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Uber die Geschichtsanschauung bei Hermann Broch 83 Satoru FUKUYAMA Nietzsche hat die neu gekommenene Zeit mit dem Ausdruck "Go isttot (1) gekennzeichnet;esgeht um"diesesschaffende wollende wertende Ic h das befreitvonGottalsHochstinstanz dieWirklichkeitneuschaffenkann. Bei Broch ist es vollig anders; Gott ist nicht tot die Idee bleibt unverandert. Dabei stehtseine An sichtuberdasmenschlicheWesenals"GottesEbenbild im Mittelp 阻止t. ErerwahntvondereuropaischenSi ationdesMenschenwiefolgt:"Der Menschaber derMensch einstGottesEbenbild SpiegeldesWeltwertes dessenTragererwar eristesnichtmehr. (1 498)Brochbestritthier das der Menschsobleibt waserwar und weistdarauf hin dasdiemenschliche Daseinsform sich vollig geandert hat indem eine neue geschichtliche Situation angekommen is t. AberaneineranderenStelleistdasGegenteilderFall; SeineTheorie >>SetzungderSetzung diespatererortertwerdensoll "gibtalsonichtnur dieerkenntnistheoretischeStrukturder Ub ersetzbarkeitallerSprachen und seien sie untereinander noch so sehr verschieden sondem d 紅白berhinaus weit daruber hinaus gibtsiedieGewahr dieEinheitdesMenschen undseiner Menschlichkeit dienochinderSelbstzer f1 eischungihresDaseinsEbenbild Gottesbleibt , - denn Spiegelseinerselbst injedemBegri undin jeder

Uber die Geschichtsanschauung bei

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Page 1: Uber die Geschichtsanschauung bei

Uber die Geschichtsanschauung bei

Hermann Broch

83

Satoru FUKUYAMA

Nietzsche hat die neu gekommenene Zeit mit dem Ausdruck, "Go抗 isttot“, (1)

gekennzeichnet; es geht um "dieses schaffende, wollende, wertende Ich“, das,

befreit von Gott als Hochstinstanz, die Wirklichkeit neu schaffen kann. Bei

Broch ist es vollig anders; Gott ist nicht tot, die Idee bleibt unverandert. Dabei

steht seine Ansicht uber das menschliche Wesen als "Gottes Ebenbild“im

Mittelp阻止t.

Er erwahnt von der europaischen Si印ationdes Menschen wie folgt: "Der

Mensch aber, der Mensch, einst Gottes Ebenbild, Spiegel des Weltwertes,

dessen Trager er war, er ist es nicht mehr.“(1, 498) Broch bestritt hier, das

der Mensch so bleibt, was er war und weist darauf hin, das die menschliche

Daseinsform sich vollig geandert hat, indem eine neue geschichtliche Situation

angekommen ist.

Aber an einer anderen Stelle ist das Gegenteil der Fall; Seine Theorie

>>Setzung der Setzung内 diespater erortert werden soll, "gibt also nicht nur

die erkenntnistheoretische Struktur der Ubersetzbarkeit aller Sprachen, und

seien sie untereinander noch so sehr verschieden, sondem d紅白berhinaus, weit

daruber hinaus, gibt sie die Gewahr加 dieEinheit des Menschen und seiner

Menschlichkeit, die noch in der Selbstzerf1eischung ihres Daseins Ebenbild

Gottes bleibt, - denn, Spiegel seiner selbst, in jedem Begri百 undin jeder

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Einheit, die er setzt, leuchtet dem Menschen der Logos, leuchtet ihm das

Wort Gottes als Mas aller Dinge entgegen.“(1, 624) Hier bleibt der Mensch

unverandert "Ebenbild Go抗es".Wie soll man diesen Widerspruch auffassen?

Es ist eigentlich unmoglich, objektiv festzustellen, ob der Mensch "Ebenbild

Gottes“ist, so benutzt Broch das Wort ganz beliebig; er macht einerseits

Gebrauch von diesem Ausdruck, um zu zeigen, das der Wertzerfall die

Endphase erreicht hat und der Mensch deshalb nicht mehr "Ebenbild Gottes“

gewesen ist, d.h. Broch erwahnt hier von dem geschichtlichen Prozes, von dem

von ihm festgestellten wichtigen Ergebnis des geschichtlichen Prozesses nach

der Renaissance, wahrend er andererseits uber dasselbe geschichtliche Ergebnis

in einem anderen Kontext das Gegenteil behauptet und es zur Grundlage

fur seine Theorie macht, das der Mensch auch in der Endphase unverandert

"Ebenbild Go取 s“bleibt.Man soll erkennen, das es nicht so ist: "Brochs

unbeirrbare Zuversicht白βtauf seinem Glauben an die Gottesebenbildhaftigkeit (2)

des Menschen, in der seine Humanitat liegt.“

Es soll deshalb meine Aufgabe sein, zu erklaren, wie der fur die Geschichts-

thorie Brochs entscheidende Widerspruch entstanden ist und was sich dahinter

verbirgt.

1. Wertzerfall

Hermann Broch interpretiert den europaischen geschichtlichen Prozes

nach der Renaissance als Zerfall der Werte und meint uber die Si同ationim

Ersten Weltkrieg, die Wirklichkeit ware verschwunden; "Hat diese Zeit noch

Wirklichkeit? besitzt sie eine Wertwirklichkeit, in der sich der Sinn ihres

Lebens aufbewahren wird? gibt es Wirklichkeit印rdas Nicht-Sein eines Nicht-

Lebens? - wohin hat sich die Wirklichkeit gefluchtet? in die Wissenschaft?

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in das Gesetz? in die Pt1icht? oder in den Zweifel einer ewig企agendenLogik,

deren Plausibilitat im Unendlichen entschwunden ist?“(1, 618)

Was ist die Wirklichkeit oder die Geschichte ftir Hermann Broch? Er

behauptet, "die Geschichte besteht aus Werten, weil das Leben blos unter der

Wertkathegorie zu erfassen ist.“(1, 620) Dann mus man fragen, was der Wert

sei. Broch geht von der Absurditat aus, sterben zu mussen, so stellt der Tod

den Unwert dar: "Der Tod ist der Unwert an sich.“(12, 486) Deshalb bedeutet

der Wert etwas, was zu der Behaltung des Lebens beitragen kann: "Grundwert

alles Lebens ist das Leben selbst. Der Lebens仕iebeines jeden Organismus will

bewust oder unbew凶3tdas Leben bis zur Erschopfung aller Moglichkeiten

verlangem. Vom Lebenstrieb aus gesehen, ist die Uberwindung des Todes,

kurzum das ewige Leben als hochster Wert des Ichs zu betrachten“. (12,46)

Normalerweise denkt man dabei an das bisher angestrebte Untemehmen, durch

Weisheit und Technik das Leben zu verbessem und verlangem. Aber das ist

nicht der Fall, denn ftir Broch ist das groste Wertsystem das religiose; was am

wichtigsten wert ist, "der religiose Totalwert als endgultige Uberwindung des

Todes.“(12, 17)

So geht es nicht darum, wie man die Wirklichkeit aufbauen soll, sondem

darurn, wie man den Tod uberwinden kann. Es ist ftir den Menschen uberhaupt

unmoglich, den Tod zu uberwinden, aber ftir Broch geht es um ,jenes letzte

und heilige Ziel z田nMenschlichen an sich, zur Uberwindung des Todes.“

(10/2, 87) Dabei ist es nach der Ansicht Brochs nichts anderes als die Religion,

die sich am besten mit dem Tod auseinandergesetzt hat und der es gut gelingt,

den Tod zu uberwinden; "Was immer im Wertgeschehen vor sich geht, es ist

Annaherung, symbolischer Vorversuch zu der endgultigen Todesuberwindung

im Religiosen.“(12, 18)

Das wird die Grundlage der Brochschen Wert-und Geschichtstheorie.

Deshalb ist das christliche Mitlelalter das beste Modell daftir. Broch definiert

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den Menschen als "Ebenbild Go抗es“.Deshalb ist folgerichtig, das die Religion,

die uns das ewige Leben verheist, als Zentralwert funktioniert und der sich von

Gott entfemende Modemisierungsprozes den Wertzerfa11 darste11t. Wenn man

diesen Sachverhalt nicht gut verstehen konnte, dann wurde Brochs Gedanke

nur schwer und ratselhaft bleiben. So neigt man oft, auf ein anderes Kriterium

angewiesen zu werden, ohne sich ausfiihrlich mit der Brochschen Logik zu

befassen: "Fast zwangslaufig ste11t sich die Frage, wie es zu dieser positiven

Typisierung des Mittelalters und der so kompromislosen Verurteilung der

Renaissance kommen konnte. Diese Wertungen verstehen sich nicht von selbst,

im Gegenteil: sie scheinen einer langst uberholten Phase des burgerlichen (3)

Denkens anzugehoren.“

Diese Uberwindung des Todes durch die Religion mus leider anders immer

symbolisch bleiben, wie Broch behauptet hat. Aber diese Verbindung des

Menschen mit dem Absoluten ist fur Broch am wichtigsten.

Nach der Renaissance hat man begonnen, das Leben vermittels der

Technik zu bereichem. Wie Nietzsche richtig beurteilt hat, hat die Religion

die Menschen dumm und lahm gemacht. Verschiedene bisher unter dem

Einflus der Religion latent gebliebene, menschliche Fahigkeiten haben sich

entwickelt. Man ist imstande geworden, bequemer zu leben, wenn auch ohne

religiose Unterstutzung. Die Modeme hat das menschliche Leben von Grund

aus verandert. Aber Broch kann uber den fur die menschliche Geschichte

entscheidenden Triumph hinweggehen, denn es kommt白rihn immer auf die

innerliche Verbindung des Menschen mit dem Absoluten an. Fur Broch ist die

Zeit etwas, was n凹 denTod bringt und deshalb却めerwindenist.

So sol1 also festgeste11t werden, "das Broch nach einer Moglichkeit sucht,

das zeitliche Nacheinander im Prozes, das ein Signum der Todesverfallenheit (4)

des Menschen ist, aufzuheben, das heist die Zeit zu uberwinden.“Man

sol1 beachten, das die Angst vor der Absurditat des menschlichen Todes

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verallgemeinert geworden ist.

Obwohl der Wertzerfall entstanden ist, ist er g創立 davonuberzeugt, das

die einmal zerfallen erscheinende Weltwirklichkeit wieder auferstehen wird.

Woher kommt diese Uberzeugung? Er glaubt an die Phasenwechseltheorie:

"Der idealistisch-positivistische Phasenwechsel ist eine regelmasige

Wellenbewegung der Geistesgeschichte.“(10/2, 167) Er glaubt, das die

idealistische Denkweise, die von der positivistischen vollig verdr如 gtworden

zu sein scheint, wieder zur Herrschaft gelangen wurde, denn man braucht

unbedingt das deduktive Zentralwertsystem, und Broch spurt deutlich, das er

es personlich verlangt; "wieder ist es der Schrei aus der Einsamkeit des Ichs,

und es ist der Ruf der platonischen Liebe, die trotz aller Stummheit stets aufs

neue den Menschen sucht.“ (10/2, 170) Die Phasenwechsel sind keine objektive

Erkenntnis, sondem vielmehr eine subjektive Sehnsucht, obwohl er Anzeichen

dafur, die spater erortert werden sollen, ge白ndenzu haben glaubt; die Phasen

wechseln, weil sich Broch danach sehnt, obwohl es ziemlich kurios klingen

mag. Dieser Gedankengang erinnert an die Erklarung des Begriffs Wahrheit,

wobei es auch um die subjektive Erkenntnis geht: was man白rwahr halt, wird (5)

剖 rWahrheit!

Es ist das religiose Wertsystem zusammengefallen, nicht weil es, gestosen

auf die "Unendlichkeitsgrenze“(10/2, 166), dem autonomen geschichtlichen

Kreislaufprozes gefolgt ist, sondem weil es sozial nicht mehr funktioniert

hat und nicht mehr zeitgerecht geworden ist, obgleich es noch immer so viele

Individuen gibt, die an der Religion hangen. Es ist die Theorie >>Setzung der

Set却 ng<<,wo er den Weg in die Zukun白derWelt gezeigt hat.

Er glaubt an den Kreislauf des geschichtlichen Prozesses, der aus vier Phasen

besteht; "Jedes Wertsystem strebt nach Absolutgeltung. Gelingt dies unter

besonderen Umstanden (wie es z.B. die geographischen und machtpolitischen

Verhaltnisse des christlichen Europa gewesen sind), so entsteht ein echtes

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Zentralwertsystem.“Das ist die erste Phase. Dann kommt die Zweite:

"Innerhalb eines solchen abgeschlossenen Systems wird die - Werttheologie-

autonom, sie handelt lediglich mehr nach ihren logischen, allerdings

einwand仕eilogischen, dialektischen Ablaufen und nimmt auf die Realitat

keine Rucksicht.“(12, 54) Drittens kommt eine neue Phase: ,,1st einmal ein

Zentralwertsystem auf diese Art und Weise erschuttert, so beginnt eine neue

Konfrontation mit der inneren und auseren Realitat.“(12,55) Nach Broch h剖

diese Epoche in Europa als Reformation und Renaissance eingesetzt und hat

mit dem naturwissenschaftlichen 19. Jahrhundert ihren Hohepunkt gefunden.“

(12,55) Schlieslich kommt die "Auflosung eines Zentralwertsystems.“(12, 55)

Das ist die europaische Moderne.

2. Setzung der Setzung

Broch und Hegel haben anerkannt, das das Absolute in der Geschichte

eine entscheidende Rol1e spielt, aber es gibt einen grosen Unterschied uber

dessen Funktion. Broch kritisiert Hegel wie folgt: "Hegel h剖 gegenSchel1ing

den (berechtigten) Vorwurf erhoben, d剖3er das Absolute >>wie aus der Pistole

geschossen<< in die Welt projiziert ha社e.Das namliche gilt aber wohl auch

fur den Wertbegriff der Hegelschen und nachhegelschen Philosophie. Den

Wertbegriff einfach in die Geschichte zu pr句lZlerenund alles, was von

der Geschichte autbewahrt wird, kurzerhand als >>Wert<< zu bezeichnen, ist

zur Not fur die rein asthetischen Werte der bildenden Kunst noch zulassig,

stimmt aber sonst so weitgehend nicht, das man im Gegenteil sich gedrangt

fuhlt, die Geschichte als Konglomerat von Unwerten zu erklaren und eine

Wertwirklichkeit der Geschichte uberhaupt zu leugnen.“(1, 619-620)

8roch ist der Ansicht, das sich die Geschichte, wie oben erklart, nicht

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kontinuierlich entwickelt: "der Akt der Setzung ist kein kontinuierlicher.“

(10/2, 163) Obwohl das Absolute unverlierbar bleibt, gibt es nur indirekte

Setzungen: "die Welt ist Setzung des inte11igiblen Ichs, denn unverloren und

unverlierbar bleibt die platonische Idee. Doch die Setzung ist nicht >>aus der

Pistole geschossen内 eskonnen n町 immerwieder Wertsubjekte gesetzt werden,

Wertsubjekte, die ihrerseits die Struktur des intelligiblen Ichs widerspiegeln

und die ihrerseits ihre eigenen Wertsetzungen, ihre eigenen Weltformungen

vomehmen.“(1, 622)

Fur ihn geht es immer um die Verbindung des Ich mit der Idee. Brochs Kritik

gegen Hegel stammt daher, das er sich gar nicht um zeitliche Aufhaufungen,

die die Welt verbessert haben, ki加 mert.

Es ist die Idee, die platonische Idee,田nden von Broch gem benutzten

Ausdruck zu gebrauchen, die rur seine Theorie der Geschichte unentbehrlich

ist. Broch versucht, menschliche Tatigkeiten vermittels der engen Verbindung

des Menschen mit der Idee zu erklaren; was白rihn am wichtigsten ist, ist es, zu

behaupten, das die Idee unverandert bleibt. Er glaubt, die Verbindung des Ich

mit der Idee kann zur Uberwindung des Todes白hren.

Broch spricht 0白 vonder absoluten Ethik, aber die Ethik bedeutet keine

konkreten Vorschriften da白r,wie man die Gese11scha白aufbauensol1, sondem

ab抑止teForderung, das man nach der Logizitat handeln sol1, also den Zustand,

"von den Vorschriften des Logischen abhangig却 sein.“(1, 621)

Dabei mus sich man ganz einsam mit Gott kon丘ontieren.Nach Brochs

Ansicht ist sich der Mensch uber seine Einsamkeit bewust geworden, als er vor

sich Gott sah: "als vor dreitausend Jahren der a11-umfassende Satz >>Go仕 schuf

den Menschen nach seinem Ebenbilde<< gedacht und niedergeschrieben wurde,

da war rur den ungeheueren Geist, der dies tat, die Entwicklung zur absoluten

Einsamkeit des Ich bereits vollendet, denn dieser Satz, der die gesamte

idealistische Philosophie des Abendlandes von Plato bis zu Descartes und bis

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zu Kant vorwegnahm, ist eben in der Autonomie des Bewustseins begrundet,

in der Autonomie eines Denkens, das uber sein eigenes strenggebundenes

Sein erstaunt und zugleich auch weis, das es in seiner unbrechbaren

Abgeschiedenheit bestimmt ist, a11es Sein in sich aufzunehmen.“(12,461)

In der Einsamkeit ist nach Broch der Mensch von Gott abhangig und auf

ihn angewiesen. Broch sieht darin das menschliche Wesen. Hier kann man

auch deutlich sehen, das er die Beziehung mit Gott eher bevorzugt, als die mit

anderen Menschen.

Es 1紛tsich festste11en lassen, das die Idee unverandert bleibt, das heist

Gott nicht tot ist, das man die Vorschrift der Idee befolgen so11 und das die

Ergebnisse dieser Setzungen nicht absolut, sondem relativ bleiben mussen.

Broch ist ganz davon uberzeugt, "den Grundris einer vollig neuen

Erkenntnistheorie der Geschichtsphilosophie“(1311, 150) geliefert zu haben.

Broch glaubt seine These bestatigende Indizien in verschiedenen Bereichen

ge白ndenzu haben wie in James Joyces Versuch in der Literatur, in der Malerei

und in der Relativitatstheorie in der Physik.

Bei Joyce geht es田neine neu geschaffene Einheit: "Was Joyce tut, ist

wesentlich komplizierter. Immer schwingt bei ihm die Erkenntnis mit, das

man das Objekt nicht einfach in den Beobachtungskegel ste11en und einfach

beschreiben durfe, sondem das das Darste11ungssubjekt, also der >>Erzahler

als Idee<< und nicht minder die Sprache, mit der er das Darste11ungsobjekt

beschreibt, als Darste11ungsmedien hineingehoren. Was er zu schaffen trachtet,

ist eine Einheit von Darstellungsgegenstand und Darstellungsmittel im

weitesten Sinne genommen, eine Ei油 eit,die manchmal wohl so aussieht, als

wurde das Objekt durch die Sprache, die Sprache durch das Objekt bis z町

volligen Auf1osung vergewaltigt werden, die aber trotzdem Ei叫leitbleibt, jedes

uberf1ussige Fulls尚北, jedes uberf1ussige Epitheton vermeidet, Ei凶 eit,in der

eines aus dem andem na仙rlichherauswachst, weil es in seiner Ganzheit dem

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Architektonischen untertan ist.“ (9/1, 78)

Man kann vielleicht sagen, das Broch von seiner eigenen Perspektive aus

Joyces Versuch betrachtet, indem er behauptet, das der >>Erzahler als Idee<<,

der vom Gesichtspunkt der Idee das Beobachtungsobjekt anschaut, eingefuhrt

worden ist, das heist Joyce sich mit Hilfe der Idee eine neue Einheit geschaffen

hat. Zwar ist es sehr fragwurdig, ob Joyce wirklich darauf gezielt hat, aber das

ist mindestens, was Broch best説igtfinden konnte.

In der Malerei ist es nicht anders. Die hinter oberfachlichen Phanomenen

verborgen liegende Idee steht im Mittelpunkt: "immer geht es darum, das

zuf追lligeund empirische Objekt durch eines zu ersetzen, dessen Wurzeln ins

Logische und in die pl剖onischeIdee reichen.“(9/1,80)

Was die Relativitatstheorie betrifft, ist es uber meine Fahigkeit weit hinaus,

zu verfizieren, wie weit richtig Broch diese Thorie verstanden, deshalb mochte

ich mich damit begnugen, festzustellen, was er darin gefunden zu haben glaubt.

Die >>Setzung der Setzung<< ist nichts anderes "als die Introduzierung des

ideellen Beobachters in das Beobachtungsfeld, wie dies von den empierischen

Wissenschaften, zum Beispiel von der physikalischen Relativitatstheorie, ganz

unabh出19i9von erkenntnistheoretischen Ansichten langst durchgefuhrt worden

ist.“(1, 623) Hier geht es um "die Introduzierung des ideellen Beobachters“,

der von der Perspektive der Idee aus das ga回 eGeschehen betrachten kann. Es

ist kein Wunder, das Broch behauptet, dieselbe Methode und Gedankensweise

festgestellt zu haben.

Wie schon erw泊mt,geht er davon aus, der Mensch sei "Gottes Ebenbild“,

und er scheint seine idealistische These in diesen Beispielen richtig bestatigt zu

finden. Dadurch konnte er in einer unwirklich gewordenen Welt Hoffnung auf

die Zukunft hegen.

Page 10: Uber die Geschichtsanschauung bei

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3

Wir mussen uns mit dem heiklen Thema Heilsbringer befassen. Broch

spricht sehr oft davon. Aber es scheint so, das man sich nicht so ausfuhrlich

damit beschaftigt hat, obwohl die Geschichtsthorie ohne dieses Thema nicht

behandelt werden kann. 1m Zusammenhang mit der >>Setzung der Setzung<<

behauptet er, "das diese Sehnsucht nach dem heilsbringenden Helden, der kraft

seiner eigenen ethischen Existenz den Logos seines Tuns bewahrheitet und

damitzumMi批 lp国立teines jeden umfassenden religiosen Wertkreises erhoben

wird, das diese Sehnsucht nichts anderes ist als der sinn白lligeAusdruck fur

die anthropomo中heAllbeseelung der Welt durch >>Setzung der Set却 ng<<.“

(10/2, 162) Der Heilsbringer, der zwischen Idee und Wirklichkeit vermittelt,

verkorpert die >>Setzung der Setzung<<!

Menschen sind nicht imstande, die einmal zerstorte Welt auferstehen zu

lassen, so braucht man den Heilsbringer, der z凹nMittelpunkt eines religi凸sen

Wertsystems werden kann. Dann beginnt wieder ein von Broch mit Zuversicht

oft behaupteter Kreislauf, in dessen Zentrum das Religiose steht. Es geht um

"den Heilsbringer, der in seinem eigenen Tun das unbegreifbare Geschehen

dieser Zeit sinnvoll machen wird, auf das die Zeit neu gezahlt werde.“(1, 714)

加lankann gut festste11en, das es bei Broch ganz folgerichtig ist, auf

den Heilsbringer angewiesen zu sein, denn die Zeit bedeutet keine Reife,

keine Entwicklung und keinen F ortschri抗, sondem etwas, was nur den Tod

herbeibringen wird.

4. Zusammenfassung

Der am Anfang dieses Aufsatzes erwahnte Widerspruch sol1 hier wieder

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behandelt werden. Warum ist er in diesen Widerspruch geraten?

"Gottes Ebenbild“ist die wesentlichste Basis fur seine Theorie. Deshalb ist

es eigentlich merkwurdig genug, das er diesen Ausdruck beliebig gebraucht

hat. Man kann leicht von seiner theoretischen Inkonsequenz sprechen oder

es vielleicht als eine ungereimte Logik ab町民 aberman mus sich damit

ausfuhrlich befassen, weil etwas Wichtiges bei diesem unbewusten F ehler

vorhanden zu sein scheint, wie Freud daraufhingewiesen hat.

Es kann ohne weiteres festgestellt werden, das Broch uber sich selbst glaubte,

er sei "Gottes Ebenbild“, aber es ist eれiVas企aglich,ob er uber andere恥1enschen

so glaubte; es scheint so, das es sozusagen zwei Wirklichkeiten gibt, eine

von Broch und eine andere der anderen Menschen. Broch glaubte, das seine

Wirklichkeit die der anderen uberwinden wurde und dieser Glaube druckte sich

in seiner Theorie >>Setzung der Setzung<< aus. Broch war davon fest uberzeugt,

das der Heilsbringer eines Tages und zwar in einer nicht so fernen Zukunft

kommen wurde und das dadurch jenes ersehnte Religionssystem wieder

begrundet werden wurde, das heist, er hat als Prophet keine Zusammenarbeit

von anderen恥1enschenerwartet. Auch hier zeigt sich seine Tendenz, die bisher

geleisteten menschlichen Bemuhungen und die geschichtlichen Aufhaufungen

geringzuschatzen. Man kann sagen, das sich Broch der Wirklichkeit nicht

genug zugewendet hat, indem er sich an dem Glauben des automatischen

geschichtlichen Ablaufs festgehalten hat.

Spater ist es klar geworden, das sich diese Prophetie nicht verwirklicht hat.

Er muste seine Gedanken verandern. Bei Der Tod des 陪rgilhandelt es sich

auch um den Heilsbringer, aber die Sehnsucht nach ihm ist ernstlicher und

dringlicher geworden, wobei es vielmehr um die Intuition des Dichters, als um

die theoretisch gewinnende Erkenntnis ging: "schlummerte der Erloserwunsch

nicht im Dichter mit noch weit groβerer Traumesgrose als in allen anderen

Menschen?“(4, 360) Man mus sich点irseine Ankunft vorbereiten“(4, 361)

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und dabei sollte der Erloser dabei "d町 chdas Opfer“(ebd.) herbeigefuhrt

werden sollte. Man sieht klar hier, daβer meint, das sich der geschichtliche

Ablauf nicht mehr automatisch entwickelt, sondern mit Bemuhungen

herbeigebracht werden mus.

ledoch hat sich die Welt weiter verschlechtert und der ersehnte Heilsbringer

ist leider nicht gekommen. Broch, der bittere Tatsache erkannt hat, versucht,

sich mit neuen Gedanken, in deren Mittelpunkt der Begriff "Irdisch-Absolutes“

steht, damit auseinanderzusetzen.

Das besagt vermutlich, das er selbst "却rErde zuruckverwiesen“(12, 471)

ist; er m凶3teeingeben, das der Mensch leider nicht direkt "Gottes Ebenbild“,

sondem das "Irdisch-Absolute“ist, d.h. etwas, was zwar erdverbunden, aber in

der Beziehung mit der Idee steht.

Dabei handelt es sich wieder um das wissenschaftlich Errungene, also um

die Relativitatstheorie: "es ist damit doch die Menschengestalt in die exakten

Wissenschaften eingefuhrt, allerdings nicht als Ebenbild Gottes und nicht als

biologisches oder okonomisches Wesen, sondem als ein abstraktes Gebilde,

dem auser den Eigenschaften einer prazis bestimmbaren, prazis mesbaren

physikalischen Beobachtungsgabe nichts Menschliches belassen worden ist und

das daher - physikalische Person an sich - bezeichnet werden konnte.“(12,

471) Das ist doch eine unglaubliche unlogische Entwicklung! Fruher hat er die

Relativitatsthorie zugunsten seiner Theorie "Setzung der Setzung“benutzt und

diesmal hat er dieselbe Theorie wieder fiir seine Theorie "Irdisch-Absolutes“

verwendet. Dieselbe wissenschaftliche Theorie ist fiir verschiedene theoretische

Ergebnisse zu Rate gezogen worden! Unglaubliches Verhalten! Es ist klar, das

Broch, um seine eigene Thorie zu rechtfertigen, die Relativitat benutzt hat.

Bei der RechtschafTung geht es um die ,,))Recht-erzeugende Person<<“(12,

472), "eine rechtschaffende Person“(ebd.): "gleich der analog konstruierten

)>physikalischen Person<< wird sie, ungeachtet aller Abs回 ktheit,den Vorzug

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konkreter Irdischkeit, den Vorzug der企uchtbarenEmpirie白rsich in Anspruch

nehmen konnen, denn gleichjener ist sie die Tragerin des >>Irdisch-Absoluten<<.“

(12,472)

Mit dieser neuen Definition des Menschen hat er versucht, sich gegen die

neue Wirklichkeit zu kon仕ontieren,aber es ist sehr fragwurdig, ob diese

Definition uberzeugend wirkt, denn in einem Brief muste er den Menschen

anders definieren: "Der Mensch ist ein erbarmungsloses Vieh und handelt

notgedrungen seinem Vorteil gemas.“(13/2,438)

Es ist die Tatsache und Wirklichkeit, das m釦 Z却u略I喝g副le白ich"Go州抗e白sEben巾1由bi凶il耐ld‘“‘:,

d伽as"Ird吋di臼sch-孔.

a幼be町rwa邸S剖 w叫i泊ins凶sche叩nist幻t,es ist却 denkenund zu handeln, erkennend diese

Tatsache, ohne dabei den idealen Gesichtspunkt zu verlieren. Broch, der

idealistisch und deduktiv denkt, begeht immer wieder diesen Fehler, die

Wirklichkeit nur von der idealorientierten Perspektive aus zu behandeln,

deshalb ist er immer benotigt, seinen Gedanken angesichts der Wirklichkeit zu

verandem.

Es ist eine Verwirklichung der Demokratie, die Broch angesichts des

Ausbruch der Massenwahn ungeahnten Ausmases gehofft hat. Dabei bleibt

religionsorientierter Glaube unverandert, denn die Demokratie ist die

Vorbereitungarbeit: es geht immer um "die Impulse zur Religionsschaffung“

(12,531), denen man nicht zu entgehen vermag; "Die Demokratie kann zu einer

solchen Zukunftsentwicklung immer nur Vorbereitungsarbeit leisten.“(ebd.)

Meine nachste Aufgabe besteht darin, seine konkreten Vorschlage fur die

Demokratie im Zusammenhang mit seinen bisherigen Theorien zu prufen.

Page 14: Uber die Geschichtsanschauung bei

96

ANMERKUNGEN

Text:

Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe

Suhrkamp Verlag

Herausgegeben Paul Michael Lutzeler

(Die in den Klammem gezeigten Zahlen entsprechen jeweils dem Band und der

Seite.)

(1) Nietzsche, Friedrich: AIso sprach Zarathustra, Alfred Kroner Verlag, Stu句art,S.

32.

(2) Weigel, Robert G: Zur geistigen Einheit von Hermann Brochs Werk:

Massenpsychologie, Politologie, Romane; Francke Verlag, Tubingen und Basel,

1994, S. 95.

(3) Vollhardt, Friedrich: Hermann Brochs geschichtliche Stellung Studien zum

philosophischen Fruhwerk und zur Romantrilogie >>Die Schlafwandler<<

(1914-1932), Niemeyer Verlag, Tubingen, 1986, S. 203.

(4) Krapoth, Hermann: DICHTl別GUNDP田 LOSOPHIEE町ESTUDIE ZUM

U屯RKHERMANN BROCHS, Bouvier Verlag, Bonn, 1971, S. 107-108.

(5) Diese Denkweise Brochs 1紛 tsich ausfuhrlich in meiner Abhandlung

mterpretIeren.

Fukuyama, Satoru: Die Struktur des Ich bei Hermann Broch - unter besonderer

Berucksichtigung des Begriffs Wahrheit -: FOREIN LANGUAGES &

LITERATURE, Vol. 34 No. 1.