem erschienen war, nun wünschte
ich, er wäre näher. Ein Blick zurück zeigte mir, daß die
Wolkenreiter sich redlich bemühten, mir auf den
Fersen zu bleiben. Aber mein Verbündeter, der Wind,
machte ihnen schwer zu schaffen. Sie mußten gegen
den Wind kreuzen, wie Boote. Ich konnte meinen
Vorsprung rasch vergrößern, aber langsam machte sich
meine Müdigkeit bemerkbar und die Tatsache, daß ich
seit geraumer Weile nichts gegessen hatte. Lange hielt
ich den Lauf nicht mehr durch. Ich brauchte einen
Unterschlupf, oder einen güngstigen Platz für einen
Kampf. Beides konnte mir nur der Wald bieten.
Die Wolken waren nun weit hinter mir, und ich fiel
einen Augenblick in gemächlichen Schritt, um wieder
zu Atem zu kommen. Scharf beobachtete ich die fernen
Hügel, aber von Waramau war nichts zu sehen. Etwas
anderes fiel mir jedoch auf und ließ mich sofort wieder
mein Tempo beschleunigen. Auf den verfolgenden
Wolken waren nur sechs der acht Männer zu erkennen.
Das konnte nur eines bedeuten: zwei waren
abgestiegen und zu Fuß auf meiner Spur. Und sie
waren sicher besser ausgeruht als ich.
Leise fluchend hielt ich an und versuchte sie in dem
hohen Gras zu entdecken. Nach einem Augenblick
hatte ich sie gefunden. Sie waren mir bereits verdammt
nahe. Ich mußte es bis zum Wald schaffen. Wenn ich
sie hier erwartete, dann mußten die Wolkenreiter uns
einholen, bevor der Kampf vorüber war. Ich fürchtete
die beiden nicht, aber ein Kampf würde den
Vorsprung, den mir der Wind verschafft hatte,
gefährlich schrumpfen lassen, deshalb hastete ich
weiter.
Ich kam dem Wald noch ein ganzes Stück näher und
vergrößerte auch den Vorsprung beträchtlich, bevor es
mir zu riskant wurde, meinen Verfolgern länger den
Rücken zuzuwenden. Die beiden kamen zielstrebig auf
mich zu. Vor mir lag eine weite Mulde, in der dorniges
Buschwerk wuchs. Kluge Leute hätten sie umgangen,
aber mir blieb keine Wahl. Außerdem gelangte ich
dabei für kurze Zeit aus dem Blickfeld der Männer. Es
war kein idealer Kampfplatz, aber ein besserer, als ich
erwartet hatte. Mit Dolch und Schwert bahnte ich mir
einen Weg durch das Buschwerk. Spuren zu
verwischen, hätte wenig Sinn gehabt. Sie wußten, daß
ich hier war, und daß ihnen nichts weiter übrig blieb,
als hinter mir herzulaufen, wenn sie mich haben
wollten.
Es wurde verdammt dicht. Ich achtete nicht mehr
auf die Dornen. Sie waren das kleinere Übel. Die
beiden hinter mir besaßen längere Stachel!
Bald erreichte ich den Grund der Mulde. Hier war
der Boden noch immer feucht von den Regenfällen der
vergangenen Nacht. Allerlei Pflanzen wucherten
ringsum, aber nirgends entdeckte ich ein Tier. Selbst
der bloße Anblick hätte dieses nagende Hungergefühl
vertrieben. Ich fröstelte. Von der Hitze der Savanne
war hier nicht viel zu spüren. Einen Moment hielt ich
an und lauschte. Weit hinter mir erklang das Brechen
von Ästen. Sie hatten sich nicht abschrecken lassen. Ich
eilte weiter. Der Boden stieg wieder an. In kurzer Zeit
mußte ich wieder die offene Prärie erreichen. Damit
war nichts gewonnen.
Kurzerhand ließ ich mich ins Buschwerk fallen und
wartete mit dem Dolch in der Faust. Mit dieser
Schwarzhaut würden sie ihre Erfahrungen machen,
dachte ich grimmig.
Bald näherten sich hastige Schritte und fluchende
Stimmen. Gleich darauf sah ich den ersten auftauchen.
Er kam auf mich zu, stürmte an mir vorbei, dicht
gefolgt von dem zweiten. Sie verschwanden im
Dickicht. Plötzlich trat Stille ein. Sie mußten gemerkt
haben, daß sie die deutliche Spur verloren hatten. Ich
sah sie nicht mehr, hörte aber ihre Stimmen, in denen
Ärger und Verblüffung mitschwangen.
Sie suchten meine unmittelbare Umgebung ab, aber
sie dachten nicht, daß sie mich bereits überholt hatten,
und kamen meinem Versteck nicht nahe genug.
Nun, da ich der Verfolger war, mußte ich meine
gewaltig verbesserten Chancen nutzen, bevor die
Wolkenreiter zu nahe kommen konnten. Ich verließ
mein Versteck und schlich vorsichtig hinter den beiden
her. Ich vernahm sie rechts und links, konnte sie aber
nicht sehen. Offenbar hatten sie sich getrennt. Um so
besser.
Ich nahm den rechten. Es war nicht schwer, ihn
aufzustöbern. Er trampelte wie ein aufgescheuchtes
Wild durch die Büsche und fluchte halblaut über die
Dornen, an denen er mit den Kleidern immer wieder
haften blieb, und von denen er sich nur mühsam
losreißen konnte. So war es nicht schwierig, lautlos an
ihn heranzukommen. Er muß mich für einen
leibhaftigen Dämon gehalten haben, als ich so plötzlich
hinter ihm auftauchte. Er riß die Augen auf und den
Mund für einen Schrei. Ich hatte ihn an der Kehle und
holte mit dem Schwertknauf aus, um ihn für eine Weile
von der Sorge um seine mißlungenen Pläne zu
befreien. Doch er war von einer unerwarteten
Schnelligkeit. Er riß die Arme hoch und drehte sich mir
zu. Mein Griff löste sich, und mein Schlag traf ihn an
der Schulter. Er stöhnte und brachte sein Schwert
herab. Instinktiv parierte ich mit dem Dolch. Ich hätte
den gewaltigen Schlag niemals aufgehalten, aber die
Götter wollten es, daß das Messer die Schwertklinge
ablenkte und sich in vollem Schwung in seine Brust
grub.
Der Fremde starb lautlos mit einem vergeblichen
Versuch, Luft für einen warnenden Schrei in seine
Lungen zu bekommen. Ich wartete, bis seine
verkrampften Arme schlaff wurden, und ließ ihn zu
Boden gleiten.
Angestrengt lauschte ich. Nichts war zu hören, auch
keine Geräusche von meinem zweiten Verfolger. Das
beunruhigte mich etwas. Es war möglich, daß er den
Kampf bemerkt hatte. Zu sehen war nichts. Ich bückte
mich rasch zu dem Toten. Ich nahm ihm den breiten
Ledergürtel ab und schnürte ihn mir um die Mitte.
Neben zwei Messern enthielt er zwei Beutel, deren
Inhalt interessant sein mochte. Ich konnte sie während
des Weges untersuchen. Um den Hals trug er eine
Kette aus Metall. Diese nahm ich ihm ebenfalls ab. Sie
schien aus gewöhnlichem Eisen zu sein und war auch
nicht besonders kunstvoll angefertigt worden. Aber
vielleicht war sie ein Schutz gegen Dämonen in dieser
Welt.
Hastig sah ich mich um, bevor ich mich erhob. Ohne
besonders auf Lautlosigkeit zu achten, setzte ich
meinen ursprünglichen Weg in die Richtung des
Waldes fort. Mehrmals hielt ich kurz an und lauschte,
aber niemand schien mir zu folgen.
Die Überraschung erwartete mich am Ende der
dornigen Mulde. Als ich aus dem Buschwerk
auftauchte, stand der Kerl plötzlich vor mir. Er hielt
sein Schwert stoßbereit in der Rechten und sagte
grinsend:
»Ich dachte mir‘s doch, daß du nicht umkehren
würdest. Jetzt setzen wir erst unsere Unterhaltung ...«
Er brach ab, als er die Kette und den Gurt bemerkte.
Sein Grinsen erstarb. Sein Gesicht wurde bleich.
»Was ist mit Verino?«
»Er war unvorsichtig«, antwortete ich gleichmütig.
»Du verdammter schwarzhäutiger Hund hast ihn
umgebracht!« entfuhr es ihm. Er sprang auf mich zu.
Daß ich nicht zurückwich, sondern nur die Klinge ein
wenig hob, um sie für die Abwehr bereit zu haben,
hielt ihn von einem Angriff ab. Er starrte mich nur
wütend an. »Verino war mein Freund«, zischte er.
Ich zuckte die Achseln. »Ich wollte keinen Streit.
Jetzt geh mir aus dem Weg.«
Das brachte ihn völlig aus der Fassung. Mit einem
Wutschrei stürzte er sich auf mich. Er schien trotz
seiner Erregung nicht unbesonnen. Ein wahrer Hagel
von Schlägen prasselte auf mich los. Während ich
parierte, tänzelte ich um ihn herum, so daß ich mich
bald in einer besseren Stellung befand, denn er mußte
gegen mich hochkämpfen. Auch konnte ich die
westliche Savanne übersehen. Die Wolkenreiter waren
ziemlich nahe herangekommen.
Mein Gegner war nicht besonders gut mit der
Klinge, und sein Arm begann zu erlahmen, als seine
Wut verraucht war. Die Hiebe kamen langsam. Er holte
weiter aus, um mehr Kraft hineinzulegen. Das war
unverzeihlich unvorsichtig. Ich nutzte den Augenblick
zwischen zwei Schwertstreichen und bohrte ihm meine
Klinge in die Schulter. Er schrie auf und sackte
zusammen, als ich mein Schwert herausriß.
Ich hätte ihn töten können, aber nichts wäre damit
gewonnen gewesen. Als Gegner konnte er mir ohnehin
nicht mehr gefährlich werden.
»Sag deinem Anführer, daß er Ubali ein Leben
schuldet.«
»Fahr zur Hölle«, würgte er mit
zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich überhörte seinen Wunsch. »Wenn du dich laut
genug bemerkbar machst, werden deine Freunde dich
schon finden«, erklärte ich.
Die Wolken arbeiteten sich langsam heran. Es wurde
Zeit für mich. Der Wald war greifbar nahe. Ich setzte
mich wieder in Trab. Die Reiter auf den Wolken
entdeckten mich und schüttelten drohend ihre Waffen.
Nach einer Weile sah ich, daß sie ihren Genossen
entdeckt hatten und sich um ihn kümmerten. Das hielt
sie beträchtlich auf, und ich dachte schon, sie würden
die Verfolgung aufgeben. Aber kurz bevor ich den
Wald erreichte, kreuzten sie bereits wieder.
4.
Die Düsternis des Waldes nahm mich auf. Ich warf
einen letzten Blick auf die beiden Wolken, die sich
mühsam herankämpften. Weit in der Ferne glaubte ich
Waramau zu sehen, aber ich konnte mich auch irren.
Ich war erschöpft. Der Hunger war fast unerträglich
geworden. Daran änderte auch der Fäulnisgestank
nichts, der mich umgab. Ich versuchte, mir einen Weg
durch das Dickicht zu bahnen. Nach wenigen Schritten
war vom Himmel nichts mehr zu sehen. Es wurde
dunkler, aber nicht kühler. Die feuchte Hitze nahm mir
fast den Atem. Die Stämme der mächtigen Bäume
waren kaum zu erkennen, so sehr waren sie von
Büschen und Ranken umwuchert. Eine seltsame Stille
herrschte, als wäre der Dschungel ohne Leben. Nur der
Wind rauschte und raschelte am Waldrand entlang.
Hier drinnen bewegte sich kein Blatt.
Mir war nicht sehr wohl zumute. Nur mühsam
unterdrückte ich den Drang, wieder hinaus in die freie
Steppe zu laufen, um dieses bedrückende Gefühl
loszuwerden. Selbst die Aussicht, den Wolkenreitern
entgegentreten zu müssen, erfüllte mich mit weniger
Unbehagen.
Unwillkürlich griff ich nach der Metallkette, die ich
dem Toten abgenommen hatte. Sie fühlte sich kühl
an – unberührt von der düsteren Drohung des
Dschungels. Es beruhigte mich. Ebenso kühl mußte ich
sein. Von irgendwoher kam der betäubende Duft von
Blüten, süßlich und schwer wie myranischer Wein. Ich
sah mich um, konnte aber nicht feststellen, woher es
kam. Hundert verschiedene Schattierungen von Grün
wucherten in jeder Richtung. Trotz der Reglosigkeit
konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß
sich alles um mich zusammendrängte. Der Gedanke
verursachte mir ein Kribbeln im Nacken, und ich
dachte an den dämonischen See, dem Waramau nur
mit knapper Not entronnen war.
Hastig starrte ich auf das Laub um mich und schalt
mich einen furchtsamen Narren. Nichts regte sich.
Keiner der Äste senkte sich herab, kein Blatt bewegte
sich. Das Dach über mir war grün und geschlossen.
Aber ich sah die Lücke im Gebüsch, durch die ich
gekommen war. Sie beruhigte mich. Ich wußte, daß es
nur die unglaubliche Dichte des Waldes und dieser
Geruch nach faulenden Pflanzen waren, die mich
unruhig machten.
Stimmen kamen von irgendwoher. Es mußten die
meiner Verfolger sein. Sie erklangen erneut, zu meiner
Rechten. Ich hatte den Waldrand hinter mir vermutet.
Es zeigte mir, wie rasch man in diesem Dickicht die
Orientierung verlieren konnte.
Ich verhielt mich ruhig. Es war ein Zufall, wenn sie
mich hier fanden. Wenn sie ebenfalls die Beklemmung
verspürten, würden sie nicht lange nach mir suchen.
Andererseits waren sie in dieser Welt zu Hause und
mochten den Dschungel als ganz natürlich empfinden
und seine Gefahren kennen. Dennoch war es besser,
wenn ich wartete. Das unvermeidliche Geräusch
meiner Flucht hätte sie nur erst recht auf meine Spur
gebracht.
Eine Weile geschah nichts. Ich untersuchte den
ersten der beiden Beutel des Toten. Er enthielt eine Art
trockenes Kraut, das angenehm roch, und eine glatte,
gebrannte Tonschale. Das ließ darauf schließen, daß
diese trockenen Blätter mit heißem Wasser aufgegossen
wurden und wahrscheinlich ein Getränk ergaben.
Diese Überlegung brachte mir den Hunger wieder voll
ins Bewußtsein. Ich schnürte den Beutel wieder zu und
öffnete den zweiten. Die Götter meinten es gut mit mir.
Er enthielt gebratenes Fleisch. Rückschlüsse auf das
Tier ließen sich keine mehr ziehen. Es schmeckte
ungemein gut. Deshalb brachte ich erst einmal meinen
knurrenden Magen zur Ruhe. Es reichte bei weitem
nicht, das große Loch in mir zu füllen, aber es gab mir
Kraft zurück. Außerdem ließ der Umfang des Beutels
vermuten, daß sie mit ihren Wolken keine allzu weiten
Ausflüge machten. Im Umkreis von ein, zwei Tagen
mußte es jagdbares Wild geben. Darraco würde sein
Lager nicht in einem Gebiet aufschlagen, in dem er mit
seinen Männern hungern mußte. Andererseits war ein
Tag Umkreis für Wolkenreiter eine riesige Entfernung.
Waramau hatte mich in einem halben Tag über ein
Stück Dschungel getragen, zu dessen Durchquerung
ich einen halben Mond brauchen würde.
Aber ich machte mir keine allzu großen Gedanken
darüber. Ein Dschungel wie dieser mußte einfach
etwas Eßbares bieten – wenn keine Tiere, dann
wenigstens Beeren oder Früchte.
Eine Weile war das Problem ja nun aufgeschoben.
Ich befestigte den leeren Beutel wieder am Gürtel und
richtete meine Aufmerksamkeit auf den Waldrand
rechts. Die Stimmen waren nähergekommen. Ich
vermeinte, sie jetzt aber links zu hören. Seltsam. Ich
lauschte mit angehaltenem Atem. Ja, sie kamen von
links. Ich konnte auch einige Wortfetzen verstehen. Es
ging darum, daß sie sich nicht einig waren, ob sie in
den Dschungel eindringen sollten. Einige warnten
davor. Einer meinte, der Dschungel würde die
Schwarzhaut schon schaffen, denn hier wären nur die
wenigsten wieder lebend herausgekommen, und die
wenigen besessen von Teufeln, die sich in ihre Seelen
genistet hatten. Kein sehr angenehmer Ausblick. Aber
ein anderer drängte darauf, daß sie sicherlich in
Darracos Gunst steigen würden, wenn sie ihm die
Beute mitbrachten. Weit konnte der Schwarze ja noch
nicht gekommen sein. Und Verinos Tod sollte auch
nicht ohne Sühne bleiben.
Es war wohl doch besser, wenn ich tiefer im
Dschungel verschwand. Aber ich war mir nicht mehr
klar über die Richtung. Vorhin hatte ich die Stimmen
von rechts gehört, nun von links. Der Waldrand konnte
aber nur in einer Richtung liegen. Ich war sicher, daß
ich mich nicht von der Stelle bewegt, oder gedreht
hatte. Der mächtige, verwachsene Baum befand sich
noch immer in meinem Rücken, die winzige Lichtung
vor mir.
Gleich darauf vernahm ich das Brechen von Ästen,
als die Männer sich in den Dschungel arbeiteten. Es
kam von links. Dann fiel mir etwas anderes auf: Das
Buschwerk um mich war wie eine Wand –
undurchdringlich. Nicht die kleinste Öffnung zeigte
sich mehr.
Ich war eingeschlossen!
Ich unterdrückte das panische Angstgefühl. Irgend
etwas Unheimliches ging vor, und die
Bewegungslosigkeit des Laubes um mich schien mir
plötzlich wie eine Tarnung, hinter der etwas lauerte.
Auch das Laubdach über mir war näher. Ich fühlte
mich mit einemmal wie in einer Falle!
Der Blütenduft war betäubend, aber nirgends in
dem Grün war eine Blüte zu erkennen. Dennoch
verschwamm mir alles vor den Augen wie im Rausch,
wie unter dem Einfluß der Kräuter, die wir in Mlmau
am Lagerfeuer rauchten.
Halbblind tastete ich mit dem Schwert um mich. Ich
mußte hier weg!
Ich schlug taumelnd die Blätter auseinander, aber
ich fand nicht die Kraft, mich durchzudrängen. Alles
war wie gelähmt.
Ein Schrei kam aus dem Dschungel, spitz und schrill
vor Grauen. Gleich darauf war es, als hielte der
Dschungel den Atem an, um zu lauschen. In der Stille
hörte ich ein mahlendes, schlürfendes Geräusch – wie
von einem riesigen Mund.
Ich bin nicht furchtsam, aber nun spürte ich, wie
sich mir die Nackenhaare aufzustellen begannen. Dann
erscholl ein zweiter, markerschütternder Schrei. Gleich
darauf aufgeregte Stimmen, darunter eine, die ein
paarmal einen Namen rief. Brechen von Ästen und
Rascheln folgte. Zweifellos hasteten die Männer zu
ihren Wolken zurück. Und ich hatte gute Lust, das
gleiche zu tun.
Plötzlich hieb ein Schwert durch die Laubwand, die
mich umgab, und einer der Männer zwängte sich
durch die Äste. Mit Entsetzen sah ich, daß alles
verwachsen um mich war zu einem Käfig. Erneut fiel
mir der See ein. Die kalte Furcht drängte das
Schwindelgefühl in den Hintergrund, das sich meiner
wieder zu bemächtigen drohte.
Der Mann starrte mich an. Sein Gesicht war bleich,
aber ein Zug von Triumph belebte es, als er erkannte,
daß er mich aufgestöbert hatte. Er wollte auf mich zu.
Dabei kippte er nach vorn, aber er fiel nicht. Entsetzt
sah ich, daß seine Beine regelrecht von Schlingpflanzen
umwachsen waren. Auch seine Arme hingen bereits
halb in grünen Schlingen. Er schrie und kämpfte
verzweifelt gegen das immer dichter werdende Gewirr,
das ihn immer schneller umschlang. Hinter ihm war
eine regelrechte Wand aus Ästen. Ich nahm alles nur
undeutlich wahr. Es verschwamm vor meinen Augen.
Der Kopf des Mannes kam hoch. Seine Augen starrten
mich flehend an.
Irgendwo im Innersten war der Wunsch, ihm zu
helfen, nicht tatenlos mit anzusehen, wie die Schlingen
sich immer dichter um seinen Körper legten und
zusammenzogen. Aber es war so unendlich schwer,
den Arm zu bewegen. Die Muskeln fühlten sich an, als
wären sie aus Eisen, so starr.
Plötzlich richtete sich der Blick des Mannes auf
einen Punkt über mir, und solches Grauen verzerrte
sein Gesicht, daß ich trotz der lähmenden Starre den
Kopf hochruckte. Was ich sah, ließ mir einen
Augenblick das Herz stillstehen.
Das Blätterdach hatte sich geöffnet. Ich starrte in den
riesigen Kelch einer weit geöffneten violetten Blüte,
deren betäubenden Duft ich bereits kannte. Sie
bedeckte die ganze Lichtung, und sie kam langsam
herab. Vier lange, fleischige Stiele krümmten sich herab
wie gigantische Raupen. Das Innere öffnete sich zu
einem runden, tief roten Schlund, der von Zähnen
eingesäumt schien. Es gab ein schmatzendes Geräusch.
Mit einem Aufschrei schüttelte ich die Lähmung ab.
Ich handelte noch immer ungelenk wie im Traum, aber
ich handelte. Ich stolperte auf den hilflosen Mann zu,
der gequält schrie, als sich die Schlingen fester
zuzogen. Sein Umhang riß. Blut quoll aus der Haut. Ich
brachte meinen Arm hoch und hieb in die Schlingen.
Mehrere rissen und gaben einen Teil seines Gesichtes
frei. Sie zuckten nach mir. Ich hieb erneut zu. Und
wieder, und mit jedem Hieb wurde es leichter. Der
Bann fiel immer mehr von mir ab, je wilder ich auf die
Äste und Schlingen einschlug. Einen Moment später
hatte ich den Mann frei. Er fiel zu Boden. Es war nicht
zu erkennen, ob er noch lebte. Ich konnte mich auch
nicht um ihn kümmern. Die riesige Blüte hatte mich
fast erreicht. Verzweifelt hieb ich auf das Astwerk ein.
Ein Wimmern erfüllte die Lichtung. Etwas berührte
mich heiß an der Schulter. Blind schlug ich um mich
und durchschnitt das raupenartige Gebilde, das nach
mir gegriffen hatte.
Ekel erfüllte mich. Eine grüne Flüssigkeit quoll
hervor und übergoß mich. Ihre Berührung war wie Eis.
Sie verdoppelte meine Kräfte.
Die Wand vor mir riß auf. Ich taumelte durch,
wandte mich um, griff blind nach den Beinen des
Mannes und zog ihn hinter mir her. Keinen Augenblick
zu früh. Mit einem knirschenden Geräusch senkte sich
der violette Kelch auf den Boden. Die spitzen
Blütenblätter rammten sich in die Erde, als wären sie
aus Eisen. Daraus hätte es kein Entfliehen mehr
gegeben. Ein raschelndes Geräusch drang von innen
heraus, und ich konnte mir vorstellen, wie die grünen
Raupen über den Boden tasteten, um nach der Beute zu
suchen – um nach mir zu suchen. Ich schüttelte mich
und zog erschöpft die leblose Gestalt hinter mir ins
harmlos scheinende Unterholz. Schwäche war in
meinen Knien. Ich versuchte, den Mann auf meine
Schultern zu heben, aber ich schaffte es nicht, so
schleifte ich ihn am Oberkörper mit. Schließlich glaubte
ich mich weit genug weg von dieser teuflischen Gefahr.
Erschöpft sah ich mich um.
Nirgends war ein Ende des Dickichts zu erkennen.
Ich versuchte mich zu orientieren, mußte aber
erkennen, daß ich jeden Sinn für Richtung verloren
hatte.
Ich bückte mich zu dem Wolkenreiter und fühlte
nach seinem Herzen. Es schlug ganz leicht, aber er war
nicht bei sich. Seine Verletzungen waren nicht
gefährlich. Die Haut war an mehreren Stellen
aufgerissen, aber die Knochen hatten dem Druck
standgehalten. Er würde früher oder später aufwachen.
Ich wußte nicht, ob ich darüber froh sein sollte.
Ich ließ mich neben ihm nieder, um auszuruhen. Die
Geräusche in einiger Entfernung kündeten deutlich,
daß die hungrige Blüte noch immer nach dem
verlorenen Leckerbissen suchte.
Davon abgesehen war es totenstill. Die Gefährten
des Wolkenreiters waren entweder alle tot, oder hatten
den Ausgang aus dem Dschungel gefunden. Wir hatten
diese Entscheidung noch vor uns, und ich war gar
nicht sicher, wie sie ausgehen würde.
Vorerst konnte ich nicht viel mehr tun, als warten,
bis mein unfreiwilliger Gefährte aufwachte. Es waren
nicht nur menschenfreundliche Gefühle, die mich dazu
veranlaßten. Schließlich war er ein Bewohner dieser
Welt. Und wenn einer sich hier zurechtfand, dann er.
Wenn er klug war, sah er ein, daß wir zu zweit eine
bessere Chance zu überleben hatten. Unsere
Feindschaft konnten wir ja später wieder aufnehmen,
wenn wir der gemeinsamen Gefahr entronnen waren.
Ich jedenfalls wollte nicht von seiner Seite weichen.
Aber ich war längst nicht mehr so sicher, daß ich
Waramau oder den König je wiedersehen würde.
Er hatte es nicht eilig, in diese Welt zurückzukehren.
Auch der Dschungel zeigte vorerst keine weiteren
feindseligen Absichten. Vielleicht war es nur eine
Verschnaufpause, die mir gegönnt war. Ich fragte mich,
welchen Gefahren wohl König Dragon und Danila
ausgesetzt waren, und ob sie sie heil überstanden
hatten. Seine Chancen, am Leben zu bleiben, waren
nicht größer als die meinen. Es war eine grausame
Ungewißheit. Er mochte längst tot sein. Aber er hatte
Gefahren überlebt, wie sie nur wenigen Sterblichen
widerfuhren, und die nur wenigen Sterblichen
vergönnt waren, durchzustehen. Es war etwas
Magisches an ihm, etwas beinah Göttliches.
Wem sonst sollte es gegeben sein, mehr als tausend
Jahre zu schlafen und aufzuerstehen – als einem Gott?
Auch der Wolkenreiter zu meinen Füßen hatte einen
Beutel mit Fleisch bei sich. Ich nahm ihm die Hälfte ab.
Der kleine Vorrat beruhigte mich. Das Fleisch war
gesalzen. Das machte sich bereits unangenehm
bemerkbar. Ich hatte Durst. Mit einigem Glück
mochten wir eine Quelle finden. Mit etwas weniger
Glück mochten wir auch daran vorbeigehen.
Aber ich bin nicht so leicht zu entmutigen. Es hatte
alles schon schlechter ausgesehen. Und ich lebte noch!
Keinen Augenblick ließ ich die Bäume und Büsche
aus den Augen. Ich war mißtrauisch wie ein Einhorn.
Alles sah friedlich aus. Es gefiel mir nicht. Denn ich
spürte die Gefahr. Sie lauerte überall um uns.
Ein paarmal schlug ich den Mann leicht ins Gesicht
und kniff ihn, für den Fall, daß er sich nur schlafend
stellte. Er war jedoch noch immer fort.
Das spärliche Licht schwand langsam. Es wurde
finster. Wahrscheinlich sah man während der Nacht
nicht einmal die Hand vor Augen. In dieser Schwärze
umherzuirren, hätte wenig Sinn gehabt.
Ich begann mich nach Brennbarem umzusehen, fand
jedoch nichts. Es gab keine dürren Äste oder welken
Blätter. Es gab keine toten Pflanzen. Alles war mit
Leben erfüllt.
So hieb ich einige grüne Äste ab. Dann nahm ich
dem Schlafenden den Umhang ab, riß mehrere Stücke
davon ab und brachte sie in kurzer Zeit zum Brennen.
Das Feuer hatte eine seltsame Wirkung. Ich hatte das
Gefühl, daß die Umgebung plötzlich weiter wurde, der
Raum um mich freier, als wiche alles vor den Flammen
zurück.
Als ich die Äste darauf werfen wollte, sah ich, daß
sie sich krümmten und wanden wie Schlangen, und
versuchten, das Buschwerk zu erreichen. Ich sprang
nach und trampelte darauf herum. Aber sie verloren
nichts von ihrer Lebendigkeit, so oft sie auch geknickt
waren.
Das brennende Stück Stoff erlosch, und ich stand in
der Dunkelheit. Alles war schwarz, bis auf das leichte
Glimmen der Aschenreste.
Etwas kroch an meinen Füßen hoch und wand sich
um meine Beine. Ich stolperte zurück und fiel, als sich
einer der Äste um meine Knöchel zusammenzog.
Kaum daß ich die Erde berührte, waren sie an mir, an
Armen und Hals. Es war ein mörderisches Gefühl. Ich
wand mich und bekam den Dolch aus dem Gürtel. Mit
mehreren Schnitten befreite ich mich von den
lebendigen Fesseln und taumelte zum Lagerplatz
zurück. Hinter mir raschelten die Äste über den Boden.
Ein Lufthauch erfüllte die Lichtung, als wäre etwas
Großes in Bewegung.
Mit zitternden Fingern brachte ich ein weiteres
Stück Tuch zum Glimmen. Im Licht der ersten kleinen
Flamme sah ich jedoch, daß sich nichts verändert hatte.
Nur von einem der Bäume kroch ein Stück Liane über
den moosigen Boden. Ich war nicht sicher, ob sie schon
vorher dagewesen war. In ihrer Richtung befand sich
der Kopf meines unfreiwilligen Gefährten, und ich
ging kein Risiko ein. Ich hob seinen Oberkörper hoch
und lehnte ihn gegen mich.
Lange würden wir nicht aushalten. Der Stoff
verbrannte zu rasch. Ohne Feuer aber würden wir die
Nacht nicht überleben.
Tausend grüne Finger konnten in der Finsternis
nach uns greifen. Sie sahen so wenig wie wir, aber sie
fühlten uns. Mein Herz schlug verräterisch laut in der
Stille.
Der Mann wurde wach in meinen Armen. Ich hielt
ihn ein wenig weg von mir und tastete nach seinem
Dolch und seinem Schwert im Gürtel. So würde ich
rechtzeitig sehen, ob er danach griff.
In der Tat fuhr seine Hand zum Dolch, gewahrte
dort meine. Er richtete sich stöhnend auf. »Wer bist
du?«
»Ubali«, sagte ich. »Die Schwarzhaut, auf die ihr so
scharf wart.«
Er schwieg einen Augenblick. »Du hast mir das
Leben gerettet?«
»Es ist das zweite, das mir Darraco schuldet. Bring
mich zu ihm.«
»Nichts lieber als das. Wenn du mir den Weg aus
diesem verdammten Dschungel zeigst!«
»Den hoffe ich von dir zu erfahren«, erwiderte ich.
»So sind wir verloren«, entfuhr es ihm. »Verflucht
die Stunde, da ich dir begegnet bin ...!«
»Ich war auch nicht erfreut über unsere
Begegnung«, sagte ich schroff. »Ich könnte jetzt ...«
»Was ist das?« unterbrach er mich heftig.
Ich hörte es auch, das Rascheln ganz in unserer
Nähe.
»Sie kommen wieder«, stellte ich fest.
»Wer?« Furcht war in seiner Stimme.
»Die Pflanzen.« Ich griff nach einem weiteren Stück
Stoff und mühte mich ab, es zu entzünden. »Hilf mir«,
sagte ich. »Rasch. Das Zeug ist das einzige, das
brennt.«
Mit zitternden Händen machte er sich an meiner
Seite zu schaffen. Als der Stoff endlich aufglomm, und
er ihn sorgfältig zur hellen Glut blies, sah ich
erschrocken, daß der ganze Lichtungsboden von
Lianen bedeckt war, die nun halb aufgerichtet lauerten
und sich vor der Glut zurückkrümmten.
»Blasen«, rief ich, als er innehielt und starr vor
Entsetzen auf die Pflanzen stierte.
Gleich darauf brannte der Stoff.
»Wir müssen hier fort. Varins Erbarmen, wir müssen
hier fort!« stammelte er.
»Ja«, stimmte ich bei und half ihm hoch. »Aber
wohin?«
»Egal wohin.« In seiner Stimme war ein
wimmernder Klang. »Nur fort von hier. Oh, Varin, hilf
mir!«
»Ist das dein Gott?« fragte ich ihn.
»Ja, ja«, erwiderte er hastig.
»Dann hoffe ich, daß er mächtiger ist als die meisten,
die ich kenne«, stellte ich fest. »Ich habe mir
abgewöhnt, die Götter um Hilfe anzurufen. Die
meisten taugen zu nicht viel mehr als zum Fluchen.«
»Es geht aus! Es geht aus ...«, jammerte er.
Rasch hielt ich den Rest des Stoffes über die
verlöschenden Flammen. Er loderte hell auf. Bevor er
mich aufhalten konnte, rannte ich unter die hastig
zurückweichenden Lianen und schleuderte ihnen den
brennenden Lappen entgegen. Sie waren nicht rasch
genug. Die Flammen leckten nach ihnen. Sie begannen
zu brennen. Wie trockenes Holz flammten sie
knackend auf. Sie wanden sich und steckten andere an.
Prasselnd breitete sich der Brand aus, griff nach den
Bäumen, hüpfte von Ast zu Ast wie ein Dämon. Die
Lichtung war hell wie am Tag und in einen wahren
Gluthauch getaucht.
Es war äußerst befriedigend zu sehen, wie diese
höllischen Pflanzen verzehrt wurden.
Der Wolkenreiter kam grinsend an meine Seite. »Ich
bin Larkin«, sagte er mit einem halben Grinsen.
Erleichterung schwang in seiner Stimme. »Sieht so aus,
als hättest du dieses Leben schon wieder gerettet.«
Ich nickte. »Ich hoffe, dieser Darraco weiß das zu
würdigen.«
»Dafür kann ich nicht garantieren«, meinte er. »Aber
ich werde es nicht vergessen.«
»Noch sind wir nicht draußen«, sagte ich warnend.
»Außerdem greift das Feuer so rasch um sich, daß uns
nicht viel Zeit bleibt. Verbrennen ist auch kein Tod
nach meinem Geschmack ...«
»Besser als gefressen werden ... von Pflanzen ...!« Er
schüttelte sich.
»Dann vorwärts, Larkin«, drängte ich. »Solange wir
dieses Licht haben. Dort drüben muß die Stelle sein, an
der du mich gefunden hast, wenn mich nicht alles
täuscht. Denkst du, daß du von dort aus den Rückweg
findest?«
»Ich weiß es nicht. Aber es ist einen Versuch wert.
Warte ...« Er schüttelte den Kopf. »Das ist
eigentümlich. Ich ... das Feuer treibt von uns weg ...
genau in die andere Richtung. Das muß der Wind sein.
Um diese Jahreszeit ist der Ostwind am heftigsten. Das
muß bedeuten, daß die Steppe in dieser Richtung liegt.
Wir brauchen nur dem Feuer zu folgen.«
»Der Wind könnte umschlagen«, warf ich ein. »Ich
bin ziemlich sicher, daß wir aus der anderen Richtung
...«
»Nein. In einigen Tagen wird sich der Wind ändern,
aber jetzt ist es noch zu früh.«
»Also gut«, stimmte ich zu. »Folgen wir dem Feuer.
Es ist auch der sicherste Weg.«
Das Feuer loderte hoch auf, aber es wirkte auf mich
irgendwie kraftlos. Etwas Seltsames geschah: Statt sich
weiter auszubreiten, schien es, als würde es
eingedämmt. Tatsächlich schienen die Pflanzen so
etwas wie einen Selbstschutz auf die Beine gestellt zu
haben. Die Luft war plötzlich erfüllt von feinem Regen,
der stark nach Holz roch, als käme er direkt aus dem
Herzen der Bäume.
»Sie löschen es«, rief Larkin halblaut.
Er hatte recht. Qualm stieg auf. Der Regen
verdichtete sich. In wenigen Augenblicken war das
große Feuer erstickt. Dunkelheit senkte sich herab, so
schwarz und undurchdringlich wie zuvor.
»Was jetzt?« fragte Larkin.
»Wir gehen in dieser Richtung weiter«, schlug ich
vor.
»Dann haben wir uns nach wenigen Schritten
verloren. Ich kann die Hand nicht vor den Augen
sehen. Warum bleiben wir nicht bis zum Morgen hier
auf der Lichtung. Es ist alles verbrannt und verkohlt.
Wir sind ziemlich sicher ...«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »In kurzer
Zeit ist das alles wieder überwuchert. Sie kriechen über
den Boden wie Schlangen. Wir müssen weg hier. Aber
nicht vorwärts, sondern zurück.«
»Zurück? Bist du von Sinnen? Noch tiefer in den
Dschungel?«
»Im Gegenteil. Dort hinten liegt der Weg ins Freie.
Ich bin sicher, daß wir aus dieser Richtung kamen.«
»Aber das Feuer ...«
»Was immer das Feuer in diese Richtung trieb, war
nicht der Ostwind. Bis das Feuer ausbrach, war hier
nicht der leichteste Lufthauch zu spüren. Kein Blatt hat
sich bewegt. Der ganze Dschungel ist eine Falle, Larkin.
Ich hörte anfangs eure Stimmen von rechts, gleich
darauf von links, obwohl sich nichts verändert hatte.
Innerhalb kürzester Zeit hatte ich jedes Gefühl für
Richtungen verloren. Das ist kein Zufall. Das ist
Absicht ...«
»Das ist Unsinn, Schwarzer«, unterbrach er mich.
»Ich heiße Ubali«, knurrte ich.
»Gut, Ubali also. Es ist Unsinn. Diese Bäume denken
nicht. Sie sind Pflanzen, und nicht mehr, auch wenn sie
Fleisch fressen.«
»Möglich. Aber sie sind verdammt unersättlich. Bis
jetzt haben wir nicht ein einziges Tier gesehen, nicht
einmal eine Fliege. Und draußen in der Steppe war
auch alles leer. Jedes Lebewesen scheint diese
gefährliche Gegend zu meiden. Nur Narren wie wir
sehen die Gefahr nicht. Und ich könnte mir vorstellen,
daß sich der Dschungel im Laufe der Jahre auf diese
Art von Beute eingestellt hat. Jedes Lebewesen paßt
sich an oder stirbt. Das ist im Busch in meiner Heimat
Shi-but nicht anders.«
»Vielleicht hast du recht. Schw ... Ubali. Aber in
dieser Dunkelheit werden wir niemals den rechten
Weg finden. Wir sind erledigt, bevor wir auch nur ein
paar Schritte über diese Lichtung hinaus getan haben.
»Wir haben noch unsere Beinkleider ...«
»Die nicht brennen werden, weil sie naß vom Regen
sind«, wandte Larkin ein.
»Wir müssen es versuchen«, sagte ich ärgerlich.
»Oder willst du lieber tatenlos verrecken?«
Das rüttelte ihn ein wenig auf. Ich hörte ihn gleich
darauf, wie er seine Beinkleider aufriß und sich
fluchend mit dem Dolch daran zu schaffen machte.
Wenig später schlug er Funken mit wenig Erfolg. Es
war unheimlich still und drückend. Jeden Augenblick
erwartete ich, daß sich etwas um meine Beine schlang,
oder um meinen Hals. Das Schwert lag klamm in
meiner Hand. Larkin hatte kein Glück mit dem Feuer.
Ich dachte an die getrockneten Kräuter in dem einen
Beutel. Sie mochten vielleicht ein guter Zunder sein,
der auch das feuchte Zeug in Brand steckte.
»Ich griff nach dem Beutel und hielt überrascht inne.
Durch das Dickicht vor uns kam ein fahles, grünes
Leuchten. Es bewegte sich. Es schien aus mehreren
hellen Punkten zu bestehen.
»Larkin«, flüsterte ich und tastete in der Finsternis
nach seiner Schulter. Er hielt inne. »Siehst du es?«
»Ja«, antwortete er. »Was mag das sein?«
»Das wissen die Götter. Wir werden es uns näher
ansehen. Jedenfalls ist es eine Art von Licht. Und wir
brauchen Licht am allernotwendigsten. Komm.«
Gleich darauf zeigte sich, daß wir gar nicht darauf
zuzugehen brauchten. Die gespenstischen Lichter
kamen direkt auf uns zu. Aber wir konnten nicht
erkennen, was es war, bis es durch das Buschwerk
brach und auf die Lichtung kam.
»Menschen!« entfuhr es mir.
»Larkin gab keine Antwort. »Dank sei Varin«,
murmelte er nur.
Sie kamen hintereinander auf die Lichtung. Sie
waren zierlich und kleiner als ich, kleiner selbst als
Larkin, den ich um einen Kopf überragte. Ihre Haut
war dunkel, das konnte ich selbst in dem fahlen,
grünlichen Licht erkennen, das von fackelartigen
Holzstücken ausströmte, die sie in Händen hielten. Es
war kein Feuer, sondern ein Licht, das nicht flackerte,
nur glühte. Doch die Glut reichte aus, ihnen den Weg
zu zeigen. Nicht jeder hielt ein solches Licht in der
Hand. Viele hatten kleine Bogen mit angelegten
Pfeilen, manche Speere. Bis auf einen knappen
Lendenschurz waren sie unbekleidet.
»Die sehen nicht sehr freundlich aus«, meinte
Larkin.
Ja, den Eindruck hatte ich auch. Meine anfängliche
Freude darüber, in diesem Teufelsdschungel
menschlichen Wesen zu begegnen, legte sich rasch.
Fünf oder sechs Dutzend der Gestalten drängten sich
auf die Lichtung, die unter den Lichtern ziemlich hell
wurde. Ihre kleinen Augen musterten uns irgendwie
kalt.
»Was tun wir?« flüsterte Larkin.
Ich zuckte die Achseln.
»Abwarten«, sagte ich.
»Ich würde lieber die Beine in die Hand nehmen«,
entgegnete er.
»Es sind zu viele, und sie haben den Vorteil, daß sie
sich hier auskennen. Du würdest nicht weit kommen«,
warnte ich. »Ich bin kaum einem Stamm begegnet,
dessen Krieger nicht von Furchtlosigkeit beeindruckt
gewesen wären. Laß dir lieber nicht anmerken, daß du
Angst hast. Wenn es zum Kampf kommt, bleib in
meinem
Rücken ...«
»Dazu wird es gar nicht kommen. In dem
Augenblick, in dem wir das Schwert heben, sehen wir
aus wie die Stachelschweine.«
»Ein rascher Tod«, erwiderte ich. »Er schreckt mich
nicht.«
»Mich schon. Und sie sehen uns an, als ob sie uns
schon in ihrem Kochtopf hätten.«
Da hatte er recht. Sie standen um uns herum,
schweigend, und starrten uns mit ihren glitzernden
Augen an. Irgendwie wirkten sie knorrig mit ihrer
runzeligen Haut, den faltigen Gesichtern, den dünnen
Armen und Beinen, deren Gelenke wie Knoten waren.
Nach einem Augenblick trat einer aus der Menge,
der ihr Anführer schien. Er kam furchtlos heran bis auf
eine Manneslänge Abstand und begutachtete uns wie
Rindvieh auf dem Markt. Larkin empfand es wohl
ebenso, denn er trat fluchend einen Schritt auf den
Mann zu und hob wütend sein Schwert. Im nächsten
Augenblick war der Boden vor ihm gespickt mit
Pfeilen. Mit einem Aufschrei hielt er inne.
Damit schien die Lage geklärt. Ohne ein Wort
wandte sich der Anführer um und winkte einigen
seiner Leute. Sie stellten sich wie eine Eskorte auf
beiden Seiten auf. Mir lagen ein paar Fragen auf der
Zunge, aber diese Männer waren offenbar nicht sehr
für Erklärungen. Kein Wort war gefallen, seit sie auf
die Lichtung gekommen waren. Ich hatte das Gefühl,
daß ich die Antworten auf meine Fragen früh genug
selbst herausfinden würde. Und ich war sicher, daß sie
mir nicht gefallen würden.
Inzwischen war nicht viel mehr zu tun als
abzuwarten. Die Lage hatte sich immerhin verbessert.
Wir hatten Licht und Gesellschaft.
Larkins Gesicht war blaß. Ich nickte ihm beruhigend
zu. Diese weiße Haut taugte nicht viel. Sie verriet
zuviel von dem, was im Innern eines Mannes vorging.
Unsere Eskorte setzte sich in Bewegung, und wir
auch, nachdem sie uns mit den Speeren
vorwärtsdrängten.
5.
Der Dschungel sah seltsam verzaubert aus im
Schimmer des fahlen Lichtes. Man konnte nur einen
kleinen Umkreis erkennen. Knorrige Äste wirkten wir
Arme, wie Gesichter, Beine und verwachsene Leiber –
mitten in der Bewegung erstarrt, als hätte der
Lichtschein sie ertappt bei einer mörderischen Tat. Ich
konnte mich eines Schauderns nicht erwehren, und
Larkin empfand es wohl ebenso, denn er ging leicht
gebückt vor mir her, so als suchte er in seiner Eskorte
Schutz. Im Augenblick war ich ebenfalls dankbar für
unsere Begleitung. Lange hätten wir allein in dieser
Dunkelheit nicht überlebt.
Es war ein langer Weg, mit einer leuchtenden
Karawane vor uns und einer ebenso langen hinter uns.
Die Männer schienen keine Angst zu haben.
Mehrmals machten wir Umwege um mächtige
Stämme, kleine Lichtungen und eine kleine
Wasserstelle. Der Durst machte sich bei ihrem Anblick
wieder bemerkbar. Einer der Krieger aus nächster
Nähe deutete meine Lippenbewegung offenbar richtig,
denn er bückte sich nach etwas auf dem Boden und
warf es in den Teich. Voller Grauen sah ich, wie die
spiegelnde Oberfläche sich auflöste wie unter einem
starken Regenschauer, aufschäumte, und zu tausend
spitzen funkelnden messerartigen Blättern wurde, die
über dem Gegenstand zusammenschnappten, den der
Mann geworfen hatte.
Ein scharfes, schabendes Geräusch erklang, das mir
eine Todeskälte den Rücken hinabjagte.
»Varin, Erbarmen!« flüsterte Larkin vor mir.
Und mir war der Durst vergangen.
Endlich schienen wir am Ziel angelangt zu sein,
obwohl in meinen Augen bereits ein Flecken dieses
Urwaldes wie der andere aussah. Vor uns befand sich
ein gewaltiger Baum. Drei Dutzend der Krieger hätten
ihn nicht mit ihren Armen umspannen können. Von
seiner Rinde war nichts zu sehen. Sie war umwuchert
von Schlingpflanzen.
Die ersten Krieger begannen an ihm hochzuklettern.
Sie benutzten ganz bestimmte Stellen, auf denen sie
kletterten. Es sah von unten aus wie unsichtbare
Stufen. Sie hielten sich auch kaum fest, während sie
hochstiegen.
Als wir an die Reihe kamen, entdeckte ich, daß
gleichmäßige Streben wie die einer Leiter aus dem
Baum ragten, an denen man wie auf Stufen
hochklettern konnte. Die Krieger besaßen eine
unglaubliche Gewandtheit. Ich selbst mußte mich
ständig an den Lianen festhalten, und Larkin erging es
nicht anders. Auch erfaßte mich bald ein
Schwindelgefühl, wie ich es selbst auf Waramaus
Rücken nicht verspürt hatte. Vielleicht lag es an der
Schwärze unter mir, und daß ich wußte, welch tödliche
Gefahren da unten lauerten.
Die gewundene Schlange der grünen Lichter
verschwand über mir im Laubdach. Ein Ende unserer
Kletterei war nicht abzusehen. Larkin stapfte keuchend
voran, und auch ich fühlte, wie meine Kräfte
schwanden.
Aber es gab kein Einhalten. Die Krieger hinter uns
stießen uns mit ihren Lanzen vorwärts. Vom Boden
war bald nichts mehr zu sehen. Die scheinbar
bodenlose Schwärze wich dem Grün eines
vielschichtigen Laubgewirrs, das uns fast wie ein Raum
in einer Hütte umgab und ein Gefühl der Behaglichkeit
vermittelte. Die unsichtbare Drohung, die bei jedem
Schritt auf mir gelastet hatte, schwand immer mehr. Ich
fühlte mich frei und sicher.
Nur müde.
Der Aufstieg nahm wahrhaftig kein Ende, nur
gewann ich nach einer Weile den Eindruck, daß der
Stamm des Baumes merklich dünner wurde und freier
von Lianen. Da und dort sah man die dunkle Rinde.
Einmal gab es eine Pause. Vor uns, scheinbar auf
Plattformen, die auf Ästen errichtet worden waren,
standen viele der Krieger mit ihren Lichtern. Was
geschah, war nicht zu erkennen. Niemand sprach ein
Wort. Es war, als ob sie überhaupt nicht sprechen
könnten. Als ob sie stumm wären. Auch Geräusche gab
es keine, die etwas über die Vorgänge hätten aussagen
können. Nur als ich erschöpft meinen Kopf gegen die
Rinde preßte, war es mir, als hörte ich einen
langgezogenen, menschlichen Schrei, der nach unten
hin verklang.
So als käme er aus dem Innern des Baumes.
Dann ging es weiter. Sie zerrten Larkin hoch, der
sich wütend gegen die zudringlichen Arme wehrte.
Mich stießen die Lanzen wieder in die Kehrseite, was
mich auch zunehmend mehr mit Ärger erfüllte. Sie
hatten uns die Waffen seltsamerweise nicht
abgenommen, und der Drang, nach dem Schwert zu
greifen und diese knorrigen Kerle vom Baum zu fegen,
war manchmal übermächtig. Wohl auch in Larkin,
denn ich sah ihn manchmal nach dem Knauf greifen.
Ich fragte mich ernsthaft, wie groß unsere Chancen
waren, wenn wir es zum Kampf kommen ließen. Etwa
zwei Dutzend Krieger befanden sich unter uns. Zu
viele. Außerdem waren sie wesentlich gewandter, und
wie gut ihre Bogen waren, davon hatten sie uns ja
bereits eine Kostprobe gegeben.
Andererseits erschien mir unsere Lage ziemlich
aussichtslos, wenn wir erst in der Krone dieses Baumes
angekommen waren. Es machte eine Flucht beinahe
unmöglich. Sie konnten uns jederzeit mit Leichtigkeit
einholen.
Wir erreichten die Stelle, an der es den Aufenthalt
gegeben hatte. Es waren keine richtigen Plattformen,
sondern eine so starke Umwucherung der Äste mit
rankenartigen Pflanzen, daß sich zwischen den Ästen
ein fester Boden gebildet hatte. Niemand befand sich
mehr hier, und unsere Eskorte kletterte weiter hinauf.
Die Götter mochten wissen, wieviele Stunden wir hier
hochsteigen mußten, bis dieser Baum ein Ende hatte.
Knapp über der natürlichen Plattform sah ich eine
große dunkle Öffnung in der Rinde. Ein ekelhafter
Geruch strömte daraus hervor, und ich war froh, als
wir es hinter uns ließen. Ich merkte mir die Stelle
jedoch. Sie mochte ein guter Schlupfwinkel für eine
Flucht sein. In diesem Gestank würde niemand nach
uns suchen.
Einen augenblicklichen Fluchtgedanken gab ich
jedoch auf, denn dieses mehr oder weniger bequeme
Hochsteigen hatte auch noch einen Vorteil. Wenn der
Tag anbrach, mußten wir aus dem Wipfel des Baumes
sicherlich des Ende des Dschungels und die Prärie
sehen können. Wenn nicht von diesem Vater aller
Bäume, dann wohl von keinem anderen. Ich war ganz
zufrieden bei dem Gedanken. Die Götter hatten es
nicht so unübel mit uns gemeint. Wir hätten ein
Dutzend Bäume unter allergrößten Schwierigkeiten
besteigen können, ohne Gewähr, daß wir auch wirklich
über die anderen hinwegsahen.
Hier hingegen schien es mir ziemlich sicher. Also
aufwärts – und wenn dort nichts anderes war als das
Ende der Welt!
Ich hatte auch den Eindruck, daß es bereits ein
wenig heller geworden war, obwohl der grüne
Lichtschimmer noch immer einen geschlossenen Raum
aus Laub ausleuchtete.
Es war schwer abzuschätzen, wie hoch wir uns
bereits befanden. Dreißig oder vierzig Manneslängen
vielleicht. Wir hatten den mächtigen Stamm ein gutes
Dutzend mal umrundet. Er war nun bereits recht dünn
geworden – wenigstens im Vergleich zu unten, denn
noch immer bedurfte es wenigstens eines halben
Dutzends, um ihn zu umspannen.
Wieder tauchte eine dicht umwucherte Schicht von
Ästen auf, auf der man bequem stehen konnte, und
diesmal schien das Ziel erreicht. Ein wenig war ich
enttäuscht, denn noch immer bot das Grün ringsum
keinen Ausblick in die Welt dahinter, auf den
Sternenhimmel. Nichts wäre mir in diesem Augenblick
lieber gewesen, als einen Stern zu sehen.
Larkin sank erschöpft vor mir nieder. Ich lehnte
mich keuchend gegen den Stamm. Erst jetzt bemerkte
ich, daß die Plattformen weit auf die Äste
hinausreichten, und daß darauf runde Gebilde standen,
die in dem fahlen Licht wie Hütten aussahen, die
jemand aus Ästen und Laub errichtet hatte. Auch
Gestalten waren zu erkennen.
Die Lanzenspitzen trieben uns vorwärts, auf die
Hütten zu.
Der Boden war nachgiebig und federnd. Ich hatte
Mühe, mich aufrecht zu halten. Larkin torkelte vor mir
her. Nach ein paar Schritten sah ich mich um, als das
Licht immer düsterer wurde. Unsere Eskorte war
zurückgeblieben und starrte uns nach. Einige der
Männer winkten drohend mit den Speeren und warfen
sie, als ich innehalten wollte.
Es waren verdammt gute Würfe. Kurz vor unseren
Füßen bohrten sich die Speere schwankend in die Äste.
Einer verschwand in den Lianen zwischen meinen
Füßen. Ich griff danach und faßte den hölzernen Schaft,
bevor er ins Bodenlose verschwinden konnte. Rasch
drehte ich mich herum und stieß Larkin vorwärts,
einesteils, um den Speer zu verbergen, den ich erbeutet
hatte, andererseits, um weiteren Würfen zu entgehen.
Man wollte offenbar, daß wir uns zu den Hütten
begaben. Die Gestalten, die uns dort erwarteten, waren
unbewaffnet, soweit ich das erkennen konnte.
Sie hatten auch keine Lichter. Konnte es sein, daß sie
Gefangene waren wie wir?
»Vorwärts«, drängte ich Larkin.
»Es gefällt mir nicht«, keuchte er. »Wer sind die da
vorn?«
»Das werden wir gleich wissen.« Ich warf einen
erneuten Blick zurück. Sie standen noch immer um den
Stamm und warteten. Ich fragte mich, wie weit sie ihre
Speere werfen konnten.
In der Stille vernahm ich einen Ton, den ich am
wenigsten erwartet hätte.
Das Schreien eines Säuglings.
6.
»Die wollten uns wohl zu unserem Glück zwingen«,
meinte Larkin.
»Es hat den Anschein«, stimmte ich zu. »Dein Varin
scheint es tatsächlich recht gut mit uns zu meinen. Das
ist der erste menschliche Laut, den ich in dieser Nacht
höre, wenn ich von deiner Gesellschaft absehe.«
Zwei der Gestalten kamen uns entgegen. Sie waren
ziemlich klein. Als sie heran waren, erkannten wir, daß
die eine ein junger Mann war, fast ein Knabe. Die
andere war ein Mädchen, ebenfalls fast noch ein Kind.
Beide waren vollkommen nackt und trugen langes
Haar, das über die Körpermitte hing. Das Mädchen
trug ein Kind, das nicht mehr lange bei ihr sein würde,
dem stark geschwollenen Leib nach zu schließen.
Sie sahen uns neugierig an. Furcht war in ihren
Augen und eine Mutlosigkeit in ihren Zügen, wie ich
sie oft bei Sklaven gesehen hatte. Sie sprachen nichts.
Larkin sagte völlig überflüssigerweise: »Wohnt ihr
hier? Ist das euer Lager?« Er deutete auf die Hütten.
Sie antworteten ihm nicht. Sie hatten nur Augen für
mich. Es kam mir in den Sinn, daß sie vielleicht noch
nie einen schwarzhäutigen Menschen gesehen hatten.
Sie mußten hier völlig abgeschieden leben, wie viele
der Stämme meiner Heimat und tief im Süden des
Landes.
Vielleicht war es die Furcht in ihren Augen, die mich
bewog, vielleicht auch nur ein unbewußtes Mitleid, das
ich selbst nicht verstand – ich streckte den beiden
meine Hände entgegen und lächelte.
Sie wichen ein wenig zurück, aber dann schwand
die Furcht aus ihren Augen. Sie versuchten mein
Lächeln zu erwidern, aber es war, als hätten sie noch
nie gelächelt.
Dann griffen sie zögernd nach meinen Händen,
vorsichtig, berührten sie und faßten sie nach einem
Augenblick mit festem Griff.
Larkin hob den Speer auf, den ich neben mich auf
den Boden gelegt hatte, und die beiden wichen
erschrocken zurück.
»Habt keine Angst«, sagte ich rasch, ungewiß, ob sie
mich verstanden.
Jedenfalls verstanden sie den beruhigenden Tonfall
meiner Stimme.
»Er ist ein Freund. Larkin.« Ich deutete auf ihn. »Ich
bin Ubali.«
»Larkin«, wiederholte der Junge.
»Ubali«, sagte das Mädchen.
Sie sahen einander an und nickten. Dann wandten
sie sich um und gingen ein paar Schritte auf die Hütten
zu. Sie blickten zurück, ob wir ihnen folgten, was wir
auch taten. Ich warf meinerseits einen Blick zurück
zum Stamm, wo noch immer die Krieger standen,
reglos, wie kleine Statuen.
»Vorwärts, Ubali«, drängte Larkin.
»Ich will diese Kerle nicht mehr sehen. Es kribbelt
mich bei ihrem Anblick. Mit denen stimmt etwas nicht.
Haben sie dich angefaßt?«
»Nein«, entgegnete ich.
»Ihr Griff ist hart wie diese verdammten Lianen, aus
denen du mich befreit hast. Die sind nicht aus Fleisch
und Blut wie wir ...«
»Bestimmt irrst du dich«, widersprach ich.
»Sollte mir recht sein«, murmelte er. »Varins Blut,
ich bin müde. Darraco wird mir niemals glauben, was
ich hier gesehen habe.«
»Du hast einen guten Zeugen«, sagte ich.
»Du kommst wahrhaftig mit?« Er schüttelte mutlos
den Kopf. »Es sieht allerdings so aus, als sollten wir
unser Leben auf diesem Baum beschließen. Eine
kümmerliche Aussicht.« Mit einem halben Grinsen
fügte er hinzu: »Obwohl mir die Kleine gefällt ...«
Die beiden deuteten auf eine Hütte, vor der sich
bereits eine ganze Schar angesammelt hatte. Auf einen
Blick sah ich, daß sie alle sehr jung waren, nicht viel
mehr als Kinder. Die meisten der Mädchen waren
schwanger. Auch ihre Gesichter waren erfüllt von
Neugier und einer tiefen Furcht, die ein Teil ihres
Wesens zu sein schien. Ihre Haut war weiß, ihre Gestalt
zierlich – die der Knaben ebenso wie die der Mädchen.
Wir traten in die Hütte. Drinnen befand sich nichts
außer einer dichten Laubschicht, die als Lager diente.
»Wenn ich das hier sehe, habe ich nur noch einen
Wunsch, zu schlafen«, murmelte Larkin. Er ließ sich in
das Laub sinken und schlief im nächsten Augenblick.
Ich beneidete ihn darum. Die Müdigkeit brannte mir
in den Augen, aber der Gedanke an Schlaf erfüllte mich
mit Schrecken.
Draußen war alles still und dunkel. Ich starrte aus
dem Eingang. Unsere Eskorte war mit ihren Lichtern
verschwunden. Es war gleichmäßig dunkel innerhalb
und außerhalb der Hütte. Ob die versammelte Schar
noch draußen stand, konnte ich nicht erkennen.
Jemand berührte mich sanft und drängte sich an mir
vorbei, gefolgt von einem zweiten. Mit einem Seufzen
sanken sie in das Laub und schliefen einen Augenblick
später, wie ihre gleichmäßigen Atemzüge verrieten.
Das mußten der Junge und das Mädchen sein.
Und was blieb mir nun übrig, als das zu tun, wovor
ich mich gefürchtet hatte. Aber alle schliefen, und das
war nicht verwunderlich. In dieser Schwärze konnte
man gar nichts anderes tun als schlafen.
Ich fragte mich, wie der Tag hier oben aussehen
mochte. Eine müßige Frage, denn ich würde ihn ja
erleben.
So rastlos ich war, es gab nichts mehr, das ich hätte
unternehmen können. Jeder Schritt vor der Hütte
mochte ein trügerischer Schritt in den Abgrund sein.
Also ließ ich mich ebenfalls nieder und streckte mich
zwischen den dreien aus. Ihr gleichmäßiges Atmen war
beruhigend. Es war, als ob ich in meiner Hütte läge mit
meinem Vater und seinen beiden Frauen. Alte
Erinnerungen tauchten auf, während ich trotz aller
Unruhe dem Schlaf nachgab.
Doch irgend etwas hielt mich wach, etwas, das mich
immer wieder an Larkins Bemerkung erinnerte: »Die
sind nicht aus Fleisch und Blut wie wir ...«
Der Satz geisterte durch meinen Kopf. Er war wie
eine Tür, hinter der sich ein Geheimnis verbarg. Ich
brauchte sie nur auf zustoßen.
Und plötzlich wußte ich es: das Atmen! Dieses
beruhigende Atmen war der Schlüssel!
Die ganze Zeit über war es mir nicht aufgefallen.
Während Larkin und ich uns keuchend an dem Baum
emporarbeiteten, hatten sie nicht einen Atemzug getan!
Aber selbst mit diesem erschreckenden Gedanken
schlief ich schließlich ein.
Als ich aufwachte, war das Lager neben mir leer. Die
Bewohner der Hütte waren verschwunden, nur Larkin
lag schnarchend am anderen Ende.
Ich brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden.
Dann stemmte ich mich überrascht hoch. Ein
dämmriges Licht fiel in die Hütte. Es mußte Morgen
sein. Oder Tag.
Im Eingang stand ein Mädchen und starrte mich
neugierig an. Sie hatte ein ernstes Gesicht, über dem
der gleiche Schatten der Furcht lag, wie über den
anderen Baumbewohnern, so als würden sie bereits
damit geboren.
Ich versuchte ihr zuzulächeln, aber es wurde mehr
ein Grinsen, und mein entblößtes Gebiß erschreckte sie
wohl, weil sie erwartet hatte, daß meine Zähne ebenso
schwarz wie meine Haut wären. Sie verschwand rasch.
Nachdenklich starrte ich in das dämmrige Grün
hinaus. Das Bild wäre friedlich gewesen ohne diese
Furcht in ihren Augen.
Ich weckte Larkin mit einem unsanften Stoß. »He,
Larkin! Wach auf!«
Als er mit einem Fluch hochfuhr, der wieder einmal
mit seinem Varin zu tun hatte, stand ich auf und trat
aus der Hütte. Ein halbes Hundert Menschen saß auf
den weiten Plattformen herum, darunter eine Menge
Kinder verschiedenen Alters. Nirgends sah ich Alte.
Keiner schien mir älter als fünfzehn, sechzehn Sommer.
Ich nickte grüßend, sie sahen mich an, die meisten
von ihnen neugierig, einige der Mädchen verlangend,
daß mir das Blut in den Kopf stieg.
Das schwangere Mädchen aus der Hütte kam zu
mir, nahm mich an der Hand und führte mich an eine
Stelle der Plattform, auf der verschiedene Früchte
lagen. Keine von ihnen hatte ich je zuvor gesehen.
Sie nahm eine große, violette Frucht, die mich
unangenehm an mein Erlebnis mit der violetten Blüte
erinnerte. Sie brach sie, nahm einen großen Kern
heraus, den sie fortwarf, und reichte mir den
fleischigen Rest.
Ich versuchte zögernd, aber sie schmeckte wirklich
gut und war saftig genug, um auch den Durst zu
stillen. Ich aß zwei davon, dann war ich ordentlich satt.
Das Mädchen setzte sich neben mich und sah mir
zu. Ein paarmal berührte sie meine Haut, ermutigt, als
ich sie nicht abwehrte. Als ich fertig war mit dem
Essen, nahm sie meine Hände und drückte sie auf ihre
kleinen Brüste. Dann, bevor ich mich von meinem
Erstaunen erholt hatte, denn einen ähnlichen Brauch
gab es auch in meiner Heimat, ließ sie mich los und
schritt auf das ferne Ende der Plattform zu. Sie winkte
mir, ihr zu folgen.
Ich erhob mich schließlich und folgte ihr mit
gemischten Gefühlen. Die Männer Shi-buts lagen nicht
mit ihren Frauen, wenn sie Ungeborene trugen.
Andererseits kannte ich hier die Bräuche nicht, und
Bräuche waren für jeden Stamm etwas Heiliges. Auch
wäre es unklug gewesen, die Gefühle meiner
Gastgeberin zu verletzen. Und ich würde lügen, wenn
ich sagte, daß ich nicht bereit dazu gewesen wäre, das
Verlangte zu geben.
Auch Larkin erlitt ein ähnlich erfreuliches Schicksal,
dem er sich bereitwillig genug ergab. Danach schienen
wir beide in den Stamm aufgenommen. Die Scheu war
verschwunden.
Ich versuchte mit ihnen zu sprechen, doch ohne viel
Erfolg. Mein Fragenschwall ermutigte sie zu ein paar
Worten, die ich nicht verstand, und die offenbar den
Großteil ihres Sprachschatzes ausmachten.
Sie bewunderten alles, was wir bei uns hatten und
reichten es aufgeregt von Hand zu Hand, besonders
die Dolche und Schwerter. Ich gab ihnen Verinos
Gürtel, an dem sie das Innerste nach außen kehrten,
behielt aber meinen um, da es mir zu gefährlich schien,
ihnen die Beutel mit Feuerstein und dergleichen zu
überlassen.
»Verinos Gürtel?« fragte Larkin unvermittelt. Sein
Gesicht verdüsterte sich.
Ich nickte.
Er grinste plötzlich. »Er war nie ein guter Kämpfer.
Hatte das Maul immer weit offen ...«
»Du irrst«, erwiderte ich. »Er war verdammt flink,
und er hätte mich beinahe erledigt.«
Das Baumvolk lauschte unseren Worten
verwundert. Noch nie hatte wohl jemand in ihrer Mitte
ein so langes Gespräch geführt.
Es schien auch völlig überflüssig, daß sie sprachen.
Worüber auch? Sie saßen oder lagen herum, gaben sich
der Leidenschaft ihrer Sinne hin, oder aßen. Sie spielten
nicht. Irgendwie schien nichts aus ihnen selbst zu
kommen, obwohl sie diese Neugier besaßen, uns, den
Fremden gegenüber.
Ich sah mich die ganze Zeit über gründlich um. Von
unseren Entführern war nichts zu sehen. Das Laubdach
besaß nirgends eine Öffnung. Die Plattformen
erstreckten sich gute zwanzig Manneslängen in allen
Richtungen. Dahinter verloren sich die starken Äste,
die unter dem Gewicht der Bewohner kaum erzitterten,
in der undurchdringlichen Wand aus Laub.
Ich gab Larkin ein Zeichen und sagte ihm, daß ich
mich umsehen wollte, und daß er die Gesellschaft bei
Laune halten sollte. Unbemerkt setzte ich mich bald
darauf ab, nachdem ich vorgegeben hatte, etwas für
mein leibliches Wohl zu tun, was die Bewohner an
einer bestimmten Stelle in der Nähe des Stammes
erledigten, wo das Ganze in großen Hohlräumen in
den Ästen verschwand.
Vorsichtig starrte ich dabei um mich durch
halbgeschlossene Augen. Aber auch hier, in der Nähe
des Stammes war nichts von den Bewachern zu sehen.
Vielleicht waren sie verschwunden? Vielleicht
waren wir gar nicht gefangen? Und sie hatten uns nur
hierhergebracht, damit wir sicher waren vor den
Gefahren am Waldboden, und weil sie uns für
verwandt mit diesem Baumvolk hielten.
Es gab ein paar Möglichkeiten, es herauszufinden.
Zuerst einmal der Weg nach oben. Ich hoffte, daß auch
weiter hinauf noch Stufen führten, denn den weiten
Abstand zwischen den Ästen zu überbrücken war
selbst einem guten Kletterer wie mir unmöglich.
Ich schritt um den Baum herum und fand die
Sprossen dieser gewaltigen Baumleiter. Sie führten
hinauf.
Und sie führten hinab. Dies war nur ein Stockwerk.
Vielleicht eines von vielen. Und der Weg nach oben
und nach unten war offen. Einen Moment überlegte
ich, ob ich nicht gleich Larkin mitnehmen sollte, statt
mich allein auf dieses Wagnis einzulassen. Vier Augen
sahen eine Gefahr rascher als zwei.
Aber der Augenblick mochte nie wieder so günstig
sein. Ich begann die Stufen hochzusteigen.
Eine Stimme ließ mich herumfahren.
»Ubali.«
Der Junge, der die Hütte mit dem schwangeren
Mädchen teilte, stand vor mir. Er sah mich angstvoll
an. Mein erster Gedanke war, daß er mich wohl zum
Kampf aufforderte, weil ich mit seinem Mädchen
zusammengewesen war. Aber nichts dergleichen. Er
deutete auf die Stufen und schüttelte den Kopf. Es war
keine Drohung, nur Furcht in seinem Gesicht zu lesen.
»Was willst du mir sagen?« fragte ich ihn.
Er deutete erneut auf die Stufen. Wieder schüttelte
er furchterfüllt den Kopf.
Er wollte mich warnen.
»Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte ich in
beruhigendem Ton. »Ich muß trotzdem gehen.«
Er verstand mich nicht, aber er war erfreut, daß ich
mit ihm sprach. Er ergriff mich am Arm und sagte
erneut: »Ubali.« Dann deutete er auf seine Brust und
sagte etwas, das wie Moao klang.
Es war wohl sein Name, und ich bemühte mich
redlich, ihn so wiederzugeben, wie er ihn gesagt hatte:
»Moao.«
Er nickte heftig. Dann winkte er mir, ihm zurück zu
den Hütten zu folgen.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nach oben
steigen, Moao«, erklärte ich. »Vielleicht verstehst du es
nicht, aber ich muß einen Weg hinaus finden. Ich kann
nicht hierbleiben, auch wenn mir dein schönes
Mädchen gefällt.« Während ich ihm das erklärte, nahm
ich meinen Gürtel ab und hing ihn quer über meinen
Oberkörper, damit mir das Schwert nicht hinderlich
beim Klettern war. Ich wollte mich nicht davon
trennen.
Dann winkte ich dem Jungen zu und begann
hochzusteigen. Einen Augenblick später war er aus
meinem Blickfeld verschwunden.
Ich stieg rasch voran, und bald sah ich das Baumdorf
unter mir. Larkin sah ich inmitten der Bewohner sitzen.
Sie hörten ihm offenbar zu. Moao konnte ich nirgends
entdecken. Zurückgelaufen war er wohl doch noch
nicht, sonst wären aller Gesichter zu mir hochgerichtet
gewesen. Doch da unten war alles friedlich.
Und über mir sah es weniger friedlich aus.
Es war ein verwirrendes Gefühl, hinunterzublicken.
Es schien ein weiches Laubbett, das den Stamm
vollkommen umgab. Es vermittelte den Eindruck, daß
es ein herrliches Gefühl wäre, einfach hineinzufallen.
Allein der Verstand warnte davor, er ließ sich nicht von
solchen Gefühlen täuschen. Es würde ein endloser Fall
sein, bei dem der Körper bis zur Unkenntlichkeit
zerschmettert wurde. Dennoch blieb die Lockung,
Niemand hielt mich auf, und langsam hatte ich den
Eindruck, daß es heller um mich wurde, als würde das
Laubdach dünner. Der Himmel mußte hinter jenen
Blättern sichtbar sein, Ein Aufschrei ließ mich
herumfahren. Er kam ganz aus meiner Nähe. Ich
konnte nichts sehen, aber gleich darauf tauchte ein
weißer Arm um die Krümmung des Stammes und
suchte verzweifelt Halt. Mit einem neuen
Entsetzensschrei hastete Moao die Stufen hoch, gefolgt
von einem der Baumkrieger, der mit der Lanze zum
tödlichen Stoß ausholte.
Es blieb keine Zeit zu überlegen. Ich hatte meinen
Dolch in der Faust und warf ihn. Der Speerstoß ging
ins Leere. Der Mann verlor den Halt und stürzte in die
Tiefe. Mehrmals hörten wir ein knirschendes Geräusch,
wenn der Körper auf Äste prallte. Dann hatte ihn die
Tiefe verschlungen.
Moao starrte ihm mit weit aufgerissenen Augen
nach, während ich mich umsah, ob der Angreifer der
einzige gewesen war. Ich konnte aber keinen weiteren
entdecken. Möglicherweise war es ein Wachtposten
gewesen. Ich mußte vorsichtiger sein. Weiter oben
mochten noch andere lauern.
Dann zog ich den vor Entsetzen gelähmten Jungen
zu mir hoch und redete beruhigend auf ihn ein. Ich war
alles andere als erfreut darüber, daß er mir gefolgt war,
aber ich konnte ihn nicht allein zurückschicken. Er
wäre eine zu leichte Beute für sie gewesen. Dieses
Baumvolk schien vollkommen unkriegerisch, und ich
wunderte mich immer mehr, wie das Zusammenleben
mit dem anderen kriegerischen Stamm vor sich ging.
Es mußte sicherlich eine sehr tapfere Tat für Moao
gewesen sein, mir zu folgen, ein Entschluß, den ich
keinem zugetraut hätte, so tatenlos und furchterfüllt,
wie sie herumgelegen hatten.
Moao beruhigte sich zusehends. Seine Starre löste
sich. Er sah mich dankbar an, aber auch wie einen, der
nicht mehr lange zu leben hatte. Daß ich den Krieger
getötet hatte, war wohl ein ungeheures Verbrechen in
seinen Augen.
Plötzlich nahm er meine Hand, legte sie auf seinen
Kopf, den er demütig senkte. Dabei sagte er ein neues
Wort, das aber nicht viel anders klang als Moao. Aber
ich verstand ihn trotzdem. Er wollte mir sagen, daß
sein Leben nun mir gehörte, so wie ich meines für ihn
riskiert hatte.
Nun, wir waren beide noch recht lebendig, und
wenn es nach mir ging, würden wir das auch bleiben.
Moaos Gesellschaft war mir jetzt ganz recht. Er wußte
wahrscheinlich, wo Gefahr lauerte.
»Vorwärts«, sagte ich. Das verstand er. Ich ließ ihn
an mir vorbei und folgte ihm.
Eine Weile kletterten wir ohne Zwischenfall.
Plötzlich öffnete sich das Laubdach über uns. Es war
nur eine kleine Lücke, aber es gab nichts, das ich lieber
gesehen hätte. Und auch Moao starrte aufgeregt in das
dunkle Blau. Ich fragte mich, ob er in seinem Leben
überhaupt schon Farben außer grün und braun
gesehen hatte.
Wir arbeiteten uns rascher voran mit dem Ziel so
greifbar vor Augen.
Die Sprossen hörten mit einemmal auf, und das
Weiterklettern war mühevoll. Doch die Äste waren
nun nah genug beisammen, daß man sich von einem
zum anderen ziehen konnte. Immer mehr öffnete sich
das Laub über uns. Es gab keinen Zweifel mehr, wir
hatten die Krone erreicht. Ah, ihr Götter, dieser
Himmel war ein beseligender Anblick!
Schließlich erreichten wir einen Punkt, von dem aus
man das Dschungeldach überblicken konnte. Und vor
uns, greifbar nahe, war die baumlose Steppe. Moao
beobachtete sie mit glänzenden Augen.
Ich glaubte weiße Punkte über dem Dschungelrand
zu sehen. Drei an der Zahl. Vielleicht waren es die
Wolken, unter ihnen Waramau. Es mochte wohl sein,
daß sie auf Larkin warteten. Vielleicht auch auf mich.
Es war teuflisch, Waramau so nahe zu sehen und sie
nicht erreichen zu können.
Ich versuchte mich zu orientieren. Ich hatte
mitgezählt. Wir hatten den Stamm ein Dutzend und ein
halbes mal umrundet, bevor wir an den Ästen
hochkletterten. Das bedeutete, daß das Baumdorf
östlich des Stammes lag. Aber es war unmöglich,
daraus Schlüsse zu ziehen, so wie es in diesem grünen
Käfig unmöglich war, eine Richtung zu bestimmen. Bis
wir am Boden anlangten, waren wir so verloren wie
zuvor.
Es gab keine Möglichkeit, diese Richtung im Auge
zu behalten.
Mutlos lehnte ich mich an den Stamm. Die Kletterei
war umsonst gewesen. Wir waren so verloren wie
zuvor. Wir wußten nur, daß die rettende Steppe zum
Greifen nahe war.
Der Abstieg war schwieriger, der stete Blick nach
unten schwindelerregend. Wie von Sinnen spürte ich
manchmal das Verlangen, loszulassen,
hineinzuspringen in dieses grüne Bett. Krampfhaft
hielt ich mich fest.
Dann wurden wir noch auf etwas aufmerksam, das
wir beim Aufstieg offenbar übersehen hatten. Moao rief
plötzlich: »Ubali!« Dabei deutete er auf die Äste über
uns. Sein Gesicht war angstverzerrt.
Und auch meiner bemächtigte sich ein leises Grauen
bei dem Anblick.
Dutzende von menschenähnlichen Gestalten hingen
an den Ästen wie Früchte. Ihre Knie waren an den Leib
gepreßt, der Rücken leicht gekrümmt, so daß der Kopf
auf den Knien ruhte. Die Arme hingen ausgestreckt an
den Ästen.
Was aber am gespenstischsten aussah, waren die
Speere, die sie zwischen die Schenkel geklemmt hatten,
und die Bogen, die um ihre Schultern hingen mit dem
gefüllten Köcher.
Sie schienen zu schlafen.
Aber ich hatte das drohende Gefühl, daß sie jeden
Augenblick die Augen öffnen würden, um uns
anzusehen. Es war ein grauenvoller Gedanke.
Ich preßte den Finger warnend an die Lippen und
hoffte, daß Moao diese Geste verstand. Das tat er
sichtlich, denn er nickte mit weißem Gesicht. Vorsichtig
kletterten wir weiter und brachten den Stamm
zwischen uns und diese hängenden Gestalten. Doch
auch hier waren die Äste voll von ihnen. Einer hing so
nah, daß ich ihn mit dem Schwert hätte erreichen
können. Wie hatten wir sie nur vorhin übersehen?
Ich betrachtete die Gestalt genau, während ich so
lautlos wie möglich daran vorbeikletterte.
Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Hände
nicht um den Ast geklammert, sondern irgendwie mit
ihm verwachsen waren.
Wie bei einer Frucht, die am Stengel hing!
Ich dachte an die vergangene Nacht. Wurden sie zu
Menschen, wenn sie reiften, zu einer Art
Baummenschen? Die wahrhaftig denken konnten?
Es war ein ungeheuerlicher Gedanke! Aber war
nicht Cnossos mit seiner wandelbaren Gestalt ein
ebensolches Wunder?
Unangefochten erreichten wir das Dorf. Ich
berichtete Larkin, was wir entdeckt hatten, und Moao
sprach zu seinen Gefährten.
Zum erstenmal erkannte er wohl, wie wichtig es
war, Worte zu haben. Er merkte jedenfalls, daß sie ihm
fehlten. Ein gutes Dutzend sprudelte er hervor, und
zwei davon waren Ubali und Moao. Den großen Rest
dazwischen aber füllte er mit Gesten und Grimassen.
Es war sehr eindrucksvoll. Es wäre zum Lachen
gewesen, aber keiner lachte über den Jungen, der zum
erstenmal den Himmel gesehen hatte.
7.
Larkin drängte sofort zum Aufbruch, trotz meiner
Warnung, daß wir keine Möglichkeit hatten, den
richtigen Weg zu finden. Er glaubte, daß seine
Gefährten keine weitere Nacht warten würden. Das
befürchtete ich auch, aber es erschien mir das kleinere
Übel.
Das größere war, daß ich die Sonne bereits ziemlich
tief im Westen gesehen hatte. Das bedeutete, daß die
Nacht bald kam, und wir hatten durch den überlangen
Erschöpfungsschlaf keine Gelegenheit gefunden, uns
mit den notwendigen Mitteln zur Flucht zu versorgen.
Eines davon war Licht, das zweite ein Vorrat von
Nahrungsmitteln.
Beides konnten wir uns heute nacht beschaffen und
dann am Morgen die Flucht wagen. Wir hatten außer
dem einen, der Moao überfiel, keinen Wächter gesehen.
Vielleicht schliefen sie alle am Tag. Vielleicht lagerten
sie alle weiter unten. Das mußten wir herausfinden.
Aber dazu war es heute bereits zu spät. Bis wir den
Boden erreichten, brach die Dunkelheit an.
Womit ich ihn schließlich überzeugte, war die
Tatsache, daß die Steppe kaum zwei Marschstunden
entfernt lag. Wenn wir früh am Morgen begannen,
konnten wir mehrere Richtungen versuchen, den Weg
markieren und wieder zurückgehen, wenn es der
Falsche war. Die Chancen standen gut, daß wir auch
den richtigen fanden. Aber nicht bei Nacht. Auch nicht
mit Lichtern.
Es war ein ruheloses Warten auf den Abend.
Das Baumvolk betrachtete uns mit großen,
furchtsamen Augen, was wohl auf Moaos Erzählung
zurückzuführen war.
Larkin verschwand für eine Weile mit einem
Mädchen. Auch ich war bald nicht mehr allein, aber
welche bessere Art mochte es geben, die Zeit
totzuschlagen, als in leidenschaftlichen Armen.
Als die Dunkelheit hereinbrach und die Welt um das
Dorf düster wurde, verschwand das Baumvolk nach
und nach in den Hütten. Schließlich saßen nur noch
Larkin und ich im Freien.
»Wir müssen uns den Weg zum Stamm genau
einprägen«, mahnte ich. »Ein falscher Tritt ist das
Ende.«
Er nickte. Plötzlich schlug er mit der Faust auf sein
Knie. »Verdammt! Wir hätten es doch versuchen
sollen!«
»Unsinn. Morgen haben wir die besseren Chancen.«
»Vielleicht ist es dann zu spät«, erwiderte er heftig.
»Was weißt du noch?« fragte ich scharf. »Du hast
irgend etwas erfahren, nicht wahr?«
»Ja ... und nein.« Er schüttelte den Kopf.
»Was ist es?«
»Ich weiß nicht, ob ich sie recht verstanden habe. Sie
reden ja mit Händen und Füßen ... aber es sieht so aus,
als würde der Baum zu bestimmten Zeiten ein Opfer
aus ihrer Mitte wählen, und sie haben verdammte
Angst davor ...«
»Ein Opfer? Was geschieht damit?«
»Das wissen sie nicht. Aber es verschwindet für
immer.«
»Wissen sie, wann?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht heute. Wenn ich
es richtig verstanden habe, kommen die
Baummenschen mit ihren Lichtern und holen einen aus
den Hütten – offenbar den nächstbesten, den sie
erwischen ...«
»Bei allen myranischen Göttern!« entfuhr es mir.
»Das sagst du mir erst jetzt?« Wütend starrte ich ihn
an. »Das kann auch einer von uns sein. Ist dir das
klar?«
»Es war bereits zu spät«, knurrte er. »Ich kam lange
nicht dahinter, was sie meinten. Erst die Kleine, mit der
ich vorhin zusammen war, brachte mich auf den
Gedanken, daß heute nacht noch etwas los sein könnte.
Sie wollte mich unbedingt in ihrer Hütte haben, und sie
hatte verteufelte Angst. Als ich ihr zu verstehen gab,
daß ich vorhatte, mit dir zusammenzubleiben, war sie
einigermaßen erbost.«
Er schwieg. Brütend saßen wir eine Weile.
Ich griff nach meinem Schwert und legte er quer
über die Knie.
»Wir werden ihnen die Lust nehmen«, sagte ich.
»Vielleicht kommen diese armen Teufel dann auch auf
den Gedanken, daß man sich wehren kann. Moao
scheint in dieser Hinsicht schon einiges gelernt zu
haben.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sehen es anders, Ubali,
und das kann man ihnen nicht aus den Köpfen reißen.
Sie haben Angst, natürlich, wer hat nicht Angst vor
dem Tod – vor solch einem Tod? Aber für sie ist es eine
Art Bezahlung dafür, daß sie hier in Frieden ein
glückliches Leben führen dürfen ...«
»Glücklich?« unterbrach ich ihn.
»Auf ihre Art, ja, glaube ich schon. Sie leben hier
geschützt. Unten am Boden wären sie verloren. Sie
kennen nichts anderes. Warum sollten sie unzufrieden
sein? Und der Baum scheint seine Opfer nicht zu oft zu
fordern. Wenigstens in solchen Abständen, daß
genügend nachwachsen. Die meisten Mädchen tragen
Kinder, und sie sind höchst erpicht darauf, diesen
Zustand zu erreichen. Würde mich nicht wundern,
wenn unter den Früchten, die ihnen gebracht werden,
welche sind, die ihnen einheizen. Ich kenne selbst
einige Säfte, die eine ähnliche Wirkung haben.«
Ich nickte. »Das erklärt auch, warum es keine Alten
hier gibt. Aber was geschieht mit ihnen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen«, erwiderte er mit
heiserer Stimme, »daß in diesem Dschungel irgend
etwas nicht gefressen wird. Der Baum hat sich eine
Vorratskammer angelegt. Und wir sind drin. Wie
gefällt dir das, Freund Ubali?«
Ich starrte ihn an und spürte eisige Kälte mein
Rückgrat hochkriechen. Ich dachte an die
übelriechende Öffnung, an der wir in der Nacht
vorbeigeklettert waren. Das konnte nur eines gewesen
sein:
Der Mund.
Allmächtige Götter! Und sie hatten jemanden
hineingestoßen. Ich hatte seinen Schrei gehört.
»Wir beide sind die ältesten hier«, sagte ich. »Sie
werden vielleicht einen von uns holen.«
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und ich
fuhr erschrocken herum.
Moao stand neben mir. Er deutete drängend auf die
Hütte.
Ich nickte ihm zu. »Es ist besser, wir gehen rein.
Streng deinen Kopf an, Wolkenreiter. Wir brauchen
einen guten Plan. Einen verdammt guten Plan!«
Es wurde stockdunkel – die zweite dieser Nächte
begann.
Das Baumvolk war in seinen Hütten, aber ich war
ziemlich sicher, daß keiner schlief. Sie warteten alle.
Moao und das schwangere Mädchen hatten sich in
den Hintergrund der Hütte zurückgezogen und saßen
umschlungen in der Dunkelheit. Larkin und ich
standen im Eingang und starrten in die Finsternis.
Nichts regte sich.
»Varins Blut, das Warten ist nichts für mich«,
knirschte Larkin.
Ich nickte stumm. Es zerrte auch an meiner Geduld.
»Wenn nicht bald etwas geschieht, werde ich
losgehen«, fuhr er bestimmt fort. »Und du wirst mich
nicht aufhalten. Ich bin ein Wolkenreiter und kein
Baumhocker!«
Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen.
Glühende Punkte erwachten überall am Baum, auf den
Ästen, zwischen den Blättern, und tauchten alles in
grünliches Licht.
Es sah atemberaubend aus. Der Baum glühte wie
mit unzähligen Kerzen übersät.
»Ihr Götter!« entfuhr es Larkin. »Vielleicht hast du
nicht so unrecht, wenn du meinst, daß sie Früchte sind.
Ich habe hier soviel Teuflisches gesehen, daß ich alles
glaube.«
Dann beobachteten wir stumm, wie sich die
glühenden Punkte zu bewegen begannen. Nicht alle
jedoch, manche der schwächer glimmenden blieben
hängen, aber ihre größere Zahl wanderte an den Ästen
nach innen zum Stamm. Und schließlich kam eine
lange Schlange von Lichtern die Stufen herab. Es waren
so viele, daß wir den Gedanken an eine nächtliche
Flucht aufgaben. Was immer auch geschah, wir
konnten nur warten. Der ganze Baum war lebendig,
und tausend Augen würden jeden unserer Schritte
bemerken.
Larkin lehnte sich fluchend in die Dunkelheit der
Hütte zurück.
Ich beobachtete, wie sich eine große Anzahl von
Lichtern auf unserer Plattform versammelte. Das
bedeutete gar nichts Gutes. Eine lange Reihe von
Lichtern verlor sich entlang des Stammes nach unten.
Während ich sie mit angehaltenem Atem
beobachtete, setzte sich die Gruppe in Bewegung auf
unsere Hütten zu.
»Sie kommen«, murmelte ich und griff nach dem
Schwert.
»Unsere Chancen stehen nicht besonders gut«,
bemerkte Larkin gepreßt. »Warum verschwinden wir
nicht gleich durch das Loch da hinten, so lange es
draußen noch dunkel genug ist? Wenn wir uns
außerhalb der Plattformen an die Äste hängen, fallen
wir vielleicht nicht einmal auf ...«
»Und wie lange, glaubst du, halten wir das durch?
Nein, ich bin dafür, daß wir warten, und uns ansehen,
was sie wollen. Vielleicht wollen sie nichts von uns,
dann verhalten wir uns ruhig, bis sie am Morgen
wieder auf ihren Ästen verschwinden. Still jetzt!«
Das letzte zischte ich. Die ersten Krieger hatten den
weiten Platz vor den Hütten erreicht und hielten an.
Sie gruppierten sich in einem Halbkreis und standen
scheinbar abwartend. Einige lösten sich aus der Menge
und traten an die erste Hütte am anderen Ende des
kleinen Dorfes. Der ganze Platz war von den grünen
Lichtern so hell wie am Tag. Eine weitere Gruppe von
vier Kriegern begab sich in die Hütte neben uns.
Wir lauschten mit angehaltenem Atem. Angstvolle
menschliche Laute drangen von irgendwoher und
verstummten wieder. Ein Schluchzen ertönte auch in
unserer Hütte. Furchterfüllt klammerte sich das
schwangere Mädchen an Moao.
»Zurück«, flüsterte ich halblaut und drängte Larkin
ins Hütteninnere zurück.
Zwei Krieger tauchten im Eingang auf und hielten
die Stiele mit den Lichtern ins Innere. In dem engen
Raum war der Schein grell. Die Augen der Krieger
glänzten dunkel wie die von Insekten, schwarze
Kugeln ohne Augapfel, ohne Lider. Jetzt aus nächster
Nähe erschienen mir auch ihre Gesichter weniger
menschlich, ihre Nasen verwachsen, ohne Öffnungen,
ihre Münder schmale klaffende Spalten.
Es war ein grausiger Anblick.
»Varin, steh mir bei«, entfuhr es Larkin, und ich
ertappte mich dabei, daß ich ebenfalls hoffte, dieser
Gott würde etwas unternehmen.
Die Krieger kamen plötzlich ins Innere, und wir
sahen, daß ihnen zwei weitere folgten. Dann hatten wir
keinen Blick mehr für das, was dahinter geschah, denn
die beiden Kerle griffen nach Larkin.
Ich nahm den rechten, und Larkin den linken, als
hätten wir es abgesprochen. Mit Verinos Dolch in der
Linken stieß ich die hölzerne Lanze beiseite.
Gleichzeitig brachte ich die Klinge seitlich herab. Sie
schnitt durch einen Panzer, der knirschend splitterte,
als wäre er aus Holz, und sank tief in die weichen Teile
darunter.
Meinem Gegner entfuhr kein Laut. Er wehrte sich
nicht sehr erfolgreich, indem er mit seiner Lanze
mehrfach ins Leere stieß, dann trennte ich ihm mit
einem weitausholenden Schwerthieb den Kopf vom
Rumpf.
Während der Kopf nach hinten kippte, erlosch das
Licht, das er in der Linken hielt.
Ich stieß die fallende Gestalt auf den Eingang zu, wo
eben zwei ihrer Gefährten die Hütte betreten hatten.
Sie taumelten unter dem Aufprall zurück und bohrten
ihre Lanzen in den Toten. Ich gab ihnen keine
Gelegenheit, sie wieder herauszuziehen. Mit zwei
Hieben streckte ich sie mit gespaltenen Schädeln zu
Boden.
Hastig sah ich mich um. Larkin war weniger
glücklich gewesen. Sein Arm blutete, und sein Gegner
hatte seine Lanze losgelassen und hielt Larkins Kehle
umfaßt, während dieser sein Schwert immer wieder in
den Leib des Gegners bohrte und sich dabei aus dessen
Griff zu befreien versuchte. Aber die Hand hielt ihn
unbarmherzig, und die Schwertstiche schienen dem
Krieger überhaupt nichts auszumachen. Mit einem
raschen Hieb machte ich dem gespenstischen Kampf
ein Ende. Der Kopf schien das einzige zu sein, an dem
man ihnen etwas anhaben konnte.
Mit dem Verlöschen des letzten Lichtes wurde es
wieder dunkel in der Hütte. In dem Schein, der von
draußen hereinkam, sah ich Moaos schreckverzerrtes
Gesicht.
Während Larkin sich aus dem Griff der toten Hand
befreite und stöhnend hochtaumelte, untersuchte ich
die Toten und fand bestätigt, was ich mir insgeheim
bereits gedacht hatte. Sie waren keine Menschen.
Was mein Schwert durchschlagen hatte, war kein
Panzer, keine Rüstung, sondern die Haut dieser Wesen.
Sie war hart wie Holz an der Brust und am Leib und an
den Gliedern, am Hals aber biegsam wie junge Äste.
Innen befand sich etwas, das wie das Mark in manchen
Schilfpflanzen aussah – weich und schwammig.
»Du hast recht«, sagte ich zu Larkin, der sich zu mir
beugte. »Sie sind nicht aus Fleisch und Blut.«
»Woraus dann?« fragte er bleich.
»Aus einer anderen Art von Fleisch, einer, die auf
Bäumen wächst.«
»Dann denkt dieser Baum ...?« flüsterte er.
»Auf seine Art«, gab ich zu. »Hier, ihre Lichter sind
ein Teil ihres Körpers, sie sind mit der Faust
verwachsen. Sie verlöschen, wenn sie sterben ...«
Geräusche von draußen ließen uns aufhorchen. Da
diese Wesen nicht miteinander sprachen, besaßen sie
vielleicht eine andere Art, sich zu verständigen.
Möglicherweise wußten die draußen bereits, was
vorgefallen war.
Mit angehaltenem Atem starrten wir aus dem
Eingang. Eine weitere Gruppe kam auf die Hütte zu.
Ein halbes Dutzend diesmal. Zwei von ihnen hatten
Bogen. Sie würden ihnen im Handgemenge nicht viel
nützen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte ich Larkin.
»Nur ein Kratzer«, erwiderte er. »Ich hoffe, ich kann
meinen Dank abstatten.«
»Dazu hast du vielleicht bald Gelegenheit«,
murmelte ich und deutete auf die Herankommenden.
»Bleib auf der anderen Seite des Eingangs. Die ersten
beiden erledigen wir, wenn sie hereinkommen. Der
Kopf ist ihr schwacher Punkt. Und behalte die Bogen
im Auge.«
Er nickte. Reglos warteten wir im Halbdunkel. Moao
und das Mädchen gaben keinen Laut von sich. Sie
starrten nur mit weit offenen Augen auf den Eingang,
durch den sich die zwei Krieger zwängten.
»Jetzt!«
Unsere Schwerter kamen herab, mähten die Köpfe
wie zwei Blumen. Die Lichter verlöschten. Ich riß
meinen Gegner zur Seite ins Innere und sah befriedigt,
daß auch Larkin den gleichen Gedanken hatte. Die
beiden folgenden Gestalten hatten offenbar noch gar
nicht richtig begriffen, was geschehen war. Sie kamen
mit unbewegten Gesichtern ins Innere und erlitten das
gleiche Schicksal.
Aber diesmal unterlief mir ein fataler Fehler. Ich
bekam die fallende Gestalt nicht rechtzeitig zu fassen.
Sie kippte nach draußen.
Im nächsten Augenblick war die ganze Plattform in
Bewegung. Zuckende Lichter huschten über den Platz,
als die ganze Horde auf die Hütte zustürmte.
»Ihr Götter!« rief ich. »Rasch, das Feuer!«
Aber es war zu spät. Larkin beugte sich, um mit
zitternden Händen Funken zu schlagen und unsere
Beinkleider in Brand zu stecken, deren wir uns
entledigt hatten. Es war das letzte brennbare Zeug, das
wir an uns hatten.
Aber er brachte sie nicht mehr zum Brennen. Die
Hütte war plötzlich voller Gestalten, die wir nicht mehr
aufhalten konnten. Ihre Leiber erdrückten uns fast. Es
war unmöglich, mit dem Schwert einen guten Hieb zu
tun. Nur mit dem Dolch gelang es mir noch, zwei
Lichter zum Verlöschen zu bringen, bevor wir in ihren
Armen wie in Fesseln hingen, unfähig, auch nur einen
Finger zu bewegen.
Sie zerrten uns aus der Hütte. Das letzte, was ich
sah, war ein aufgewühltes Gesicht im Hintergrund der
Hütte. Moaos.
Auf der Plattform schwirrten sie um uns herum.
Ihre dunklen, kalten Augen musterten uns mitleidlos.
»Das war es wohl«, stellte Larkin fest. »Tut mir leid,
daß ich mich nicht mehr revanchieren konnte. Du
warst ein guter Kamerad, Schwarzhaut. Mit dir wär ich
gern über Wosagan geritten. Ah, es gibt nichts
Besseres, als auf den Wolken zu stehen und sie in den
Wind zu steuern, und zu nehmen, was man möchte ...«
Er stöhnte. Sein Arm schien zu schmerzen, und die
Kreaturen nahmen darauf keine Rücksicht.
»Verdammt!« rief er und versuchte sich vergeblich
zu wehren. »Oh, Varin, sie verfüttern uns an diesen
Baum. Nein!«
Schreiend kämpfte er gegen die Wesen an. Nach
einer Weile beruhigte er sich.
Die Hilflosigkeit war vollkommen. Ich hielt noch
immer das Schwert in der Faust, aber ich konnte es
nicht bewegen. Ebenso den Dolch. Sie hielten uns
umschlungen und stiegen mit unglaublicher Sicherheit
die Sprossen hinab.
»Ubali?« rief Larkin unter mir.
»Ja, Larkin?«
»Sieht so aus, als ob ich der erste wäre.«
»Sieht so aus«, stimmte ich zu. Es hatte wenig Sinn,
ihm Mut zuzusprechen. Ich wußte, daß es das Ende
war. Es gab noch immer die unwahrscheinliche
Möglichkeit, daß sie uns am Boden aussetzten, wo sie
uns gefunden hatten, aber daran glaubte ich nicht.
Sehr ruhig entgegnete er: »Weißt du was,
Schwarzhaut ...«
»Ubali«, widersprach ich.
»Ah, zum Teufel, was sind schon Namen? Ein Kerl
ist, was er ist. An meiner Klinge klebt Blut – nicht
immer gerecht vergossenes.«
»Bedauerst du es?«
»Manches ... ja.«
»Weil du Angst hast ...?«
»Nein. Nicht deshalb. Weil jetzt Zeit ist, daran zu
denken. Varin, ich wünschte mir, durch eine Klinge zu
sterben ... nicht auf diese ... Weise. Wenn du eine Hand
frei hättest, würdest du mir diesen Wunsch erfüllen,
Schwarzhaut?«
»Nein«, erwiderte ich grimmig. »Wenn ich eine
Hand frei hätte, würden eine ganze Menge dieser
Teufel sterben!«
»Ja«, sagte Larkin. »Ich bin doch ein verdammter
Feigling.«
Wir kamen rasch voran. Die Gefahr war noch immer
nicht gegenwärtig genug, um mich die Angst
empfinden zu lassen, wie sie Larkin verspürte. Ich
vermied es, an dieses stinkende Loch zu denken, an
den langgezogenen Schrei, den ich gehört hatte. Ich
beschäftigte mich nur mit einem Gedanken, meine
Hände loszureißen, wenn sich der Druck nur ein wenig
lockerte. Meine Handgelenke starben fast ab, so fest
hielten mich die Kreaturen hinter mir, und mit den
Beinen war es nicht anders. Es kostete mich eine große
Willensanstrengung, das Schwert in der gefühllos
werdenden Faust zu halten.
Ich krümmte mich plötzlich zusammen. Die
unerwartete Bewegung brachte den Zug ein wenig ins
Schwanken, aber das war alles. Keuchend gab ich die
Gegenwehr auf.
Unter uns tauchte die Plattform auf.
Das war das Ende, dachte ich. Und welch ein Ende!
In einer fremden Welt als Futter für Pflanzen. Aber ich
hatte gesehen, wie sie in Keomoa gefesselte Kinder als
Köder für Raubkatzen aussetzten.
War das ein besserer Tod?
Ist der Tod nicht immer der gleiche, nur die Furcht
nie dieselbe?
Mit einem Gefühl des Grauens dachte ich an den
Teich, der mit messerscharfen Blättern lauerte, an die
violette Blüte und ihre sich windenden, schleimigen
Raupengebilde. Was mochte hier drinnen in diesem
Baum lauern, erfüllt von der Gier nach Fleisch?
Es geschah alles sehr rasch.
Wir erreichten die Plattform, und nun bestand kein
Zweifel mehr über unser Schicksal. In Windeseile
trugen sie uns um den Stamm herum auf die Öffnung
zu. Der Geruch war betäubend. Mein Körper schüttelte
sich vor Ekel.
Vor mir schoben sie Larkin auf die Öffnung zu. Er
begann sich wieder zu wehren. Ich hörte ihn schreien.
Dann verschwand er im Baum, und sein Schrei
verhallte.
Aus, dachte ich mit kalter Wut über die
Hilflosigkeit. Ich wappnete mich, als sie mich
vorwärtsstießen. Aus dem Innern des Baumes kam ein
mahlendes Geräusch.
Ich hatte plötzlich ganz erbärmliche Angst. Ich hatte
dem Tod schon oft ins Auge gesehen, und noch nie
hatte ich ihn gefürchtet.
Gleich darauf stellte sich heraus, daß sie mit mir
andere Pläne hatten. Ich war offenbar für eine spätere
Mahlzeit vorgesehen. Sie rissen mir die Waffen aus den
Händen, hoben mich zu einem Ast hoch, von dem sich
dünne Ranken um meine Gelenke schlangen. Dann
ließen sie mich los.
Als ich hing, verschwendeten sie keinen weiteren
Blick mehr an mich. Sie verschwanden der Reihe nach
in der Tiefe, vermutlich, um neue Beute
heranzuschaffen, denn von der kleinen menschlichen
Herde da oben konnte solch ein gewaltiger Baum nicht
satt werden.
Es wurde dunkel um mich, je weiter sich ihre Lichter
entfernten. Bald sah ich nichts mehr, außer der
schwarzen Öffnung direkt unter mir, aus der in
regelmäßigen Abständen Geräusche kamen, die mich
an das Kauen eines mächtigen Gebisses erinnerten. Ich
versuchte nicht an Larkins Tod zu denken. Sein Gott
Varin hatte es nicht gut mit ihm gemeint.
Ich kämpfte gegen die würgende Übelkeit an. Mehr
und mehr überwog aber schließlich der Schmerz in den
Armen und Handgelenken. Er steigerte sich bis zur
Unerträglichkeit, so daß es Augenblicke gab, da ich den
Tod da unten beinah herbeisehnte.
Unter mir lagen mein Schwert und Varinos Dolch,
und es war noch einmal so peinvoll, sie so nutzlos dort
liegen zu sehen, wenn ein einziger Schnitt mich von
allen Qualen befreien konnte.
Einige Male versuchte ich die Schlingen an meinen
Gelenken gewaltsam abzustreifen, aber sie zogen sich
nur noch fester zu.
Wie lange ich so hing, war sehr schwer abzuschätzen.
Mir erschien es eine Ewigkeit. Alles war still und
dunkel, der Dschungel um mich lautlos, als lauschte er
auf die Qualen der Lebenden.
Plötzlich vernahm ich ein leises Geräusch am Stamm
hinter mir. Ich versuchte mich umzudrehen, aber ich
sah nichts, und jede Bewegung war schmerzvoll.
Kamen sie, um mich loszuschneiden und in den
Schlund hineinzuwerfen? Ich lauschte mit
angehaltenem Atem, und was ich vernahm, erleichterte
mich über alle Maßen.
Es war das Atmen eines Menschen.
Gleich darauf huschte eine Gestalt auf mich zu.
Undeutlich sah ich, wie sie sich nach den Waffen
bückte.
In diesem Augenblick leuchteten mehrere der
Lichter hinter mir auf. Die gebückte Gestalt fuhr
überrascht hoch, mit dem Schwert in der Faust.
Es war Moao!
Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, dann
hatte ihn die erste der Baumkreaturen erreicht. Der
Instinkt lenkte Moaos Klinge, daß sie den Speer
abwehrte und den Krieger am Schädel traf. Ich wußte,
daß es nur Zufall war, und es war unglaublich
qualvoll, so hilflos hier zu hängen und zusehen zu
müssen, wie das Unabwendbare geschah.
Der Krieger verlöschte und fiel, aber die Lanzen der
beiden nächsten durchbohrten den Jungen, der einen
Augenblick zappelte wie ein Fisch und mit brechenden
Augen zu mir hochsah, als sie ihn in den Schlund
stießen.
Tränen der Wut kamen mir in die Augen. Während
die Baumkrieger so rasch verschwanden, wie sie
erschienen waren, machte ich mir bitterste Vorwürfe.
Es war meine Schuld, daß Moao tot war. Ich hatte den
Widerstand in ihm wachgerufen. Ich hatte ihm gezeigt,
daß man das Schicksal nicht einfach hinnehmen mußte.
Und er war gekommen, um mich zu retten, um zu
zeigen, daß er verstand, daß Tapferkeit in ihm war. Ich
war schuld, daß das schwangere Mädchen nun allein in
ihrer Hütte schlummerte.
Aber ich wußte gleichzeitig, daß diese
Beschuldigungen nur ein Ausdruck des Gefühls waren,
nicht der Vernunft.
Denn im Grunde hatte mein Vorbild nichts
geändert. Es hätte ihm höchstens eine Chance gegeben.
Früher oder später hätte er hier den unvermeidlichen
Tod erlitten, der dem ganzen Baumvolk bestimmt war.
Und es war weniger grausam, als es mir mein
Gefühl einzureden versuchte. Es war ein Abkommen –
einer gab dem anderen.
Ich hatte den Jungen in mein Herz geschlossen, und
hatte dabei vergesse, daß er nicht mehr als eine Art
Zuchtvieh war, und daß ich nichts daran ändern
konnte. Selbst wenn ich frei wäre.
Man kann nur eine bestimmte Zeit auf den Tod
warten. Wenn es zu lange dauert, beginnt man wieder
an das Leben zu denken.
Während ich hier hing, fragte ich mich, ob mich
jemand bewachte, und ob die Krieger, die Moao getötet
hatten, hier in der Nähe lagerten oder ihm bereits von
weiter oben auf den Fersen gewesen waren.
Es konnte meine Lage nicht verschlimmern, wenn
ich es feststellte. Ich versuchte den Ast in schwingende
Bewegung zu versetzen, vielleicht brach er. Aber ich
merkte bald, daß er zu unnachgiebig war. Dann
versuchte ich eine Weile, ihn mit den halb
abgestorbenen Fingern zu erreichen, aber auch darin
war ich nicht sehr erfolgreich.
Immerhin bekam ich die Lianen zu fassen. Ich
sammelte Kraft und stieß meinen Körper in einer Rolle
hoch. Mit einem verräterischen Rascheln im Laub
landete ich mit dem Bauch am Ast, wo ich erst einmal
keuchend liegenblieb.
Niemand kam. Offenbar erwarteten sie nicht, daß
ich mich aus dieser hoffnungslosen Lage befreien
konnte. Sie würden sich wundern. Ich war plötzlich
voller Tatendrang. Ich fühlte bereits, wie sich meine
Hände erholten, nun da sie nicht mehr in den
erbarmungslosen Schlingen hingen. Aber ich erkannte
auch, daß ich sie nicht lösen konnte. Ich bekam die
Hände nicht nahe genug zusammen.
War es doch hoffnungslos?
Dann fiel mir etwas anderes auf. Nein, ich war nicht
ganz wehrlos. Die Kette an meinem Hals. Verinos
Kette. Wer hätte gedacht, daß dieser Tote mir so gute
Dienste leisten würde. Sein Eigentum wenigstens.
Vorsichtig ruckte ich am Ast vor, bis ich den Kopf nahe
der rechten Hand hatte. Es war ein Geduldsspiel, aber
schließlich konnte ich meine Finger um die Kette
krallen und sie vom Kopf ziehen. Der Gedanke, daß sie
meinen Fingern entgleiten und hinunterfallen könnte,
verursachte mir ein eisiges Kribbeln. Dann hatte ich sie
los und sah erleichtert, wie sie auf meinen Arm glitt.
Selbst wenn ich sie losließ, würde sie nun an meinem
Arm hängen bleiben.
Danach brauchte ich eine kurze Verschnaufpause.
Ich zitterte am ganzen Körper.
Um mich regte sich nichts. Sie waren auf meine
Tätigkeit noch nicht aufmerksam geworden.
Dann begann ich mit den scharfen Kanten der
Kettenglieder die Liane zu bearbeiten. Es war eine
mühsame Tätigkeit, aber sie war schließlich von Erfolg
gekrönt. Ich bekam eine Hand frei. Danach war es nicht
mehr schwierig, auch die zweite Hand zu befreien.
Eine Weile saß ich und massierte meine wunden
Gelenke, bis ich das volle Gefühl in den Händen
wiederhatte.
Dabei überlegte ich meine nächsten Schritte. Hier
konnte ich nicht bleiben. Sicher hatten sie nicht vor,
mich noch einen Tag hier hängen zu lassen. Ich
verwettete meine schwarze Haut, daß sie noch im Lauf
der Nacht kamen, um das hungrige Maul des Baumes
zu stopfen.
Aber nicht mir mir! Jetzt hatte ich wieder ein wenig
mitzureden. Es war inzwischen fast stockdunkel
geworden. Ich sah kaum noch den Boden unter mir.
Dort mußte irgendwo der Dolch liegen. Das Schwert
hatte Moao mit in die Tiefe genommen, und ich hoffte,
daß es diesem gefräßigen Baum in der Kehle stecken
blieb.
Ich war waffenlos, und der Dolch reizte mich. Aber
es erschien mir doch zu riskant. Ich würde im Dunkeln
kaum mehr auf diesen Ast zurückfinden. Wohin ich
auch kletterte, hinauf oder hinab, überall würde ich
früher oder später auf die Krieger stoßen. Aber diese
kleineren Zwischenäste, die dicht von Laub
umwuchert waren, mochten mir genügend Schutz
bieten. Dieser hier war noch zu gefährlich. Ein Blick
nach oben mit ihren Lichtern, und sie mußten mich
sehen. Aber es waren weitere über mir, die ich leicht
erreichen konnte. In dieser Dunkelheit allerdings war
es ein Wagnis.
Ich tastete vorsichtig über mich. Es war unglaublich
schwierig, auf dem Ast Gleichgewicht zu halten, wenn
die Augen nichts sahen, als Schwärze. Langsam
richtete ich mich ein Stück auf und fand Blätter über
mir, und gleich darauf den Ast. Er war kräftig genug,
und ich zog mich daran hoch. Ich lauschte.
Noch immer regte sich nichts. Auch zu sehen war
nichts, außer einigen schwachen Lichtpunkten weit
über mir und weit unten. Ich rutschte den Ast entlang,
immer weiter hinaus. Er war sehr kräftig und gabelte
sich in zahllose Nebenäste. Schließlich fand ich eine
breite Gabelung, in der ich bequem liegen konnte. Hier
würde ich es eine Weile aushalten.
Es gab Augenblicke, da nickte ich ein. Ich hatte
überhaupt kein Maß für die Zeit. Aus einem dieser
Augenblicke des Schlafs schreckte ich hoch durch
Geräusche unter mir.
Angespannt starrte ich nach unten. Die Plattform
war hell erleuchtet, und eine Menge Krieger schwirrten
auf und ab. Kein Zweifel, sie vermißten mich. Genaues
konnte ich nicht erkennen, denn die Blätter verdeckten
den Ausblick. Darüber war ich auch froh, denn sie
schützten mich vor Entdeckung.
Sie waren ein verdammt gründlicher Haufen, und
ich dachte schon, sie würden ihre Suche überhaupt
nicht mehr abbrechen. Als sie es endlich doch taten,
war der größte Teil der Nacht vorbei. Ich rührte mich
nicht aus meinem Versteck, bis der Morgen sein
düsteres Licht durch das Laubdach schickte.
Mit verglimmenden Lichtern huschten die
Baumwesen schließlich hoch hinauf in die Krone. Ich
nahm an, daß sie sich auf den Ästen verteilten, um
ihren Tagesschlaf zu beginnen. Manche verlöschten
ganz in meiner Nähe, und ich wußte, daß ich sehr
vorsichtig hinunterklettern mußte. Daß sie auch am
Tage aufwachen konnten, hatte ich ja bereits erfahren.
Schließlich war alles ruhig, und ich wagte mich an
den Abstieg. Nun im Licht war es einfacher, auf dem
Ast zurückzuklettern. Zwei der Baumwesen hingen
direkt über meinem Pfad. Mit angehaltenem Atem glitt
ich an ihnen vorbei, jeden Augenblick auf ihr Erwachen
gefaßt.
Aber ich erreichte die Plattform ohne Zwischenfall.
Der Dolch lag noch an seiner alten Stelle. Ich nahm ihn
auf und fühlte mich weniger nackt.
Einen Moment lang stand ich unentschlossen. Sollte
ich hochklettern und versuchen, das Baumvolk mit mir
zu nehmen. Nein, sie wären eine zu leichte Beute am
Boden. Vielleicht würde ich eines Tages zurückkehren.
Wenn ich je einen Weg aus diesem Dschungel fand.
Ich machte mich an den langen Abstieg.
8.
Seit Stunden lief ich durch den Dschungel. Es gab
überall Tod, der auf den Unachtsamen lauerte, und
mancher Schritt führte mich fast in mein Verderben. In
der ewigen Düsternis hungerte alles nach Fleisch und
kämpfte darum mit Tricks, für die sie ein Magier
beneiden mußte.
Der Dolch war es, der mehrmals mein Leben rettete.
Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Am
gefährlichsten waren die Lianen, die ein eigenes Leben
zu besitzen schienen und wie Schlangen über Bäume
und Boden krochen. Immer wieder geschah es, daß sie
unvermutet herabzuckten und sich mit gefährlicher
Schnelligkeit um meinen Körper wanden. Auch ihr
Druck war wie der eine großen Würgeschlange. Ich
hielt den Dolch immer bereit, um diese lebenden
Fesseln rasch zu zerschneiden, bevor sie sich mit
tödlicher Kraft zusammenzogen.
Aber das waren nicht die einzigen Gefahren, die von
oben drohten. Äste peitschten herab, und grünliche,
giftige Säfte ergossen sich über mich, die auf meiner
Haut wie Feuer brannten.
Ich hatte mich an meinen Plan gehalten und hatte
meinen Weg markiert. Als mir schien, daß ich lange
genug unterwegs war, daß ich den Dschungelrand
hätte erreichen müssen, kehrte ich um. Ich fand den
Weg zurück auf eine kleine Lichtung in der Nähe des
Baumes, auf dem ich gefangen gewesen war. Von dort
aus schlug ich eine andere Richtung ein. Ich verfuhr
wie beim erstenmal, wieder ohne Erfolg, und fand auch
hier wieder den Weg zurück.
Inzwischen mußte längst Mittag sein, und ich war
zu Tode erschöpft.
Dies war die dritte Richtung, und sie sah nicht
vielversprechender aus. Aber ich durfte mir keine Rast
gönnen. Ich wußte, daß ich eine weitere Nacht nicht
mehr überleben würde. In dem Beutel befand sich noch
immer das Fleisch, das ich Larkin abgenommen hatte,
aber es roch nicht mehr gut, und ich aß es mit
Widerwillen, und nur, um den nagenden Hunger zu
stillen. Nirgends hatte ich bisher Früchte gesehen, wie
ich sie im Dorf des Baumvolkes gegessen hatte.
Der Durst wurde immer quälender. Ich blutete aus
zahllosen Wunden, und das Blut schien diese
höllischen Pflanzen direkt anzuziehen. Ich hatte
manchmal das Gefühl, daß sie hinter mir herwaren,
daß sie einander verständigten und mir auflauerten.
Aber diesmal schien ich Glück zu haben. Vor mir
wurde es heller. Das konnte nur eines bedeuten – daß
der Dschungel da vorne irgendwo ein Ende nahm. Das
erfüllte mich mit neuen Kräften, und ich kämpfte mich
rascher vorwärts. Das zunehmende Licht machte mich
unvorsichtig. Ich glaubte mich schon frei, und war es
nicht.
Die Büsche taten sich vor mir auf und gaben den
Blick auf eine wunderschöne Blume frei, die meinen
Blick magisch anzog. Ich konnte gar nicht anders, als in
ihren breiten, feurigen Kelch zu blicken, der sich mir
zuneigte, majestätisch und von vollkommener Anmut.
Etwas unleugbar Weibliches haftete ihr an und lockte
mit Freuden, die ich nur erahnen konnte.
Ohne Furcht schritt ich vorwärts. Eine ungeheure
Erwartung war in mir und erfüllte jede Faser meines
Körpers. Nur irgendwo im Hintergrund, im letzten
Winkel meines Seins, warnte mich etwas vor einer
drohenden Gefahr. Aber es war so fern, so ungreifbar,
im Vergleich zu den Lockungen.
Plötzlich barst das Feuer vor mir. Ich hob schützend
die Arme vor die Augen. Mein Körper fühlte sich an,
als hätte jemand tausend Nadeln in ihn gestochen, die
brannten wie das wahrhaftige Feuer in dem Kelch.
Gleichzeitig fiel der Bann von mir ab. Ich nahm die
Arme von den Augen. Eine furchtbare Angst erfüllte
mich. Der Kelch vor mir schloß sich wie das Maul eines
großen Fisches. Er war häßlich und abstoßend, ein
hungriger Mund, wie alle Pflanzen in diesem
Dschungel.
Ich war halb von Sinnen vor Schmerzen. Ich
entdeckte, daß mein ganzer Körper übersät war von
winzigen Pfeilen, die grün aus meiner Haut ragten.
Selbst Kinn und Hals waren voll davon.
Ich versuchte sie herauszureißen und gab es nach
einigen sehr schmerzhaften Versuchen auf. Sie saßen
fest in der Haut, und während ich sie betrachtete,
verloren sie ihre grünliche Färbung. Dafür wurde
meine Haut grünlich rund um die Einstiche.
Gift, dachte ich. Nun ist alles aus. Ich konnte nur
zusehen, wie es in meinen Körper floß. Ich konnte nicht
mehr tun, als meine Unvorsichtigkeit verfluchen.
Halb blind vor Schmerz taumelte ich vorwärts. Ich
wollte wenigstens nicht in diesem Dschungel sterben,
wenn die Freiheit so nahe war. Ich wollte wenigstens
die Prärie erreichen.
Alles drehte sich um mich. Ich stürzte in einen
bodenlosen Abgrund, aber er war nicht so tief, wie ich
gedacht hatte, denn ich schlug gleich darauf hart auf,
und das erlöste mich von allen Qualen.
Ich hatte einen Traum.
Nein, die Wirklichkeit konnte es nicht gewesen sein,
obwohl die letzten Tage meines Lebens ein einziger
Alptraum gewesen waren.
Aber dies war ein schöner Traum, einer voller
Leben. Ich sah, daß ich eine Erde fand, in der ich
gedieh, in der meine Wurzeln reiche Nahrung fanden.
Ich fühlte, wie ich wuchs, wie meine Blätter höher und
höher kletterten zwischen mächtigen Stämmen, und
den tarnenden Vorhang bildeten.
Es ging so rasch. Und schließlich war meine Blüte
bereit sich zu öffnen, reif und voll von ekstatischer
Erwartung, einen Beweglichen zu befruchten ...
Ich mußte diesen Ort finden, an dem ich aufwachsen
konnte. Und nichts würde mich daran hindern ...
Ich erwachte durch einen starken Schmerz am ganzen
Körper. Ich schnappte nach Luft. Meine Lungen
drohten zu platzen. Ich brauchte Luft.
Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß mich mehrere
Lianen umschlungen hatten und sich daran machten,
ihre Beute zu zerdrücken.
Mit einem unartikulierten Schrei rollte ich mich
herum und spannte die Muskeln. Einen Augenblick
war der Schmerz unerträglich, aber dann zerrissen die
Pflanzen wie ein morsches Tau. Ich schleuderte sie von
mir.
Ich verstand nicht, woher diese Kräfte kamen, aber
ich spürte sie deutlich in mir, und eine rasch
auflodernde Wut auf alles, das sich mir
entgegenzustellen wagte. Der vage Schmerz in meinem
Fleisch bedeutete nichts. Er war nicht wichtig. Nicht
jetzt und nicht später. Nichts konnte mich aufhalten.
Ich schleuderte den Dolch von mir. Er war nutzlos.
Meine Fäuste waren diesem Dschungel gewachsen. Sie
würden beiseiteräumen, was sich mir in den Weg
stellte.
Ich stapfte vorwärts mit gefletschten Zähnen.
Wie das mächtige Einhorn lief ich durch den
Dschungel und rannte nieder, was sich mir in den Weg
zu stellen versuchte. Eine dunkle Erinnerung war in
mir – an Schwäche, Blut und Schmerzen, an
Hilflosigkeit, an ein anderes, zielloses Leben. Ja, ein
Leben ohne das Ziel!
Ich schüttelte wild den Kopf, denn diese
Erinnerungen waren hartnäckig.
Dann preschte ich durch das letzte Dickicht. Die
weite Steppe lag vor mir. Sie mußte ich überqueren.
Ich setzte meinen Weg fort. Die Richtung war nicht
von Bedeutung. Jenseits dieser Steppe war Erde für
mich, war ein Reich für mich, mit Beweglichen, wie es
sie vor langen Zeiten auch in diesem Dschungel
gegeben hatte, die meinen Samen in alle Winde tragen
würden.
Nichts hielt mich nun auf. Ich war rasch wie der
Wind, meine Beine trugen mich voran wie Flügel.
Aus den Augenwinkeln sah ich große weiße
Gebilde. Es waren Wolken, die tief über der Prärie
hingen. Meine Erinnerungen jubilierten. Irgend etwas
an den Wolken war mir vertraut.
Ich hielt an und beobachtete sie. Etwas warnte mich.
Waramau, dachte ich plötzlich. Ich war nicht sicher,
was es bedeutete. Es war in den Erinnerungen meines
Trägerleibes verankert. Dann gewahrte ich Bewegliche
auf den Wolken. Sie stießen mit großen Speeren in die
Wolken.
Sie kamen auf mich zu. Es gefiel mir nicht, wie rasch
sie näher kamen. Sie wollten kämpfen.
Pah, wenn sie kämpfen wollten, so sollten sie den
Kampf haben! Ich wartete, bis sie heran waren, dann
bewegte ich mich so schnell, daß sie dachten, ein
Sturmwind wäre in ihre Reihen gefahren. Ich war auf
der ersten Wolke mit einem gewaltigen Sprung und
warf die Beweglichen in hohem Bogen in die Tiefe, daß
ihre langen Speere splitterten und ihre Knochen
barsten wie fauliges Holz.
Ich sah, wie das Entsetzen sie erfaßte, wie sie ihre
Wolken voranzutreiben versuchten und mit den
Speeren in ihre Seelen stießen, daß mich die stummen
Schreie ihrer Qual in Raserei brachten.
Die Beweglichen schrien, als ich die zweite der
Wolken erklomm, und die Gestalten wie dürres Holz in
meinem Arm zerdrückte. Ihre Waffen vermochten mir
nichts anzuhaben. Meine Haut war hart wie ein
Stamm.
Die übrigen drei Beweglichen hatten die letzte
Wolke verlassen. Sie dachten mir auf ihren schwachen
Beinen zu entkommen. Ich holte sie ein, einen nach
dem anderen. Sie hätten ebensogut versuchen können,
dem Wind zu entkommen.
Dann war Stille auf der Prärie, die stummen und die
lauten Schreie erloschen, und ich spürte, wie mein
Trägerkörper müde wurde. Ich ließ mehr von meinen
Kräften in ihn strömen, aber er war verbraucht.
Er war reglos.
Eine fremde Ausstrahlung kam von irgendwo.
Gedanken, die ich nicht verstand, die nicht mir galten,
die etwas fast Vergessenes weckten ... etwas, das Ubali
hieß ...
Mich ... mich ...
Etwas hob mich sanft hoch.
Ich schaukelte leicht im Wind. Ein gelbliches Dach war
über meinem Kopf und schützte mein Gesicht vor den
heißen Strahlen der Sonne. Ich spürte, daß ich nicht
allein war, daß etwas mitfühlend in meinen Gedanken
lauschte.
Und ich erinnerte mich.
Waramau!
Ich setzte mich auf. Ha, ich war auf Waramau. Wir
trieben im leichten Ostwind eine Lanzenlänge über
dem wogenden Gras.
Der Alptraum war vorüber!
Der Dschungel war ein dunkler Strich am Horizont.
Dann sah ich, daß noch zwei Wolken von der Größe
Waramaus uns folgten. Sie waren leer. Ich erinnerte
mich an den Traum. War es doch kein Traum gewesen?
Hatte ich die Wolkenreiter besiegt? Hatte ich
wahrhaftig diesen dämonischen Kampf überlebt?
Waramaus freudige Empfindungen bestätigten es.
Ich hatte den Eindruck, daß sie mich für einen
gewaltigen Helden hielt.
Aber es war etwas in mir, was ich nicht verstand.
Ich war nicht allein.
Anfangs dachte ich, daß es Waramaus Gedanken
und Empfindungen wären, oder jene der beiden
anderen Wolken. Diese spürte ich auch manchmal, aber
schwächer, als wären sie abgestumpft unter der
Herrschaft ihrer Reiter, und entwickelten sie jetzt
erneut, da sie frei waren.
Waramau sah es mit Stolz, daß sich die beiden ihr
anschlossen, und daß sie mich bewunderten, und daß
ich ihr Nicht-Reiter war. Das war eines der wenigen
direkten Worte, die sie verwendete. Nicht-Reiter. Das
bedeutete soviel wie Freund.
Sie gab mir Wasser, um meinen Durst zu löschen,
und danach, um mich zu baden. Dabei erkannte ich,
daß es Stellen an meinem Körper gab, an denen die
Berührung mit Wasser alles andere denn angenehm
war.
Mir war klar, daß ich eine Menge Wunden
davongetragen haben mußte. Aber ich fand nicht einen
Kratzer, nicht einen Schnitt. Dafür entdeckte ich etwas
anderes, das mich mit Furcht erfüllte. An den Stellen,
an denen das Wasser schmerzte, besaß die Haut eine
grünliche Färbung. Und sie war hart und knotig, wie
die eines Kaktus.
Waramau spürte meine Furcht. Ich versuchte ihr
klarzumachen, daß ich nichts fürchtete, das mit ihr
zusammenhing, sondern daß ich etwas Fremdes in mir
spürte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was ich
meinte. Ich stimmte überrascht zu, als sie fragte, ob ich
vielleicht meinte, daß ich einen Reiter hätte. Reiter, das
bedeutete für sie Feind und Schmerz und Zwang – das,
was sie in den letzten Tagen in der Gewalt der
Wolkenreiter erlebt hatte.
Diese übermenschlichen Kräfte während des
Kampfes waren nicht meine gewesen, daran zweifelte
ich nicht mehr. Ich erinnerte mich an die Blume und
die Wolke von Stacheln, die sie auf mich abgeschossen
hatte.
Und dann an den Traum.
Ich wollte wachsen und gedeihen in fruchtbarer
Erde und mir alles Bewegliche Untertan machen ...
Ich erschrak über diese Gedanken, weil sie von
solcher Kraft waren.
Ich erinnerte mich an das grüne Gift, das aus den
Stacheln in meinen Körper geflossen war.
Das war es, was ich in mir hatte. Etwas, das stark
war, und das herrschen wollte. Etwas, das neuen
Lebensraum suchte. Das Bewegliche wie mich als
Trägerkörper benutzte.
Ich wurde bleich bei den Gedanken. Auch die
schwarze Haut kann erbleichen.
Noch besaß ich die Oberhand. Aber wie lange noch?
Oder besaß ich sie überhaupt noch?
Wie gefährlich war dieses Etwas in mir? Ich konnte
diese Frage nicht beantworten. Ich konnte nicht einmal
raten.
Ich spürte, wie sich Waramau angstvoll vor meinen
Überlegungen zurückzog. Sie verstand mich nicht
mehr. Ihr Wesen war einfach, ihr Herz gerade. Sie
mochte mich, aber sie verstand den Widerstand nicht.
Ich mußte handeln, solange ich noch handeln
konnte.
»Waramau«, bat ich sie. »Bring mich zurück!«
»Zurück?«
»Wo du mich gefunden hast?«
»Gefunden?«
Ich versuchte mich an das Weltentor zu erinnern
und in Bildern zu denken.
Nach einer Weile verstand sie mich. Aber sie sagte
nicht ja und nicht nein. Sie gab mir keine Antwort. Sie
trieb nur im Wind.
Ich sagte ihr, daß ich sterben würde, wenn sie mich
nicht zurückbrächte.
»Sterben?«
Mir fiel das Wort ein, das sie gebraucht hatte, um
ihre größte Furcht zu beschreiben.
»Skortsch«, sagte ich.
Ich spürte, wie sie zusammenzuckte. Und dann
tröstete sie mich auf ihre Art mit beruhigenden
Gedanken und Gefühlen. Sie änderte die Richtung. Es
fiel mir erst nicht auf, nur als der Wind an ihr rüttelte,
erkannte ich, daß sie gegen den Wind kreuzte. Ihre
beiden Begleiterinnen folgten getreulich. Ich ließ sie
meine Freude fühlen und meine Erleichterung.
Waramau war sehr froh, daß ihr Nicht-Reiter seine
dunklen Gedanken verloren hatte. Freude war eine
ihrer liebsten Empfindungen. Dafür würde sie bis ans
Ende der Welt fliegen.
Ich legte mich wieder unter das Dach und genoß die
Sicherheit und Geborgenheit. Vielleicht würde ich den
König wiedersehen. Myra. Die Freunde, die ich an
seiner Seite gefunden hatte.
Gewiß war nur eines: Es würde ein langer Weg
werden.
9.
Der Kampf begann ein wenig später, als wir noch
immer über der Prärie kreuzten.
Das Fremde in mir war nicht einverstanden mit der
Richtung, die wir eingeschlagen hatten. Es lehnte sich
auf! Es tobte in meinem Körper, daß ich mich rasend
vor Schmerzen wälzte.
Weit entfernt vernahm ich Waramaus angstvolle
Gedanken. Dann verstummten auch sie. Ich rief nach
ihr, aber eine unüberbrückbare Wand schien uns zu
trennen. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper. Das
Fremde hatte ihn in seiner Gewalt.
Als ich wieder zu mir fand, lief ich über die Prärie
mit dem Wind im Rücken. Ich lief nach Westen. Es galt
die Steppe zu überqueren. Jenseits lag das Ziel.
Manchmal, wenn ich mich umsah, bemerkte ich
hinter mir drei Wolken tief über dem Gras, die mir in
sicherem Abstand folgten. Sie weckten Erinnerungen in
mir, die aber wieder erloschen, bevor ich mich darauf
besinnen konnte.
Auch eine rufende Stimme glaubte ich manchmal zu
hören, die einen Namen rief, der mir fremd und
bekannt zugleich war.
Ubali!
Aber ich kümmerte mich nicht darum. Es durfte
keine Zeit mehr vergeudet werden. Alles reifte in mir
und schrie nach der Erde des Waldes, den ich am
westlichen Horizont wachsen sah.
Bald jedoch wurde mein Lauf langsamer, und ich
verfluchte meine Schwäche. Ich kam kaum zu Atem,
und ich verfluchte das Atmen.
Ich sank zu Boden trotz des wütenden Drängens in
mir, weiterzulaufen. Während ich mich in das
Präriegras fallen ließ, entdeckte ich, daß meine ganze
Brust grün geworden war und hart wie der Panzer von
Insekten. Aber nur ein Teil meiner selbst schauderte.
Der andere schien es als ganz natürlich zu empfinden.
Schluchzend grub ich meinen Kopf in den Boden.
Ich merkte nicht einmal, daß die Nacht hereinbrach.
Seltsame Bilder gaukelten durch meinen Kopf.
Oder waren sie wirklich?
Ich sah einen Menschen, der halb Blume war – ein
schwarzer Kopf auf dem Kelch, aus dessen Innerem
eine Stimme kam. Sie sprach seltsame Worte, die ich
nicht deutlich genug hören konnte, um sie zu
verstehen.
Ich wußte, daß das Bild nur ein Traum war. Aber ich
spürte ganz deutlich, daß jemand zu mir zu sprechen
versuchte. Ich hatte plötzlich das Empfinden, daß es
gut war, was mit mir geschah. Daß ich einen Zweck
erfüllte.
Ich sah die pralle Blüte aufbrechen und ihre Wolke
von kleinen Pfeilen hinausschleudern, und es war mein
Leib, aus dem sie kam.
Dann verschwand der Fieberspuk plötzlich. Ich
spürte die kühle Nachtluft, roch das Gras, die Erde.
Ich wußte, was geschehen war. Ich spürte die
Veränderungen meines Körpers, aber keine Schmerzen.
Ein völlig unmenschliches Gefühl trieb mich nach
Westen. Gleichzeitig spürte ich ein anderes, ein
menschliches Gefühl – Hunger. Ganz einfach Hunger.
Es sah so aus, als hätten wir uns geeinigt – das
Fremde und ich. Als hätten wir erkannt, daß keiner viel
ohne die Hilfe des anderen tun konnte. Und es galt ein
paar Dinge zu tun.
Das Fremde würde mich gewähren lassen, meinen
Hunger zu stillen, und ich würde es gewähren lassen,
den Ort zu finden, nach dem es suchte.
Auf dem Weg kam ich an die Stelle, an der wir die
Wolkenreiter geschlagen hatten. Ich nahm einem der
Toten ein Schwert ab, einem anderen einen Dolch.
Damit konnte ich meinen Hunger stillen, wenn
jagdbares Wild auftauchte – Bewegliche, wie es sie
nannte. Das Fremde erhob keinen Einspruch.
Einen guten Teil der Nacht war ich unterwegs. Dann
brauchte ich Rast und schlief, bis die Sonne aufging.
Der Wald lag nah vor uns. In einiger Entfernung
hingen drei kleine Wolken reglos in der Luft. Arme
Waramau. Sie verstand nicht, was vorging. Aber jetzt
war keine Zeit, es ihr klarzumachen.
Jetzt galt es erst Dinge zu tun, nach denen alles mich
drängte. Ich setzte mich wieder in Bewegung auf den
Wald zu.
Waramau war nicht einverstanden mit dem, was
geschehen war. Ich hatte sie aus Gründen verlassen,
die ihr nicht ganz klar waren Die Verwandlungen in
mir waren zu verwirrend rasch vor sich gegangen.
Nicht ich hatte verlangt, abzusteigen, sondern das
Fremde in mir.
Einen Augenblick las sie meine Gedanken, im
nächsten die anderen. Es verwirrte ihren einfachen
Verstand. Sie wußte nur eines: daß sie dabei war, ihren
geliebten Nicht-Reiter zu verlieren.
Irgendwo im Hintergrund meiner Gedanken
empfand ich es auch als schmerzlich.
Ich hörte, wie sie mich rief.
»Ubali! Ubali!«
»Ja, Waramau?«
»Willst du nicht gegen den Wind?«
»Gegen den Wind?« dachte ich verwundert. Nein,
ich wollte nicht gegen den Wind. Was ich suchte, lag
vor mir. Mit dem Wind! Im Westen. Im Wald vor mir.
Nein, nicht gegen den Wind. Da kam ich her. Da
wuchs ich.
Ich? Ubali?
Verwundert schüttelte ich den Kopf. Bilder von
einem Götterwagen waren plötzlich in meinem Kopf.
Aber sie schienen so unendlich fern. Ein Gesicht
tauchte auf, das eines Königs. Dragons. Königin
Amees. Parthos. Nabibs. Iwas.
Etwas zog einen dunklen Vorhang vor die Bilder.
Es nahm mir Stück um Stück meines Ichs.
Ubali starb. Wurde nach und nach vergessen.
»Leb wohl, Waramau« dachte das Fremde in mir.
»Da vorn ist mein Ziel. Dort werde ich für alle Zeiten
bleiben.«
»Nein!« rief ich entsetzt, aber meine Gedanken
hallten wider wie in einer kleinen Kammer. »Nein, ich
will nicht. Waramau, hilf mir!«
Aber ich konnte sie nicht erreichen. Das Fremde
hatte mich eingeschlossen. Ich war mein eigenes
Gefängnis.
»Leb wohl, Ubali. Leb wohl, Nicht-Reiter!« kamen
traurig Waramaus Gedanken.
Dann sah ich schluchzend, wie sie sich entfernten,
wie sie langsam mit dem Wind über den Wald trieben
und höher stiegen – drei gelblich weiße Punkte im
dunklen Blau des Himmels.
Ich setzte mich in Bewegung auf den Wald zu.
Ich war rasch. Ich verspürte wieder die ungeheuren
Kräfte in mir. Sie trieben mich wie mit Flügeln
vorwärts. Die Erfüllung war so nah.
Der Wald war so anders als der andere, den ich
bereits kannte. Er war erfüllt von Leben. Nichts roch
nach Tod oder Fäulnis. Ich zitterte vor Erwartung, und
während ich langsam über den fruchtbaren,
lebensvollen Boden schritt, fühlte ich meine
Eingeweide schwellen, meine Arme spreizten sich wie
Blätter. Meine Füße schienen sich mit jedem Schritt in
den Boden zu wühlen.
Das Kreischen von Vögeln erfüllte die Luft, und es
gab andere Geräusche von größeren Beweglichen.
Plötzlich waren meine Füße fest. Sie bewegten sich
nicht mehr vom Boden. Etwas Grauenvolles geschah,
und ich wehrte mich dagegen. Aber es war zu spät.
Eine tiefe Befriedigung war in mir, die mich mit
Schauder erfüllte.
Etwas noch Fremderes berührte meine Gedanken,
hieß mich Geduld zu haben und geschehen zu lassen,
was geschah.
Aber ich schrie plötzlich und wehrte mich. Ich war
Ubali, und Shi-buts heilige Götter konnten es nicht
geschehen lassen, daß ich hier starb. Ich riß mich aus
der Erde los und begann wieder zu laufen. Meine Wut
und Furcht rissen die Wände meines Käfigs auf. Ich
war wieder ich! Ich fühlte Hunger, Schmerz,
leidenschaftliches Verlangen zu leben.
Wie ein von einem Dämon besessener, wie ein
Berserker raste ich durch den Wald und kam
unvermutet auf eine Lichtung.
Überrascht blieb ich stehen.
Eine Gazelle graste friedlich und unbesorgt, als gäbe
es keine Gefahren. Verwundert dachte ich, was dieser
Steppenbewohner hier auf einer Dschungellichtung zu
suchen hatte. Der Anblick des Wildes weckte sofort das
vergessene Hungergefühl. Jagdleidenschaft ergriff von
mir Besitz und unterdrückte die tobenden Kräfte in
meinem Innern.
Im nächsten Augenblick sah es aus, als ob ich um
meine Beute betrogen wäre. Ich hatte den Dolch bereits
in der Faust, und hielt mitten in der Bewegung inne.
Aus den Büschen jenseits der Lichtung trat eine
große, gefleckte Raubkatze und beobachtete ebenfalls
die Gazelle. Aber sie machte keine Anstalten, ihre
Beute anzufallen.
Es war ein Leopard, ein mächtiges, ausgewachsenes
Tier, und ich war nicht erpicht darauf, mich mit ihm
anzulegen. Er machte keine Anstalten zu
verschwinden, im Gegenteil, er versetzte mich noch
mehr in Verwunderung. Er lief auf die Gazelle zu, die
ihm entgegensah und nicht wegzulaufen versuchte.
Entweder war sie von seinem plötzlichen Auftauchen
gelähmt, oder ...
Aber mir fiel kein anderer Grund ein, warum sie
sonst so ruhig bleiben sollte im Angesicht des Todes.
Jetzt hatte er sie erreicht, doch nichts geschah. Die
beiden so ungleichen Tiere beäugten sich, dann graste
die Gazelle ruhig weiter, während die Raubkatze ihren
Weg fortsetzte.
Ich war darüber so verwundert, daß ich zu spät
bemerkte, daß die gefleckte Katze direkt auf mich
zukam. Für eine Flucht war es bereits zu spät. Sie hatte
mich gesehen. Sie hielt an. Dann kam sie einige Schritte
näher, während ich langsam mein Schwert aus dem
Gürtel zog.
Ich beging nicht den Fehler, zurückzuweichen. Das
ist etwas, das die meisten Raubtiere zum Angriff reizt.
Ich blieb ruhig stehen mit dem Schwert in der Rechten
und dem Dolch in der Linken.
Sie kam noch einige Schritte näher, aber nicht zum
Sprung geduckt, sondern mit blitzenden, neugierigen
Augen. Dann senkte sie den Kopf ein wenig, und ich
sah einen länglichen Streifen auf Schädel und Nacken,
wie ich ihn noch auf keinem Leoparden gesehen hatte.
Dann verschwand die große Katze seitlich im
Gebüsch. Ich lauschte, bis das Brechen des Unterholzes
in der Ferne verklang. Aufatmend steckte ich mein
Schwert zurück.
Die Beute gehörte nun mir. Ich schlich mich näher
an die Gazelle heran, bis ich den Augenblick für einen
guten Wurf sah. Der Dolch stieß genau ins Herz, ich
hatte nichts verlernt. Mit einem klagenden Laut brach
das Tier zusammen. Als ich es erreichte, war es tot.
Ich riß den Dolch heraus, öffnete den Einstich weit
und nahm einen Schluck des Blutes, das aus dem
Herzen hervorströmte. Es belebte mich, und ich trank
erneut.
Es war wie ein innerlicher Balsam, der den Schmerz
linderte, den Durst löschte und mich wach machte, viel
wacher, als ich in den letzten Stunden gewesen war.
Ich begann mich wieder menschlich zu fühlen.
Mein Blick fiel auf den Kopf des Tieres. Verwundert
bemerkte ich wie auch bei dem Leoparden einen
weißen Streifen auf Hinterkopf und Nacken. Aber das
konnte nur Zufall sein bei zwei so verschiedenen
Tieren.
Die Gazelle würde einen guten Braten abgeben, wie
ich ihn seit einer Ewigkeit entbehrt hatte. Wenigstens
kam es mir so vor. Ich mußte mir einen geschützten
Lagerplatz besorgen. Wenn ich erst satt war, ließen sich
Pläne schmieden. Irgendwo im Norden mußte das
Volk der Wolkenreiter leben. Wenn ich es fand, würde
es vielleicht auch möglich sein, den König zu finden,
oder Danilas Stamm, und zum Tor zurückzukehren.
Als ich das Tier hochheben wollte, fiel mein Blick
auf den Waldrand.
Ich erstarrte.
Ein gutes Dutzend großer, schwarzer Gestalten
stand dort. Gleich darauf vernahm ich das Brüllen
eines Gorillabullen, und die ganze Horde hetzte wie
schwarze Teufel auf mich zu.
Ich ließ die Gazelle los und lief, was die Beine
hergaben. Im Laufen riß ich das Schwert aus dem
Gürtel, aber wenn der ganze Haufen über mich herfiel,
blieb nicht viel von mir übrig. Zwei oder drei mochte
ich erledigen mit einigem Glück. Aber einer ihrer
Schläge konnte meinen Schädel zertrümmern wie eine
Nußschale. Ich hatte es schon einmal mit eigenen
Augen mit angesehen während eines Jagdzugs in
einem Gebiet weit nördlich von Mlmau. Die meisten
Krieger fürchteten die großen Affen mehr als den
Panther, mehr als den Elefantenbullen.
Als ich den schützenden Wald erreicht hatte, wagte
ich einen Blick zurück auf die Lichtung. Verwundert
sah ich, daß sie mir nicht gefolgt waren, sondern sich
aufgeregt um die Gazelle scharten.
Sie schüttelten drohend ihre mächtigen Arme in
meine Richtung. Es war eine fast menschliche Gebärde,
aber in vielen Stämmen Shi-buts waren die Gorillas
mehr als nur Affen. Man nannte sie auch die Mau-anos,
die wilden Waldmenschen.
Sie waren zweifellos kluge Tiere, und wenn ich nur
halb so klug war, dann machte ich mich aus dem Staub.
Als ich aber sah, wie sie die Gazelle hochhoben und auf
den jenseitigen Waldrand zumarschierten, überwog
meine Neugier. Es war so gar nicht nach Art der Affen.
Ich umrundete vorsichtig die Lichtung. Es war nicht
schwer, ihnen auf der Spur zu bleiben, denn sie
stapften geräuschvoll durch den Wald, als wären sie
die Herren, und niemand könnte ihnen etwas anhaben.
Vielleicht waren sie es. Ein beunruhigender
Gedanke. Das Verhalten der Tiere, die ich bis jetzt
gesehen hatte, war sehr seltsam gewesen.
Aber das war eine andere Welt. Das mochte vieles
erklären, wenn ich es auch noch nicht verstand. Früher
oder später würde ich dahinterkommen – wenn ich
lange genug lebte.
Danilas Welt barg viele Geheimnisse. Und ich hatte
erst einen kleinen Teil gesehen. Es würde viel zu
erzählen geben an den Lagerfeuern, wenn wir lebend
zurückkehrten.
Ich blieb in sicherer Entfernung. Bald waren sie auf
einem ausgetretenen Pfad. Sie hatten es ziemlich eilig.
Sie wandten sich nicht einmal um.
Aber nicht weit vor mir teilten sich plötzlich die
Büsche am rechten Pfadrand, und der Leopard trat
heraus. Ich hielt an. Er hatte mich noch nicht bemerkt.
Aber er mußte es, wenn er den Kopf in meine Richtung
drehte. Ich hielt den Atem an. Wenn es zum Kampf
kam, würden auch die Affen aufmerksam werden und
über mich herfallen, wenn ich überlebte.
Die Katze blickte nicht in meine Richtung. Sie lief
hinter den Affen her.
So groß aber war meine Neugier nicht, daß ich
weiter folgte. Ich brauchte einen Unterschlupf und
etwas zu essen. Die belebende Wirkung des Blutes
hatte nachgelassen, und ich fühlte mich müde und leer.
Ich dachte an Waramau. Und dann erinnerte ich mich
an das Fremde in mir.
Ich starrte an meinem Körper hinab. Die grüne
Färbung war fast verschwunden. Die Haut fühlte sich
geschmeidig an. Nur am Bauch schimmerte noch Grün
durch.
Ich lauschte in mich hinein. War ich allein? Eine
undeutliche Erinnerung geisterte durch meine
Gedanken, ein vergessener Drang, nach einer Erde zu
suchen, in der ich gedieh und wuchs.
Der Traum einer Blume.
Ich schüttelte den Kopf. Ich mußte sehr krank
gewesen sein, daß die Dämonen des Fiebers von mir
Besitz ergreifen konnten.
10.
Wenig später gelang es mir, ein kleineres Tier zu
erlegen. Wiederum überkam mich der Drang, das noch
warme Blut zu trinken, und wiederum belebte es mich
durch und durch.
Das Merkwürdige daran ist, daß ich nie bei allen
meinen früheren Jagden auch nur das geringste
Verlangen nach frischem Blut hatte. Im Gegenteil, der
Geschmack erfüllte mich mit Ekel. Es mußte wohl mit
diesem Fieber zusammenhängen, denn mein Kopf
wurde klar und frei.
Bald darauf fand ich einen geeigneten Lagerplatz.
Ich trug brennbare Äste zusammen und hatte bald
darauf ein Feuer.
Ich häutete meine Beute und briet sie, und der Duft
von frisch gebratenem Fleisch war noch einmal so
belebend wie das Blut.
Satt und voller Wohlbehagen wie ich war, sah
Danilas Welt mir plötzlich paradiesisch aus.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich mein
Lager abbrach. Bis zum Abend konnte ich noch ein
ganzes Stück Wegs zurücklegen. Ich hatte allerdings
nicht vor, mich durch den Urwald zu kämpfen. Ich
wollte zur Prärie zurückkehren und dem Waldrand in
nördlicher Richtung folgen, bis ich auf Spuren der
Wolkenreiter stieß.
Der Wald war längst nicht so dicht und verwachsen
wie der Dschungel, in den ich vor den Wolkenreitern
geflohen war. Es gab immer wieder Ausblicke auf den
freien Himmel, auch zahllose Lichtungen. Der ganze
Wald atmete, er erstickte nicht an seiner Fäulnis wie
der andere.
Und er war erfüllt von Leben, wie die Wälder
meiner Heimat.
Ich schlug eine ungefähre nordöstliche Richtung ein,
dann würde ich früher oder später die Prärie erreichen.
Nicht ganz ohne Unbehagen beobachtete ich die
Bäume und suchte sie nach meinen Freunden, den
Affen ab.
Unvermutet kam ich zu einem kleinen Teich. Er lag
dunkelgrün inmitten beinah undurchdringlichen
Dickichts. Ich hatte Mühe, mir einen Weg durch das
Gestrüpp zu hauen. Dann lag seine Oberfläche dunkel
und glatt und wenig einladend vor mir, und mein
Verlangen zu trinken schwand rasch.
Es lag an dem ungewohnten Geruch, der von dem
Wasser aufstieg. Er war nicht abstoßend, aber auch
nicht einladend. Außerdem wirkte das Wasser ölig
dick, als ich mit einem Ast hineintauchte. Die Wellen
glätteten sich fast sofort.
Dennoch schöpfte ich schließlich eine Handvoll. Es
wirkte angenehm kühl und war ganz klar. Dennoch
sah man nicht auf den Grund, nicht einmal am Ufer.
Gerade wollte ich es kosten, als ich ein Zischen ganz
in meiner Nähe vernahm.
Ich erstarrte.
Ganz langsam brachte ich die Hand mit dem Wasser
an meinen Körper und ließ es lautlos an meinen
Schenkeln hinabfließen. Dann tastete ich so langsam,
daß es kaum wie eine Bewegung aussah, nach meinem
Dolch und zog ihn aus dem Gürtel. Während ich den
Kopf zu drehen versuchte, um zu sehen, wo sich die
Schlange befand, ertönte das Zischen erneut, dicht
hinter meinem Ohr.
Ich hielt sogar den Atem an. In der Stille zischte sie
wieder, länger anhaltend diesmal, und ich sah ihren
Kopf aus den Augenwinkeln in mein Blickfeld
pendeln. Ich kannte genug Schlangen meiner Heimat
und hatte viele gefangen, um das Gift dem Priester
unseres Stammes zu bringen, aber solch eine hatte ich
noch nie gesehen. Sie war fast schwarz mit roten
Flecken am ganzen Rücken. Sie war nicht sehr groß, sie
mochte ebensogut ein Würger wie eine Giftschlange
sein, und ich hatte nicht vor, es herauszufinden.
Ich griff zu, bekam den Kopf zu fassen, riß ihn zu
Boden, um ihn mit dem Dolch festzunageln. In diesem
Augenblick krümmte sich der Leib um mich, und der
Stoß ging daneben.
Keuchend taumelte ich hoch, ohne den Kopf
loszulassen. Er war nun meine einzige Chance.
Während mir unter dem Druck des Schlangenleibes
fast schwarz vor den Augen wurde, brachte ich den
Kopf in die Nähe meines Messers – und schnitt.
Als der Kopf sich löste, verlor auch der Körper seine
Kraft. Ich bekam Luft und versuchte mich
auszuwickeln. Unter dem Gewicht verlor ich plötzlich
meinen festen Stand und torkelte fast bis zum Hals in
die kühlen Fluten des Teiches. Der Schlangenkörper
löste sich von mir. Ernüchtert, aber von angenehmen
Prickeln durchschauert, genoß ich das unfreiwillige
Bad einen Moment. Dann aber machte ich, daß ich ans
Ufer kam. Ich konnte nicht wissen, welches Tierzeug
hier zu Hause war. Das eine Erlebnis reichte vorerst.
Fröstelnd stieg ich aus dem Wasser. Es war
verdammt kühl. Während ich mich noch schüttelte, ließ
mich ein Plätschern herumfahren.
Erstaunt sah ich den Kopf eines Mädchens, der aus
dem Wasser aufgetaucht war. Sie war dunkelhäutig
wie ich, hatte schwarzes Haar und schwamm mit
kräftigen Stößen ans Ufer.
Als sie aus dem Wasser stieg, betrachtete ich
bewundernd ihren schwarzen Körper. Sie war
wunderschön. Ich konnte den Blick nicht von ihrem
Gesicht wenden, das mich unverwandt ansah.
Ihre Lider waren halb gesenkt. Aber jetzt öffnete sie
sie weit, und ich erschrak. Ihre Augen waren glutrot,
dunkler und kräftiger als die eines Albinos.
Sie hielt meinen Blick magisch fest. Es war
unmöglich, ihn abzuwenden.
Fast hilflos wartete ich, als sie auf mich zukam. Sie
öffnete den geschwungenen Mund und entblößte ihre
Zähne. Ein Zischen kam dazwischen hervor. Sie neigte
den Kopf hin und her, und ihre Zunge zuckte wie die
einer Schlange zwischen ihren Zähnen hin und her.
Sie kam ganz nahe. Dann schlugen ihre Zähne in
meine Schulter. Der Schmerz befreite mich
augenblicklich aus dem Bann. Mit einem Aufschrei
griff ich nach ihrem Haar und riß sie zurück.
Sie zischte gefährlich.
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie griff
erneut an, umklammerte mich, wand sich um mich wie
ein Reptil und versuchte wieder, ihre Zähne in meinen
Körper zu schlagen. Ihre Kraft war erstaunlich. Ich
rang nach Luft. Noch immer scheute ich davor zurück,
eine Waffe zu benützen, obwohl ich deutlich genug
fühlte, daß ich kein Mädchen vor mir hatte, sondern
eine Bestie.
Mit einem gewaltigen Ruck kam ich frei und
schleuderte sie von mir. Sie ringelte sich zusammen,
während sie fiel und erhob sich mit einer fließenden,
beinah schlangenartigen Bewegung. Sie zischte
gefährlich. Ich war einen Augenblick nicht sicher, ob es
aus ihrem Mund kam.
Als sie erneut auf mich losschnellen wollte, hatte ich
das Schwert in der Rechten zum Hieb erhoben.
Sie war kein menschliches Wesen. In ihren roten
Augen war kein Funken Vernunft. Sie war ein Dämon,
den ich aus seinem Teich aufgestört hatte. Und nun
hatte ich Mühe, ihn wieder loszuwerden. Das Schwert
schreckte sie nicht ab.
Sie griff erneut an. Wütend. Kalt. Tödlich.
Und dennoch brachte ich es nicht fertig, ihr das
Schwert in den Körper zu stoßen. Aber ich ließ sie
meine Faust fühlen. Sie ging zu Boden, nur halb
betäubt und ich versetzte ihr einen zweiten Schlag.
Dann lag sie still.
Keuchend ließ ich mich neben ihr nieder und drehte
sie auf den Rücken. Ich betrachtete nachdenklich ihr
Gesicht. Es war menschlich und doch nicht menschlich.
Es war ohne Wärme. Und sehr schön, wie ihr Körper.
Sie war ein menschliches Raubtier. Und sie wäre
eine interessante Gefährtin.
Ich nahm meinen Gürtel ab, rollte das Mädchen auf
den Bauch und fesselte ihr die Hände auf den Rücken.
Dies tat ich sehr gründlich. Ich wollte sicher sein, daß
die kleine Bestie mich nicht so schnell wieder in ihre
Arme bekam.
Dabei fiel mein Blick auf ihren Rücken. Ich erschrak.
Über das Rückgrat hinab zog sich ein deutliches
Muster roter Flecken – so wie die Schlange sie besessen
hatte!
Konnte es sein, daß ...
Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie mußte
eine Göttin sein. Sie war in menschlicher Gestalt
auferstanden. Vielleicht war sie eine Zauberin, die hier
in diesem Teich wohnte.
Rasch löste ich die Fesseln wieder. Ich hatte schon
genug ihres Zorns auf mich geladen, auch wenn es
keine Absicht gewesen war.
Je mehr Abstand zwischen mir und diesem Teich
lag, desto besser.
Ich kam nicht sehr weit.
Am Schweigen der Vögel merkte ich, daß ich nicht
der einzige Eindringling in diesem Gebiet war. Die
Stille ließ nichts Gutes ahnen.
Ich beobachtete die Bäume. Es war möglich, daß die
Affen sich an meine Spur gehängt hatten. Auf einer
Lichtung hielt ich an und wartete im hohen Gras. Es
dauerte nicht lange, und die Gestalten erschienen im
Waldrand.
Mehr als zwei Dutzend. Sie beobachteten die
Lichtung, als wüßten sie, daß ich mich noch hier
verborgen hielt. Ich wand mich durch das hohe Gras
und erreichte den jenseitigen Waldrand, als sie sich in
Bewegung setzten.
Sie holten rasch auf.
Bald hörte ich sie links und rechts, dann vor mir,
und dann kam der Augenblick, den ich gefürchtet
hatte. Ein halbes Dutzend der Tiere sprang von einem
Baum direkt vor mir und versperrte mir drohend den
Weg. Auch hinter mir standen sie abwartend.
Ich war etwas erstaunt darüber, daß sie nicht sofort
angriffen. Aber ich wußte, sie würden es jeden
Augenblick tun. Ich starrte auf die mächtigen, dunklen
Schädel mit den vorspringenden Schnauzen und die
muskelbepackten Schultern. Ihre Blicke ruhten ebenso
abschätzend auf mir.
Der Bulle trat schließlich auf allen vieren einen
Schritt vor und entblößte sein Gebiß. Er hob den
rechten Arm und deutete den Weg zurück, den ich
gekommen war.
Die Geste war eindeutig. Sie wollten mich irgendwo
hinbringen. Das war ungewöhnlich. Dachten diese
Tiere? Oder gehorchten sie jemandem? Oder waren sie
wirklich wilde Halbmenschen?
Ich war jedenfalls ihr Gefangener, was sie auch
immer waren. Ich ließ das Schwert sinken. Es war
klüger, nachzugeben. Gegen diese Horde konnte ich
nicht viel ausrichten. Ein halbes Dutzend umringte
mich. Einer nahm mir das Schwert aus der Faust, ein
anderer den Dolch. Dann stießen sie mich vorwärts. Sie
behielten mich ständig in ihrer Mitte. Die Nähe ihrer
Körper machte mir erst recht bewußt, wie stark sie
waren. Ohne das Schwert hatte ich keine Chance.
Wir kamen an dem Teich vorbei, an dem noch
immer das Mädchen lag. Sie hoben es auf und trugen
es mit sich. Es erinnerte mich daran, wie sie die Gazelle
weggetragen hatten.
Sie wirkten sehr zielstrebig.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als wir endlich
haltmachten. Das Mädchen begann zu sich zu
kommen. Sie standen fürsorglich um sie herum und
sprangen brüllend auseinander, als das Mädchen
zischend hochfuhr und den erstbesten in den Arm biß.
Es gelang ihm, sie abzuschütteln, aber sie ging immer
wieder zum Angriff über. Schrille Laute ausstoßend,
sprangen die Affen um sie herum, bis sie sie an den
Armen zu fassen bekamen. Ein ständiges Zischen kam
aus ihrem Mund.
Ich nutzte den Augenblick. Ich entriß dem einen
neben mir mein Schwert und stieß ihn zur Seite. Mit
drei Sprüngen stand ich vor dem überraschten Bullen.
Es war meine einzige Chance. Ich wußte, daß die
Bullen um die Führerschaft der Horde kämpften – bis
zum Tod. Er sollte wissen, daß ich nicht sein
Gefangener war, sondern sein Rivale.
»Kämpfe!« sagte ich. Das verstand er vielleicht nicht,
aber was ich wollte, mußte er erkennen.
Die Affen hatten sich von ihrer Überraschung erholt.
Sie stürmten auf mich zu, und ich hob drohend das
Schwert. Zwei oder drei würde ich mitnehmen.
Der Anführer hob seinen Arm, und die
Heranstürmenden hielten inne.
Er schlug mit der geballten Faust gegen seine Brust.
Meine Herausforderung schien angenommen.
Während die Affen einen Kreis um uns bildeten,
winkte der Anführer einem zu, der ihm etwas zuwarf.
Erstaunt bemerkte ich, daß es sich um meinen Dolch
handelte.
Der Anführer fing ihn geschickt, ließ ihn mehrmals
zwischen beiden Händen hin und her wirbeln und trat
mir einen Schritt entgegen. Er entblößte sein Gebiß zu
einem Grinsen. Das war wenigstens der Eindruck, den
ich hatte. Die Zuschauer knallten die Fäuste
gegeneinander, offensichtlich erfreut über das
Schauspiel.
In einem Wirbel von Bewegung kam der Affe auf
mich zu. Sein Dolch klirrte gegen mein abwehrend
erhobenes Schwert. Seine Faust traf mich an der Brust,
und die Wucht des Schlages fegte mich zu Boden.
Einen Moment war mir schwarz vor Augen.
Undeutlich vernahm ich das begeisterte Kreischen der
Affen, dann war ich wankend auf den Beinen. Ich
zweifelte nicht mehr länger, daß er mehr als ein Affe
war, vielleicht auch die anderen, denn er benahm sich
nicht wie eine wilde Bestie. Er wartete, bis ich mich
erhoben hatte, bevor er wieder angriff.
Diesmal war ich gewappnet. Ich wehrte seinen
Dolch nicht ab, sondern wich ihm aus. Während der
Schwung ihn vorwärtsriß, hieb ich mit der Klinge zu.
Es war ein gewaltiger Hieb, der einen schwächeren
Gegner niedergestreckt hätte. Nicht ihn. Mit einer
tiefen Schnittwunde quer über die mächtigen Schultern
rollte er sich ab und kam unter einem Schauer von
Blutstropfen auf die Beine.
Die Zuschauer waren still geworden.
Ich wartete nicht, bis er vorwärtsstürmte. Ich sprang
ihm entgegen. Der Dolch zuckte in meinen Arm,
während meine Klinge ihn durchbohrte.
Ich wartete nicht, bis sich die Zuschauer von ihrer
Überraschung erholten. Ich zog das Schwert aus
seinem toten Körper und ließ ihn zu Boden gleiten.
Ohne mich um meine Armwunde zu kümmern stieg
ich aus dem Kreis und schritt den Pfad entlang in die
Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich wollte aus
ihren Augen sein, bevor sie es sich anders überlegten.
Aber sie hatten nicht die Absicht, mich gehen zu
lassen.
Sie schwirrten hinter mir her, wie ein Schwarm
wütender Hornissen. Mit dem Rücken zu einem Baum
erwartete ich sie. Flucht wäre sinnlos gewesen. Sie
sollten sehen, daß sie einen entschlossenen Gegner vor
sich hatten.
Tatsächlich bremste sie meine Kampfbereitschaft
einen Moment. Wir standen uns abschätzend
gegenüber. Dann stürzten sie mit schwingenden
Armen auf mich los. Sie hatten knorrige armdicke Äste
in den Fäusten, die sie wie Keulen schwangen.
Ich sprang mitten unter sie und bohrte die Klinge in
ihre schwarzen Leiber. Vier oder fünf streckte ich zu
Boden, bevor mich der erste Schlag erwischte. Ich ging
zu Boden wie ein Stein. Ein zweiter Hieb traf meine
Brust, und ich sah erstaunt, wie mein Brustkorb sich
nach innen krümmte, und alles rot wurde von Blut.
Dann traf ein weiterer mein Gesicht und löschte alles
aus.
Es war nicht das Ende.
Ich erwachte durch eine schaukelnde Bewegung.
Meine Augen waren rot verschleiert und ich fühlte die
warme Klebrigkeit von Blut überall im Gesicht. Über
mir schwankte das Baumdach des Dschungels,
manchmal aufgerissen, mit einem Stück tiefblauen
Himmels darüber.
Sie trugen mich irgendwo hin. Ich sah undeutlich
schwarze Gestalten um mich.
Meine Brust schmerzte, aber nicht sehr. Es war, als
gehörte sie nicht zu mir. Ich hatte auch kein Gefühl in
den Armen und Beinen. So ähnlich mußte es sein,
wenn man starb – daß man kein Gefühl mehr besaß.
Aber noch spürte ich den Schmerz. Schwach. Ich
wußte, daß ich sterben würde. Dann wurde es wieder
dunkel um mich.
Ich träumte.
Ich lag auf einer Lichtung. Ich befand mich nicht
allein dort. Das Schlangenmädchen lag nicht weit von
mir. Sie wehrte sich und wand sich zischend, aber sie
war festgebunden. Um mich lagen die stillen Formen
der toten Affen – alle, die ich erschlagen hatte. Eine
stattliche Zahl, dachte ich. Sie hatten meinen Tod teuer
bezahlt.
War ich tot?
Es war alles so still. Ich spürte nichts. Nur, daß ich
lag.
Dann sah ich das Mädchen. Ihre Augen waren auf
mich gerichtet. Sie war dunkelhäutig. Das schwarze
Haar fiel in dichten Strähnen über ihre Brüste. Bis auf
einen Gürtel aus einem goldenen Geflecht und ein
seltsames Amulett, das funkelnd zwischen ihren
Schenkeln lag, war sie nackt. Ein unergründliches
Lächeln war auf ihren Lippen, halb verwischt von
einem traurigen Zug.
In der rechten Hand hielt sie einen weißen Stab, wie
das Zepter einer Königin.
Auf ihr Zeichen kam wie auf die ausholende
Bewegung eines Magiers Bewegung in die lautlose
Szene, und ich hörte ihre melodische Stimme:
»Es ist viel Blut geflossen. Bringt sie in den Teich des
Lebens, meine Freunde. Es ist Vitus Wille!«
Die großen Affen, die ihr wie Schoßtiere gehorchten,
begannen ihre toten Gefährten aufzunehmen und zu
einem großen Teich zu tragen.
Sie warfen sie in das dunkle Wasser. Dann kamen
sie erneut und hoben mich auf. Ich spürte es nicht, aber
ich sah das Wasser auf mich zukommen.
Ich wollte schreien, aufbegehren, aber wie in allen
Träumen, gibt es nichts, das man tun kann.
Träume, heißt es in meinem Volk, sind die Spiele der
Götter.
Ich sank tiefer und tiefer, als hätte dieser Teich
keinen Grund.
Lungen brauchen Luft. Und meine brauchten sie so
dringend, daß ich einen stummen Schrei zu den
Göttern schickte. Sie erhörten mich, denn gleich darauf
durchbrach ich die Oberfläche des Wassers und konnte
meine Brust mit guter, kühler Luft füllen. Ein Grollen
kam aus meiner Kehle. Es war schwierig zu
schwimmen.
War doch alles kein Traum gewesen?
Ich fühlte mich lebendig, jeder Muskel geballt vor
Kraft, keine Müdigkeit, kein Schmerz.
Es war dunkel, und die Nachtluft war voll vom
Geruch brennenden Harzes. Zahlreiche Fackeln
erhellten das Ufer. Eine merkwürdige Gesellschaft
erwartete mich am Ufer. Ein Dutzend dunkelhäutige
Männer standen um ein Mädchen geschart, das ich im
Traum bereits gesehen hatte. Und weiter im
Hintergrund standen die Affen. Sie alle blickten
andächtig in den Teich.
Sie schienen auf mich zu warten, und irgend etwas
versetzte sie in Aufregung. Sie winkten mir zu. Ich sah
mich um, ob etwas hinter mir war, das sie sehen
mochten.
Nein, da war nichts.
Endlich erreichte ich Grund. Ich rief ihnen zu. Es
war ein halbes Brüllen, wie von einem Raubtier, das
aus meiner Kehle kam. Es erschreckte mich. Ich
machte, daß ich aus dem Wasser kam. Am Ufer
schüttelte ich mich. Ich wollte mich aufrichten ...
Und erstarrte!
Ich stand auf breiten schwarzen Tatzen. Aus
meinem schwarzen Fell tropfte noch immer das
Wasser. Mit einem Aufschrei, der wie ein Grollen
klang, sprang ich zurück zum Wasser. Im hellen
Fackellicht, das sich im Wasser spiegelte, starrte mich
der gewaltige Schädel eines schwarzen Panthers an.
Hilfesuchend wandte ich mich zu den Männern und
dem Mädchen um. Ich hatte mehr Angst vor mir als
sie. Sie schienen es ganz natürlich zu finden.
»Willkommen, Ubali«, sagte das Mädchen
freundlich.
ENDE
Während Dragon zusammen mit dem Mädchen
Danila längst die relativ sichere Zone erreicht hat, in
der die Mitglieder von Odaliks Stamm leben, dem auch
Danila angehört, ist Ubali, der sterbend in einen von
Vitus Teichen geworfen wurde, zu neuem Leben
erwacht – im Körper eines Schwarzen Panthers ...
Über Ubalis weitere Abenteuer lesen Sie im nächsten
Dragon-Band. Der Roman ist ebenfalls von Hugh
Walker verfaßt und erscheint unter dem Titel:
IM REICH DER TIERMENSCHEN