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Ubi bene, ibi patria – rational choice. Die lateinische Sentenz ubi bene, ibi patria bedeutet in direkter Übersetzung: wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland. Oder in einer leicht zugespitzten Umschreibung in der heutigen Wissenschafts- sprache: Die Wahl der nationalen Identität des Einzelnen beruht nicht so sehr auf einem Ge- meinschaftsgefühl, das ihm mitgegeben wurde, sondern mehr auf der vernunftgemäßen Abwägung der Vorteile und Nachteile in Be- zug auf persönliche Interessen. In gesellschaftswissenschaftlicher Terminologie wird ein solches Abwägen rational choice genannt. Die nationale Identität manifestierte sich im 19. Jahrhundert oft durch den Anschluß an eine der damals vielen Nationalbewegungen, die die Schaffung eines eigenständigen und geeinten Nationalstaates zum Ziel hatten. Dem amerikanischen Nationalismusforscher Mi- chael Hechter zufolge kann der Anschluß an eine Nationalbewegung mit der Theorie des rational choice erklärt werden. Hechters Aus- gangspunkt lautet: „It can be expected that everyone will prefer more wealth, power and honour to less“. Man schließt sich demzu- folge einer Nationalbewegung an, weil man dadurch Vorteile für sich selbst erwartet. Mit Hechters Worten: „The members of any eth- nic group will engage in collective action only when they estimate that by doing so they will receive a net individual benefit“. 1 Für Menschen mit einem ausgeprägten Nationalbewusstsein ist dieser Standpunkt provokant. Unter Nationalismusforschern ist er weniger kontrovers, wenngleich die Anwendung der Rational-Choi- ce-Theorie bei der Erklärung der Wahl einer nationalen Identität hier ebenfalls mitunter auf Kritik stößt. Die wissenschaftliche Kritik hebt hervor, dass dieses Erklärungsmodell zu wenig die Weltanschauung, kollektive Werte, Erinnerungen, Symbole und Gefühle berücksich- tigt. Sie bestreitet, dass der Nationalismus auf die Jagd nach Vortei- len reduziert werden kann. 2 Das ist sicherlich richtig, schließt aber nicht aus, dass Rational-Choice-Erklärungen ein Stück des Weges ihre Berechtigung haben. Dieser Artikel will die Reichweite der Rational-Choice-Erklä- rung in der deutsch-dänischen Grenzregion seit dem Aufkommen des nationalen Gegensatzes um 1840 bis in das Revolutionsjahr 1848 untersuchen. 3 Das deutsch-dänische Grenzland erstreckte sich von der Königsau im Norden bis zur Eider im Süden und wurde auf dänischer Seite „Sønderjylland“ oder „Slesvig“ genannt, auf deut- scher Seite „Schleswig“. Vom 13. Jahrhundert bis 1864 war Schles- wig ein eigenständiges Herzogtum innerhalb der dänischen Monar- chie, anschließend – zwischen 1867 und 1920 – unter preußischer Herrschaft und wurde 1920 in der Mitte geteilt; Nordschleswig gehört zu Dänemark und Südschleswig mit Flensburg zu Deutsch- land. Das Herzogtum Schleswig zwischen deutschem und dänischem Einfluss und Kultur. Das Herzogtum Schleswig ist als Untersuchungsobjekt gut 1 Michael Hechter: Rational choice theory and the study of race and ethnic relations, in: John Rex & David Mason (ed.): Theo- ries of Race and Ethnic Relations, Cam- bridge 1986, S. 264-79, hier S. 269 u. 271. 2 Vgl. Anthony D. Smith: Nationalism and Modernism. A critical survey of recent theories of nations and nationalism. Lon- don & New York 1998. 3 Ich habe mich bereits früher mit dem Thema beschäftigt: siehe Hans Schultz Hansen: Danskheten i Sydslesvig 1840- 1918 – som folkelig og national bevægel- se, Flensborg 1990 (dt. Zusammenfas- sung S. 361-79); Ders.: Den danske be- vægelse i Sønderjylland ca. 1838-50, in: Historie ny række 18, 1990, S. 353-395; Ders.: Hjemmetyskheden i Nordslesvig 1840-1867 – den slesvig-holstenske be- vægelse, I-II, Aabenraa 2005. Dieser Arti- kel beruht auf den Ergebnissen dieser Ab- handlungen. Hans Schultz Hansen: Ubi bene,ibi patria Rational choice und nationale Identität in der deutsch-dänischen Grenzregion 1840-1848 Hans Schultz Hansen Ubi bene, ibi patria 19

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Ubi bene, ibi patria – rational choice. Die lateinischeSentenz ubi bene, ibi patria bedeutet in direkterÜbersetzung: wo es mir gut geht, dort ist meinVaterland. Oder in einer leicht zugespitztenUmschreibung in der heutigen Wissenschafts-sprache: Die Wahl der nationalen Identität desEinzelnen beruht nicht so sehr auf einem Ge-

meinschaftsgefühl, das ihm mitgegeben wurde, sondern mehr aufder vernunftgemäßen Abwägung der Vorteile und Nachteile in Be-zug auf persönliche Interessen. In gesellschaftswissenschaftlicherTerminologie wird ein solches Abwägen rational choice genannt.

Die nationale Identität manifestierte sich im 19. Jahrhundert oftdurch den Anschluß an eine der damals vielen Nationalbewegungen,die die Schaffung eines eigenständigen und geeinten Nationalstaateszum Ziel hatten. Dem amerikanischen Nationalismusforscher Mi-chael Hechter zufolge kann der Anschluß an eine Nationalbewegungmit der Theorie des rational choice erklärt werden. Hechters Aus-gangspunkt lautet: „It can be expected that everyone will prefermore wealth, power and honour to less“. Man schließt sich demzu-folge einer Nationalbewegung an, weil man dadurch Vorteile fürsich selbst erwartet. Mit Hechters Worten: „The members of any eth-nic group will engage in collective action only when they estimatethat by doing so they will receive a net individual benefit“.1

Für Menschen mit einem ausgeprägten Nationalbewusstsein istdieser Standpunkt provokant. Unter Nationalismusforschern ist erweniger kontrovers, wenngleich die Anwendung der Rational-Choi-ce-Theorie bei der Erklärung der Wahl einer nationalen Identität hierebenfalls mitunter auf Kritik stößt. Die wissenschaftliche Kritik hebthervor, dass dieses Erklärungsmodell zu wenig die Weltanschauung,kollektive Werte, Erinnerungen, Symbole und Gefühle berücksich-tigt. Sie bestreitet, dass der Nationalismus auf die Jagd nach Vortei-len reduziert werden kann.2 Das ist sicherlich richtig, schließt abernicht aus, dass Rational-Choice-Erklärungen ein Stück des Wegesihre Berechtigung haben.

Dieser Artikel will die Reichweite der Rational-Choice-Erklä-rung in der deutsch-dänischen Grenzregion seit dem Aufkommendes nationalen Gegensatzes um 1840 bis in das Revolutionsjahr1848 untersuchen.3 Das deutsch-dänische Grenzland erstreckte sichvon der Königsau im Norden bis zur Eider im Süden und wurde aufdänischer Seite „Sønderjylland“ oder „Slesvig“ genannt, auf deut-scher Seite „Schleswig“. Vom 13. Jahrhundert bis 1864 war Schles-wig ein eigenständiges Herzogtum innerhalb der dänischen Monar-chie, anschließend – zwischen 1867 und 1920 – unter preußischerHerrschaft und wurde 1920 in der Mitte geteilt; Nordschleswiggehört zu Dänemark und Südschleswig mit Flensburg zu Deutsch-land.

Das Herzogtum Schleswig zwischen deutschem und dänischem Einfluss undKultur. Das Herzogtum Schleswig ist als Untersuchungsobjekt gut

1 Michael Hechter: Rational choice theoryand the study of race and ethnic relations,in: John Rex & David Mason (ed.): Theo-ries of Race and Ethnic Relations, Cam-bridge 1986, S. 264-79, hier S. 269 u.271.2 Vgl. Anthony D. Smith: Nationalism andModernism. A critical survey of recenttheories of nations and nationalism. Lon-don & New York 1998.3 Ich habe mich bereits früher mit demThema beschäftigt: siehe Hans SchultzHansen: Danskheten i Sydslesvig 1840-1918 – som folkelig og national bevægel-se, Flensborg 1990 (dt. Zusammenfas-sung S. 361-79); Ders.: Den danske be-vægelse i Sønderjylland ca. 1838-50, in:Historie ny række 18, 1990, S. 353-395;Ders.: Hjemmetyskheden i Nordslesvig1840-1867 – den slesvig-holstenske be-vægelse, I-II, Aabenraa 2005. Dieser Arti-kel beruht auf den Ergebnissen dieser Ab-handlungen.

Hans Schultz Hansen:Ubi bene,ibi patria Rational choice und nationaleIdentität in der deutsch-dänischenGrenzregion 1840-1848

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geeignet. Es war bis 1864 wie auch die Nachbarherzogtümer Hol-stein und Lauenburg im Süden Teil des dänisch-schleswig-holstei-nisch-lauenburgisch-isländischen Konglomeratstaats unter der Herr-schaft des dänischen Königs. Ursprünglich war Schleswig ein däni-sches Herzogtum, das zur Versorgung der jüngeren Linie des däni-schen Königshauses errichtet worden war, aber schon in der Mittedes 13. Jahrhunderts gewannen die holsteinischen Grafen Einfluß,so dass es im Laufe des Mittelalters immer stärker mit Holstein ver-bunden wurde. Plattdeutsch breitete sich nach Norden aus. Auf einerLinie etwa zwischen den Städten Husum und Schleswig sowie in derStadt Flensburg wurde es die Alltagssprache der Bewohner. In Süd-schleswig wurde Plattdeutsch und später Hochdeutsch auch Kir-chensprache und später Schulsprache, und im ganzen Herzogtumwurde Deutsch außerdem Rechts- und Verwaltungssprache. Daranänderte sich auch dadurch nichts, dass sowohl Schleswig als auchHolstein seit 1460 unter der Oberherrschaft des dänischen Königsvereint waren. Im 19. Jahrhundert schritt die Ausbreitung des Platt-deutschen als Volkssprache weiter voran, indem die große Mehrzahlder Einwohner der Halbinsel Angeln zwischen Flensburg undSchleswig ihren ursprünglich dänischen Dialekt „Anglitisch“ zurJahrhundertmitte durch Plattdeutsch ersetzt hatte. In Nordschleswigund im mittleren Südschleswig war Dänisch dagegen weiterhin dieVolkssprache. Entlang der Westküste Südschleswigs war die Volks-sprache Nordfriesisch.

Beim Aufkommen des Nationalismus im frühen 19. Jahrhundertwar das Herzogtum Schleswig also sowohl deutschem als auch däni-schem kulturellem Einfluß ausgesetzt. Den Schleswigern boten sichsomit die Voraussetzungen, zwischen Deutsch und Dänisch wählenzu können. Ab ca. 1840 konkurrierten eine dänische und eine schles-wig-holsteinisch-deutsche Nationalbewegung um die Gunst derSchleswiger. Damit bekamen die Schleswiger auch die Möglichkeit,zwischen zwei nationalstaatlichen Modellen zu wählen. Zunächstkonnten sie sich indes auch entscheiden, eine abwartende Haltungeinzunehmen. Dies umso mehr, als die Bevölkerung des Herzog-tums von vornationalen Identitäten geprägt war.

Vornationale Identitäten in Schleswig.4 Die vornationalen Identitäten inSchleswig sind bisher nur in begrenztem Maße erforscht worden.Fest steht, dass mehrere von ihnen ineinander griffen. Am besten do-kumentiert ist eine grundlegende Identifikation mit der dänischenMonarchie und dem König als deren integrative Gestalt. Dies giltnamentlich für Orte, in denen sich in der Zeit der Aufklärung amEnde des 18. Jahrhunderts gesamtstaatspatriotische und königstreueStrömungen manifestierten – sowohl in dänischer wie deutscherSprache. Sie wirkten mehrere Jahrzehnte ins 19. Jahrhundert hinein.Aus einigen erhaltenen Bauerntagebüchern aus Nordschleswig undanderen schriftlichen Zeugnissen geht hervor, dass es auch auf demLand eine fest verwurzelte Königstreue und Identifikation mit derMonarchie gab. Wenn ein Bauer auf der Insel Alsen in der zweiten

4 Siehe Hans Schultz Hansen: Hjemme-tyskheden i Nordslesvig 1840-1867 – denslesvig-holstenske bevægelse, vol. I,Aabenraa 2005, S. 93-106.

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Hälfte des 18. Jahrhunderts schrieb „wir hier in Dänemark“, deutetdies die Existenz einer dänischen „Ethnie“ wie im Königreich Däne-mark selbst an. Aber damit bewegen wir uns schon auf dem unsiche-ren Feld der Vermutung. Unklar ist auch, wie stark die Identifikationmit König und Monarchie auf dem Land in Südschleswig war.

Dagegen können wir sicher mit einer weit verbreiteten schles-wigschen regionalen Identität rechnen. Allerdings sehen wir derenKonturen erst richtig, als deren Träger in den 1840er Jahren auf ein-mal Druck und Locktönen von den zwei nationalen Bewegungenausgesetzt waren. Auch hier sind unsere Kenntnisse bis auf weiteresbegrenzt auf Nordschleswig und Flensburg. Diese Identität soll wei-ter unten in diesem Artikel näher betrachtet werden.

Die Mitglieder der schleswig-holsteinischen Ritterschaft, dietrotz der Grenze zwischen Schleswig und Holstein eng miteinanderverbunden waren, haben vermutlich einen protonationalen schles-wig-holsteinischen ‘Landespatriotismus’ gepflegt, der – ausgehendvon der gemeinsamen Landesuniversität der Herzogtümer in Kiel –auch in der akademischen Elite verbreitet war. Es gab also mehrereElemente für eine schleswig-holsteinische „Ethnie“. Aber auch hier

Der Landespatriotismus der schleswig-hol-steinischen Ritterschaft war eng mit ihrenPrivilegien verbunden. 1797 wurden sievon F.C. Jensen und D.H. Hegewisch publi-ziert.

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fehlt grundlegende Forschung. Für die breite Bevölkerung war derName Holstein möglicherweise auch in Gebrauch für Schleswig,wie man es selbst aus dessen nördlichsten Teil kennt – die Andeu-tung eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit Holstein, aber viel-leicht eher der Wunsch der Schleswiger, mit dem mächtigeren undreicheren Nachbarherzogtum assoziiert zu werden. Diese Anwen-dung des Namens Holstein ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt. AmEnde des 18. Jahrhunderts wurde jedoch die Bezeichnung Dänisch-holstein für die nördlichen, dänisch sprechenden Teile Schleswigsgebräuchlich. Beide Formen befinden sich in den beiden ersten Jahr-zehnten des 19. Jahrhunderts allerdings auf einem schnellen Rück-zug.

Schließlich existierten noch verschiedene Formen subregionalerund lokaler Identitäten. Sie waren am stärksten an der südschleswig-schen Westküste ausgeprägt, wo eine starke Landwirtschaft Hand inHand ging mit überkommenen Traditionen einer kommunalenSelbstverwaltung der bäuerlichen Oberschicht. Es gab sie aber auchauf einigen Inseln und Halbinseln an der Ostküste. Deren Bedeutungscheint indes meist nur lokal begrenzt gewesen zu sein.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung. Schleswigs Wirt-schaftsleben war während des ganzen 19. Jahrhunderts von derLandwirtschaft geprägt. Von etwa 1830 an erlebte die schleswigscheLandwirtschaft einen steigenden Wohlstand. Die fruchtbarenMarschwiesen der Westküste ermöglichten einen großen Absatz le-benden Schlachtviehs nach Großbritannien, der in den 1840er Jah-ren solide Einkommen brachte. Er setzte sich auf den eher magerenBöden des schleswigschen Höhenrückens fort, wo die für die weite-re Auffütterung in der Marsch vorgesehenen Rinder gezüchtet wur-den. Meiereiwirtschaft und Milchviehzucht spielten bei der Ent-wicklung des Wohlstands eine bedeutende Rolle im südlichen Teilder Ostküste: im Dänischen Wohld, auf den Halbinseln Schwansen,Angeln und im Sundewitt sowie auf der Insel Alsen. Hier war auchder Getreideanbau wichtig. Das Getreide wurde überwiegend nachHamburg geliefert. Weiter im Norden lag das Hauptgewicht auf derRindfleischproduktion. Die Landwirtschaft erlebte in dieser Zeiteine Reihe Fortschritte durch Mergelung und Dränierung des Bo-dens, Schwingpflug, Dreschmaschinen, neue Rinderrassen, neueButterherstellungsmethoden, Genossenschaften und Sparkassen.Sozial gesehen war die schleswigsche Landwirtschaft gekennzeich-net durch Bauern mit mittelgroßen Betrieben im Eigenbesitz. Nur inden Gutsbezirken im Dänischen Wohld und im Südosten Schwan-sens sowie den östlichen Teilen Angelns dominierte die Großland-wirtschaft mit Guts- und Meierhöfen und zugehörigen Bauernhöfenund Häuslerstellen in Zeitpacht. Auf der Insel Alsen und im Sunde-witt befanden sich die großen Güter des Herzogs von Augustenborg.Kulturell war die Epoche dadurch geprägt, dass viele Bauern die Artund Weise des Bauens, der Gebäudeeinrichtung, der Bekleidung unddes Konsums von den Gutshöfen und dem städtischen Bürgertum

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übernahmen. Das galt vor allem für die wohlhabenden Gegenden:die Marschlandschaft an der südschleswigschen Westküste, Angelnund den Landstrich um Hadersleben Richtung Nordost. Hier wuch-sen das Standesbewusstsein der Bauern und der Abstand zu den un-teren Schichten der Landgemeinde. In den mittleren Gebieten wardagegen der Bauernstand nivellierter und geprägt von einem tradi-tionellen Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Bauern und ihrenBediensteten. Hier war die Lebensart nicht so verfeinert.5

In den Landstädten setzte die frühe Industrialisierung in den1840er Jahren ein. Jeder Ort, der auf sich hielt, bekam seine Eisen-gießerei, die größeren sogar zwei. Gleichzeitig schossen die Tabak-fabriken in vielen Orten aus dem Boden. Papier- und Glasherstel-lung erhielten hier und da Bedeutung. Der größte schleswigsche In-dustriezweig, die Ziegelproduktion, entwickelte sich indes auf demLand, wo er im Raum Flensburger Förde, besonders am Nordufer

Die frühe Industrialisierung Schleswigs waru.a. durch das Entstehen vieler Tabakfabri-ken gekennzeichnet. Tabakstempel ver-schiedener schleswigscher Tabakfabrikenaus den Jahren 1810-1856. (aus: Sønder-jysk Månesskrift 1978, S. 135)

5 Hans Schultz Hansen: Det sønderjyskelandbrugs historie 1830-1993, Aabenraa1994, S. 13-98.

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um Gravenstein, eine große Rolle spielte. Das traditionelle Stadtge-werbe, Handwerk, Handel und Seefahrt, beschäftigte weiterhin diemeisten Stadtbewohner. Der Hauptort Flensburg war das Handels-zentrum des Herzogtums, wo es die großen Handelshäuser mit ange-schlossenen Reedereien gab. Die Stadt Schleswig war das Verwal-tungszentrum. Apenrade war eine ausgeprägte Seefahrerstadt. Hiergab es auch einen umfänglichen Schiffsbau. Für alle Städte war vonBedeutung, dass sie von einem Umland mit florierender Landwirt-schaft umgeben waren, für das sie das Zentrum darstellten. Überallwar die Arbeiterklasse im Wachstum begriffen, besonders der unge-lernte Anteil, doch die sozialen Gegensätze waren noch nicht so aus-geprägt, dass sich sozialer Protest manifestierte und eine Arbeiterbe-wegung entstand.6

Insgesamt stellt sich das seinerzeitige Herzogtum Schleswig alseine Region dar, die von einer moderaten Modernisierung undWachstum geprägt war, ohne gewaltsamen Zusammenbruch der so-zialen Strukturen, die durchgängig recht ausgeglichen waren. DieForschung hat gezeigt, dass es dennoch solche Regionen waren, indenen nationale Bewegungen die besten Möglichkeiten besaßen,sich durchzusetzen.7 Gleichzeitig war Schleswig von solch großeninneren Gegensätzen geprägt, dass es zu einer Betrachtung des Zu-sammenhangs zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ent-wicklung und nationalen Sympathien herausfordert.

Quellen und Methode. Der deutsch-dänische nationale Konflikt spieltesich auf einem verhältnismäßig kleinen Territorium von knapp 9000Quadratkilometern ab mit rund 350 000 Einwohnern in den 1840erJahren. Er war am heftigsten im nördlichen und mittleren Teil, wosich die beiden nationalen Bewegungen mit unterschiedlicher Stärkegeltend machen konnten, während der südliche Teil ganz vomDeutschtum durchdrungen wurde. Die große Mehrzahl der Schles-wiger konnte lesen und schreiben. Deshalb brachte der nationaleKampf reichhaltig schriftliches Material hervor, gedrucktes wieauch ungedrucktes, das nach internationalen Maßstäben als in däni-schen und deutschen Bibliotheken und Archiven sehr gut erhaltenbezeichnet werden kann. Die räumliche Begrenztheit des Untersu-chungsgebietes zusammen mit der günstigen Quellenlage macht esmöglich, die individuelle nationale Stellungnahme bei einer großenZahl Schleswiger zu betrachten. Zwar sind nur wenige Tagebücherund Briefe erhalten, in denen es Hinweise auf Motive für die natio-nale Stellungnahme gibt, und die Repräsentativität dieser Aussagenist zudem kritisch zu betrachten – dies gilt für später niedergeschrie-bene Erinnerungen umso mehr. Deshalb soll eine andere Methodeverfolgt werden: Indem durchgängige Muster in der frühen nationa-len Stellungnahme der Bevölkerung aufgezeigt werden, könnenBausteine für eine Erklärung der Motive gesammelt werden, die hin-ter der nationalen Wahl standen. An diesem Punkt kommt die Unter-suchung auf individueller Ebene ins Bild zusammen mit der Unter-suchung der nationalen Agitation.

6 Hans Schultz Hansen: Den tidlige indus-trialisering i hertugdømmet Slesvig 1830-1864, in: Sønderjyske Årbøger 2006,S. 141-168.7 Hierzu Øyvind Østerud: Hva er nasjona-lisme? Oslo 1994.

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Folgendes soll untersucht werden: Erstens, ob in der Agitationder Nationalbewegungen unterschiedliche ökonomische und sozialeInteressen auszumachen sind. Zweitens, ob der Anschluss an die Na-tionalbewegungen in den verschiedenen Gegenden Schleswigs einedeutliche Übereinstimmung mit den jeweiligen ökonomischen undsozialen Strukturen zeigt. Und drittens, ob der Anschluss an die bei-den Nationalbewegungen in den einzelnen sozialen Schichten unter-schiedlich war, d.h. ob sie verschiedene soziale Schwerpunkte be-saßen. Können zusammenhängende Muster zwischen der ökonomi-schen und sozialen Agitation der Nationalbewegungen, deren Zu-spruch in den verschiedenen wirtschaftlichen Subregionen Schles-wigs und in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen festge-stellt werden, haben wir ein aussagekräftiges Indiz dafür, dass öko-nomische und soziale Verhältnisse eine signifikante Rolle bei derWahl der nationalen Identität gespielt haben.

Bezüglich der Wahl der nationalen Identität der Schleswigerdurch Anschluß an eine der nationalen Bewegungen muß jedocheine methodische Reflexion angestellt werden: Traf das einzelne In-dividuum seine Wahl primär als aktiven Anschluss an die betreffen-de Bewegung, weil diese eine größere Anziehungskraft als die ande-re ausübte, oder geschah dies eher als defensive Abwahl aus der an-deren Bewegung, weil diese abstoßend wirkte ? War es vielleichtauch die Wahl zwischen dem größeren oder kleineren Übel, die manso lange wie möglich hinausschob und erst traf, als man in einer zu-gespitzten Lage dazu genötigt wurde? Unter allen Umständen kanndie Wahl auf einem rational choice im Hinblick auf die persönlichenInteressen beruhen. Bei einem freiwilligen Anschluss hat diese Er-klärung natürlich ein deutlich stärkeres Gewicht als bei einer er-zwungenen Abwahl.

Das Quellenmaterial besteht vor allem aus der nationalen Agita-tion in der Presse und in Flugschriften, der schleswigschen Stände-zeitung, in erhaltenen Archiven der nationalen Vereinigungen undnicht zuletzt aus den seinerzeitigen zahlreichen Eingaben und Peti-tionen, die zur Beschaffung von Unterschriften in Umlauf gebrachtwurden. Sie sollten die Zustimmung der Bevölkerung zu den politi-schen Forderungen und Wünschen dokumentieren, die die Initiato-ren an die wechselnden Regierungen richteten oder an die frühenVertretungen des Volkes, die in dieser Epoche einer beginnendenDemokratisierung das Licht des Tages erblickten.

Zwei nationale Projekte. Seit dem Jahr 1815 begannen sich deutscheund dänische Akademiker für die Verfassung, Geschichte und Spra-che des Herzogtums Schleswig zu interessieren. Das Interesse dien-te der Legitimierung politischer Forderungen oder lieferte Inspira-tionen hierfür. Das entsprach der Phase A in Miroslav Hrochs Drei-phasenmodell der Mobilisierung nationaler Bewegungen.8

In den 1830er Jahren wurden in der dänischen Monarchie bera-tende Ständeversammlungen eingeführt. Das Herzogtum Schleswigerhielt eine eigene Ständeversammlung, die in der Stadt Schleswig

8 Zuletzt beschrieben in Miroslav Hroch:Das Europa der Nationen, Göttingen 2005,S. 45-47.

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zusammentrat. Im Umfeld dieser Ständeversammlungen, die zwi-schen 1836 und 1846 jedes zweite Jahr stattfanden, entstand eine po-litische Öffentlichkeit, die von den Pionieren der Nationalbewegun-gen genutzt wurde. Um 1840/41 wurden dänische bzw. schleswig-holsteinische nationale Einstellungen bestimmend für die Parteibil-dung in den schleswigschen Ständen und überschatteten bald den ur-sprünglichen Gegensatz zwischen Liberalen und Konservativen.Seit dem Beginn der 1840er Jahre entstanden zwei nationale Bewe-gungen mit ihren jeweils eigenen Nationalstaatsprojekten, zwischendenen die Schleswiger wählen konnten.

Die schleswig-holsteinische Bewegung gehörte zum Typus na-tionaler Bewegungen, deren Ziel von vornherein verfassungspoli-tisch ausgerichtet war. Schleswig und Holstein waren seit dem Mit-telalter eng miteinander verbundene Staaten, die „auf ewig ungeteiltzusammen bleiben“ und dafür eine gemeinsame, liberale Verfassungerhalten sollten. Die Herzogtümer waren außerdem gemäß dieserschleswig-holsteinischen Auffassung selbständige Staaten, in denender dänische König zwar Regent war, aber nicht als König von Dä-nemark, sondern als Herzog von Schleswig und Holstein. Generellsollte die Verbindung zwischen den Herzogtümern und dem König-reich Dänemark so weit wie möglich begrenzt werden.

In der ersten Hälfte der 1840er Jahre entwickelte die Schleswig-Holstein-Bewegung ein umfassendes Programm für eine schleswig-holsteinische Staatsbildung. Neben der Vereinigung der schleswig-schen und holsteinischen Stände und einer gemeinsamen Verfassungverlangte sie auch eine finanzielle, administrative und militärischeTrennung vom Königreich sowie einen Stopp der Anstellung vondänischen Beamten in den Herzogtümern. Zudem wurde eine Initia-tive zur Errichtung einer schleswig-holsteinischen Landesbank insLeben gerufen. Ab der Mitte der 1840er Jahre erhielt für die Schles-wig-Holstein-Bewegung außerdem die Erbfolgefrage eine zentraleBedeutung, wobei man hoffte, die Selbständigkeit der Herzogtümerdadurch zu erreichen, indem man den Erbanspruch der Augusten-burger Herzöge in Schleswig und Holstein unterstützte. Dazu kam1846 die Forderung nach Eingliederung Schleswigs in den Deut-schen Bund. Dies wurde noch stärker nach dem „offenen Brief“ desdänischen Königs vom selben Jahr geäußert, in dem er die Erban-sprüche des Augustenburgers zurückwies.

Die dänische Bewegung in Schleswig hatte dagegen als Aus-gangspunkt ein sprachlich-kulturelles Anliegen: Die dänische Spra-che sollte im öffentlichen Leben mit der deutschen gleich gestelltwerden. Das erste Ziel wurde die Einführung der dänischen Ge-richts- und Verwaltungssprache dort, wo auch die Kirchen- undSchulsprache dänisch war – d.h. auf dem Land in Nordschleswig.Dieses Ziel wurde 1840 mit der Sprachverordnung König ChristiansVIII. erreicht. Das nächste Ziel wurde die Freiheit, die dänischeSprache in der schleswigschen Ständeversammlung anzuwenden.Aus diesem Grund sah sich der Kaufmann Peter Hiort Lorenzen ausHadersleben 1842 in der Ständeversammlung zu der Provokation

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veranlasst, „dänisch zu sprechen und auch dabei zu bleiben“ – ohnedass dies jedoch zu dem gewünschten Ergebnis führte. Ein drittesZiel wurde die Einführung des Dänischen als Kirchen- und Schul-sprache in Südschleswig in den Gebieten, in denen die Bevölkerungumgangssprachlich Dänisch benutzte. Dies wurde erst nach 1850 er-reicht. Neben den sprachpolitischen Forderungen besaß die dänischeBewegung ein nationales Bildungsprojekt, das sich hauptsächlich andas Bauerntum richtete. Es umfasste u.a. die Errichtung von Ge-meindebüchereien mit dänischen Büchern und die Gründung derVolkshochschule in Rödding 1844. Mit der Zeit erhielt auch die dä-nische Bewegung ein verfassungspolitisches Programm, das aufeine gemeinsame Verfassung des Königsreiches Dänemark und desHerzogtums Schleswig hinauslief. Es ging in dieselbe Richtung wiedie so genannte Eiderpolitik der dänischen Nationalliberalen.

Die nationale Agitation. In den frühen 1840er Jahren begannen die na-tionalen Bewegungen für ihre Sache in der Bevölkerung zu agitie-ren. Dies entsprach der Phase B in Miroslav Hrochs Dreiphasenmo-dell.

Die etablierte Presse, d.h. die bis dahin unpolitischen und klei-nen Lokalzeitungen wie „Lyna“ in Hadersleben, das „SonderburgerWochenblatt“ und das „Intelligenzblatt“ in Tondern, schloß sich ab1840/41 der Schleswig-Holstein-Bewegung an. Die dänische Pressewurde ganz neu gegründet. Das geschah mit „Dannevirke“ ab 1838in Apenrade und 1839 dem „Apenrader Wochenblatt“, das ab 1840auf Dänisch erschien, sowie der „Flensburger Zeitung“ ab 1840.

Ab 1842 begann der Siegeszug der schleswig-holsteinischen Ge-sangsbewegung, die dem allgemeinen Muster in der deutschen Na-

Das Wochenblatt Dannevirke war nicht nurSprachrohr für die dänische Bewegung inNordschleswig, sondern auch für die Stan-desinteressen der Bauern.

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tionalbewegung südlich der Elbe entsprach. Jede Stadt, mehrereFlecken und einige Dörfer erhielt ihre ‘Liedertafel’, wo auf denwöchentlichen Übungen wie auf den lokalen und regionalen Sänger-festen patriotische deutsche Lieder auf dem Programm standen.

Schon 1843 wurden die großen nationalen Volksversammlungenmit mehreren Tausend Teilnehmern arrangiert. Auf dänischer Seitekam man vorzugsweise auf Skamlingsbanken unmittelbar südlichvon Kolding zusammen, auf deutscher Seite in Hundeklemmen beiApenrade, Erlev Banke bei Hadersleben, Bredstedt in Nordfrieslandund anderen Orten. Die Versammlungen boten eine Mischung auspolitischen Reden, Darbietung nationaler Symbole, Nationalgesän-gen, Musik und allgemeiner Belustigung.

Die Schleswig-Holsteiner hatten ein besonderes Bedürfnis, dieHerzogtümer als einen eigenständigen Staat darzustellen und schu-fen sich 1844 eine ‘Nationalhymne’, das Schleswig-Holsteinlied„Schleswig-Holstein meerumschlungen“, sowie eine Flagge in blau,weiß, rot. Auch ein Schleswig-Holstein-Wappen wurde konstruiert.Die Schleswig-Holstein-Flagge wurde sehr schnell populär undauch umstritten. 1845 wurde sie verboten.

In der Mitte der 1840er Jahre kamen auch die ersten nationalenVereinigungen auf. Auf dänischer Seite wurde 1843 „Den slesvigskeForening“ (Der schleswigsche Verein) gegründet, und zwei Jahrespäter folgte auf deutscher Seite der „Schleswig-Holsteinische pa-triotische Verein“. Beide hatten ihr Zentrum in Hadersleben, wo dieLeitung saß und von wo auch alle politische Aktivität ausging. DenVereinen schlossen sich in Nordschleswig, also nördlich der heuti-gen Grenze, lediglich 484 bzw. 357 Mitglieder an, in Flensburg nureinige wenige. Das war bescheiden im Verhältnis zur Bevölkerungs-zahl, aber als erste nationale Vereinigungen können beide eine be-sondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Deshalb soll untersuchtwerden, welche Themen und Aktivitäten in gesellschaftlicher undwirtschaftlicher Hinsicht bei ihnen auf die Tagesordnung kamen.Das Bild des Appells an gesellschaftliche und wirtschaftliche Inter-essen wird allerdings nur komplett, wenn es durch die Agitation inPresse und Flugschriften sowie durch Eingaben und Petitionen, mitdenen die Nationalbewegungen Unterschriften für ihre Forderungeneinsammelten, ergänzt wird.

Standesinteressen der Bauern.9 Es können durch eine solche Analysedrei ‘Interessenkomplexe’ voneinander unterschieden werden. Denersten dieser Komplexe können wir ‘Standesinteressen der Bauern’benennen. Er wurde insbesondere von der dänischen Bewegungwahrgenommen. Hier gab der Kieler Professor Christian Flor dieStrategie vor. 1838 schrieb er an den Redakteur von „Dannevirke“:„Deshalb ist es mein erster und grundlegender Plan: mit dem Bau-ernheer werden wir letztlich siegen, und deshalb sollten wir ständigfür den Bauern und den unterdrückten Bürger als unser eigentlichesPublikum schreiben. Unser Bauernheer mag ständig wachsen, undso werden wir gewiß den Feind besiegen.“ Flors Strategie wurde so-

9 Hierzu Schultz Hansen, Den danske be-vægelse i Sønderjylland ca. 1838-50.

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wohl von „Dannevirke“ als auch dem Schleswigschen Verein be-folgt.

Beide ergriffen solchermaßen Partei für die Bauern in dem jahre-langen Streit zwischen Bauern und Beamten in der Propstei Haders-leben in der Frage der Zehntenabschaffung, die die Bauern wünsch-ten, und in der Frage der gemeinsamen Kirchenkasse der Propstei,die von den Beamten verwaltet wurde, die die Bauern ebenfalls ab-geschafft wünschten zugunsten einer Selbstverwaltung der Ortskir-chen. Die Bauern versuchten ihre Sache dadurch zu befördern, dasssie Abordnungen und Petitionen an die Könige Frederik VI. undChristian VIII. schickten, ohne jedoch das gewünschte Ergebnis zuerreichen.

Der Schleswigsche Verein richtete zur Unterstützung der Bauerneinen Ausschuß ein. Er forderte auch Einsicht in die Amtsbuch-führung und wünschte zudem, dass auf dem Lande in Schleswig Ge-meindevorstände geschaffen werden, also eine moderne kommunaleSelbstverwaltung, wie sie 1841 im Königreich Dänemark eingeführtworden war. Der Verein wirkte auch dahin, Vergleichskommissioneneinzurichten, so dass die Bauern kleinere Rechtsstreite außerhalbder Gerichte und ohne teure Anwälte regeln konnten. „Dannevirke“sprach sich für eine Reform der Gebührenordnung aus, d.h. der Ge-bühren, die den Beamten entrichtet werden mussten, um eine Ange-legenheit in den Behörden behandelt zu bekommen. In diesem Lichtbetrachtet, hatte auch die Forderung nach dänischer Rechts- undVerwaltungssprache auf dem Lande in Nordschleswig einen bauern-politischen Aspekt, denn es war die Voraussetzung dafür, dass dieBauern die Verwaltungsbeamten kontrollieren und eine stärkere Po-sition in der Lokalverwaltung einnehmen konnten.

„Dannevirke“ und der Schleswigsche Verein hatten nicht nur Be-amte und Anwälte als Zielscheiben ihrer sozioökonomischen Agita-tion. Auch die Gutsbesitzer und namentlich der Herzog von Augus-tenburg mussten dafür herhalten. In diese Richtung schoß vor allemder Kaufmann Peter Hiort Lorenzen, der die Stadt Hadersleben inder Schleswiger Ständeversammlung vertrat. Er forderte die Ab-schaffung des herzoglichen Jagdrechtes auf den Ländereien derBauern und die Ablösung der Dienstpflicht auf den Höfen des Her-zogs durch eine Geldabgabe. Der Schleswigsche Verein forderte dieAbschaffung der eigenständigen Rechtsprechung auf den Gütern,wo der Gutsbesitzer den Richter anstellte.

Ein besonderer Ausdruck für die Wahrnehmung der Interessender Bauern war es schließlich, dass „Dannevirke“ für die Einführungder allgemeinen Wehrpflicht eintrat, so dass der Militärdienst nichtlänger einseitig auf dem Bauernstand lasten sollte.

Beamte, Anwälte und Gutsbesitzer firmierten in der traditionel-len Auffassung der Bauern unter dem Begriff „die Großen“. „DieGroßen“ wurden als des Bauern Widerpart aufgefasst, der ihn daranhinderte, seine Rechte auszuüben. Dieses Denken war noch in den1840er Jahren weit verbreitet. Ähnlich verhielt es sich mit dem tra-ditionellen Volksglauben vom König als des Bauern Beschützer und

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ehrlichen Freund. Er war der Grund für die vielen Eingaben derBauern an den König, und er prägte auch „Dannevirke“. Im Zusam-menhang mit den Zehntenabschaffungsbestrebungen schrieb dasBlatt 1841 an die Beamten gerichtet: „Wer kann sich des Königs unddes Volkes vereintem Willen widersetzen ?“ Deshalb kann es nichtverwundern, dass die Bauern lange Anhänger des königlichen Abso-lutismus waren. Sie wollten nicht, dass „die Großen“ durch eine li-berale Verfassung größeren Anteil an der Machtausübung bekämen.

Die wirtschaftliche Verbindung mit dem Süden und die Abschirmung nachNorden.10 Der Schleswig-Holsteinische patriotische Verein versuchteebenfalls, einige der standespolitischen Interessen der Bauern zu be-fördern, wie die allgemeine Wehrpflicht. Doch dies geschah charak-teristischerweise in Zusammenarbeit mit holsteinischen Bauernpoli-tikern, so dass der Verein einer Konfrontation mit den lokalen Be-amten und Gutsbesitzern auswich. Die Wahrnehmung der landwirt-schaftlichen Interessen der Bauern wog schwerer. Unter den patrio-tischen Initiativen des Vereins ragte besonders die Durchführungvon Tierschauen auf Erlev Banke bei Hadersleben 1846 und 1847heraus. Bei den Tierschauen ging das Landwirtschaftsfachliche aufin einem allgemeinen Volksfest und schleswig-holsteinischer Agita-tion. Daneben wurde ein Versuch unternommen, für die weniger be-mittelten Landbewohner Sparkassen einzurichten. Der Schleswig-Holsteinische patriotische Verein nahm sich darüber hinaus nichtnur der wirtschaftlichen Interessen der Bauern an, sondern auch de-ren der Stadtbewohner. 1846 arrangierte der Verein in diesem Sinneeine Industrieausstellung, auf der Handwerker und Industrieunter-nehmer ihre Produkte zeigen konnten. Er mischte sich auch in dieseinerzeit leidenschaftlich geführte Eisenbahndebatte ein. 1845 rich-tete er eine Petition an den König, in der er sich für eine schleswig-sche Bahnlinie von Rendsburg über Flensburg und Apenrade undweiter nach Hadersleben und Årøsund aussprach. Von Rendsburgkonnte ab 1845 durch eine Stichbahn nach Neumünster ein An-schluß an die neue Bahnlinie Altona-Kiel und damit eine Verbin-dung nach Hamburg erreicht werden. Das war von großer Bedeu-tung: „Denn“, so stand in der Petition zu lesen, „Hamburg ist dieStadt, wo wir jederzeit und unter allen Konjunkturen unsere Waren,welche auch immer, zu den allerbesten Preisen absetzen können.“

Dieser Satz wirkte gleichsam wie ein Mantra in der wirtschaftli-chen Agitation der Schleswig-Holstein-Bewegung. Man wurde nie-mals müde zu unterstreichen, dass sich die nordschleswigsche Wirt-schaft nach dem erfolgreichen Süden ausrichtete; und da besondersnach der norddeutschen Metropole Hamburg. Umgekehrt wandtedie nordschleswigsche Wirtschaft dem rückständigen Norden, d.h.Jütland, den Rücken zu, dessen einzige Berechtigung es war, derschleswigschen Landwirtschaft billige Arbeitskräfte in Gestalt vonDienstvolk und Tagelöhnern zu liefern. Generell wurde Deutschlandsowohl wirtschaftlich als auch kulturell als auf einer höheren Ent-wicklungsstufe als Dänemark stehend angesehen.

10 Hierzu Schultz Hansen, Hjemmetysk-heden i Nordslesvig 1840-1867.

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Hamburgs zentrale Bedeutung machte sich besonders in Apenra-de geltend. Die große Handelsflotte der Stadt segelte überwiegendfür Hamburger Handelshäuser. Dadurch war die Verbindung zurdeutschen Wirtschaft besonders eng, und auf einem Fest im Jahr1842 nahm man mit großem Enthusiasmus einen Toast auf den An-schluss Schleswigs und Holsteins an den 1834 gebildeten deutschenZollverein entgegen, der einen großen inneren Markt für die deut-schen Staaten geschaffen hatte. Im Gegenzug gaben die deutschge-sinnten Reeder in Apenrade nicht viel auf das Königreich. In einerPetition desselben Jahres zum Austausch des dänischen Schiffsstem-pels „Dansk Eiendom“ (Dänisches Eigentum) gegen „Schleswighol-steinisches Eigentum“ und des Dannebrog gegen die schleswig-hol-steinische Schiffsflagge hoben die Unterzeichner selbstbewusst her-vor, dass man in Südamerika fragte, ob Dänemark nicht in Apenradeläge.

Hamburgs damalige Bedeutung für das gesamte nordeuropä-ische Wirtschaftsleben und der wirtschaftliche Fortschritt inDeutschland durch die einsetzende Industrialisierung sind histori-sche Tatsachen, die nicht übergangen werden können. Dagegen wardas wirtschaftliche Austauschverhältnis zwischen dem KönigreichDänemark und den Herzogtümern umstritten. In der schleswig-hol-steinischen wirtschaftlichen Agitation spielte die Behauptung vonder finanziellen Ausbeutung der Herzogtümer durch das Königreicheine große Rolle. Sie stellte heraus, wie das rückständige Dänemarkdie wohlhabenden Herzogtümer durch die Steuern und das Geldwe-sen aussaugte.

Das ließe sich allein durch größtmögliche wirtschaftliche Unab-hängigkeit vom Königreich verhindern. Deshalb forderte die schles-wig-holsteinische Bewegung eine finanzielle Trennung zwischenden Herzogtümern und dem Königreich, und Mitte der 1840er Jahrewurde sehr viel Kraft darin investiert, eine schleswig-holsteinischeLandesbank zu errichten als Gegenstück zu einer Filiale der däni-schen Nationalbank in Flensburg.

Einige der wirtschaftlichen Anliegen der Schleswig-Holsteinerdienten trotz nationalpolitischer Begründung deutlich der Wahrneh-mung von Sonderinteressen einzelner Gesellschaftsgruppen. EinBeispiel hierfür ist der Versuch zu Beginn der 1840er Jahre, denPriesterstand der Herzogtümer gegen die Konkurrenz von Theolo-gen der Universität Kopenhagen abzuschirmen, sowie die generelleForderung, dass alle Ämter in den Herzogtümern eingeborenenSchleswigern und Holsteinern vorbehalten bleiben sollten. Ein an-deres Beispiel ist der Vorschlag Thies Hansen Steenholdts in derschleswig-holsteinischen Landesversammlung 1849, eine Zollmau-er entlang der Königsau – also der historischen Grenze zum König-reich – zu errichten, die die Viehzüchter in Nordschleswig vor dembilligen jütländischen Magervieh schützen sollte. Steenhold selbstkam aus Ravsted nordwestlich von Tinglev, von wo die Bauern ingroßer Zahl Magervieh zur Mästung in die Marschlandschaften ver-kauften.

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Die Schleswig-Holstein-Bewegung umfasste solchermaßen vie-le, wenn es galt, die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gruppenwahrzunehmen: Bauern, Handwerker, Industrielle, Kaufleute, Aka-demiker. Will man dieser Interessenvertretung ein Etikett anheften,könnte es lauten: „Wirtschaftliche Verbindung nach Süden – Ab-schirmung nach Norden“.

Die Ausbreitung der Nationalbewegungen.11 Wie sah die geographischeund soziale Basis der beiden nationalen Bewegungen aus? DieHochburg der dänischen Bewegung lag in den 1840er Jahren in denländlichen Gebieten im Norden Nordschleswigs, d.h. im Amt Ha-dersleben. Das war eine Region, wo die Bauernwirtschaft stark warund es nur ein adeliges Gut, Gram und Nybøl, gab. In den östlichenTeilen des Amtes Hadersleben mit ihren guten Böden gab es zahlrei-che große Bauernhöfe, wo die Besitzer im Zuge der guten Konjunk-tur seit den 1830er Jahren eine Lebensform pflegen konnten, die derder Großbauern des Königreiches glich. In den westlichen Teilendes Amtes waren die Verhältnisse eher einfacher, aber für die Bauernstabil. Im Laufe der 1840er Jahre konnte sich die dänische Bewe-gung in der Südhälfte der Insel Alsen festigen, also im Gutsbezirkdes Herzogs von Augustenborg. Auch hier war das Bauerntum öko-

Der Handel mit Magervieh verband vieleBauern in der Gegend zwischen Tondernund Apenrade mit ihren Standesgenossenin den Marschgebieten Südschleswigs –und bewirkte oft eine politische Orientie-rung in Richtung Schleswig-Holstein. (Illustreret Tidende 1859)

11 Hierzu Schultz Hansen, Den danskebevægelse i Sønderjylland ca. 1838-50;ders., Hjemmetyskheden i Nordslesvig1840-1867, vol. I.

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nomisch gesichert, aber es gab noch Reste der bäuerlichen Dienst-pflichten in Form geringer Frondienste. Und der Herzog führte sichgern als Gutsherr auf, namentlich im Zusammenhang mit seinenJagden. Beides störte das Selbstbewusstsein der Bauern.

In den anderen Gebieten war der Anschluss ans Dänentum ehersporadisch, in den Städten gab es ihn kaum. Hier war dagegen dieSchleswig-Holstein-Bewegung stark verankert. Hier hatte sie diemeisten Anhänger und von hier aus fand ihre Agitation hauptsäch-lich statt. Auf dem Lande hatte sie ihre meisten Anhänger in Gegen-den mit einer fortschrittlichen Bauernwirtschaft und einer deutlichensozialen Differenzierung. Dies traf besonders auf Südschleswig zu.Hier lagen die Schwerpunkte der Bewegung an der Westküste zwi-schen Tondern und Eiderstedt, Landschaften, die früh von der Geld-wirtschaft und großen sozialen Unterschieden geprägt waren, aberohne unüberwindliche Grenzen zwischen Arm und Reich. Ähnlichhoch war die Mobilisierung in Angeln an der Ostküste, wo die Hof-besitzer seit den Landreformen eine markante Wohlstandsentwick-lung und Verbürgerlichung aufwiesen, was sich u.a. in dem Sprach-wechsel vom Angliter Dänisch zum Plattdeutschen widerspiegelte.Weniger stark verankert war die Bewegung in den Gutsbezirken imSüdosten des Herzogtums mit der dortigen starken sozialen Polari-sierung zwischen Gutsbesitzern, Bauern, Kleinbauern und Gesinde.Am geringsten war der Geestrücken von der Schleswig-Holstein-Bewegung einbezogen.

In Nordschleswig war das Deutschtum im Raum Tondern amstärksten, der sich politisch der südschleswigschen Westküste an-schloß. Danach folgte Slogs Harde mit mehreren großen Höfen undengen Verbindungen nach Südwesten durch den Viehhandel. Ver-hältnismäßig stark war das Deutschtum auch im Broagerland mitseiner Ziegelindustrie und auf Løjt mit seiner über Apenrade mitHamburg verbundenen Schiffahrt sowie im Raum Hadersleben mitden dortigen vielen großen Gütern.

Zusammengefasst war das Dänentum am stärksten in den Ge-genden, wo es eine solide Bauernwirtschaft gab, während dasDeutschtum seine Hochburgen in den Städten und den ländlichenGebieten hatte, die am weitesten in die wirtschaftliche Modernisie-rung einbezogen waren.

Die gesellschaftliche Basis der nationalen Bewegungen. Dasselbe Bild ergibtsich bei der Betrachtung der sozialen Basis. Die dänische Bewegungwurde in den 1840er Jahren nahezu ausschließlich von den Besit-zern mittelgroßer Bauernstellen getragen. Der Anteil der Hofbesit-zer an der Mitgliederzahl des Schleswigschen Vereins und den Un-terzeichnern der Petitionen, die mit dänischen Forderungen einge-reicht wurden, lag zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln. Es istnaheliegend, diesen großen Anteil als Zeichen einer hohen Überein-stimmung zwischen den Standesinteressen der Bauern und den däni-schen sprachpolitischen Forderungen zu betrachten. Die zweitgrößteGruppe waren Kleinbauern. Großbauern, Handwerker und Kaufleu-

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te waren kaum vertreten, Beamte und liberale Unternehmer nochweniger.

Der Anschluss an die Schleswig-Holstein-Bewegung war sozialbreiter gefächert. In den Städten war es das Bildungsbürgertum ausÄrzten, Anwälten und Beamten. Sie waren überwiegend an der Uni-versität Kiel ausgebildet worden und deshalb auf das deutsche aka-demische Milieu ausgerichtet. Auch Kaufleute, Reeder und Fabri-kanten waren reichlich vertreten – wie gesagt dank der Handelsver-bindungen nach Süden in das wirtschaftlich weiter entwickelteHamburg und Südholstein. Die Handwerksmeister bildeten die brei-te Basis des Deutschtums. Aufgrund der alten Tradition, auf Walz zugehen, waren sie beruflich ebenfalls nach Süden orientiert. Auf demLande waren es viele kleine Gutsbesitzer, Gutspächter und Groß-bauern, die im Lager der Schleswig-Holsteiner zu finden waren. Inden deutschgesinnten Reihen fanden sich auch Reeder und Kapitäneaus Løjt, Ziegelbrennereibesitzer aus Gravenstein und ganz generellGroßbauern, Mühlenbesitzer, Branntweinhersteller und andere Un-ternehmer. Hier spielte sicherlich mit, dass Holstein eine Vorbild-funktion für eine moderne Landwirtschaft und heranwachsende In-dustrie ausübte. Auch kleinere Bauern aus dem Raum Tondern mitihren engen Beziehungen zu den Viehaufkäufern aus der Marsch-landschaft waren zahlreich vertreten – wie auch nicht wenige Wirts-leute. Häusler und Kätner fanden sich dagegen fast gar nicht in die-sen Reihen.

Die Unterschicht aus Kleinhandwerkern und Handwerksgesel-len, Arbeitern, Seeleuten, Fischern, Tagelöhnern und Gesinde so-wohl in den Städten wie auf dem Land war nur äußerst selten in dieAktivitäten der nationalen Bewegungen einbezogen – jedenfalls vor1848.

Zieht man ein erstes Fazit über die Reichweite der Rational-Choice-Erklärung, dann kann man einen deutlichen Zusammenhangfeststellen zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Agi-tation der Nationalbewegungen, deren geographischer Ausbreitungin den verschiedenen Regionen und deren sozialer Verankerung:War man ein traditionell eingestellter Hofbesitzer in einem Gebietmit mittelgroßen Höfen und sah man sich selbst in einem Span-nungsverhältnis zu den Gutsbesitzern, Beamten und anderen„Großen“, vertraute aber umso mehr dem Wohlwollen des Königs,dann fand man seine Interessen am besten bei der dänischen Bewe-gung aufgehoben. Fasste man sich dagegen als Vertreter der gesell-schaftlichen Modernisierung auf und zur Elite aus akademisch Ge-bildeten oder wirtschaftlich wohlsituierten Gewerbetreibendengehörig, dann sah man seine Interessen, die Verbindungen nach Sü-den aufrecht zu erhalten und auszubauen, am besten von der Schles-wig-Holstein-Bewegung vertreten.

Schleswigsche Gegenreaktionen. Bislang sind lediglich die Bevölke-rungsgruppen betrachtet worden, die sich einer der beiden konkur-rierenden Nationalbewegungen angeschlossen haben. Das war nur

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eine Minderheit der Gesamtbevölkerung. Als die Mobilisierung derbeiden Bewegungen nach Christians VIII. „Offenem Brief“ von1846 ihren Höhepunkt erreichte, in dem der König den Erbanspruchdes Augustenburgers zurückwies und damit unter den Deutschge-sinnten starken Widerspruch hervorrief, unterzeichneten knapp 900Menschen in Nordschleswig die schleswig-holsteinische Protestno-te, während rund 3900 die dänische Dankesadresse an den Königunterzeichneten. Das muss im Verhältnis dazu gesehen werden, dassdamals in Nordschleswig etwa 40 000 Männer lebten (nur die warenzeichnungsbefugt). Es waren also nur gut und gerne um 12 Prozentim nationalen Gegensatz engagiert. In Flensburg erhielt die schles-wig-holsteinische Protestnote 234 Unterschriften gegenüber 300 derdänischen Dankesadresse. In der Stadt lebten jedoch etwa 4200Männer.12 Damit lag die Beteiligung in der Stadt etwa auf demselbenNiveau. Bestand der Rest der Nordschleswiger und Flensburger auseiner abwartenden schweigenden Mehrheit, die so lange wie mög-lich mit einer Stellungnahme wartete ?

Stumm war die Mehrheit die ganze Zeit über nicht. Hin und wie-der gab es Proteste gegen die nationalen Bewegungen und den Un-frieden, den sie hervorriefen. In den Jahren 1843/44 richteten sie

Als Beispiel für die vielen Ausdruckformender nationalen Propaganda kann dieserPfeifenkopf mit einer Abbildung von UweJens Lornsen dienen. Die Inschrift lautet:„Dein Name kann nimmer verlöschen inSchleswig-Holstein. In der Fremde ist deinGrab! Hier im Vaterlande ist dein Leben“(Museum Sønderjylland, Tønder)

12 Hans Schultz Hansen: Danskheden iSydslesvig 1840-1918 – som folkelig ognational bevægelse, Flensborg 1990,S. 65 u. 89.

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sich meist gegen die dänische Bewegung, die mit der Forderung agi-tierte, Dänisch gleichberechtigt neben dem Deutschen in der schles-wigschen Ständeversammlung anwenden zu können. In zehn Ge-meinden in der Umgebung von Haderleben unterzeichneten 500Einwohner Protestnoten gegen „die dänische Propaganda“ und de-ren Versuch, „der Zwietracht böse Saat“ zu säen und für eine Einver-leibung des Herzogtums Schleswig in das Königreich Dänemarkeinzutreten. Das streite gegen den Wunsch der Unterzeichner, alsSchleswiger „bei den bestehenden altehrwürdigen Einrichtungen“zu verbleiben. Die Unterzeichner waren königstreu und bezeichne-ten sowohl die Dänen wie die Holsteiner als ihre Brüder. Diese Pro-teste waren mit anderen Worten Manifestationen eines konservati-ven, gesamtstaatsloyalen und eigenen schleswigschen Standpunk-tes. Das gleiche gilt für einen ähnlichen Protest gegen die Einmi-schung des Königreiches in schleswigsche Verhältnisse auf Alsenund im Sundewitt, der rund 1000 Unterzeichner fand.

Um 1845/46 änderte sich das Bild. Nun waren es die Schleswig-Holsteiner, gegen die sich die konservativen Schleswiger wandten,weil diese mit ihrer neuen blau-weiß-roten Flagge umherzogen undgegen den „offenen Brief“ des Königs demonstrierten. Beide natio-nalen Bewegungen waren sich im Klaren, dass es besonders in derLandbevölkerung eine fest verankerte regionale schleswigsche Iden-tität gab. An sie richteten sie sich in der Hoffnung auf neue Anhän-ger mit ihren Appellen, allerdings mit wechselndem Erfolg. 1847hatte die dänische Bewegung damit mehr Glück. Doch gelang eskeiner der beiden Bewegungen, die schweigende Mehrheit für sichzu gewinnen.

Die materiellen Interessen der Flensburger Großkaufleute. Der Widerstand-gegen das Ansinnen, eine Wahl zwischen der dänischen und derschleswig-holsteinischen Bewegung und deren jeweiligem Natio-nalstaatsprojekt treffen zu müssen, scheint in starkem Maße in dertraditionellen Königstreue und einer schleswigschen regionalenIdentität begründet gewesen zu sein. Aber auch hier könnte die Wah-rung ökonomischer und gesellschaftlicher Interessen eine Rolle ge-spielt haben. Das war besonders in Flensburg augenfällig. Hierstoßen wir nämlich auf einen dritten ‘Interessenkomplex’, den man„materielle Interessen der Flensburger Großkaufleute“ nennen kann.Hier wurden der Wunsch um Bewahrung des Gesamtstaates unterder Herrschaft des dänischen Königs und der Wunsch, an der schles-wigschen Identität mit Platz sowohl für die deutsche als auch die dä-nische Sprache festzuhalten, nämlich deutlich verknüpft mit denVorteilen, die der Gesamtstaat dem Flensburger Handel und derSchiffahrt der Stadt bot.

Den gesamtstaatstreuen Flensburgern bot die dänische Monar-chie die beste Abschirmung vor der wachsenden Konkurrenz ausHamburg. Deshalb war das Projekt, eine Bahnlinie von Flensburgüber Husum nach Tönning zu bauen, sehr populär, weil es solcher-maßen keinen Anschluß an die Bahn in Rendsburg und weiter nach

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Hamburg und zu dessen Vorteil geben würde. Stattdessen könntesich Flensburg besser in den west-östlichen Transithandel einbrin-gen. Die Monarchie bot zudem die Möglichkeit, die Verbindungnach Dänisch-Westindien aufrecht zu erhalten und somit die bedeu-tende Zucker- und Rumproduktion der Stadt zu fördern. Schließlichkonnte der Gesamtstaat den weiteren Absatz von Tabakproduktenund anderen Waren im Königreich sichern. Der Standpunkt wurde1841 von einem der beiden Flensburger Ständedeputierten, demGroßkaufmann Peter Nielsen, zusammengefasst: „Nicht aus demaufzehrenden Süden, sondern aus dem direkten Warenaustausch mitdem Norden, Osten und Westen erwächst unser Nationalwohlstand.“

Die materiellen Interessen knüpften also viele Flensburger anDänemark, während die plattdeutsche Sprache, deren sich die mei-sten im Alltag bedienten, und die deutsche Ausbildung nach Südenwiesen. Schleswigs weitere Selbständigkeit schien hier ein unbehag-liches Dilemma vor sich her zu schieben. Oder wie der Arzt ClausManicus es 1840 ausdrückte: „Wenn man uns nun auffordert, reineHolsteiner oder Dänen zu werden, das Deutschtum oder Skandina-vertum anzunehmen, dem Deutschen Bunde oder der dänischenStändeversammlung beizutreten, so verlangt man das Unmögliche.“Die Flensburger waren noch nicht bereit, sich unter die nationalenFahnen einzureihen.

Das Revolutionsjahr 1848. Die schleswig-holsteinische Erhebung imMärz 1848 mit der Bildung einer Provisorischen Regierung und derEroberung der Festung Rendsburg brach nicht aus, weil die Lage inden Herzogtümern dafür reif war. Sie geschah auch nicht als Folgeeiner gewachsenen Mobilisierung oder eines Drucks von unten. Wiein den meisten anderen Ländern, die vom europäischen ‘Völkerfrüh-ling’ ergriffen wurden, war es vor allem die Februarrevolution in Pa-ris, die die Protagonisten der Nationalbewegungen zur Aktion trieb.Dennoch hatte die Erhebung große Auswirkungen auf das Verhältniszwischen Dänisch und Deutsch in Schleswig. Im südlichen Schles-wig erkannten Städte und Landdistrikte schon umgehend die Provi-sorische Regierung an. In vielen Städten wurden Bürgerwehren ge-bildet, die mit den eroberten Gewehren aus dem dänischen Arsenalin Rendsburg ausgerüstet wurden. Auch in Flensburg wurde die Pro-visorische Regierung von der Stadtführung anerkannt, aber mehraus der Zwangslage heraus als aus Zustimmung. Im nördlichenSchleswig erkannten die Stadtführungen in Apenrade und Tondernebenfalls die Provisorische Regierung an, aber nicht die Städte Ha-dersleben und Sonderburg und auch nicht das platte Land. Hier führ-te die Erhebung eher zu einer antischleswig-holsteinischen Reakti-on. Im Amt Hadersleben und auf der Insel Alsen bildeten die BauernVolkswehren gegen die Schleswig-Holsteiner. Und in Hadersleben,Apenrade und Flensburg demonstrierten die Schiffszimmerer undSeeleute und andere aus der unteren Mittelschicht und Arbeiterklas-se in den Straßen gegen den schleswig-holsteinischen Widerstand.

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Sonderburg wurde umgehend von einem Schiff der dänischenKriegsflotte besetzt und die Insel Alsen vom dänischen Heer.

Auch auf dem Land schlossen sich Angehörige der Unterschichtin großer Zahl der dänischen Bewegung an. Dies war selbst im nörd-lichen Angeln der Fall, obwohl hier viele der wohlhabenden Hofbe-sitzer der Schleswig-Holstein-Bewegung zuneigten. Es war dieserbreite gesellschaftliche Anschluss, der dem Dänentum im nördli-chen Schleswig die Vorherrschaft sicherte – mit Ausnahme von Ton-dern und Umgebung, aber selbst in Flensburg und dessen Umland.Weiter südlich waren die Sympathien fürs Dänentum eher spora-disch. Hier, wo die Kirchen- und Schulsprache wie auch die Ge-richts- und Verwaltungssprache Deutsch war und auch in weiten Be-völkerungskreisen Deutsch oder Plattdeutsch gesprochen wurde,scheint das Dänentum keine Wahloption gewesen zu sein. Die Nähezum gänzlich deutschen Holstein wirkte sich hier natürlich aus.

Es war nicht möglich, bestimmte wirtschaftliche und gesell-schaftlich Interessen herauszustellen, die hinter dem plötzlichen undmassiven Anschluß der Unterschichten an die dänische Bewegunglagen. Weder die nationale Presse noch die nationalen Vereinigun-gen haben sich in ihrer Agitation an die Unterschichten gerichtet.Hinsichtlich dieser Unterschichten scheint das Rational-Choice-Er-klärungsmodell zu kurz zu greifen. Eher hatte der schleswig-holstei-nische Polizeimeister Krohn aus Flensburg Recht, als er im Novem-ber 1848 in einem Bericht schrieb: „Zur Gefühlssache war aber diedänischen Sache, namentlich ihren sehr zahlreichen Anhängern un-ter den niederen Classen, geworden, mag auch der Ursprung der dä-nischen Sympathien Flensburgs zum Theil auf das Local- und Pri-vat-Interesse zurückgeführt werden können“. Der Hintergrund hier-für muß vermutlich in den seit langem verankerten Traditionen ge-sucht werden.

In den Küstenorten waren es Traditionen unter den Seeleutenund Schiffszimmerern, die ihren Militärdienst auf Schiffen der däni-schen Flotte abgeleistet hatten und nun weiterhin die dänische Flag-ge ehrten. Aus Apenrade ist bereits vor dem Jahr 1848 eine Episodeüberliefert, dass Werftarbeiter mit dem Dannebrog an der Spitze ge-gen die Flagge der Schleswig-Holsteiner protestierten. Und in denMärztagen 1848 wurde der Dannebrog in Apenrade ebenfalls bei derantischleswig-holsteinischen Demonstration der Schiffzimmerermitgeführt, als man forderte, die schleswig-holsteinische und diedeutsche Flagge einzuholen. In diesen Schichten schienen die pa-triotischen Gefühle aus der gesamtstaatlichen Aufklärungszeit unddie alte Königstreue fortzuleben. Auch auf dem Lande in Nord-schleswig beförderte die traditionelle Königstreue die dänischenSympathien, namentlich nachdem König Frederik VII. versprochenhatte, dass die Schleswiger auch im Rahmen einer gemeinsamenVerfassung für das Herzogtum Schleswig und das Königreich Däne-mark ihre Selbständigkeit behalten sollten.

Für beide nationale Bewegungen haben die Ereignisse des Früh-jahres 1848 reichlich Stoff für die Mythenbildung um das nationale

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Erwachen geliefert. Die Schleswig-Holsteiner reden von deren „Er-hebung“ gegen die dänischen Unterdrücker. Auf der dänischen Seiteentstand der Begriff „Geist von 1848“, der sich auf das neue Ge-meinschaftsgefühl des Volkes quer durch geographische und sozialeUnterschiede bezog und eine Antwort auf den „Aufruhr“ der Schles-wig-Holsteiner war. Die vielen Adressen und Petitionen jener Zeitzeigen auch, dass die nationale Mobilisierung auf beiden Seiten be-trächtlich gewachsen war. In Nordschleswig erhielt im Herbst 1848der dänische Protest gegen den Vorschlag, Schleswig in den Deut-schen Bund aufzunehmen, rund 12000 Unterschriften. Die schles-wig-holsteinischen Adressen, die sich gegen eine Teilung Schles-wigs oder Abtrennung von Holstein richteten, erhielten mindestens2250 Unterschriften. Zusammen betrachtet zeugt dies dafür, dasssich nun gut ein Drittel der erwachsenen Männer in Nordschleswigpolitisch engagierten. In Flensburg erhielten die Dänischgesinnten1.500 und die Schleswig-Holsteiner 600 Unterschriften. Hier erfass-te die Mobilisierung 1848/49 rund die Hälfte der erwachsenenmännlichen Bevölkerung.

Die Zahlen liefern indes keine Auskunft über die Tiefe des natio-nalen Engagements der Unterzeichner. Als konkretere Schritte ge-fragt waren, wich mancher zurück. Die Bauernbewaffnung auf bei-den Seiten löste sich wie Tau in der Sonne auf, sobald sich reguläreTruppen zeigten. Der Anschluss an die alten oder neue nationale Or-ganisationen, die es 1848/49 bereits gab, oder erst das Tageslicht er-blickten, war keineswegs überwältigend und meist auf die Städte be-grenzt. In ihnen war auch die Teilnahme an den Wahlen zur deut-schen Nationalversammlung und zur schleswig-holsteinischen Lan-desversammlung am größten. Die Landbevölkerung war in ihrergroßen Mehrheit generell eher passiv. Alles in allem scheint es des-halb verfrüht zu sein, den nationalen Aufbruch 1848/49 gemäß demDreiphasenmodell von Miroslav Hroch als Eintritt in die dritte Pha-se – Phase C, die nationale Massenmobilisierung – zu bezeichnen.Eher scheint es angebracht, eine Zwischenphase einzufügen, dieman mit ‘R’ kennzeichnen könnte: ‘R’ für Revolution und, ange-sichts der nachfolgenden Unterdrückung, für Repression. Phase Ckann man frühestens in den 1880/90er Jahren erkennen, als die na-tionale Massenorganisierung einsetzte.

Hinzu kommt, dass viele Schleswiger weiterhin überhaupt keinenationale Begeisterung zeigten. Dagegen beklagten nicht wenige dienationale Spaltung und betrachteten sie als „Schleswigs Untergang“.Stellvertretend für diese Ansicht kann die Tagebucheintragung desKrämers Jens Wulff aus Brede vom 7. April 1848 gesehen werden:„So groß die Verbitterung gegen das Deutsche bei den Dänen auchist, genauso groß muß in Holstein und dem südlichen Schleswig dieVerbitterung gegen das Dänische sein, und das ist betrüblich, dassdiese beiden Volksgruppen, die so viele Jahre einträchtig, in Friedenund Freundschaft miteinander gelebt haben, sich gegenseitig Wohl-stand gebracht haben, sich nunmehr so feindlich gegenüber stehen,was als Folge den Ruin und das Verderben des Landes haben wird.

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Fluch über all diese Schreiber und Schnacker, die diese unseligeDisharmonie hervorgebracht haben, die diese Zwietracht gesät ha-ben, die nun zum Elend und Untergang des Volkes keimt und alsFrucht das Verderben tragen wird.“

Wie viele konservative Schleswiger schloß Wulff, königstreuwie er war, sich der dänischen Seite an – aber ohne große Begeiste-rung. Vielerorts unterstrich man in Eingaben an den König, dassman die Selbständigkeit Schleswigs aufrecht zu erhalten wünsche,so in Lundtoft und Vilsbæk zwischen Flensburg und Apenrade: „Wirverlangen, nicht von Dänemark losgerissen zu werden, um in denDeutschen Bund eingegliedert zu werden, wir verlangen dagegen,Schleswiger zu verbleiben mit den Rechten, die der König uns ver-sprochen hat“13, d.h. mit einer provinziellen Selbstverwaltung imRahmen einer gemeinsamen Verfassung mit dem Königreich. Fürdiese Kreise war die nationale Wahl etwas Aufgezwungenes. DerenStellungnahme beruhte mehr auf einem ‘Schubser’ als auf ‘Anzie-hungskraft’, und dieser Schubser war die schleswig-holsteinischeErhebung und die Furcht vor den Folgen einer EinverleibungSchleswigs in den Deutschen Bund.

Zusammenfassung. Die Theorie des Rational Choice als Erklärung fürden Anschluß an nationale Bewegungen scheint für die Deutung derEreignisse in Schleswig in den 1840er Jahren relevant. GemeinsameMuster in der Agitation der jeweiligen nationalen Bewegungen, geo-graphische Hochburgen und gesellschaftliche Schwerpunkte ma-chen deutlich, dass die Erwartungen an die Wahrnehmung wirt-schaftlicher und standespolitischer Interessen durch die Bewegun-gen ein wesentlicher Faktor für die nationale Wahl gewesen ist. Dasmuss jedoch dahingehend eingeschränkt werden, dass es zunächstnur auf die Anhängerschaft zutraf, die in den 1840er Jahren aus eige-nem Antrieb eine Seite wählte. Das Erklärungsmodell ist dagegenweniger geeignet für die vielen, deren Wahl durch die schleswig-holsteinische Erhebung im März 1848 erzwungen wurde. Nament-lich für die vielen neuen Anhänger der dänischen Bewegung aus derUnterschicht scheint das Modell zu kurz zu greifen. Es ist jedenfallsnicht gelungen, einen ‘Interessenkomplex’ auszumachen, der mitdieser sozialen Schicht deutlich korrelierte. Das kann daran liegen,dass es in diesem Zusammenhang nicht genügend Quellen gibt, aberdie nationalen Bewegungen traten auch nicht mit Appellen in Er-scheinung, die an diese Gruppen gerichtet waren – am allerwenigs-ten die schleswig-holsteinische Bewegung, die sich geradezu darü-ber mokierte, dass auf der dänischen Seite so viele den unterenSchichten angehörten. Im Gegensatz dazu haben wir im Festhaltender Flensburger Kaufmannschaft an der dänischen Gesamtstaats-monarchie und Schleswigs Selbständigkeit ein deutliches Beispieldafür, dass das Hinausschieben der Wahl zwischen dem dänischenund dem schleswig-holsteinischen Nationalstaatprojekt auch auf ei-nem Rational Choice beruhen kann.

Übersetzung aus dem Dänischen: Robert Bohn

13 Reichsarchiv Kopenhagen, Udenrigsmi-nisteriets arkiv, sager vedr. Slesvig V-VI,Adressen aus Schleswig an den König1848-51.

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