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Ueber Das Fernsehen

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Dieses eBook ist nicht seitenkonkordant zur angegebenen Ausgabe, das Layout wurde jedoch – sofern dies möglich war – beibehalten. Fußnoten wurden an ihrer im Original angegebenen Stelle eingefügt. Optimiert für doppelseitige Anzeige. Vielen Dank an DubSchmitz für die Korrek-tur. – Bernd, Juni

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edition suhrkamp

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Das Buch von Pierre Bourdieu über das Fernsehen und dessen Wirkungs-weise war selbst ein Fernsehereignis.Der Autor hielt zwei Vorlesungen am Collège de France über Struktur und Wirkung des Fernsehens, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. In der ersten Vorlesung stellte er die unsichtbaren Zensurmechanismen heraus, die auf dem Bildschirm gelten, und deckte damit die Geheimnisse der Kunst-produkte dieses Mediums auf, ihre Bilder und Formulierungen. In der zwei-ten Vorlesung erklärte Pierre Bourdieu, in welcher Weise das Fernsehen, das eine zentrale Stellung innerhalb des Journalismus besetzt, den Charakter der Diskurse beeinflußt und verändert hat: in der bildenden Kunst, Litera-tur, Philosophie und Politik, ja selbst in Jurisdiktion und Wissenschaft - und zwar dadurch, daß auch auf diese Gebiete teilweise die Logik der Einschalt-quoten übergegriffen und die demagogische Unterwerfung unter die Erfor-dernisse des kommerziellen Plebiszits stattgefunden hat. Pierre Bourdieu war Professor am Collège de France. Er verstarb am . Januar . Von ihm liegen im Suhrkamp Verlag vor: Homo academicus (stw ); Die feinen Unterschiede (stw ); Rede und Antwort (es ); Die politische Ontologie Martin Heideggers (es ); Sozialer Raum und »Klassen« (stw ); Sozialer Sinn (stw ); Soziologische Fragen (es ); Zur Soziologie der symbolischen Formen (stw ); Praktische Vernunft (es ); Reflexive Anthropologie (zu-sammen mit Loic J. D. Wacquant).

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Pierre BourdieuÜber das Fernsehen

Aus dem Französischenvon Achim Russer

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe:Sur la télévision.

Das Buch erschien als Band der von Pierre Bourdieu herausgegebenen Reihe

»Liber - Raison d‘agir«.

edition suhrkamp Erste Auflage © Liber - Raison d‘agir

© der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Jung Satzcentrum, LahnauDruck: Nomos Verlagsgesellschaff, Baden-Baden

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in Germany -

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Inhalt

Zwei Fernsehvorträge 9

Vorbemerkung 10

Das Fernsehstudio und seine Kulissen 15

Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen 51

Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen 90

Im Banne des Journalismus 97

Die Olympischen Spiele 115

NachwortJournalismus und Politik 121

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Zwei Fernsehvorträge

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Vorbemerkung1

Um über die übliche Hörerschaft des Collège de France hin-aus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, habe ich mich entschlossen, die beiden folgenden Vorträge im Fernsehen zu zeigen. Ich bin nämlich der Auffassung, daß das Fernse-hen aufgrund der unterschiedlichen Mechanismen, die ich kurz beschreiben werde – eine vertiefte, systematische Un-tersuchung hätte viel mehr Zeit erfordert –, für verschiede-ne Sphären der kulturellen Produktion, für Kunst, Literatur, Wissenschaft, Philosophie, Recht, eine sehr große Gefahr bedeutet; ich meine sogar, daß es in Gegensatz zu dem, was gerade verantwortungsbewußte Journalisten vermutlich in gutem Glauben denken und sagen, eine nicht weniger gro-ße Gefahr für das politische und demokratische Leben dar-stellt. Ich könnte das leicht nachweisen, wenn ich mir die Behandlung vornähme, die das Fernsehen und in seinem

Dieser Text stellt die überarbeitete Transkription der Aufzeichnung zweier Fernsehsendungen dar, die am . März im Rahmen einer Reihe vom Collège de France produzierter und vom Privatsender Paris Premiere im Mai ausgestrahlter Kurse entstanden (Sur la television und Le champ journalistique et la télévision, Collège de France – CNRS audiovisuel). Der anschließende Text (der ursprünglich ein dem Einfluß des Fernsehens gewidmetes Heft der Actes de la recherche en sciences socia-les einleitete) resümiert die ematik der Vorträge in stärker begrifflich orientierter Sprache.

Das gegründete Collège de France stellt heute den Gipfel der in-stitutionalisierten Wissenschaft m Frankreich dar, ein Pantheon von Nobelpreisträgern (in den Naturwissenschaften) und anderer Leuchten ihres jeweiligen Faches. Seit hat Pierre Bourdieu hier den Lehrstuhl für Soziologie inne. (A. d. Ü.)

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Gefolge die Presse um der Steigerung von Einschaltquoten und Auflagen willen den Urhebern von fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen und Taten angedeihen las-sen, oder die Zugeständnisse aufzeigte, die es tagtäglich einer national beschränkten, um nicht zu sagen nationalis-tischen Auffassung von der Politik macht. Für den Fall, daß ich verdächtigt werde, ausschließlich französische Beson-derheiten hochzuspielen, möchte ich auf die tausend patho-logischen Züge des amerikanischen Fernsehens verweisen, etwa auf die Behandlung des Prozesses gegen O.J. Simpson in den Medien oder darauf, wie kürzlich eine simpler Fall von Totschlag zum »Sexualverbrechen« aufgebauscht und damit eine ganze Reihe unkontrollierbarer juristischer Konsequenzen ausgelöst wurde. Am besten aber werden die durch schrankenlosen Wettbewerb um die Einschaltquote ausgelösten Gefahren von dem Vorfall illustriert, der sich kürzlich zwischen Griechenland und der Türkei ereignete: Nachdem ein privater Fernsehsender zur Mobilisierung für das winzige, unbewohnte Eiland Imia aufgerufen und entsprechende kriegerische Parolen verlautbart hatte, zogen die anderen privaten Fernseh- und Rundfunkanstalten in Griechenland nach und überboten sich, gefolgt von der Tagespresse, in nationalistischen Delirien; aufgrund dersel-ben Logik der Schlacht um die Einschaltquote legten sich daraufhin die türkischen Fernsehanstalten und Zeitungen ins Zeug. Griechische Soldaten landeten auf dem Inselchen, Flottenverbände wurden verlagert, ein Krieg mit knapper Not vermieden. Vielleicht liegt das Neue an den Explosio-nen von Fremdenhaß und Nationalismus in der Türkei und in Griechenland, aber auch im ehemaligen Jugoslawien, in

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Frankreich und andernorts wesentlich allein in den von den modernen Kommunikationsmitteln gebotenen Mög-lichkeiten, diese primitiven Leidenschaften auszubeuten.

Da ich meinen Kurs als Eingriff konzipierte, habe ich mich bemühen müssen, dem zu entsprechen, was ich mir vorgenommen hatte, und mich so auszudrücken, daß je-dermann mich verstehen konnte. Dies hat mich in mehr als einem Fall zu Vereinfachungen oder approximativen Ausführungen gezwungen. Um das Wesentliche, das heißt das gesprochene Wort, in den Vordergrund zu rücken, habe ich mich im Einvernehmen mit dem Produzenten und im Unterschied von (oder in Gegensatz zu) dem, was sonst im Fernsehen gang und gäbe ist, entschlossen, alle formalen Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik zu meiden und auch auf Illustrationen – Auszüge aus Sendun-gen, Faksimiles von Dokumenten, Statistiken usw. – zu verzichten: Sie hätten nicht nur kostbare Zeit in Anspruch genommen, sondern womöglich auch die Linie argumen-tierender Beweisführung verwischt, an die ich mich halten wollte. Der Kontrast zu dem gewöhnlichen Fernsehen, dem Gegenstand der Untersuchung, und zwar im Sinne einer Selbstbehauptung des analytischen und kritischen Dis-kurses, war gewollt, mochte er auch die pedantischen und schwerfälligen, didaktischen und dogmatischen Züge einer professoralen Vorlesung annehmen. Wie es heißt, wird bei politischen Diskussionen in den Vereinigten Staaten darauf geachtet, daß die Wortmeldungen sieben Sekunden in der Regel nicht überschreiten. Angesichts solcher Tendenzen bleibt die auf Argumenten aufgebaute öffentliche Rede eine der verläßlichsten Formen des Widerstands gegenüber Ma-nipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit.

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Ich weiß wohl, daß die Kritik durch den Diskurs, auf die ich mich beschränken muß, nichts weiter als ein Notbehelf ist, ein Substitut, und weniger effizient und unterhaltsam als eine echte Kritik des Bildes durch das Bild, wie man sie hier und da findet, von Jean-Luc Godard (in Tout va bien, Ici et ailleurs oder Comment ça va) bis hin zu Pierre Carles. Ich weiß auch, daß, was ich tue, die Fortsetzung und Er-gänzung des Kampfes darstellt, den alle um die »Unabhän-gigkeit ihres Kommunikationskodes« bemühten Film- und Fotoproduzenten führen, insbesondere – ich muß ihn noch einmal zitieren – Jean-Luc Godard, dessen Analyse einer Fotografie Joseph Krafts und ihrer Verwendung ein Muster kritischer Reflexion über Bilder darstellt. Und ich könnte mein eigenes Programm mit den Worten dieses Regisseurs formulieren: »Die Arbeit bestand darin, sich politisch (ich würde sagen: soziologisch) mit Bildern und Tönen und ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Sie bestand darin, nicht mehr zu sagen: >Das ist ein genaues Bild<, sondern: >Das ist genau genommen ein Bild<; nicht mehr zu sagen: >Das ist ein Offizier der Nordstaaten auf einem Pferd<, son-dern: >Das ist ein Bild eines Pferdes und eines Offiziers<.«

Ohne mich allzu großen Illusionen hinzugeben, möchte ich wünschen, daß meine Untersuchungen nicht als »An-griffe« gegen die Journalisten und das Fernsehen aufgefaßt würden, zu denen mich irgendeine nostalgische Sehnsucht nach einem Kulturfernsehen im Stil der »Télé Sorbonne« frü-herer Zeiten triebe, oder auch eine ebenso sterile wie regres-sive Ablehnungshaltung gegenüber dem, was das Fernsehen zum Beispiel durch die Ausstrahlung mancher Reportagen trotz allem zustande bringt. Obwohl ich alle Gründe habe zu befürchten, daß meine Untersuchungen vor allem die

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narzißtische Selbstgefälligkeit eines Journalismus bedienen, der dazu neigt, sich selbst in pseudokritischer Haltung zu beäugen, hoffe ich, denen Werkzeuge oder Munition zu liefern, die in diesem Bereich dafür kämpfen, daß, was ein hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte wer-den können, sich nicht endgültig in ein Mittel symbolischer Unterdrückung verwandle.

Zusatz des Übersetzers

Die in den folgenden Fernsehvorträgen genannten Grö-ßen der Medienszene kennt in Frankreich jedes Kind; sie bedurften daher so wenig einer Vorstellung wie etwa ein Reich-Ranicki oder ein Rudolf Augstein in Deutschland. Jenseits der Landes-(und Sprach-)Grenzen sind die meisten von ihnen dafür um so unbekannter. Dem Übersetzer er-schien es daher angebracht, das Literaturverzeichnis zu den Vorträgen um ein Personenverzeichnis zu ergänzen, das den deutschsprachigen Lesern mindestens eine umrißhafte Vorstellung von den erwähnten Mediengrößen vermittelt: weniger, weil es um sie als Individuen ginge (das Gegenteil ist der Fall), als weil ihre publizistische Machtstellung für die anderer Mediengewaltigen in anderen Ländern stehen mag. Siehe S. ff.

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Erster VortragDas Fernsehstudio und seine Kulissen

Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann, zumal nicht über das Fernsehen. Wenn es aber wahr ist, daß man im Fernsehen nichts sagen kann, sollte ich dann nicht mit vielen der größten Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller daraus den Schluß ziehen, es gar nicht erst zu versuchen?

Mir scheint, man braucht diese krasse Alternative »alles oder nichts« nicht hinzunehmen. Ich glaube, es ist wich-tig, im Fernsehen zu sprechen – aber unter bestimmten Voraussetzungen. Dank der audiovisuellen Abteilung des Collège de France verfüge ich heute über ganz außergewöhn-liche Voraussetzungen: Erstens ist meine Redezeit nicht begrenzt; zweitens zwingt mir niemand ein ema auf (ich habe mich selbst dafür entschieden und kann meine Entscheidung immer noch umstoßen); drittens sitzt nicht, wie in den üblichen Sendungen, jemand da, der mich im Namen der Technik, der »Zuschauer-denen-man-erklären-muß«, der Moral, der Schicklichkeit usw. zur Ordnung ruft. Also eine ganz ungewöhnliche Situation, besitze ich doch, um mich altmodisch auszudrücken, eine ganz unübliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Indem ich unterstreiche, was meine Voraussetzungen an

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Außergewöhnlichem haben, sage ich schon etwas über die gewöhnlichen Voraussetzungen, unter denen man sonst im Fernsehen sprechen muß.

Warum aber, wird man einwenden, wird trotz allem akzeptiert, unter den gewöhnlichen Voraussetzungen in Fernsehsendungen aufzutreten? Eine sehr wichtige Frage, und trotzdem wird sie von der Mehrzahl der Forscher, der Wissenschaftler, der Schriftsteller, die an solchen Sendun-gen teilnehmen, nicht gestellt – von den Journalisten ganz zu schweigen. Daß diese Frage nicht gestellt wird, muß man, wie mir scheint, unbedingt in Frage stellen. Meines Erachtens verrät derjenige, der eine solche Teilnahme ak-zeptiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob er überhaupt et-was wird sagen können, deutlich, daß er nicht kommt, um etwas zu sagen, sondern aus ganz anderen Gründen, und zwar: vor allem um sich zu zeigen und gesehen zu werden. «Sein«, sagt Berkeley, »ist wahrgenommen werden.« Für manche unserer Philosophen (und unserer Schriftsteller) ist Sein: im Fernsehen wahrgenommen werden, von den Journalisten wahrgenommen werden, von ihnen, wie man so sagt, gern gesehen werden (was zahlreiche Kompromisse und Kompromittierungen mit sich bringt) – und tatsäch-lich können sie kaum davon ausgehen, durch ihr Werk auf Dauer zu existieren, so daß sie sich gezwungen fühlen, so oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen, also in regelmäßigen und möglichst kurzen Abständen Schriften zu publizieren, die, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, haupt-sächlich verfaßt werden, um deshalb Einladungen zu Fern-sehsendungen zu erhalten,

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Diese Präambel erscheint vielleicht ein wenig lang, aber ich finde es wirklich wünschenswert, daß die Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler sich ausdrücklich – und womöglich gemeinsam, damit nicht jeder es nur mit sich selbst abmachen muß – die Frage stellen, ob man Einla-dungen zu Fernsehsendungen annimmt oder nicht, ob man Bedingungen damit verbindet oder nicht, usw. Mir liegt sehr daran (mag dies auch ein Wunschtraum bleiben), daß sie dieses Problem angehen, und zwar gemeinsam, daß sie Verhandlungen mit Fachjournalisten und anderen aufzu-nehmen versuchen, um zu einer Art vertraglicher Abma-chung zu gelangen. Selbstverständlich geht es nicht darum, die Journalisten zu verurteilen oder zu bekämpfen, die unter den Zwängen, die auszuüben sie genötigt sind, häufig ge-nug selbst leiden. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, sie an Überlegungen zu beteiligen, die darauf abzielen, Mittel zur gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumen-talisierung ausfindig zu machen.

Die schlichte, Weigerung, sich überhaupt im Fernsehen zu äußern, scheint mir nicht vertretbar. Ich denke sogar, daß man in bestimmten Fällen förmlich dazu verpflichtet ist – allerdings müssen vernünftige Voraussetzungen dafür gegeben sein. Bei der Entscheidung ist das Spezifische des Instruments Fernsehen in Rechnung zu stellen. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, das jedenfalls theore-tisch die Möglichkeit gibt, jedermann zu erreichen. Daher sind ein paar Vorfragen zu berücksichtigen: Geht das, was ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede formal so zu gestalten, daß alle sie verstehen? Verdient sie, von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie über-haupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade

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der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem vielleicht der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ih-rer Forschung allen zugänglich zu machen. Wir sind, wie Husserl sagte, »Beamte der Menschheit«, vom Staat bezahlt, um etwas aus dem Bereich der Natur oder der Gesellschaft ans Licht zu bringen, und es gehört, wie mir scheint, zu unseren Verpflichtungen, das Entdeckte offenzulegen. Ich habe mich immer bemüht, die Frage der Teilnahme oder Nichtteilnahme an einer Sendung von der Beantwortung dieser Vorfragen abhängig zu machen, und würde mir wün-schen, daß alle, die vom Fernsehen eingeladen werden, sie sich stellen oder nach und nach verpflichtet werden, sie sich zu stellen, weil die Zuschauer und Fernsehkritiker sich fra-gen, sobald einer von ihnen auf dem Bildschirm erscheint: Hat er etwas zu sagen? Sind die Voraussetzungen so, daß er sich verständlich machen kann? Verdient das, was er sagt, hier geäußert zu werden? Mit einem Wort: Was macht er da eigentlich?

Eine unsichtbare Zensur

Um auf das Wesentliche zurückzukommen: Ich habe zu Anfang vorgebracht, daß mit dem Auftritt auf dem Bild-schirm eine regelrechte Zensur verbunden ist, ein Verlust an Autonomie, was unter anderem daran liegt, daß das ema und die Voraussetzungen vorgegeben sind, unter denen etwas mitgeteilt werden kann, und vor allem, daß die be-schränkte Redezeit derart einengt, daß sehr wahrscheinlich gar nichts gesagt werden kann. Man wird von mir erwarten,

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daß ich diese Zensur, der nicht nur die Studiogäste unterlie-gen, sondern auch die Journalisten, die mit dazu beitragen, daß sie ausgeübt wird, politisch nenne. Tatsächlich gibt es politische Eingriffe, gibt es politische Kontrolle (nament-lich vermittels der Besetzung von Führungspositionen); und gewiß ist vor allem in Zeiten wie der heutigen, in der eine Reservearmee für die Fernseh- und Rundfunkmetiers in Bereitschaft steht und eine sehr große Stellenunsicher-heit herrscht, die Neigung zu politischem Konformismus groß. Noch bevor man sie zur Ordnung rufen muß, beugen sich die Menschen, einer bewußten oder unbewußten Form von Selbstzensur.

Es existieren daneben ökonomische Zensurinstanzen. Tatsächlich geben letzten Endes ökonomische Zwänge beim Fernsehen den Ausschlag. Aber man darf sich nicht damit begnügen zu sagen, daß die Vorgänge bei den Fernsehsen-dern von den Leuten bestimmt werden, die sie besitzen, von den Firmen, die dort Werbespots bezahlen, vom Staat, der Subventionen vergibt. Wenn man von einem Fernsehkanal nichts wüßte als den Namen des Eigentümers, den Anteil der unterschiedlichen Werbeeinblendungen am Budget und die Höhe der Subventionen, verstünde man noch nicht viel. Dennoch ist es nicht unwichtig, an diese Zusammenhänge zu erinnern. Es ist nicht belanglos zu wissen, daß NBC der General Electric gehört (was heißt, daß bei eventuellen Inter-views mit Anrainern von Atomkraftwerken wahrscheinlich ... und übrigens würde niemand auf die Idee kommen...), daß CBS Westinghouse gehört, daß ABC Disney gehört und TF Bouygues gehört, was über eine ganze Reihe von Ver-mittlungsschritten durchaus seine Folgen hat. Klarerweise wird eine französische Regierung, die weiß, daß TF für

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Bouygues steht, bestimmte Schritte gegen Bouygues nicht unternehmen. Hinter diesen altbekannten, abgeklapperten Tatsachen, die noch die primitivste Kritik wahrnimmt, ver-stecken sich aber anonyme, unsichtbare Mechanismen, über die auf vielerlei Art eine Zensur ausgeübt wird, die aus dem Fernsehen ein phantastisches Instrument zur Aufrechter-haltung der symbolischen Ordnung macht.

Hier muß ich einen Moment innehalten. Soziologische Analysen rufen oft ein Mißverständnis hervor: Wer selbst zum Untersuchungsgegenstand gehört – in diesem Fall die Journalisten -, neigt dazu, das Aussprechen, das Entschlei-ern von Mechanismen als ein gegen Personen gerichtetes Denunzieren aufzufassen, als »Angriffe«, wie man so sagt, als persönliche, ad hominem geführte Attacken (dabei bräuchte der Soziologe nur ein Zehntel von dem zu zi-tieren, was er hört, wenn er mit Journalisten spricht, über die lukrativen Einladungen z. B., die sie ihrer Bekanntheit verdanken, oder über das zu Recht so genannte »Fabrizie-ren« von Sendungen, um von denselben Journalisten der Parteilichkeit und des Mangels an Objektivität bezichtigt zu werden). Die Menschen mögen es im allgemeinen nicht, als Objekte aufgefaßt, objektiviert zu werden, und die Jour-nalisten mögen es weniger als irgendeiner. Sie fühlen sich als Zielscheibe, aufgespießt, wo doch die Untersuchung eines Milieus, je weiter sie fortschreitet, die Beteiligten von ihrer Verantwortlichkeit losspricht – was nicht heißt, daß man alles entschuldigt; und je besser man versteht, wie es funktioniert, um so besser versteht man auch, daß die Be-teiligten manipuliert sind und Manipulatoren zugleich. Sie manipulieren sogar sehr oft um so besser, wenn sie selbst manipuliert sind, ohne es zu wissen. Ich hebe diesen Punkt

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hervor, obwohl ich weiß, daß, was ich sage, trotz allem als persönliche Kritik aufgefaßt werden wird – eine Reaktion, mit der man sich auch eine Analyse vom Leibe halten kann. Ich glaube sogar, daß das Hochspielen von Skandalen, von Taten und Untaten dieses oder jenes Moderators oder der exorbitanten Bezüge bestimmter Fernsehproduzenten in-sofern dazu beitragen kann, vom Wesentlichen abzulenken, als die Korruptheit von Personen jene strukturelle Korrupt-heit maskiert (darf man da aber noch von Korruptheit spre-chen?), die über Mechanismen wie den Kampf um Markt-anteile das gesamte Spiel beeinflußt und die ich versuchen will zu analysieren.

Ich möchte also eine Reihe von Mechanismen ausein-andernehmen, die dazu führen, daß das Fernsehen eine besonders schädliche Form symbolischer Gewalt darstellt. Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der still-schweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewußt sind, daß sie sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen; sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt in-nerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern, und ganz besonders in den von der Medienkommunikation geprägten Beziehungen.

Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten »Vermischten Meldungen«, seit jeher der Tummelplatz der Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben, und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige Ingredienzien an die vorderste Stelle, an den Beginn der

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Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als respektabel zu erscheinen. Die »Vermischten Meldungen« sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerk-samkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt interessieren, die omnibus – für alle – da sind. Omnibus-Meldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die »Vermischte Meldung« stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte, über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten verschleudert werden, um derart Unwichtiges zu sagen, so deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges ver-bergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersu-chungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei Tageszeitung lesen, daß sie dem Fernsehen als einziger Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen. Legt das Fernsehen den Akzent auf die »Vermischten Meldungen«, so füllt es die

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Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben, einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkur-renz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen, deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (ab-gesehen von der Information, die im puren Kennenlernen der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen ihrer Gesichter, ihrer Ausdrucksweisen, Dingen, die noch die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ih-nen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals suspekt werden).

Verstecken durch Zeigen

Ich habe bisher den Akzent auf das Offensichtlichste ge-legt. Jetzt möchte ich zu etwas weniger Offensichtlichem übergehen und darlegen, wie das Fernsehen paradoxerweise verstecken kann, indem es zeigt, etwas anderes zeigt, als es zeigen müßte, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich informieren; oder auch, indem es zeigt, was gezeigt werden muß, aber so, daß man es nicht zeigt oder bedeutungslos macht oder so konstruiert, daß es einen Sinn annimmt, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

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Dafür möchte ich zwei Beispiele anführen, die ich Ar-beiten von Patrick Champagne entnehme. In dem Buch La misère du monde hat Patrick Champagne ein Kapitel der publizistischen Verarbeitung der sogenannten Banlieue-Phänomene gewidmet, dem Bild, das die Medien von den proletarischen Wohnvierteln am Rand französischer Groß-städte liefern. Er zeigt, wie Journalisten aufgrund der ihrem Beruf immanenten Tendenzen, ihrer Weltsicht, ihrer Aus-bildung, ihrer Einstellungen, aber auch aufgrund der Logik ihres Gewerbes aus jener besonderen Lebenswirklichkeit in den Vorstädten in Übereinstimmung mit ihren Wahrneh-mungskategorien einen ganz besonderen Aspekt auswählen. Lehrer verwenden zur Erklärung solcher Kategorien – das heißt der unsichtbaren Strukturen, die das Wahrgenomme-ne organisieren – am liebsten die Metapher »Brille«. Solche Kategorien sind Produkt unserer Erziehung, unserer Ge-schichte usw. Die Journalisten tragen eine spezielle »Brille«, mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt.

Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensati-onellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt die Dramatisierung, und zwar im doppelten Sinn: Es setzt ein Ereignis in Bilder um, und es übertreibt seine Bedeu-tung, seinen Stellenwert, seinen dramatischen, tragischen Charakter. An den Vorstädten sind die Aufruhrszenen von Interesse. Aufruhr: welch vielsagendes Wort... (Mit den

Herausgegeben von Pierre Bourdieu, Paris, Editions du Seuil, . Auf deutsch unter dem Titel Das Elend der Welt erschienen. (A. d. Ü.)

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Worten geschieht dasselbe. Mit Alltagswörtern verblüfft man weder den »Bourgeois« noch das »Volk«. Die Wörter müssen schon etwas Besonderes haben. Paradoxerweise wird das Fernsehen im Grunde vom Wort dominiert. Das Photo ist nichts ohne seine Legende, die sagt, was man zu lesen hat – legendum -, das heißt aber oft genug: Legenden, die Unsinn schwafeln. Benennen heißt bekanntlich sicht-bar machen, schaffen, ins Leben rufen. Und Benennungen können unheilvolle Verwirrung stiften: Islam, islamisch, is-lamistisch – ist der Schleier nun islamisch oder islamistisch? Und wenn es sich einfach um ein Tuch handelte, mehr nicht? Manchmal habe ich Lust, jedes Wort der Sprecher in Frage zu stellen, so oft reden sie leichtfertig daher, ohne sich im mindesten über Problematik und Bedeutung ihrer Formulierungen im klaren zu sein und über die Verantwor-tung, die sie übernehmen, wenn sie sich vor Tausenden von Zuschauern äußern, ohne zu verstehen, was sie sagen, und ohne zu verstehen, daß sie es nicht verstehen. Denn solche Wörter bringen etwas hervor, schaffen Phantasmen, Ängs-te, Phobien oder schlicht falsche Vorstellungen. Was Jour-nalisten interessiert, ist, grob gesagt, das Ungewöhnliche, d. h., was für sie ungewöhnlich ist. Was für andere banal ist, kann für sie ungewöhnlich sein, und umgekehrt. Sie interessieren sich für das, was gewöhnlich nicht stattfindet, für das Nichtalltägliche – die Tagespresse muß täglich das Nichtalltägliche bringen, keine leichte Arbeit... Daher ihre Vorliebe für das gewöhnliche Ungewöhnliche, für Feuers-brünste, Überschwemmungen, Morde, »Vermischte Mel-dungen«. Das Ungewöhnliche ist aber auch und vor allem das, was, gemessen an den Nachrichten der anderen Medi-en, nicht gewöhnlich ist; was anders ist als das Gewöhnli-

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che und anders als das, was die anderen vom Gewöhnlichen melden oder gewöhnlich melden. Ein furchtbarer Druck, der zur Jagd nach dem Scoop zwingt. Um als erster etwas zu sehen und zu zeigen, ist man zu fast allem bereit, und da alle sich gegenseitig in die Karten schauen, um einander zu-vorzukommen, vor den anderen da zu sein oder es anders als die anderen zu zeigen, machen alle am Ende dasselbe, und das Ringen um Exklusivität, das andernorts, in anderen Berufsfeldern Originalität, Einzigartigkeit hervorbringt, endet hier in Uniformisierung und Banalisierung.

Diese interessierte, unablässige Jagd nach dem Unge-wöhnlichen kann ebenso politische Auswirkungen zeitigen wie direkt politische Anweisungen oder von Furcht diktier-te Selbstzensur. Über die außerordentliche Macht des vom Fernsehen ausgestrahlten Bildes können die Journalisten Wirkungen ohnegleichen hervorrufen. Der Anblick, den eine Vorstadt täglich bietet, ihre Monotonie, ihre Tristesse sagt niemandem etwas, interessiert niemanden, und am wenigsten die Journalisten. Wenn sich die Journalisten wirklich für sie interessieren, wenn sie sie wirklich zeigen wollten, wäre das allerdings auch äußerst schwierig. Denn nichts ist schwieriger, als die Realität in ihrer Banalität erfahrbar zu machen. Flaubert sprach gerne davon, »das Mittelmäßige sorgfältig auszumalen«. Darin besteht das Problem der Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu machen; es so zu schildern, daß sichtbar wird, wie außerge-wöhnlich es ist.

Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, daß es er-zeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen, den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch errei-

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chen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen. Sie kann Gedanken oder Vorstellungen ins Leben rufen, aber auch Bevölkerungsgruppen konstituieren. Die »Vermisch-ten Meldungen«, die Zwischenfälle und Unfälle des Alltags können mit politischen, ethischen usw. Implikationen auf-geladen werden, die starke und oft negative Gefühle aus-lösen wie Rassismus, Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit; noch der simple Bericht richtet ja, denn er impliziert immer eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit, die sozial mo-bilisierende (oder demobilisierende) Folgen haben kann.

Das andere Beispiel, das ich Patrick Champagne ent-lehne, betrifft die Schülerstreiks von . Hier zeigte sich, wie Journalisten in bestem Glauben, in voller Naivität, ganz von ihren eigenen Interessen – von dem, was sie interessiert

– geleitet, von ihren Vorannahmen, ihren Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, ihren unbewußten Erwartun-gen, Wirklichkeitseffekte und Effekte in der Wirklichkeit hervorrufen können, die niemand gewollt hat und die in manchen Fällen katastrophal sein können. Die Journalisten hatten den Mai im Kopf und Angst, »ein neues « zu verpassen. Da man es mit Jugendlichen zu tun hatte, die nicht sehr politisiert waren und nicht recht wußten, was sie sagen sollten, baute man Sprecher auf (die man vermut-lich unter den politisiertesten fand), nahm sie ernst, und die Sprecher nahmen sich auch ernst. Das eine ergab das andere, und das Fernsehen, das die Wirklichkeit wieder-zugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung von Wirklichkeit; aus dem Beschreiben der sozialen Welt durch das Fernsehen wird ein Vorschreiben. Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und

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politisch existiert. Nehmen wir an, ich will erreichen, daß das Rentenalter auf fünfzig Jahre herabgesetzt wird. Vor ein paar Jahren hätte ich eine Demonstration organisiert, wir hätten Transparente gemalt, wären durch die Straßen gezogen und hätten beim Erziehungsministerium eine Erklärung abgegeben; heute – ich übertreibe nur wenig – müßte ich mir einen geschickten Werbeberater nehmen. Für die Medien würden wir ein paar Gags aufziehen, die bei ihnen ankommen, Verkleidungen, Masken usw., und über das Fernsehen vielleicht ähnliches erreichen wie durch eine Demonstration mit Teilnehmern.

Im Alltäglichen wie auf globaler Ebene geht es in der Politik unter anderem um die Durchsetzung von Wahrneh-mungsprinzipien, um die Brillen, mit denen die Menschen die Welt aufgrund bestimmter Einteilungen sehen (Ju-gend und alte Leute, Ausländer und Franzosen usw.). Die Durchsetzung solcher Einteilungen schafft Gruppen, die sich mobilisieren und es auf diesem Wege schaffen können, ihre Existenz geltend zu machen, Druck auszuüben und Vorteile zu erlangen. In solchen Auseinandersetzungen spielt heute das Fernsehen eine entscheidende Rolle. Wer heutzutage noch glaubt, daß es ausreicht zu demonstrieren, ohne an das Fernsehen zu denken, läuft Gefahr, sein Ziel zu verfehlen: Demonstrationen müssen mehr und mehr für das Fernsehen produziert, also so gestaltet werden, daß die Fernsehleute sich aufgrund ihrer Wahrnehmungskategori-en dafür interessieren, sie aufgreifen, den Adressatenkreis erweitern und ihnen damit erst zur vollen Wirkung verhel-fen.

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Die zirkuläre Zirkulation der Nachricht

Bisher habe ich so getan, als wäre der Urheber all dieser Prozesse der Journalist. Aber der Journalist ist ein abstrak-tes, nichtexistentes Gebilde; was existiert, sind Journalisten, die sich durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Bildungsstufe, ihre Zeitung, ihr »Medium« voneinander unterscheiden. Die Welt der Journalisten ist eine zerrissene Welt, ein Welt voller Konflikte, Konkurrenz, Feindseligkeiten. Meine Analyse ist dennoch zutreffend, denn die Produkte der Journalisten sind, darauf kommt es mir an, letztlich noch viel homogener, als man glaubt. Noch hinter den deutlichs-ten Unterschieden – sie haben vor allem mit der politischen Couleur der Zeitungen zu tun (die übrigens unleugbar immer mehr jegliche Couleur vermissen lassen...) – stecken tiefgreifende Ähnlichkeiten, die hauptsächlich auf die von den Nachrichtenquellen ausgehenden Beschränkungen zurückzuführen sind und darüber hinaus auf eine ganze Reihe von Mechanismen, von denen der wichtigste die Wettbewerbslogik ist. Das liberale Kredo predigt ständig, daß das Monopol Uniformität und Konkurrenz Vielfalt hervorbringt. Ich habe natürlich nichts gegen Konkur-renz, ich stelle nur fest, daß sie sich auf Journalisten und Journale, die denselben Zwängen, denselben Umfragen, denselben Anzeigenkunden ausgeliefert sind, homogeni-sierend auswirkt (man braucht nur daran zu denken, mit welcher Leichtigkeit Journalisten von einer Zeitung zur anderen wechseln). Vergleichen Sie bloß die Titelseiten der Wochenpresse im Vierzehntagerhythmus: Sie finden fast überall dieselben Aufmacher. Ebenso unterscheiden sich

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die Fernseh- oder Radionachrichten der meistverbreiteten Programme besten- oder schlimmstenfalls in der Reihen-folge der Meldungen.

Das liegt zum Teil am kollektiven Charakter der Pro-duktion. Filme zum Beispiel werden von Kollektiven pro-duziert, der Vorspann führt die Namen auf. Das Kollektiv aber, das Fernsehsendungen herstellt, besteht nicht nur aus den Mitgliedern einer Redaktion; es schließt die Gesamt-heit der Journalisten ein. Immer wieder hört man die Frage: »Wer ist eigentlich das Subjekt eines Diskurses?« Nie weiß man wirklich, ob man das Subjekt dessen ist, was man sagt... Wir sagen viel weniger Originelles, als wir glauben. Das gilt ganz besonders in Welten, in denen die kollektiven Zwänge erheblich sind, und vor allem die von der Konkur-renz ausgehenden Zwänge, insofern sie jeden Produzenten zu Dingen veranlaßt, die er unterlassen würde, wenn es die anderen nicht gäbe; Dinge zum Beispiel, die er tut, um vor den anderen da zu sein. Niemand liest so viele Zeitungen wie die Journalisten, die im übrigen zu der Ansicht neigen, daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. (Sie vergessen, daß viele keine Zeitung lesen, und die anderen eine einzige. Es kommt nicht oft vor, daß man am selben Tag Le Monde, Le Figaro und Liberation liest, wenn man nicht gerade vom Fach ist.) Für Journalisten ist Zeitunglesen unerläßlich und die Presserundschau ein Arbeitsinstrument: Um zu wissen, was man sagen wird, muß man wissen, was die anderen gesagt haben. Dies ist einer der Mechanismen, die Homo-geneität unter den Produkten erzeugen. Wenn Liberation auf der ersten Seite über ein Ereignis berichtet, muß Le Monde nachziehen; gleichzeitig wird sich diese Zeitung ein wenig absetzen, um Distanz an den Tag zu legen und ihrem

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Ruf als niveauvolles, seriöses Blatt gerecht zu werden. Aber diese kleinen Unterschiede, auf die Journalisten subjektiv so viel Wert legen, verbergen enorme Ähnlichkeiten. In den Redaktionskonferenzen verbringt man beträchtlich viel Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders von dem, »was sie gemacht haben und wir nicht« (»das haben wir verschlafen!«) und was man – selbstverständlich

– hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben.Diese wechselseitige Bespiegelung bringt eine schreck-

liche Abkapselung, eine geistige Einzäunung hervor. Ein anderes Beispiel dieser gegenseitigen Abhängigkeit, die alle Interviews mit Journalisten bestätigt haben: Den Ablauf der Mittagsnachrichten im Fernsehen kann man nur gestalten, wenn man die Nachrichtensendung vom Vorabend gesehen und die Morgenpresse gelesen hat; Entsprechendes gilt für die abendlichen Nachrichtensendungen. Das gehört zu den stillschweigenden Anforderungen des Berufs. Und zwar gleichzeitig, um auf dem laufenden zu sein und um sich abheben zu können, und das oft durch verschwindend klei-ne Unterschiede, denen die Journalisten eine phantastische Bedeutung beimessen und die vom Fernsehzuschauer völlig unbemerkt bleiben. (Ein besonders typischer Effekt dieses Feldes: Man glaubt, den Wünschen des Kunden am besten zu entsprechen, bezieht sich aber nur auf die Konkurrenz.)

Journalisten sagen zum Beispiel (ich zitiere): »Wir ha-ben die Nase vorn gehabt«; sie geben damit zu, daß sie in Konkurrenz stehen und daß ein gut Teil ihrer Bemühungen der Produktion winziger Unterschiede gilt. »Wir haben die Nase vorn gehabt«, das heißt: Wir sind ein Sinndiffe-rential; »sie haben den O-Ton nicht, wir haben ihn«. Vom Durchschnittszuschauer absolut nicht wahrnehmbare Dif-

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ferenzen – er könnte sie nur wahrnehmen, wenn er gleich-zeitig mehrere Programme verfolgte -, Differenzen also, die völlig unbemerkt bleiben, sind von den Produzenten aus gesehen äußerst wichtig, denn wenn sie wahrgenommen würden – so stellen sich die Produzenten vor -, trügen sie zu einer höheren Einschaltquote bei, dem verborgenen Gott dieses Universums, und der Verlust von einem Prozent bei der Einschaltquote kann schon der Tod der Sendung sein. Dies ist nur ein Beispiel für die in meinen Augen falschen Gleichsetzungen zwischen dem Inhalt von Sendungen und der unterstellten Wirkung.

Die Entscheidungen, die im Fernsehen getroffen werden, sind gewissermaßen subjektlos. Zum Beleg dieser vielleicht ein wenig übertriebenen Behauptung möchte ich nur die Auswirkungen des kurz erwähnten Effekts zirkulärer Zirkulation anführen: Die Journalisten, die im übrigen viele Gemeinsamkeiten aufweisen, solche der beruflichen Voraussetzungen, aber auch der Herkunft und Ausbildung, lesen einander, sehen einander, begegnen sich bei Debatten, bei denen man immer auf dieselben Gesichter trifft, und all das führt zu einer Geschlossenheit des Milieus und

– scheuen wir uns nicht, es auszusprechen – zu einer Zensur, die ebenso wirksam ist wie die einer zentralen Bürokratie, eines förmlichen politischen Eingriffs, ja wirksamer noch, weil unauffälliger. (Um die Undurchlässigkeit dieses Teu-felskreises zu ermessen, braucht man bloß den Versuch zu unternehmen, eine nicht ins Schema passende Nachricht über Algerien, über den Status von Ausländern in Frank-reich oder dergleichen einzuschleusen, in der Hoffnung, sie würde in die Öffentlichkeit gelangen: Pressekonferenz, Presseerklärung – nichts hilft; Analysen gelten als langwei-

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lig und kommen als Meldung nicht in Frage, es sei denn, sie sind von einer Berühmtheit unterzeichnet, deren Name Aufsehen erregt. Um den Teufelskreis aufzubrechen, muß man in ihn einbrechen, was aber nur möglich ist, wenn man sich dabei mediengerecht verhält; man muß einen »Coup« landen, der die Medien interessiert, oder wenigstens eines von ihnen, dessen Meldung die anderen aufgrund des Kon-kurrenzeffekts möglicherweise aufgreifen.)

Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin be-steht, uns zu informieren, zeigt sich, daß sie, grob gesagt, von anderen Informanten informiert werden. Natürlich, es gibt die Presseagenturen, offizielle Quellen (Ministerien, Polizei usw.), mit denen die Journalisten auf komplexe Wei-se zusammenarbeiten müssen, usw. Das Entscheidende aber an der Information, jene Information über die Information nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was übermittelnswert ist, kommt zum großen Teil von anderen Informatoren.

Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homoge-nisierung der Wichtigkeitshierarchien. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Programmdirektor, der sich seiner Sache völlig sicher war. Ich fragte ihn: »Warum plazieren Sie das an erster und jenes an zweiter Stelle?« Er antwortete: »Das versteht sich von selbst.« Und wahrscheinlich saß er ebendeswegen an der Stelle, wo er saß; weil nämlich seine Wahrnehmungskategorien genau den objektiven Anforde-rungen entsprachen. (Während ich ihm zuhörte, mußte ich an eine Äußerung Godards denken: »Verneuil ist im Vergleich zu dem Direktor von FR ein Zigeuner. Naja, im Vergleich.«) Gewiß, in demselben journalistischen Milieu

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finden unterschiedliche Journalisten auf unterschiedlichen Posten seine Selbstverständlichkeiten in ungleichem Maße selbstverständlich. Die Programmdirektoren, denen die Einschaltquote zur zweiten Natur geworden ist, haben ein Gespür für das Selbstverständliche, das der kleine An-fänger unter den Reportern nicht unbedingt teilt, der auf seinen emenvorschlag zur Antwort erhält: »Völlig unin-teressant...« Man darf sich das Milieu nicht als homogen vorstellen: Es gibt die kleinen, die jungen, die subversiven Mitarbeiter, die Quertreiber, die verzweifelt darum ringen, kleine Keile in den enormen homogenen Brei zu treiben, den der (Teufels-)Kreis der zirkulär zirkulierenden Infor-mation Leuten aufnötigt, die – nicht zu vergessen – mit-einander gemein haben, der Einschaltquote unterworfen zu sein, wobei die Führungskräfte selbst nur die ausübenden Organe der Einschaltquote sind.

Die Einschaltquote ist ein Meßinstrument, mit dessen Hilfe die verschiedenen Sender feststellen können, wieviel Zuschauer sie erreichen (einige Sender verfügen bereits über die Möglichkeit, alle Viertelstunden ihre Einschaltquote zu ermitteln, und sogar – diese Verfeinerung wurde kürzlich erst eingeführt – die Schwankungen nach groben sozialen Kategorien). Man weiß also sehr genau, was ankommt und was nicht. Dieses Meßinstrument ist für den Journalisten das göttliche Gericht: bis hin in die autonomsten Refugien des Journalismus – in der französischen Presse mögen sich vielleicht gerade noch der Canard Enchaine, Le Monde diplo-matique und ein paar kleine, von idealistischen »Träumern« redigierte Avantgardezeitschriften dem entziehen – steckt die Einschaltquote jetzt in allen Köpfen. In Redaktions-stuben, in Verlagshäusern, allerorten regiert heutzutage

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die »Einschaltquotenmentalität«. Überall ist Maßstab der Verkaufserfolg. Vor knapp dreißig Jahren noch, und das seit der Mitte des . Jahrhunderts, seit Baudelaire, Flaubert usw., war der unmittelbare Verkaufserfolg bei Avantgar-deschriftstellern – also bei Schriftstellern, die von Schrift-stellern gelesen, von Schriftstellern anerkannt wurden, und ebenso bei Künstlern, die von Künstlern anerkannt wurden – verdächtig: als Anzeichen dafür, daß jemand sich mit den Zeitläufen, mit dem Geld usw. arrangiert hatte. Gegenwärtig dagegen gilt der Markt mehr und mehr als legitime Legitimationsinstanz. Das zeigt eine andere neue Einrichtung deutlich: die Bestsellerliste. Noch heute mor-gen hörte ich einen Radiosprecher den letzten Bestseller gelehrt kommentieren: »Die Philosophie ist dieses Jahr aktuell, denn Sophies Welt hat Exemplare erreicht.« Als unumstößliches Verdikt, als göttliches Urteil zitierte er Verkaufsziffern. Über die Einschaltquote schlägt die Logik des Kommerzes auf die Kulturerzeugnisse durch. Man muß aber wissen, daß historisch gesehen alle Kulturerzeugnisse, die ich jedenfalls schätze – ich hoffe, ich bin nicht der einzi-ge – und die auch noch manch anderer zu den höchsten Er-rungenschaften der Menschheit zählen mag, Mathematik, Poesie, Literatur, Philosophie -, daß all das gegen das Äqui-valent der Einschaltquote, gegen die Logik des Kommerzes entstanden ist. Daß die Einschaltquotenmentalität selbst bei Avantgardeverlegern Einzug hält, in wissenschaftliche Institute dringt, die sich jetzt aufs Marketing verlegen, ist sehr beunruhigend, denn damit geraten die Voraussetzun-gen für die Herstellung von Werken in Gefahr, die esote-

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risch erscheinen mögen, weil sie der Publikumserwartung nicht entgegenkommen, sich aber, auf Dauer gesehen, ihr Publikum schaffen.

Die Dringlichkeit und das »Fast-inking«

Im Fernsehen zeitigt die Einschaltquote eine ganz besondere Wirkung: Sie setzt sich in Zeitdruck um. Die Konkurrenz zwischen den Zeitungen, zwischen den Zei-tungen und dem Fernsehen, zwischen den einzelnen Fern-sehsendern nimmt die Form eines Wettlaufs um den Scoop an, darum, der erste zu sein. Alain Accardo zeigt in einem Buch, in dem er eine Reihe von Interviews mit Journalis-ten veröffentlichte, wie Fernsehjournalisten dazu gebracht werden, von einer Überschwemmung zu berichten, weil die Konkurrenz von einer Überschwemmung berichtet hat, und möglichst etwas darüber zu bringen, was der andere nicht gebracht hat. Kurzum, es gibt emen, die den Zuschau-ern aufgedrängt werden, weil sie sich den Produzenten der Sendung aufdrängen; und sie drängen sich ihnen auf, weil die Konkurrenzsituation sie ihnen aufdrängt, in der sie sich gegenüber anderen Produzenten von Sendungen befinden. Diese Art wechselseitiger Pression bringt eine ganze Reihe von Konsequenzen hervor, die sich in Entscheidungen für oder gegen emen niederschlagen.

Zu Beginn sagte ich, daß das Fernsehen die Artikulation von Gedanken nicht gerade begünstigt. Ich stellte eine Ver-bindung zwischen Geschwindigkeit und Denken her, und zwar eine negative. Das ist ein alter Topos des philosophi-

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schen Diskurses: Schon Platon unterschied zwischen dem Philosophen, der Zeit hat, und den Leuten auf der agora, auf dem öffentlichen Platz, die es eilig haben. Er behauptet in etwa, daß man nicht denken kann, wenn man es eilig hat. Das ist eine eindeutig aristokratische Einstellung. Es ist der Gesichtspunkt des Privilegierten, der Zeit hat und sein Privileg nicht allzusehr in Frage stellt. Aber hier ist nicht der Ort, diesen Aspekt zu diskutieren; fest steht jedenfalls, daß es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt. Und eines der Hauptprobleme des Fernsehens ist die Frage der Beziehungen zwischen Denken und Geschwindigkeit. Kann man denken, wenn man es eilig hat? Wenn das Fern-sehen immer nur Denkern das Wort erteilt, die als beson-ders reaktionsschnell gelten, muß es sich mit fast-thinkers abfinden, Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld, schneller schießen als ihr Schatten...

Es fragt sich, warum sie diesen ganz besonderen Um-ständen gewachsen sind, warum sie es schaffen, unter Voraussetzungen zu denken, unter denen keiner außer ih-nen denkt. Die Antwort liegt, scheint mir, darin, daß sie in »Gemeinplätzen« denken. »Gemeinplätze«, von denen Flaubert in Bouvard und Pécuchet berichtet, das sind banale, konventionelle Vorstellungen, wie alle sie haben; es handelt sich aber auch um Vorstellungen, die jeder versteht, so daß das Problem ihres Verständnisses sich gar nicht erst stellt. Nun lautet jedoch die Grundfrage aller Kommunikation, sei es eine Rede, ein Buch oder eine Fernsehbotschaft, ob die Voraussetzungen des Verständnisses erfüllt sind: Ver-fügt der Hörer über den Kode, mit dem er dekodieren kann, was ich sage? Wenn Sie einen »Gemeinplatz« von sich ge-ben, ist das Problem von vornherein gelöst. Die Kommuni-

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kation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der Kommunikation. Die »Gemeinplät-ze«, die im alltäglichen Gespräch eine enorme Rolle spielen, haben den Vorteil, daß jedermann sie aufnimmt und augen-blicklich versteht: Aufgrund ihrer Banalität sind sie dem Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz dazu ist Denken von vornherein subversiv: Es muß damit beginnen, die »Gemeinplätze« zu demontieren, und damit fortfahren, daß es demonstriert, Beweise führt. Wenn Descartes von Beweisführung spricht, spricht er von langen Begründungsketten. Das braucht Zeit, eine ganze Reihe von Aussagen, die mit »also«, »folglich«, »damit«, »vorausgesetzt, daß« usw. untereinander verkettet sind, muß aneinandergefügt werden. Diese Entfaltung denken-den Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden.

Wenn das Fernsehen bestimmte fast-thinkers bevorzugt, die geistiges fast-food anbieten, vorgekaute, vorgedachte geistige Nahrung, so liegt das nicht nur daran; daß man (was auch zur Unterwerfung unter den Zeitdruck gehört) sein Adreßbuch hat, in dem immer dieselben Namen stehen (zu Rußland Herr oder Frau X, zu Deutschland Herr Y); es gibt obligatorische Interviewpartner, die die Suche nach jemandem erübrigen, der wirklich etwas zu sagen hätte, das hieße oft: nach jungen, noch unbekannten Leuten, die in ihrer Forschungsarbeit stecken und wenig dazu neigen, Medien zu frequentieren – man müßte sie erst auftreiben, wo man doch die Medienhirsche bei der Hand hat, die stets disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme abzusondern oder ihre Interviews zu geben. Es liegt auch

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daran, daß man, um unter Voraussetzungen zu denken, un-ter denen sonst keiner mehr denkt, Denker von einem ganz besonderen Schlage sein muß.

Echt falsche und falsch echte Debatten

Ich muß auf die Fernsehdiskussionen zurückkommen, hier kann ich mich kurz fassen, weil die Beweisführung, wie ich denke, leichter ist. Zunächst einmal gibt es die echt falschen Debatten, die man sofort als solche erkennt. Wenn Sie im Fernsehen Alain Mine und Attali, Alain Mine und Sorman, Ferry und Finkielkraut, Julliard und Imbert sehen, dürfen Sie davon ausgehen, daß die unter einer Decke ste-cken. (In den Vereinigten Staaten gibt es Leute, die davon leben, daß sie im Duo von Universität zu Universität ziehen, um solche Auftritte zu bestreiten...) Das sind Leute, die sich kennen, die sich treffen, die zusammen essen gehen. (In sei-nem Tagebuch L‘annee des dupes, das bei Seuil erschien, hat Jacques Julliard erzählt, wie so etwas funktioniert.) Bei einer Sendung von Durand über die Eliten zum Beispiel, die ich mir genauer ansah, waren sie alle dabei: Attali, Sarkozy, Mine ... Einmal wandte Attali sich an Sarkozy und sprach ihn an mit »Nicolas... Sarkozy«, wobei zwischen Vor- und Familienname eine kleine Pause entstand. Hätte er nur den Vornamen genannt, wäre deutlich geworden, daß sich beide gut kennen, daß sie unter einer Decke stecken, während sie zum Schein zwei entgegengesetzte Standpunkte einnah-men. So blieb es bei einem kleinen, kaum merklichen Si-gnal zwischen Komplizen. Und wirklich ist das Universum

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der ständigen Fernsehgäste eine geschlossene Welt, in der jeder jeden kennt und die einer Logik ständiger Selbstbe-stätigung lolgt. (Die Debatte zwischen Serge July und Phi-lippe Alexandre bei Christine Ockrent oder ihre Parodie bei den Guignols, die das Wesentliche davon zeigt, ist ins dieser Hinsicht beispielhaft.) Man widerspricht einander, aber das ist ein abgekartetes Spiel... So sollen Julliard und Imbert zum Beispiel die Rechte bzw. die Linke vertreten. Von jemandem, der alles durcheinanderbringt, sagen die Kabylen: »Er hat mir den Osten in den Westen gesteckt.« Diese Leute stecken einem die Rechte in die Linke. Ist sich das Publikum ihrer Komplizenschaft bewußt? Sicher ist das nicht. Sagen wir: vielleicht. Solche Skepsis äußert sich in Gestalt einer totalen Ablehnung der Hauptstadt Paris, einer Ablehnung, die die faschistische Kritik am Parisertum für ihre Zwecke einzuspannen versucht und die sich anläßlich der Novemberstreiks oft mit Worten Luft machte wie: »Das sind ja alles bloß Pariser Geschichten.« Diese Leute spüren durchaus, daß da etwas ist, verstehen aber nicht, bis zu welchem Punkt diese Welt in sich geschlossen, also gegenüber anderen, gegnüber der schieren Existenz anderer abgeschlossen ist.

Es gibt auch scheinbar echte, zum Schein echte Debatten. Eine von ihnen möchte ich kurz untersuchen: diejenige, die Cavada während der Novemberstreiks organisiert hat. Al-lem Anschein nach eine demokratische Debatte, die gerade dadurch ein bezeichnendes Licht auf andere wirft. Wenn

Les Guignols de l‘Info, eine satirische Sendung des privaten Fernsehpro-gramms Canal +, die Größen aus der Welt der Politik und der Medien karikiert. (A. d. Ü.)

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man sich nämlich anschaut, was während dieser Debatte vor sich ging (ich werde wieder mit dem Sichtbarsten an-fangen und versuchen, zum Verstecktesten vorzudringen), stellt man eine Reihe von Zensurmaßnahmen fest.

Zunächst einmal: die Rolle des Moderators. Sie frappiert die Zuschauer immer. Sie sehen genau, daß seine Einwür-fe die anderen Teilnehmer einengen. Er legt das ema fest, bestimmt die Fragestellung (die oft, wie in Durands Sendung »Sollen die Eliten verbrannt werden?«, so absurd ist, daß alle Antworten, positive wie negative, es gleicher-maßen sind). Er wacht über die Einhaltung der Spielregeln, die nicht für alle dieselben sind: für einen Gewerkschaftler gelten andere als für Herrn Peyrefitte von der Académie Française. Der Moderator erteilt das Wort, er signalisiert die Wichtigkeit von Beiträgen. Manche Soziologen ha-ben versucht, das in verbaler Kommunikation implizierte Nichtverbale herauszuarbeiten: Mit unseren Blicken, durch Schweigen, Gesten, Mimik, Augenbewegungen usw. sagen wir ebensoviel wie mit Worten. Auch mit der Betonung, mit allem möglichen. Wir geben daher viel mehr von uns, als wir kontrollieren können (was diejenigen eigentlich beunruhigen müßte, die dem Spiegel des Narziß fanatisch ergeben sind). Schon auf der Ebene des Sprechens gibt es so viele Ausdrucksmöglichkeiten – konzentriert man sich auf die phonologische Ebene, konzentriert man sich nicht auf die syntaktische usw. -, daß niemand, nicht einmal der Kontrollierteste (außer vielleicht, wenn er eine Rolle spielt oder Parteichinesisch spricht), alles im Griff hat. Auch der Moderator greift unbewußt ein, durch seine Fragestellung, seinen Tonfall. Die einen fährt er an: »Antworten Sie, Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, oder »Ich erwarte

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Ihre Antwort. Werden Sie den Streik wiederaufnehmen?« Auch die verschiedenen Weisen, »danke« zu sagen, sind sehr bezeichnend. »Danke« kann heißen: »Ich danke Ih-nen, ich bin Ihnen dankbar, ich nehme Ihre Worte mit Dankbarkeit auf.« Es gibt aber auch eine Art, jemandem zu danken, die wie eine Entlassung klingt. »Danke« heißt dann: »O.k., Schluß jetzt. Der nächste bitte.« Das alles äu-ßert sich in infinitesimaler Weise, in winzigen Nuancen des Tons, aber der Gesprächspartner registriert es, er registriert die offenkundige Semantik und die versteckte, er registriert beide und kann dadurch heillos verwirrt werden.

Der Moderator gibt die Redezeit vor, er gibt den Rede-ton vor: respektvoll oder herablassend, entgegenkommend oder ungeduldig. Man kann zum Beispiel auf eine Art »ja, ja« sagen, die Druck ausübt, die den Gesprächspartner Ungeduld spüren läßt oder Gleichgültigkeit ... (Wir wissen, daß es bei den Interviews, die wir machen, sehr wichtig ist, den Menschen Zustimmung, Interesse zu signalisie-ren, sonst sinkt ihnen der Mut und sie verstummen. Sie erwarten nur wenig, ein »ja, ja«, ein Kopfnicken, kleine Signale des Einverständnisses, wie man so sagt.) Diese Zeichen des Einverständnisses manipuliert der Moderator, unbewußt häufiger als bewußt. So wird der Respekt vor den Größen des Kulturlebens jemanden, der als Autodidakt gerade einmal in diese Welt hineingeschnuppert hat, zur Bewunderung falscher Größen bewegen, zur Bewunderung von Mitgliedern der Académie Française und von Trägern anderer ehrfurchtgebietender Titel. Eine andere Moderato-renstrategie besteht darin, den Zeitdruck zu manipulieren, die Uhr einzusetzen, um das Wort abzuschneiden, unter l )ruck zu setzen, zu unterbrechen. Und wie alle Moderato-

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ren macht auch der unsere sich zum Anwalt des Publikums: »Ich unterbreche Sie, ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Er will damit nicht sagen, daß er ein Idiot ist, er will sagen, daß der Durchschnittszuschauer, der zwangsläufig ein Idiot ist, nichts versteht und daß er selbst sich zum Sprecher der »Dummköpfe« macht, um eine intelligente Darbietung zu unterbrechen. Dabei sind, wie ich feststellen konnte, die Leute, in deren Namen er sich diese Zensorenrolle heraus-nimmt, über die Unterbrechungen am aufgebrachtesten.

Das Ergebnis war, daß der Vertreter der Gewerkschaft CGT in einer zweistündigen Sendung alles in allem genau fünf Minuten Redezeit hatte, alle Beiträge zusammenge-nommen (dabei hätte es bekanntlich ohne die CGT keinen Streik, keine Sendung usw. gegeben). Während gleichzeitig scheinbar – und insofern war die Sendung Cavadas von Interesse – alle äußeren Anzeichen formaler Gleichheit respektiert waren.

Und das stellt unter demokratischem Gesichtspunkt ein äußerst wichtiges Problem dar: Offenkundig sind nicht alle Teilnehmer gleichermaßen mit solchen Diskussionsrunden vertraut. Es gibt die Profis in der Runde, professionelle Wortführer und Studiogäste, und die Amateure (das können Streikteilnehmer sein, die, säßen sie in einer gemütlichen Ecke beisammen...) – eine extrem ungleiche Zusammenset-zung. Um ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, müßte der Moderator ungleich sein, das heißt den Unbeholfensten ein wenig nachhelfen, wie wir es bei unseren Erhebungen für La misère du monde taten. Wenn man will, daß jemand, der nicht zu den Wortgewaltigen gehört, es schafft, etwas zu sagen (und oft sagt er dann ganz außerordentliche Dinge, Dinge, die diejenigen, die ständig das Wort führen, nicht

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einmal denken können), muß man ihn beim Sprechen un-terstützen. Um das ein bißchen edler auszudrücken, könnte ich sagen: Das ist die sokratische Aufgabe in Reinkultur. Es geht darum, sich jemandem zur Verfügung zu stellen, der etwas Wichtiges zu sagen hat und von dem man wissen will, was er zu sagen hat, was er denkt; es geht darum, ihm zu helfen, es herauszubringen. Das machen die Fernseh-moderatoren ganz und gar nicht. Nicht nur helfen sie den Hilflosen nicht, sie schlagen ihnen sozusagen auch noch die Krücken weg. Dafür gibt es -zig Methoden: nicht zur rech-ten Zeit das Wort geben, das Wort geben, wenn nicht mehr damit gerechnet wird, Ungeduld zeigen usw.

Bisher sind wir auf der Ebene der Erscheinungen. Wir müssen uns jetzt auf eine zweite Ebene begeben: die der Zusammensetzung der Diskussionsrunde. Sie ist entschei-dend. Die Runde selbst ist das Ergebnis einer unsichtbar bleibenden Arbeit. Da ist zum Beispiel die ganze Arbeit der Einladung: Manche Leute lädt man gar nicht erst ein; andere lädt man ein, und sie lehnen ab. Schließlich steht die Runde, und das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare: Ein konstruiertes Sichtbares zeigt die sozialen Voraussetzungen seiner Konstruktion nicht.

Darum sagt man sich nicht: »Sieh an, der und der ist nicht dabei.« Ein Beispiel dieser Manipulationsarbeit (eines unter tausenden): Während der Streiks gab es zwei aufeinanderfolgende Sendungen des Cercle de Minuit iiber die Intellektuellen und die Streiks. Es existierten, grob gesagt, zwei Lager unter den Intellektuellen. Bei der ers-ten Sendung vermittelten die Intellektuellen, die gegen den Streik waren, im großen ganzen den Eindruck, zum rechten Spektrum zu gehören. Bei der zweiten Sendung

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(die diesen Eindruck korrigieren sollte) änderte man die Zusammensetzung der Runde, fügte Teilnehmer hinzu, die noch weiter rechts standen, und eliminierte die Befürwor-ter des Streiks, womit diejenigen, die in der ersten Sendung rechts gestanden hatten, als links erschienen. Rechts und links, das ist nun einmal relativ. In diesem Fall also änderte eine Zusammensetzung der Diskussionsrunde den Sinn der Botschaft.

Die Zusammensetzung der Runde ist wichtig, weil sie den Eindruck demokratischer Ausgewogenheit vermitteln muß (der Grenzfall ist die Konfrontation von zwei Kontra-henten: »Ihre dreißig Sekunden sind abgelaufen ...«). Man demonstriert Gleichheit, und der Moderator geriert sich als Schiedsrichter. In Cavadas Runde traten zwei Kategorien auf: Engagierte Akteure, Protagonisten, Streikende; und dann andere, die auch Protagonisten waren, aber die Positi-on von Beobachtern einnahmen. Es gab solche, die sich zu erklären hatten (»Warum machen Sie das, warum bereiten Sie den Benutzern der öffentlichen Verkehrsmittel Schere-reien?« usw.), und andere, die da waren, um zu erklären, um einen Meta-Diskurs zu liefern.

Ein anderer unsichtbarer und doch ganz entscheidender Faktor: die in Vorbereitungsgesprächen mit den späteren Teilnehmern festgelegten Spielregeln, die manchmal zu einer Art Drehbuch mit mehr oder weniger strengen An-weisungen ausarten können, denen die Fernsehgäste zu

Um Mitternacht herum (daher der Titel) ausgestrahlte Talkshow mit kulturellem Schwerpunkt (inzwischen abgesetzt). Pierre Bourdieu stellte hier mit Hans Haacke ihr gemeinsames Buch Libre-echange vor (deutsch: Freier Austausch, Frankfurt/M., Fischer Verlag ). (A. d. Ü.)

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folgen haben (die Vorbereitung kann in bestimmten Fäl-len, etwa bei Unterhaltungssendungen, fast die Form einer Generalprobe annehmen). In diesem von vornherein festge-legten Drehbuch gibt es praktisch keinen Raum mehr für Improvisation, für freie, ungezügelte Meinungsäußerung

– sie wäre für den Moderator und seine Sendung zu riskant, ja gefährlich.

Eine andere unsichtbare Eigenschaft dieses Raumes ist die Logik des Sprachspiels, wie die Philosophen sagen. Es gibt stillschweigend anerkannte Regeln für das Spiel, das ablaufen soll, denn jedes soziale Universum, in dem geredet wird, verfügt über eine Struktur, die einiges zuläßt und an-deres nicht. Die erste stillschweigende Voraussetzung dieses Sprachspiels: Die demokratische Diskussion folgt den Re-geln des Catch-as-catch; man braucht Konfrontationen, den Guten, das Biest... Aber dennoch sind nicht alle Schläge er-laubt. Die Schläge müssen der Logik einer formalen, kunst-vollen Sprache folgen. Weitere Eigenschaften des Raumes: die schon erwähnte Komplizität zwischen den Profis, denen, die ich die fast-thinkers nenne, den Spezialisten des Weg-werfdenkens; die Fernsehleute nennen sie bons clients, gute Kunden. Das sind Leute, die man einladen kann, von denen man weiß, daß sie sich benehmen werden, daß sie keine Schwierigkeiten verursachen, keine Vorfälle provozieren und daß sie redselig sind. Es gibt ein Universum solch »guter Kunden«, die sich hier wohl fühlen wie der Fisch im Wasser, und andere, die sind wie Fische auf dem Trockenen. Und ein letztes unsichtbares Element: das Unbewußte der Diskussionsleiter. Es ist mir sehr oft passiert, und das sogar mit Journalisten, die mir ausgesprochen wohlwollten, daß ich alle meine Antworten damit beginnen mußte, die Frage

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in Frage zu stellen. Mit ihrer Brille, mit ihren Denkkatego-rien versehen, formulieren die Journalisten Fragen, die mit nichts etwas zu tun haben. Zum Beispiel haben sie über die Probleme der Vorstädte all die Phantasmen im Kopf, von denen ich vorhin sprach, und man kann nicht darauf ein-gehen, ohne zuerst höflich zu sagen: »Ihre Frage ist sicher sehr interessant, aber mir scheint, es gibt noch eine andere, wichtigere...« Wenn man nicht wenigstens einigermaßen gut vorbereitet ist, antwortet man auf Fragen, die sich über-haupt nicht stellen.

Widersprüche und Spannungen

Das Fernsehen verfügt als Kommunikationsinstrument nur über sehr wenig Autonomie, es ist einer ganzen Reihe von Zwängen ausgesetzt, die von den sozialen Beziehungen zwischen den Journalisten herrühren: heftige, unerbittliche, bis zum Absurden reichende Konkurrenz zwischen ihnen, aber zugleich auch heimliches Einverständnis und objektive Komplizenschaft, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, welche ihrerseits mit ihrer Position im Feld der symboli-schen Produktion und damit zusammenhängen, daß sie gemeinsame geistige Strukturen, Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien haben, die aus ihrer sozialen Her-kunft, ihrer Ausbildung (oder Nichtausbildung) resultie-ren. Woraus hervorgeht, daß dieses scheinbar entfesselte Kommunikationsinstrument Fernsehen in Wirklichkeit gefesselt ist. Als das Fernsehen in den sechziger Jahren aufkam, haben eine Menge »Soziologen« (in ganz großen

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Anführungszeichen) vorschnell erklärt, das Fernsehen als »Massenkommunikationsmittel« werde die Menschen »vermassen«. Das Fernsehen werde alle Zuschauer nach und nach nivellieren, homogenisieren. Dabei hat man die Widerstandskräfte unterschätzt. Und vor allem hat man die Fähigkeit des Fernsehens unterschätzt, diejenigen um-zuformen, die es machen, und darüber hinaus die anderen Journalisten und die Gesamtheit der Kulturproduzenten (durch die unwiderstehliche Faszination, die es auf man-che unter ihnen ausübte). Das wichtigste und kaum recht vorhersehbare Phänomen war der außerordentliche Einfluß des Fernsehens auf die Gesamtheit der kulturellen Tätig-keiten, einschließlich der wissenschaftlichen und künstleri-schen. Heute hat das Fernsehen einen Widerspruch bis zum Äußersten, bis an seine Grenze getrieben, der alle Bereiche der Kulturproduktion befällt. Ich meine den Widerspruch zwischen einerseits den ökonomischen und sozialen Vor-aussetzungen für die Hervorbringung bestimmter Werke (ich habe das Beispiel Mathematik genannt, weil es am einleuchtendsten ist, aber dasselbe gilt für Avantgardedich-tung, für Philosophie, Soziologie usw.), Werke, die man »rein« nennt – ein lächerliches Wort, sagen wir: autonom im Hinblick auf kommerzielle Zwänge -, und andererseits den sozialen Voraussetzungen für die Verbreitung der un-ter solchen Voraussetzungen entstandenen Produkte; den Widerspruch zwischen den Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um avantgardistische Mathematik, avantgar-distische Poesie usw. zu machen, und den Voraussetzungen, die man braucht, um diese Dinge aller Welt bekannt zu machen. Das Fernsehen treibt diesen Widerspruch zum

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Äußersten in dem Maße, in dem es mittels Einschaltquote mehr als alle anderen Bereiche kultureller Produktion dem Druck des Kommerziellen unterworfen ist.

Entsprechend stark sind in diesem Mikrokosmos, der Welt des Journalismus, die Spannungen zwischen denen, die Werte wie Autonomie, Freiheit gegenüber dem Kom-merziellen, gegenüber Aufträgen, Chefs usw. verteidigen möchten, und denen, die sich den Zwängen unterwerfen und von ihnen dafür belohnt werden... Diese Spannungen gelangen kaum zum Ausbruch, jedenfalls nicht auf dem Bildschirm, denn die Voraussetzungen dafür sind selten gegeben: Ich denke etwa an den Gegensatz zwischen den großen Stars mit den Rieseneinkünften, die im Rampen-licht stehen und dafür besonders entlohnt werden, aber auch besonders unterwürfig sind, und den unsichtbaren Handlangern der Nachrichtensendungen und Reportagen, die immer kritischer, weil infolge der Logik des Arbeits-marktes immer besser ausgebildet sind und dabei immer un-interessantere, unbedeutendere Dinge zu tun haben. Hinter den Mikrophonen, den Kameras stehen heute Menschen, die viel gebildeter sind als ihre Kollegen in den sechziger Jahren; anders gesagt: Die Spannung zwischen dem, was beruflich verlangt wird, und den Ansprüchen, die man in den Journalistenschulen und auf den Universitäten erwirbt, steigt immer weiter – obwohl, wer wirklich Karriere ma-chen will, sich schon vorgreifend anpaßt... Ein Journalist sagte neulich, aus der Krise im Alter von (mit ent-deckte man, daß der Beruf nicht hält, was man sich von ihm versprochen hatte) werde eine Dreißiger-Krise. Die Fernsehleute entdecken die fürchterlichen Zwänge ihres Berufs immer früher, und vor allem die von der Einschalt-

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quote ausgehenden Zwänge. Im Journalismus finden sich mit die meisten Unruhigen, Unzufriedenen, Empörten oder zynisch Resignierten; unter ihnen (natürlich vor allem am unteren Ende der Hierarchie) breiten sich Zorn, Ekel oder Lustlosigkeit gegenüber einer Arbeit aus, die man zugleich als »anders als die anderen« erlebt oder erleben will. Die Situation ist jedoch alles andere als eine, in der Mißmut und Ablehnung die Gestalt echten individuellen oder gar kollektiven Widerstands annehmen könnten.

Wenn man verstehen will, wovon ich gesprochen habe und was, obwohl ich mir alle Mühe gab, nicht mißverstan-den zu werden, doch als individuelle Schuldzuweisung an Moderatoren und Kommunikatoren aufgefaßt worden sein wird, muß man sich auf die Ebene der Mechanismen, die das Ganze steuern, die Ebene der Strukturen begeben. Pla-ton (um ihn noch einmal zu zitieren) sagte, wir seien Mari-onetten der Gottheit. Das Fernsehen ist ein Universum, das den Eindruck vermittelt, daß die Akteure, trotz allem An-schein von Wichtigkeit, von Freiheit, von Autonomie und manchmal sogar einer erstaunlichen Aura (man braucht nur die Fernsehzeitschriften zu lesen), Marionetten eines Zwangszusammenhanges sind, der zu beschreiben, einer Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen ist.

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Zweiter VortragDie unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen

Um nicht nur, wenn auch noch so penibel, die Vorgänge in einem Fernsehstudio zu beschreiben, sondern um die Me-chanismen ausfindig zu machen, die diese erklären, bin ich gezwungen, einen ein wenig technisch klingenden Begriff einzuführen: den des journalistischen Feldes. Die Welt des Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen. Dieser Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in einem umfassenden Ganzen und durch die Anziehung und Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn ausüben. Er ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was in ihm vor sich geht, kann nicht direkt von äußeren Fak-toren her erschlossen werden. Daher mein Einwand gegen die bloß ökonomische Erklärung der Entwicklungen im Journalismus. Was bei TF vor sich geht, kann man zum Beispiel nicht durch die bloße Tatsache erklären, daß dieser Kanal Bouygues gehört. Natürlich wäre eine Erklä-rung unzureichend, die das nicht berücksichtigt, aber eine Erklärung, die nur das berücksichtigt, wäre nicht weniger unzureichend. Und sie wäre vielleicht noch unzureichender, weil sie den Eindruck erwecken würde, zureichend zu sein. Es gibt einen mit der marxistischen Tradition verbundenen Materialismus, der zu kurz greift und nichts erklärt, der anprangert, ohne das geringste aufzuklären.

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Marktanteile und Konkurrenz

Um zu verstehen, was bei TF vor sich geht, muß man alle Faktoren berücksichtigen, die dazu beitragen, daß TF sich in einem Universum objektiver Beziehungen zwischen den verschiedenen Fernsehkanälen befindet, die zueinander in Konkurrenz stehen, in einer Konkurrenz jedoch, deren Form, von außen nicht erkennbar, durch Kräfteverhält-nisse definiert ist, die über Indikatoren wie Marktanteile, Stellenwert bei den Werbekunden, das von angesehenen Journalisten verkörperte kollektive Kapital usw. erfaßt werden können. Anders gesagt, es finden zwischen diesen Anstalten nicht nur Interaktionen statt, man hat es nicht nur mit Leuten zu tun, die miteinander sprechen (oder auch nicht), Leuten, die einander beeinflussen, einander lesen, all das, was ich bisher erzählt habe; es existieren auch völlig unsichtbare Kräfteverhältnisse, und das hat zur Folge, daß, wer verstehen will, was bei TF oder Arte vor sich geht, die Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse berück-sichtigen muß, aus denen die Struktur des Feldes besteht. Im Feld der Wirtschaftsunternehmen zum Beispiel kann ein sehr mächtiges Unternehmen den Wirtschaftsraum fast völlig umgestalten; es kann die Preise so senken, daß neue Unternehmen nicht Fuß fassen können, und so eine Art Zugangsbarriere errichten. Solche Auswirkungen sind nicht unbedingt gewollt. TF hat die Fernsehlandschaft einfach dadurch verändert, daß dieser Sender eine Menge spezifischer Faktoren in sich versammelte, die in diesem Universum Einfluß haben und sich effektiv in Marktanteile umsetzen. Diese Struktur wird weder von den Fernsehzu-

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schauern noch von den Journalisten wahrgenommen. Sie nehmen die Auswirkungen wahr, sehen aber nicht, wie weit der relative Stellenwert der Institution, in der sie sich befinden, sie selbst, ihre Stellung und ihren Stellenwert innerhalb der Institution bestimmt. Wenn ein Journalist verstehen will, was er bewirken kann, muß er sich eine Rei-he von Parametern bewußt machen: einerseits die Position seines Unternehmens innerhalb des journalistischen Feldes, ob er also im Fernsehen oder für eine Tageszeitung arbeitet, zweitens seine eigene Position im Raum seines Presseor-gans oder seines Senders.

Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum -, und es ist auch eine Arena, in der um Verände-rung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder, wie es auch heißt, um Marktanteile spielt sich konkret in Form einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese Konkurrenz hat ihre eigenen, spezifischen Ziele: den Scoop, die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Ge-winne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhält-nisse verbunden sind. Es gibt heute objektive, unsichtbare Beziehungen zwischen Leuten, die sich vielleicht niemals

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begegnen – zwischen Mitarbeitern von Le Monde Diplo-matique und TF etwa, um einen Extremfall zu wählen

-, aber gezwungen sind, bei dem, was sie tun, bewußt oder unbewußt Zwänge oder Einflüsse zu berücksichtigen, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu demselben Universum geltend machen. Anders gesagt, wenn ich heute wissen will, was dieser oder jener Journalist denken oder schreiben wird, was er einleuchtend oder undenkbar, selbstverständlich oder seiner unwürdig findet, muß ich die Position kennen, die er in diesem Raum innehat, das heißt den spezifischen Stel-lenwert des Mediums, für das er arbeitet und das sich unter anderem ökonomisch bemißt, in Marktanteilen, aber auch, und das ist schwerer zu quantifizieren, in seinem symboli-schen Stellenwert. (Wenn man alles erfassen wollte, müßte man im Grunde auch die Position des inländischen Me-dienfeldes innerhalb des globalen Feldes einbeziehen und zum Beispiel die auf ökonomisch-technischer und vor allem symbolischer Ebene dominierende Stellung des amerikani-schen Fernsehens berücksichtigen, das für viele Journalisten ein Vorbild und eine Inspirationsquelle darstellt, aus der sie ihre Einfalle, Szenarios, Verfahren beziehen.)

Die heutige Form dieser Struktur läßt sich besser verste-hen, wenn man die Geschichte des Prozesses nachzeichnet, aus der sie hervorging. In den fünfziger Jahren spielte das Fernsehen im journalistischen Feld kaum eine Rolle; wer von Journalismus sprach, dachte kaum an das Fernsehen. Die Fernsehleute waren doppelt untergeordnet: Weil man sie im Verdacht hatte, von politischen Instanzen gesteuert zu werden, waren sie in ihrem Prestige kulturell, symbo-lisch untergeordnet, und sie waren zugleich wirtschaftlich untergeordnet, insofern sie von staatlichen Subventionen

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abhingen und also weniger effizient, weniger mächtig waren. Mit den Jahren (der Prozeß wäre im Detail zu beschreiben) kehrte sich diese Beziehung vollständig um; heute tendiert das Fernsehen dazu, im journalistischen Feld ökonomisch und symbolisch zu dominieren. Das macht vor allem die Pressekrise spürbar: Zeitungen verschwinden, andere kämpfen unablässig ums Überleben, um die Gewinnung oder Wiedergewinnung ihrer Leserschaft, wobei jedenfalls in Frankreich diejenigen am meisten bedroht sind, die vor allem Vermischtes und Sport boten und einem Fernsehen nicht viel entgegenzusetzen haben, das sich immer mehr auf diese emen hin orientiert, und zwar in dem Maße, in dem es vom seriösen Journalismus nicht mehr dominiert wird (der nämlich an erster Stelle, auf der ersten Seite, Nachrichten aus dem Ausland, politische Meldungen, ja sogar politische Analysen bringt oder brachte und die »Ver-mischten Meldungen« und den Sport auf die angebrachten Plätze verwies).

Mit dieser Beschreibung breche ich die Dinge übers Knie; man müßte ins Detail gehen, eine Sozialgeschichte (es gibt sie leider nicht) der Entwicklung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Nachrichtenmedien anferti-gen (und nicht nur die Geschichte eines Mediums). Das Wichtigste wird auf der Ebene der Strukturgeschichte der Gesamtheit dieses Universums deutlich. Was in einem Feld zählt, ist der relative Stellenwert: Eine Zeitung kann völ-lig identisch bleiben, sie braucht keinen einzigen Leser zu verlieren, sich in nichts zu ändern und kann sich nichtsdes-toweniger völlig transformieren, weil ihr Stellenwert und ihre relative Position im Raum sich transformieren. Zum Beispiel hört eine Zeitung auf zu dominieren, wenn ihre

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Macht, den sie umgebenden Raum zu gestalten, sich ab-schwächt, wenn sie nicht mehr den Ton angibt. Man kann sagen, daß Le Monde im Bereich der Presse den Ton angab. Es existierten bereits ein Feld und der Gegensatz, den alle Pressehistoriker feststellen, zwischen den Zeitungen, die news, Nachrichten, Vermischtes liefern, und denen, die views, Meinungen, Analysen usw. liefern; zwischen Zei-tungen mit hoher Auflage wie France Soir und solchen mit relativ niedriger Auflage, die dafür eine quasioffizielle Au-torität ausüben. Le Monde stand unter beiden Aspekten gut da: Die Auflage war hoch genug, um für Anzeigenkunden eine Macht darzustellen, und zugleich verfügte die Zeitung über genug symbolisches Kapital, um Autorität auszuüben. Sie versammelte die beiden in diesem Feld ausschlaggeben-den Machtfaktoren.

Die Meinungspresse ist im . Jahrhundert aufgekom-men, und zwar in Reaktion auf die auflagenstarken Blätter, die einem breiten Publikum Sensationen boten, was bei gebildeten Lesern immer schon Angst oder Abscheu aus-gelöst hat. Das Fernsehen, dieses Massenmedium schlecht-hin, ist als Phänomen, abgesehen von seiner Reichweite, nicht vollkommen neu. Nebenbei gesagt, eines der großen Probleme der Soziologen besteht darin, nicht auf eine der beiden symmetrisch einander entsprechenden Illusionen hereinzufallen: die Illusion des jamais vu, noch nie dage-wesen (es gibt Soziologen, die das hinreißend finden, und es wirkt auch sehr schick, vor allem im Fernsehen, unerhört Neues, Revolutionäres anzukündigen), und die des toujours ainsi, alles wie gehabt (das findet sich eher bei konservativen Soziologen: »Nichts Neues unter der Sonne, immer wird es oben und unten geben, reich und arm...«). Die Gefahr ist

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immer sehr groß und um so größer, als der Vergleich zwi-schen Epochen äußerst schwierig ist: Nur Strukturen lassen sich miteinander vergleichen, und man läuft ständig Gefahr, sich zu täuschen und als unerhört zu beschreiben, was banal ist – einfach aus mangelndem Wissen. Darin liegt einer der Gründe dafür, daß Journalisten manchmal gefährlich sind: Da sie nicht immer wirklich gebildet sind, wundern sie sich über Dinge, die nicht sehr verwunderlich sind, und über wirklich Staunenswertes wundern sie sich nicht... Die Geschichte ist für uns Soziologen unerläßlich; leider wissen wir in vielen Bereichen, vor allem im zeitgeschichtlichen, noch nicht sehr viel, vor allem über neue Phänomene wie den Journalismus.

Eine banalisierende Kraft

Um auf die Frage der Konsequenzen zurückzukommen, die das Auftauchen des Fernsehens mit sich bringt: Zwar hat der Gegensatz schon früher bestanden, aber nie in dieser Schärfe (ich wähle einen Mittelweg zwischen »nie dage-wesen« und »wie gehabt«). Durch seine Reichweite stellt das Fernsehen den Pressejournalismus und überhaupt die Welt der Kultur vor ein furchtbares Dilemma. Neben ihm scheint die Massenpresse ziemlich belanglos, die dereinst schaudern ließ (Raymond Williams stellte die Hypothese auf, daß die ganze romantische Dichtung in England von dem Horror ausgelöst wurde, den das Aufkommen der Massenpresse den Schriftstellern einflößte). Durch seine

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Reichweite und seinen außerordentlichen Stellenwert löst das Fernsehen Effekte aus, die, obwohl nicht völlig neu, doch sehr neuartig sind.

Zum Beispiel kann das Fernsehen an einem Abend wäh-rend der Acht-Uhr-Nachrichten mehr Menschen erreichen als die ganze französische Morgen- und Abendpresse zu-sammengenommen. Wenn die von einem solchen Medium gelieferten Meldungen aseptische, homogenisierte Omni-bus-Meldungen werden, liegen die möglichen politischen und kulturellen Auswirkungen auf der Hand. Das Gesetz ist altbekannt: Je breiter das Publikum ist, auf das ein Pres-seorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt, je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles Kontroverse meiden und sich befleißigen, »niemanden zu schockieren«, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwer-fen, oder höchstens Scheinprobleme. Im täglichen Leben spricht man oft vom Wetter, weil man bei diesem ema sicher sein kann, nicht auf Widerspruch zu stoßen – das Softthema schlechthin, wenn Sie sich nicht gerade als Ur-lauber mit einem Bauern unterhalten, der auf Regen wartet. Je breiter das Publikum ist, auf das ein Informationsmedi-um zielt, desto mehr problemfreie Omnibus-emen stellt es in den Vordergrund. Das ema wird entsprechend den Wahrnehmungskategorien des Rezipienten konstruiert.

Deshalb kommt die ganze kollektive Anstrengung um Homogenisierung und Banalisierung, um »konform« und »unpolitisch« zu sein, die ich beschrieben habe, perfekt

Vgl. Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von >Kultur<, München, Rogner & Bern-. hard, . (A.d.Ü.)

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an, obwohl eigentlich kein Subjekt sie lenkt, obwohl sie niemals von irgend jemandem so gedacht und gewollt war. Solche Dinge beobachtet man oft in der sozialen Welt: Es ereignet sich etwas, das keiner will und das doch ganz den Anschein haben kann, als sei es gewollt (»Man macht das, um...«). Hier wird die vereinfachende Kritik gefährlich: Sie dispensiert von der notwendigen Arbeit, Phänomene zu verstehen wie etwa dies, daß jenes höchst merkwürdi-ge Produkt »Fernsehnachrichten« zustande kommt, ohne daß jemand es wirklich so will, ohne daß die Geldgeber spürbar einzugreifen hätten – ein Produkt für den Durch-schnitts-geschmack, das Altbekanntes bestätigt und vor allem die mentalen Strukturen unangetastet läßt. Gewöhn-lich spricht man von Revolutionen, wenn die materiellen Grundlagen einer Gesellschaft angetastet werden (durch Verstaatlichung von Kircheneigentum z. B.); es gibt aber auch symbolische Revolutionen, solche, die von Künstlern, Wissenschaftlern oder auch großen religiösen oder manch-mal, seltener, von politischen Propheten ausgelöst werden

– Revolutionen, die an die mentalen Strukturen rühren, das heißt: unsere Sicht- und Denkweisen verändern. Auf dem Gebiet der Malerei war dies der Fall bei Manet, der einen grundlegenden Gegensatz erschütterte, eine Struktur, auf der die ganze akademische Ausbildung beruhte: den Ge-gensatz zwischen dem Zeitgenössischen und dem Antiken. Wenn ein so mächtiges Instrument wie das Fernsehen sich auch nur im geringsten auf eine solche symbolische Revolu-tion zubewegen würde, es würde, dessen bin ich mir sicher, sofort gebremst... Aber ohne daß das irgendwer verbieten müßte, bloß von der Konkurrenz getrieben und den anderen erwähnten Mechanismen, tut das Fernsehen sowieso nichts

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dergleichen. Es ist den mentalen Strukturen des Publi-kums vollendet angepaßt. Zu dieser Logik zählt auch der Moralingehalt des Fernsehens, seine »Aktion Sorgenkind«-Mentalität. »Gute Gefühle«, sagte Gide, »bringen schlechte Literatur hervor«; aber gute Gefühle bringen hervorragende Einschaltquoten. Es wäre der Mühe wert, einmal über den Moralismus der Fernsehleute nachzudenken: Oft genug Zyniker, sind sie in ihren Äußerungen zu moralischen Fra-gen doch unwahrscheinlich konformistisch. Unsere Nach-richtensprecher, Moderatoren, Sportreporter haben sich zu Moralaposteln entwickelt; mühelos schwingen sie sich zu Verkündern einer typisch kleinbürgerlichen Moral auf, die bestimmen, »was zu halten ist« von dem, was sie »die Pro-bleme der Gesellschaft« nennen, von Aggressionen in den Vorstädten oder von der Gewalt an den Schulen. Dasselbe gilt für Kunst oder Literatur: Die sogenannten literarischen Sendungen, gerade die bekanntesten, fördern die etablier-ten Werte, den Konformismus und Akademismus oder auch das, was gerade hoch im Kurs steht, und zwar tun sie es immer dienstfertiger.

Die Journalisten (genauer gesagt: das journalistische Feld) verdanken ihre Bedeutung in der sozialen Welt dem Umstand, daß sie ein faktisches Monopol über die Instru-mente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen auf nationaler Ebene innehaben, und vermittels dieser In-strumente ein Monopol über den Zugang einfacher Bürger, aber auch anderer Kulturproduzenten – Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller – zu dem, was man manchmal »Öffentlichkeit« nennt, das heißt zum breiten Publikum. (Dieses Monopol macht sich störend bemerkbar, sobald man versucht, als Individuum oder als Mitglied einer Verei-

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nigung, irgendeiner Gruppierung, ein breites Publikum zu informieren.) Obwohl sie eine untergeordnete, dominierte Stellung in den Feldern der Kulturproduktion einnehmen, üben sie eine ganz seltene Form von Herrschaft aus: Sie haben die Verfügungsgewalt über die Mittel, sich öffentlich zu äußern, öffentlich zu existieren, gekannt zu werden, zu öffentlicher Bekanntheit zu gelangen (was für Politiker und für manche Intellektuelle ein entscheidendes Ziel darstellt). Dies führt dazu, daß sie (jedenfalls die mächtigsten unter ihnen) ein Ansehen genießen, das zu ihren intellektuellen Meriten oft in keinerlei Verhältnis steht... Und sie können einen Teil dieser Macht, Ruhm zu vergeben, zugunsten ihrer eigenen Person verwenden (daß selbst die anerkann-testen Journalisten gesellschaftlichen Kategorien, die sie gelegentlich dominieren können, wie Intellektuellen – zu denen sie brennend gern gehören würden – und Politikern strukturell untergeordnet sind, trägt wohl zur Erklärung ihres konstanten Hangs zum Antiintellektualismus bei).

Vor allem aber verhilft ihnen ihr ständiger Zugang zu öf-fentlicher Sichtbarkeit, zur Äußerung vor einem breiten Pu-blikum – etwas, was jedenfalls bis zur Erfindung des Fern-sehens sogar für hochberühmte Kulturproduzenten ganz undenkbar war – dazu, daß sie der ganzen Gesellschaft die Grundlagen ihrer Weltsicht, ihre Problemstellung, ihre Optik aufnötigen können. Man wird einwenden, daß die Journalistenwelt uneinheitlich ist, daß sie differenziert und diversifiziert und also in der Lage ist, alle Meinungen, alle Gesichtspunkte zu vertreten oder ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu äußern (und tatsächlich kann man die un-tereinander konkurrierenden Journalisten und Medien bis zu einem gewissen Punkt gegeneinander ausspielen, sofern

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man über ein Minimum an symbolischem Stellenwert ver-fügt). Aber das journalistische Feld beruht wie die anderen Felder unweigerlich und jenseits aller Unterschiede von Po-sition und Meinung auf einer Gesamtheit von allen geteilter Grundannahmen und Dogmen. Aus diesen Grundannah-men, die in einem bestimmten System von Denkkategorien wurzeln, in einer bestimmten Beziehung zur Sprache

– eben in allem, was zum Beispiel ein Urteil wie »kommt gut beim Zuschauer an« impliziert -, ergibt sich der Ausschnitt, den Journalisten in der sozialen Wirklichkeit und auch in der Gesamtheit der symbolischen Produktionen wahrneh-men. Kein Diskurs (wissenschaftliche Analyse, politisches Manifest usw.), keine Aktion (Demonstration, Streik usw.), die nicht, um überhaupt öffentlich diskutierbar zu werden, die Probe der journalistischen Auswahl bestehen müßten

– das heißt eine erbarmungslose Zensur, die die Journa-listen ausüben, ohne es überhaupt zu wissen, und bei der nur durchschlüpft, was in der Lage ist, sie zu interessieren, ihre »Aufmerksamkeit zu wecken«, das heißt ihren Kate-gorien, ihrem Wahrnehmungsschema zu entsprechen, und bei der sie als unbedeutend oder gleichgültig symbolische Äußerungen zurückweisen, die es verdienen würden, alle zu erreichen.

Eine weitere, schwieriger zu erfassende Folge des relati-ven Gewichts des Fernsehens im publizistischen Raum und des Einflusses kommerzieller Zwänge auf dieses dominie-rend gewordene Fernsehen ist der Übergang von einer Po-litik kultureller Aufklärung zu einer Art spontaneistischer Demagogie (die sich natürlich vor allem im Fernsehen breitmacht, aber auch die seriöse Presse ergreift, in der in Form »freier Stellungnahmen«, »offener Aussprachen«

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usw. Leserbriefen immer mehr Platz eingeräumt wird). Das Fernsehen der fünfziger Jahre erhob einen kulturellen Anspruch und bediente sich seines Monopols in gewisser Weise, um jedermann Produkte mit kulturellen Intentionen (Dokumentarfilme, Fernsehbearbeitungen klassischer Wer-ke, Kulturdebatten usw.) aufzudrängen und den Geschmack des breiten Publikums zu formen; das Fernsehen der neun-ziger Jahre will diesen Geschmack nur mehr bedienen und ausschlachten, um über Rohprodukte die größtmögliche Zuschauerzahl zu erreichen – paradigmatisch dafür die Talkshow, die Psychoshow, hüllenlose Erfahrungsberichte oft extremer Art, die einer Form von Voyeurismus und Exhibitionismus entgegenkommen (wie übrigens auch die Unterhaltungssendungen, an denen man sogar als einfacher Zuschauer brennend gern teilnimmt, um wenigstens einen Augenblick lang sichtbar zu sein). Indessen teile ich nicht die Nostalgie mancher nach dem pädagogisch-paternalis-tischen Fernsehen der Vergangenheit; ich denke, daß es zu einer wirklich demokratischen Nutzung der Massenmedien in nicht geringerem Gegensatz steht als der populistische Spontaneismus und die demagogische Unterwerfung unter populäre Geschmacksrichtungen.

Von der Einschaltquote entschiedene Kämpfe

Wir müssen nun über den bloßen Anschein hinausgehen, müssen das, was sich vor der Kamera abspielt, und auch die Konkurrenz innerhalb des journalistischen Feldes hinter uns lassen und uns mit dem Kräfteverhältnis zwischen den

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verschiedenen Organen beschäftigen insofern, als dieses Verhältnis selbst die Form der Interaktionen bestimmt. Um zu verstehen, warum wir heute regelmäßig diese und jene Debatte zwischen diesem und jenem Journalisten sehen, müssen wir die Positionen der verschiedenen Presseorgane einbeziehen, die sie im journalistischen Raum vertreten, und ihre Position innerhalb dieser Organe. Und auch wenn wir verstehen wollen, was ein Kommentator in Le Monde schreiben und was er nicht schreiben kann, müssen wir die-se beiden Faktoren immer im Kopf haben. Die mit der Posi-tion verbundenen Zwänge werden als Verbote oder ethische Anweisungen erfahren: »Das ist mit der Tradition von Le Monde unvereinbar«, oder: »Das steht dem Geist von Le Monde entgegen«, »hier kann man das nicht machen«, usw. Alle diese Erfahrungen, die in Form ethischer Vorschriften verkündet werden, übersetzen die Struktur des Feldes in das Verhalten einer Person, die eine bestimmte Position in diesem Raum einnimmt.

Die verschiedenen Protagonisten in einem Feld haben oft abwertende Vorstellungen von den anderen Akteuren, zu denen sie in Konkurrenz stehen, und äußern sich ste-reotyp und beleidigend über sie (so produziert im Raum des Sports jede Sportart stereotype Vorstellungen von den anderen – die Rugbyspieler nennen die Fußballer manchots, Armamputierte). Bei diesen Vorstellungen handelt es sich oft um Kampfstrategien, die das bestehende Kräftever-hältnis verändern oder erhalten sollen. Gegenwärtig ist zu beobachten, daß Pressejournalisten in dominierter Position

– solche, die bei kleinen Blättern in untergeordneter Stellung tätig sind – gegenüber dem Fernsehen einen sehr kritischen Diskurs entwickeln.

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Im Grunde genommen sind solche Vorstellungen Stel-lungnahmen, in denen sich vor allem die Position dessen niederschlägt, der sie in mehr oder weniger verschleierter Form artikuliert. Zugleich aber sind dies auch Strategien, die auf eine Veränderung der Position abzielen. Heutzutage ist die Auseinandersetzung um das Fernsehen im journalis-tischen Milieu zentral; das macht die Untersuchung dieses Gegenstands besonders schwierig. Der Diskurs über das Fernsehen, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, ist zum Teil nichts anderes als die Wiedergabe dessen, was die Fernsehleute über das Fernsehen sagen. (Journalisten halten einen Soziologen für um so besser, als das, was er sagt, sich dem annähert, was sie denken. Man darf daher nicht hoffen – und das ist übrigens auch gut so -, sich bei Fernsehleuten beliebt zu machen, wenn man die Wahrheit über das Fernsehen sagt.) Nun gibt es Indizien dafür, daß der Pressejournalismus gegenüber dem Fernsehen immer mehr auf dem Rückzug ist: In allen Blättern schwillt die Fernsehbeilage an, und die Pressejournalisten selbst legen größten Wert darauf, vom Fernsehen übernommen zu werden (und natürlich auch darauf, im Fernsehen gesehen zu werden, was ihren Preis bei der Presse hochtreibt: Ein Journalist muß seine Fernsehsendung haben, wenn er etwas gelten will; es kommt sogar vor, daß Fernsehjournalisten sehr wichtige Positionen bei der Presse erhalten, womit das Spezifische des Schreibens, des Metiers überhaupt in Frage gestellt wird: Wenn eine Fernsehjournalistin von einem Tag auf den anderen die Leitung eines Presseorgans überneh-men kann, fragt man sich, worin spezifisch journalistische Kompetenz eigentlich besteht); und schließlich wird dieser Rückzug auch dadurch indiziert, daß das, was die Amerika-

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ner agenda nennen (die emen, über die man zu sprechen, die man zu kommentieren hat, die wichtigen Probleme), immer mehr vom Fernsehen vorgegeben wird (in der zir-kulären Zirkulation der Nachrichten, die ich beschrieben habe, hat das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert, und selbst wenn einmal ein ema – eine Affäre, eine Debatte – von Pressejournalisten lanciert wird, so erlangt es zentrale Bedeutung doch erst, wenn es vom Fernsehen aufgegriffen, orchestriert und gleichzeitig damit politisch relevant gemacht wird). Dadurch wird die Position der Pressejournalisten bedroht und gleichzeitig die Besonder-heit ihrer Arbeit in Frage gestellt. Alles, was ich hier sage, wäre zu präzisieren und zu überprüfen: Ich bilanziere eine Reihe von Forschungsergebnissen und entwickle zugleich ein Programm für weitergehende Untersuchungen. Diese Dinge sind sehr kompliziert, und ihre Kenntnis kann nur durch aufwendige empirische Arbeiten vorangebracht wer-den (was einige selbsternannte Päpste einer nichtexistenten Wissenschaft, der »Mediologie«, nicht hindert, noch vor jeder Bestandsaufnahme ihre oreiligen Schlußfolgerungen über den Zustand der Medienwelt zu verkünden).

Das Wichtigste aber ist, daß aufgrund des Anwachsens der symbolischen Bedeutung des Fernsehens und aufgrund der Bedeutungszunahme jener Fernsehkanäle, die sich mit dem größten Zynismus und dem größten Erfolg der Jagd

Bourdieu spielt auf den Fall der populären Fernsehsprecherin Christine Ockrent an, die Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins L‘Express wurde. (A.d.Ü.)

Vgl. Regis Debray, Cours de mediologie generale (Paris, Gallimard, ) und die von ihm seit herausgegebene Zeitschrift Les Cahiers de Mediologie. (A. d. Ü.)

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nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Un-gewöhnlichen hingeben, sich tendenziell ein bestimmtes Konzept von Nachricht, wie es bislang der dem Sport und Vermischten gewidmeten sogenannten Sensationspresse vorbehalten war, des gesamten journalistischen Feldes bemächtigt. Und damit prägt gleichzeitig eine bestimmte Kategorie von Journalisten – diejenigen nämlich, die man mit Traumhonoraren anwirbt, weil sie es fertigbringen, sich skrupellos den Erwartungen des anspruchslosesten Publikums unterzuordnen, also die zynischsten, jedem Berufsethos und erst recht allen politischen Fragen ge-genüber unempfindlichsten unter ihnen – tendenziell die »Werte«, die Vorlieben, die Verhaltens- und Sprechweisen, das »menschliche Ideal« der Gesamtheit der Journalisten. Getrieben von der Konkurrenz um Marktanteile, greifen die Fernsehanstalten mehr und mehr auf die alten Tricks der Sensationspresse zurück: Was auch immer in der Welt geschehen sein mag, die Fernsehnachrichten beginnen immer häufiger mit Fußballergebnissen oder diesem oder jenem anderen Sportereignis, das eigens programmiert wurde, um in die Acht-Uhr-Meldungen zu kommen, oder mit den Anekdotenhaftesten, ritualisiertesten Aspekten des politischen Lebens (Besuchen ausländischer Staats-oberhäupter, Besuchen des eigenen Staatsoberhaupts im Ausland usw.), ganz zu schweigen von Naturkatastrophen, Unfällen, Feuersbrünsten, kurz allem, was bloß die Neugier kitzelt und keinerlei spezifische Kompetenz voraussetzt, vor allem keine politische. Die »Vermischten Meldungen«, ich habe es schon gesagt, produzieren politische Leere; sie entpolitisieren und reduzieren die Welt auf Anekdoten und Klatsch (der überregional oder global sein kann, man denke

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an das Leben der Stars, der Königsfamilien usw.), wobei man die Aufmerksamkeit auf Ereignisse ohne politische Konsequenzen lenkt und fixiert, die man dramatisiert, um »Lehren daraus zu ziehen« oder sie in »Probleme unserer Gesellschaft« zu verwandeln. Hier werden dann oft die Fernsehphilosophen zu Hilfe gerufen, auf daß sie dem Sinnlosen Sinn geben, dem Anekdotischen und Beiläufi-gen, das künstlich in den Vordergrund geschoben und zum Ereignis stilisiert wird, dem Tragen eines Kopftuchs in der Schule, dem Angriff auf einen Lehrer oder irgendeinem anderen »gesellschaftlichen Vorfall«, der geeignet ist, die pathetische Empörung eines Finkielkraut auszulösen oder einen Comte-Sponville zu moralisierenden Betrachtungen zu veranlassen. Dieselbe Bemühung um das Sensationelle, also um den kommerziellen Erfolg, kann auch zu Meldun-gen führen, die, den wilden Konstruktionen (spontaner oder kalkulierter) Demagogie überlassen, durch das Appellieren an elementare Instinkte und Leidenschaften (man denke an Kindesentführungen und Empörung auslösende Skandale) ungeheures Interesse hervorrufen können und Formen rein sentimentaler undl karitativer Mobilisierung auslösen oder auch ebenso leidenschaftliche, aber aggressive, dem sym-bolischen Lynchen verwandte Reaktionen, etwa bei Kin-desentführungen oder Vorfällen, die mit stigmatisierten Gruppen in Verbindung gebracht werden.

Die Frage, ob es islamischen Mädchen erlaubt sein soll, auch in den überkonfessionellen öffentlichen Schulen ihrer Religionszugehörigkeit durch Anlegen eines Kopftuchs Rechnung zu tragen, spielte in Frank-reich in den Mitte der neunziger Jahre eine große Rolle. (A. d. Ü.)

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Infolgedessen stehen die Pressejournalisten heute vor der Entscheidung: Sollen sie die Richtung auf das dominieren-de Modell hin einschlagen, also Zeitungen nach dem Vor-bild der Fernsehnachrichten machen, oder den Unterschied betonen und eine Strategie der Produktdifferenzierung entwickeln? Sollen sie den Wettbewerb aufnehmen und das Risiko eingehen, auch noch das der kulturellen Botschaft strikter Observanz verbliebene Publikum zu verlieren, oder den Unterschied vertiefen? Das Problem stellt sich auch innerhalb des Fernsehens selbst, das ein Feld für sich und zugleich ein Unterfeld innerhalb des journalistischen Feldes ist. Bei dem heutigen Stand meiner Überlegungen denke ich, daß die Entscheidungsträger Opfer der »Einschaltquo-tenmentalität« sind und sich unbewußt weigern, wirklich zu wählen. (Es läßt sich sehr oft beobachten, daß die wich-tigen gesellschaftlichen Entscheidungen von niemandem getroffen werden. Wenn der Soziologe immer eine Art Stö-renfried ist, so deswegen, weil er darauf drängt, sich Dinge bewußt zu machen, über die man eigentlich lieber im un-klaren bliebe.) Ich denke, die Haupttendenz bringt die Or-gane der Kulturproduktion alten Schlages dahin, auf ihren spezifischen Charakter zu verzichten und sich auf ein Ter-rain zu begeben, auf dem sie von vornherein verloren sind. So ist der Kulturkanal Arte von einer Position intransigenter, ja aggressiver Hermetik sehr rasch auf einen mehr oder we-niger schmählichen Kompromiß mit den Anforderungen der Einschaltquote eingeschwenkt; heute kompromittiert es sich doppelt: leichte Kost zur Prime time, Hermetisches zu vorgerückten Nachtstunden. Le Monde steht vor einer ähnlichen Entscheidung. Ich will die Analyse jetzt nicht weitertreiben; ich habe, glaube ich, hinlänglich gezeigt, wie

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man von der Untersuchung unsichtbarer Strukturen – die, wie die Schwerkraft, zu den Dingen gehören, die keiner sieht, die man aber voraussetzen muß, um zu verstehen, was geschieht – zu persönlichen Erfahrungen übergehen kann, wie unsichtbare Kräfteverhältnisse sich in persönliche Kon-flikte, in existentielle Entscheidungen umsetzen.

Das Feld des Journalismus hat eine Besonderheit: Es ist viel stärker von externen Kräften abhängig als alle anderen Felder der Kulturproduktion, das Feld der Mathematik, das der Literatur, der Rechtsprechung, der Naturwissenschaf-ten usw. Es hängt ganz unmittelbar von der Nachfrage ab, es unterliegt der Sanktion durch den Markt, durch das Plebiszit, vielleicht mehr noch als das politische Feld. Der in allen Feldern beobachtbare Gegensatz zwischen dem »Reinen« und dem »Kommerziellen« (beim eater zum Beispiel der Gegensatz zwischen Boulevard und Avantgar-de, ein Gegensatz, der dem zwischen TF und Le Monde entspricht: gebildeteres Publikum auf der einen Seite, we-niger gebildetes auf der anderen, mehr Studenten auf der einen, mehr Geschäftsleute auf der anderen) setzt sich hier mit besonderer Brutalität durch, und der kommerzielle Pol ist besonders stark: Noch nie war er so einflußreich, und auch im Vergleich mit der Rolle, die er zur selben Zeit in anderen Feldern spielt, ist seine Machtstellung ohne Bei-spiel. Darüber hinaus existiert in der journalistischen Welt kein Äquivalent zu der etwa in der wissenschaftlichen Welt beobachtbaren immanenten Justiz, die Regelverletzungen ahndet, während derjenige, der sich an die Spielregeln hält, von seinen Kollegen Beachtung erfährt (die sich zum Bei-spiel in Verweisen, Zitaten niederschlägt). Wo gibt es im Journalismus positive, wo negative Sanktionen? Die einzige,

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embryonale Form von Kritik stellen satirische Sendungen wie die Guignols dar. Und was positive Sanktionen angeht, so ist mehr als die ausdrückliche Übernahme einer Mel-dung durch ein anderes Informationsorgan kaum auszuma-chen; und das ist ein seltenes, wenig ins Auge fallendes und zweideutiges Indiz.

Der Einfluß des Fernsehens

Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des öko-nomischen Feldes steht. Und dieses zutiefst heteronome, kommerziellen Zwängen sehr stark unterworfene Feld übt seinerseits strukturell Druck auf andere Felder aus. Dieser strukturelle, objektive, anonyme, unsichtbare Effekt hat nichts zu tun mit dem, was man unmittelbar sieht und was man gewöhnlich denunziert, das heißt mit dem Eingriff dieser oder jener Person... Man kann, man darf sich nicht damit begnügen, die Verantwortlichen namhaft zu machen. Karl Kraus zum Beispiel attackierte eine Person sehr heftig, deren Funktion mit der des Herausgebers des Nouvel Obser-vateur von heute zu vergleichen ist: Unablässig denunzierte er deren kulturzerstörerischen kulturellen Konformismus, ihre Gefälligkeit gegenüber dürftigen oder erbärmlichen Skribenten, ihren geheuchelten Pazifismus, der die pazi-fistischen Ideen diskreditierte... Fast immer richtet Kritik sich gegen Personen. Wenn man aber Soziologie betreibt, erfährt man, daß Männer und Frauen gewiß Verantwor-tung haben, daß sie in dem, was sie tun können und was

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nicht, aber weitgehend definiert sind durch die Struktur, in der sie stecken, und durch die Position, die sie in dieser Struktur innehaben. Man kann sich also nicht mit der Kri-tik an diesem oder jenem Journalisten, Philosophen oder Journalphilosophen zufriedengeben... Jeder hat seine priva-ten Zielscheiben, auch ich: Bernard-Henri Levy ist eine Art Symbol des Medienschriftstellers oder Medienphilosophen für mich geworden. Aber es ist eines Soziologen unwürdig, über Bernard-Henri Levy zu sprechen... Denn er ist nur eine Art Epiphänomen einer Struktur, Ausdruck seines Feldes, ganz wie ein Elektron. Man versteht nichts, wenn man das Feld nicht versteht, das ihr hervorbringt und ihm seine schwache Kraft verleiht.

Das ist wichtig, um die Analyse zu entdramatisieren und um rational zu handeln. Ich bin wirklich der Überzeugung, daß Untersuchungen wie diese (und daß ich sie im Fernse-hen vortrage, zeigt es) vielleicht zum Teil dazu beitragen können, die Dinge zu ändern. Alle Wissenschaften erheben diesen Anspruch. Auguste Comte sagte: »Aus Wissenschaft folgt Prognose, aus Prognose folgt Handlung.« Die Sozial-wissenschaft darf diesen Ehrgeiz ebenso hegen wie alle anderen. Wenn der Soziologe einen Raum wie den Journa-lismus beschreibt – wobei er zunächst Instinkte, Gefühle, Leidenschaften einbringt, Instinkte und Leidenschaften, die sich durch die Untersuchungsarbeit sublimieren -, dann hat er eine gewisse Hoffnung darauf, Wirkungen auszulö-sen. Zum Beispiel kann er, indem er das Bewußtsein der Mechanismen erhöht, dazu beitragen, Menschen, die von diesen Mechanismen manipuliert werden, ob Journalisten oder Fernsehzuschauern, ein wenig mehr Freiheit zu geben. In Klammern gesagt: Ich denke, daß Journalisten, die sich

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hier gewissermaßen »objektiviert« fühlen können, dann, wenn sie mir gut zuhören, sagen werden – so hoffe ich je-denfalls -, daß ich, indem ich Dinge durchleuchte, die sie in etwa erahnen, aber lieber nicht genau wissen wollen, ihnen Befreiungsinstrumente gebe, mit denen sie diese Mechanis-men meistern können. In der Tat sind zeitungsübergreifen-de Allianzen denkbar, die manche der von der Konkurrenz ausgelösten Effekte auszuschalten in der Lage wären. Wenn ein Teil dieser unheilvollen Effekte aus Struktureffekten hervorgeht, die Konkurrenzsituationen erzeugen, die ih-rerseits den Zeitdruck auslösen, der wiederum zur Jagd nach dem Scoop zwingt, die dazu führen kann, extrem gefährliche Meldungen zu lancieren, bloß um einen Kon-kurrenten außer Gefecht zu setzen, ohne daß das auch nur ein Zuschauer mitbekommt – wenn das alles so läuft, dann kann die Tatsache, daß diese Mechanismen bewußt und ex-plizit gemacht werden, zu einer gegenseitigen Abstimmung führen mit dem Ziel, die Konkurrenz zu neutralisieren (in etwa so, wie es in Extremsituationen, bei Kindesentfüh-rungen zum Beispiel, manchmal geschieht, könnte man sich vorstellen – oder erträumen -, daß die Journalisten sich darauf einigen, Politiker, die für – und durch – ihre fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt sind, nicht mehr einzuladen, bloß weil er die Einschaltquote hochtreibt; was sehr viel wirksamer wäre als alle scheinheiligen »Proteste« zusammengenommen). Ich mache hier wirklich in Utopie, und ich bin mir dessen auch bewußt. Aber denen, die dem Soziologen immer seinen Determinismus und Pessimismus vorwerfen, möchte ich nur entgegenhalten, daß ein Be-wußtsein von den strukturellen Mechanismen, aus denen unmoralisches Verhalten hervorgeht, es ermöglichen würde,

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etwas zu ihrer Kontrolle zu unternehmen. In diesem hoch-gradig zynischen Universum ist viel von Moral die Rede. Als Soziologe weiß ich, daß Moral nur effizient ist, wenn sie sich auf Strukturen, auf Mechanismen stützt, durch die Menschen an der Moral Interesse gewinnen. Und wenn so etwas wie moralische Unruhe aufkommen soll, dann muß sie in dieser Struktur selbst Stützpunkte und Verankerun-gen, muß sie Anerkennung finden. Diese Anerkennung könnte auch vom Publikur ausgehen (wenn es aufgeklärter wäre und sich die Manipulationen bewußt machen würde, denen es zum Opfer fällt).

Ich denke also, daß gegenwärtig alle Felder der Kultur-produktion dem strukturellen Druck des journalistischen Feldes ausgesetzt sind – und nicht diesem oder jenem Journalisten, diesem oder jenem Programmdirektor, die selber von den in diesem Feld wirkenden Kräften überrollt werden. Und dieser Druck übt auf alle Felder sehr ähnliche Effekte aus. Das journalistische Feld wirkt als Feld auf die anderen Felder ein. Anders gesagt, ein Feld, das selbst immer stärker von der kommerziellen Logik dominiert ist, übt immer mehr Druck auf andere aus. Durch den von der Einschaltquote ausgehenden Druck wirkt die Wirtschaft auf das Fernsehen ein und durch die Bedeutung des Fernse-hens für den Journalismus auf alle Presseerzeugnisse, auch auf die »reinsten«, und auf die Journalisten, die sich nach und nach vom Fernsehen die emen vorgeben lassen. Und in gleicher Weise lastet er durch den Stellenwert, den die Gesamtheit des journalistischen Feldes innehat, auf allen Feldern der Kulturproduktion.

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In einem Heft der Actes de la recherche en sciences sociales, das wir dem Journalismus gewidmet haben, ist ein sehr schöner Artikel von Remi Lenoir erschienen, der zeigt, wie hohe Justizbeamte, Angehörige des Felds der Recht-sprechung, die sich den internen Normen ihres Universums nicht immer sehr verpflichtet fühlen, das Fernsehen dafür einspannen konnten, das Kräfteverhältnis innerhalb ihres Feldes zu ändern und die internen Hierarchien auszuschal-ten. Was in manchen Fällen sehr gut sein, aber auch einen hart erarbeiteten Stand kollektiver Rationalität gefährden kann, oder genauer: was von der Autonomie eines Univer-sums der Rechtsprechung gesicherte und gewährleistete Errungenschaften in Frage stellen kann – Errungenschaf-ten eines Universums, das in der Lage ist, dem intuitiven Gerechtigkeitssinn, dem gesunden Menschenverstand, der für puren Anschein oder Leidenschaften anfällig ist, seine eigene Logik entgegenzusetzen. Man hat das Gefühl, daß der Druck von Journalisten – mögen sie ihre Sicht oder ihre eigenen Werte formulieren oder in bestem Glauben als Sprachrohr »in der Bevölkerung verbreiteter Emotionen« oder der »öffentlichen Meinung« auftreten – die Arbeit der Richter bisweilen sehr stark beeinflußt. Manche sprachen schon von einer förmlichen Übertragung der richterli-chen Gewalt. Parallelen dazu lassen sich bis ins Feld der Naturwissenschaften verfolgen, wo, wie die von Patrick Champagne untersuchten »Affären« gezeigt haben, es ebenfalls vorkommt, daß die Logik der Demagogie – die der Einschaltquote – sich an die Stelle der Logik interner Kritik setzt.

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Das alles mag sehr abstrakt scheinen; ich werde versu-chen, es noch einmal und einfacher zu sagen. In jedem Feld, im Feld der Universitäten, der Historiker usw., dominieren nach Maßgabe der internen Werte des Feldes einige, andere werden dominiert. Ein »guter Historiker« ist jemand, von dem die guten Historiker sagen, daß er ein guter Historiker ist. Das ist zwangsläufig zirkulär. Die Heteronomie fängt aber an, wenn einer, der selber nicht Mathematiker ist, intervenieren kann, um seine Ansicht über Mathematiker kundzutun, wenn einer, der nicht als Historiker anerkannt ist (ein Fernsehhistoriker zum Beispiel), seine Ansicht über Historiker kundtun und Gehör finden kann. Mit der »Au-torität«, die ihm das Fernsehen verleiht, sagt Herr Cavada Ihnen, daß der größte französische Philosoph Herr X ist. Kann man sich vorstellen, daß eine Meinungsverschieden-heit zwischen zwei Mathematikern, zwei Biologen oder zwei Physikern durch ein Referendum oder durch eine Debatte entschieden wird, deren Teilnehmer Herr Cavada auswählt? Aber die Medien greifen ständig mit ihren Ver-dikten ein. Die Wochenmagazine lieben das förmlich: das verflossene Jahrzehnt bilanzieren, die zehn größten »Intel-lektuellen« des Jahrzehnts designieren, die des Monats, die der Woche, die »Intellektuellen«, die zählen, die im Kurs steigen oder fallen... Warum hat das solchen Erfolg? Weil dies Instrumente sind, mit denen man die intellektuellen Börsenwerte beeinflussen kann, Instrumente, deren die Intellektuellen, das heißt die Aktionäre (oft Kleinaktio-näre, die aber im Journalismus oder im Verlagsgeschäft Einfluß haben), sich bedienen, um den Kurs ihrer Aktien hochzutreiben. Auch Nachschlagewerke (über Philosophen, über Soziologen oder Soziologie, über Intellektuelle usw.)

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spielen hier ihre Rolle. Sie sind und waren immer schon Instrumente der Machtausübung, der Bestätigung einer Karriere. Nun besteht eine weitverbreitete Strategie darin, zum Beispiel Personen aufzuführen, die (nach spezifischen Kriterien) davon ausgeschlossen werden könnten oder müßten, oder Personen auszuschließen, die aufgenommen werden könnten oder müßten, oder auch, wie es in einer dieser »Starparaden« geschieht, Claude Levi-Strauss und Bernard-Henri Levy, also einen undiskutierbaren Wert und undiskutierbar diskutierbaren Wert, nebeneinander aufzu-führen, um so die Bewertungsstruktur zu verändern. Die Zeitungen greifen aber auch ein, um Probleme zu stellen, die dann umgehend von Medienintellektuellen aufgegriffen werden. Der Antiintellektualismus, eine (überaus verständ-liche) strukturelle Konstante der journalistischen Welt, treibt die Journalisten zum Beispiel immer wieder dazu, pe-riodisch nach den Irrtümern der Intellektuellen zu fragen oder emen aufzuwerfen, die nur Medienintellektuelle mobilisieren können und die oft nur dazu da sind, diese in die Lage zu versetzen, sich eine »Marktnische« zu erobern und in der Medienwelt zu existieren.

Diese Eingriffe von außen sind sehr bedrohlich, und zwar vor allem, weil sie Uneingeweihte täuschen können, die im-merhin soweit von Belang sind, als die Kulturproduzenten Hörer, Zuschauer, Leser brauchen, die zum Verkaufserfolg der Bücher beitragen, und über den Verkauf auf die Verleger Einfluß nehmen, und über die Verleger auf die künftigen Möglichkeiten zu veröffentlichen. Bei der heutigen Ten-denz der Medien, kommerzielle Produkte zu feiern, die für die Bestsellerlisten verfertigt wurden, und Seilschaften zwi-schen Journal-Schriftstellern und Schriftstellerjournalisten

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zu etablieren, werden junge Autoren mit Auflagen von Exemplaren, ob Poeten, Romanautoren, Soziologen oder Historiker, immer weniger Publikationschancen haben. (In Klammern gesagt: Die Soziologie, und ganz besonders die Intellektuellensoziologie, hat, denke ich, zu dem Stand der Dinge, den wir heute im intellektuellen Feld Frankreichs beobachten, paradoxerweise wohl selbst beigetragen. Völlig ungewollt hat sie zwei entgegengesetzte Lesarten ihrer Er-gebnisse möglich gemacht: eine zynische, die darin besteht, daß man die Kenntnis der Gesetze der verschiedenen Sozi-almilieus dazu einsetzt, um die Effizienz seiner Strategien zu verbessern, neben der anderen, die man die klinische nennen könnte und die darin besteht, die Kenntnis von Ge-setzen oder Tendenzen zu nutzen, um diese zu bekämpfen. Ich bin der Überzeugung, daß eine Reihe von Zynikern

– Propheten des Regelverstoßes, Fernseh-fast-thinkers und Medienhistorikern, Autoren von Nachschlagewerken oder von mit dem Tonbandgerät erstellten Bilanzen zeitgenös-sischen Denkens – sich bewußt der Soziologie bedienen – oder dessen, was sie davon verstehen -, um Coups zu landen, Handstreiche im intellektuellen Feld zu verüben. Ähnlich sind die möglicherweise wirklich kritischen Elemente im Denken von Guy Debord zweckentfremdet worden – heute dient der große Denker der Bildwelt, zu dem er aufgebaut wurde, einem unechten, zynischen, verharmlosenden Radi-kalismus als Alibi.)

Eine Anspielung auf Francois Dosse, Histoire du structuralisme, Paris, La Dicouverte, . (A. d. Ü.)

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Die Kollaboration

Aber die journalistische Manipulation kann auch subtiler agieren, nämlich mit Hilfe der Logik des Trojanischen Pferdes, das heißt, indem sie in die autonomen Bereiche außenstehende Produzenten einschleust, die es mittels externer Kräfte zu einer Anerkennung bringen, die sie von ihresgleichen nicht erhalten können. Diese Schriftsteller für Nichtschriftsteller, Philosophen für Nichtphilosophen und so fort stehen beim Fernsehen in viel höherem Kurs und haben einen viel größeren Stellenwert bei der Presse als in ihrem eigenen, spezifischen Universum. Tatsache ist: In bestimmten Disziplinen wird die Bestätigung durch die Medien sogar von Kommissionen des CNRS in Rechnung gestellt. Wenn dieser oder jener Produzent von Fernseh- oder Radiosendungen einen Forscher einlädt, erweist er ihm damit eine Anerkennung, die in der Vergangenheit eher etwas Abwertendes hatte. Noch vor nicht einmal drei-ßig Jahren wurden die gewiß unstrittigen akademischen Qualitäten eines Raymond Aron angezweifelt, weil er als Mitarbeiter des Figaro Verbindung zu den Medien hatte. Heute ist die Umkehrung im Kräfteverhältnis zwischen den Feldern so weit gediehen, daß externe Evaluationskriterien

– eine Einladung bei Pivot, Anerkennung durch Magazine, Presseporträts – über das Urteil von Kollegen triumphieren. Hier wären Beispiele aus dem »reinsten« Universum, dem

Die Kommissionen des CNRS (»Centre National de Recherche Scienti-fique«, eine den Max-Planck-Instituten in Deutschland vergleichbare Gruppierung von Forschungsinstitutionen) rekrutieren einen Großteil des wissenschaftlichen Nachwuchses in Frankreich. (A. d. Ü.)

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der »harten« Wissenschaften, anzuführen (mit dem Uni-versum der Sozialwissenschaften verhält es sich nicht so einfach, weil die Soziologen von einer Welt sprechen, in der jedermann seine Zwecke, seine Interessen verfolgt, so daß aus Gründen, die mit Soziologie nichts zu tun haben, jeder seine guten und seine schlechten Soziologen hat). Auch in scheinbar unabhängigeren Disziplinen wie Geschichte und Anthropologie, Biologie und Physik wachsen die Medien immer mehr in eine Schiedsrichterrolle hinein, insofern die Mittelzuweisungen von einem Bekanntheitsgrad abhängen können, von dem man nicht mehr genau weiß, wieviel er der Berücksichtigung in den Medien und wieviel der Aner-kennung durch Fachleute verdankt. Es sieht so aus, als wür-de ich übertreiben, aber leider könnte ich vielfache Beispiele für das Eindringen der Macht der Medien, das heißt der von den Medien dazu ermächtigten ökonomischen Mächte, in das Universum auch der reinsten Wissenschaft nennen. Deswegen ist die Frage, ob man im Fernsehen auftritt oder nicht, ganz zentral, und mir liegt sehr daran, daß die Wis-senschaftler sich gemeinsam darüber Gedanken machen. Es wäre nämlich wichtig, daß die Bewußtwerdung all der Mechanismen, die ich beschrieben habe, zu kollektiven Anstrengungen führt, gegenüber der wachsenden Macht des Fernsehens jene Autonomie zu schützen, die Vorausset-zung wissenschaftlichen Fortschritts ist.

Damit die Medien in Welten wie denen der Wissen-schaft ihren Einfluß geltend machen können, müssen sie in dem entsprechenden Feld auf Komplizenschaft treffen. Die Soziologie hilft, solche Komplizenschaft zu durchschauen. Journalisten bemerken oft mit großer Befriedigung, daß die Wissenschaftler sich auf die Medien geradezu stürzen, Be-

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richte anregen, Einladungen erbetteln, protestieren, wenn sie vergessen werden. Angesichts solch erschreckender Zeugnisse könnte man von tiefen Zweifeln an der subjek-tiven Autonomie von Schriftstellern, Künstlern, Gelehrten befallen werden. Man muß diese Abhängigkeit zur Kennt-nis nehmen und versuchen, die Gründe oder Motive zu verstehen. Man muß gewissermaßen zu begreifen suchen, wer kollaboriert. Ich benutze das Wort mit Absicht. Wir haben in den Actes de la recherche en sciences sociales ein Heft mit einem Beitrag von Gisele Spiro über das literarische Feld in Frankreich während der deutschen Besetzung he-rausgebracht. In dieser sehr schönen Untersuchung geht es nicht darum, wer Kollaborateur war und wer nicht, und um nachträgliche Abrechnungen. Es geht darum, ausgehend von einer gewissen Anzahl an Variablen zu begreifen, war-um Schriftsteller wann welches Lager gewählt haben. Kurz zusammengefaßt kann man sagen, daß sie um so mehr zum Widerstand tendierten, als sie von ihren Kollegen anerkannt waren, also über spezifisches Kapital verfügten, und daß sie umgekehrt um so mehr zum Kollaborieren neigten, je he-teronomer sie in ihrer eigentlich literarischen Produktion waren, je stärker sie sich am Kommerz orientierten (wie Claude Farrère, ein Erfolgsschriftsteller, dessengleichen es auch heute gibt). Ich muß aber genauer erklären, was unter autonom zu verstehen ist. Ein sehr autonomes Feld, das der Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produ-zenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können, die sie ihnen bekanntgeben. (Mein Traum ist, daß es in der Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein. Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen, und Herr Peyrefitte

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will mir Lektionen in Soziologie erteilen. Und warum auch nicht, werden Sie mir sagen, wo er doch Soziologen und Historiker findet, die bereit sind, mit ihm zu diskutieren

– im Fernsehen...) Um Autonomie zu erlangen, muß man jene Art Elfenbeinturm errichten, innerhalb dessen man einander beurteilt, kritisiert, auch bekämpft, aber in Kennt-nis der Sache; man rivalisiert, aber mit wissenschaftlichen Waffen, mit Instrumenten, Techniken, Methoden. Als ich einmal mit einem Historikerkollegen im Radio diskutierte, sagte er mir während der Sendung: »Lieber Kollege, ich habe Ihre Korrespondenzanalyse (eine statistische Un-tersuchungsmethode) über die Unternehmer noch einmal gemacht und komme durchaus nicht zu demselben Ergeb-nis.« Ich dachte: »Wunderbar! Endlich jemand, der mich wirklich kritisiert.« Es stellte sich heraus, daß er eine andere Definition des Unternehmertums benutzt und die Bankiers aus der untersuchten Population herausgenommen hatte. Man brauchte sie bloß wieder einzuführen (was allerdings weitreichende theoretische und historische Entscheidungen einschloß), um zu übereinstimmenden Ergebnissen zu ge-langen. Erst eine hochgradige Übereinstimmung über das Gebiet auf dem man nicht übereinstimmt, und über die Mittel, mit denen ein Meinungsunterschied beizulegen ist, macht eine echte wissenschaftliche Debatte möglich und kann zu einer echten wissenschaftlichen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung führen. Man staunt manch-mal, daß die Historiker im Fernsehen untereinander nicht einig sind. Oft aber sitzen sich bei diesen Diskussionen Personen gegenüber, die nichts gemeinsam haben und die nicht miteinander debattieren sollten (so wenig wie ein As-tronom mit einem Astrologen, ein Chemiker mit einem Al-

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chimisten, ein Religionssoziologe mit dem Anführer einer Sekte usw. – Paarungen, wie sie von schlechten Journalisten bevorzugt werden).

Im Verhalten der französischen Schriftsteller unter der Okkupation haben wir einen Fall dessen, was ich das Sh-danowsche Gesetz nenne: Je autonomer ein Kulturproduzent ist, je mehr spezifisches Kapital er besitzt und je ausschließ-licher er den eingeschränkten Markt beliefert, auf dem man nur seine eigenen Konkurrenten zu Kunden hat, um so mehr tendiert er zum Widerstand. Je mehr er mit seinen Produkten hingegen den Markt des breiten Publikums be-dient (wie Essayisten, Presseschriftsteller, konformistische Romanschreiber), um so mehr tendiert er dazu, mit exter-nen Mächten wie Staat, Kirche, Partei, und heutzutage mit Journalismus und Fernsehen, zu kollaborieren, sich ihren Anfragen oder ihren Aufträgen zu unterwerfen.

Das ist ein sehr allgemeines Gesetz, das auch für die Gegenwart gilt. Man wird mir entgegenhalten, mit den Medien kollaborieren sei ganz und gar nicht dasselbe wie mit den Nazis kollaborieren. Das ist sicher richtig, und ich verurteile natürlich nicht a priori jede Form der Zusammen-arbeit mit den Zeitungen, dem Radio oder dem Fernsehen. Im Hinblick auf die Faktoren jedoch, die zur Kollaboration

– verstanden als bedingungslose Unterordnung unter Zwän-ge, die die Normen der autonomen Felder zerstören – ten-dieren lassen, ist die Übereinstimmung frappant. Wenn die wissenschaftlichen, politischen, literarischen Felder durch die Medien bedroht sind, so deswegen, weil es innerhalb dieser Felder von außen bestimmte, von den spezifischen Werten des Feldes nicht ganz durchdrungene Personen gibt, oder, um es in der Alltagssprache zu sagen, »Versager« oder

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solche, die im Begriff sind zu versagen. Sie haben Interesse an Heteronomie, Interesse daran, die Bestätigungen, die sie innerhalb des Feldes nicht erlangten, außerhalb (und in vor-eiliger, verfrühter und schnell vorübergehender Form) zu finden. Bei den Journalisten aber sind sie sehr gern gesehen, denn sie machen ihnen (im Unterschied zu autonomeren Autoren) keine Angst und sind bereit, ihre Forderungen zu erfüllen. Wenn es mir unerläßlich scheint, diese hetero-nomen Intellektuellen zu bekämpfen, so deswegen, weil sie das Trojanische Pferd sind, durch das die Heteronomie, das heißt die Gesetze des Kommerzes, der Ökonomie, in das Feld Einzug halten.

Ich möchte ganz kurz das Beispiel Politik streifen. Das politische Feld selbst hat eine gewisse Autonomie. Das Parlament etwa ist eine Art Arena, in der eine Reihe von Streitfällen zwischen Leuten mit divergierenden oder auch antagonistischen Interessen durch Aussprache und Ab-stimmung nach bestimmten Regeln ausgetragen werden soll. Das Fernsehen produziert hier analoge Effekte wie in jedem anderen Feld, insbesondere dem der Rechtspre-chung: Es stellt das Recht auf Autonomie in Frage. Um das zu zeigen, werde ich rasch eine Geschichte erzählen, die in der schon erwähnten Nummer der Actes de la recherche en sciences sociales berichtet wurde: die Affäre der kleinen Kari-ne, eines Mädchens aus Südfrankreich, das ermordet wurde. Das Lokalblatt gibt die Tatsachen wieder, berichtet über die empörten Proteste des Vaters, des Bruders des Vaters, der eine kleine Demonstration im Ort organisiert, die von einer kleinen Zeitung aufgegriffen wird, dann von einer weiteren. Stimmen werden laut: »Wie gräßlich, ein Kind! Die To-desstrafe muß wieder her!« Politiker aus dem Wahlbezirk

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mischen sich ein, besonders aktiv sind die Parteigänger des Front National. Ein etwas gewissenhafterer Journalist aus Toulouse versucht zu warnen: »Vorsicht, das läuft auf Lyn-chen hinaus, nichts überhasten!« Anwaltsvereine mischen sich ihrerseits ein und warnen vor der Versuchung, zur Selbstjustiz zu greifen... Der Druck steigt, und am Ende steht die Wiedereinführung der lebenslangen Haftstrafe. In diesem Zeitraffer wird sichtbar, wie über Medien, die als Instrument mobilisierender Information agieren, eine per-verse Form direkter Demokratie um sich greifen kann. Sie schafft die Distanz zum Zeitdruck, zum Druck kollektiver, nicht unbedingt demokratischer Leidenschaften ab, den die relativ autonome Logik des politischen Feldes norma-lerweise garantiert. Es zeigt sich, wie eine Logik der Rache wiederersteht, gegen die die gesamte juristische und auch die politische Logik aufgebaut worden sind. So werden aus Journalisten, die die zum Nachdenken notwendige Distanz nicht wahren, Brandstifter. Sie können zur Schaffung eines Ereignisses beitragen, indem sie eine »Vermischte Mel-dung« aufbauschen (die Ermordung eines jungen Franzosen durch einen anderen, der aber »afrikanischer Herkunft« ist), um anschließend die anzuklagen, die Öl in das von ihnen selbst entzündete Feuer gießen, die Parteigänger des Front National nämlich, die die »durch den Vorfall geweckte Emotion« ausschlachten oder auszuschlachten versuchen – einen Vorfall, den die Journalisten selbst geschaffen haben, indem sie ihn auf die erste Seite setzten, ihn zu Beginn der Fernsehnachrichten wiederkäuten, um sich als schöne hu-manistische Seelen anschließend noch einen Tugendpreis dafür zu sichern, daß sie lauthals moralisierend die rassisti-sche Intervention einer Partei verurteilen, die sie überhaupt

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erst zu dem gemacht haben, was sie ist, und der sie immer | wieder ihre schönsten Manipulationsinstrumente zur Ver-fügung stellen.

Der Eintrittspreis und die Pflicht zur Äußerung

Ich möchte jetzt noch ein paar Worte über die Frage der Beziehungen zwischen Hermetik und Elitismus sagen. Ein Problem, mit dem sich alle Denker seit dem . Jahrhundert abgemüht und in dem sie sich manchmal verfangen haben. Mallarme zum Beispiel, das Symbol des hermetischen, reinen Dichters schlechthin, der nur für wenige schreibt in einer Sprache, die der gemeine Sterbliche nicht versteht, hat sich sein Leben lang gefragt, wie er die Entdeckungen bei seiner schriftstellerischen Arbeit allen zugänglich ma-chen könne. Hätte es die heutigen Medien gegeben, hätte er sich die Frage gestellt: »Soll ich im Fernsehen auftreten? Wie kann ich den jeder wissenschaftlichen oder überhaupt geistigen Tätigkeit immanenten Anspruch auf >Reinheit< vereinbaren mit der demokratischen Bemühung darum, die Ergebnisse möglichst vielen zugänglich zu machen?« Ich habe darauf hingewiesen, daß das Fernsehen zweierlei Effekte produziert. Es senkt den Eintrittspreis in einer ge-wissen Reihe von Feldern, der Philosophie, Juristerei usw.: Es kann zu Soziologen, Schriftstellern, Philosophen usw. Leute ernennen, die unter dem Gesichtspunkt der internen Definition der Zunft den Eintrittspreis nicht bezahlt haben. Andererseits ist es in der Lage, das breitestmögliche Publi-kum zu erreichen. Schwer zu rechtfertigen scheint mir aber,

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daß man sich auf die große Reichweite beruft, um den Ein-trittspreis in dem entsprechenden Feld zu senken. Man wird mir vorwerfen, daß ich hier elitäre Dinge von mir gebe, daß ich die belagerte Zitadelle der Wissenschaft und der Hoch-kultur verteidige oder sogar dem Volk den Zugang verbiete (indem ich versuche, den Zugang zum Fernsehen denen zu verbieten, die sich trotz ihrer phantastischen Honorare und ihrer luxuriösen Lebenshaltung manchmal zu Sprechern der Bevölkerung ernennen, nur weil sie es fertigbringen, sich ihr verständlich zu machen, sich von der Einschaltquo-te akklamieren zu lassen). In Wirklichkeit verteidige ich die notwendigen Voraussetzungen zur Produktion und Vertei-lung der höchsten Schöpfungen der Menschheit. Will man der Alternative zwischen elitärer Haltung und Demagogie entkommen, muß man für die Beibehaltung, ja Erhöhung des Eintrittspreises zu den Produktionsfeldern eintreten

– wie ich gerade gesagt habe, wäre es mir lieb, wenn dies mit der Soziologie geschehen würde, deren Unglück überwie-gend daher kommt, daß der Eintrittspreis hier zu niedrig ist – und gleichzeitig die Verpflichtung unterstreichen, sich zu äußern sowie für eine Verbesserung der Voraussetzungen und Mittel dazu einzutreten.

Man beschwört die drohende Nivellierung (ein immer wiederkehrendes ema des reaktionären Denkens, das sich vor allem bei Heidegger findet). In Wirklichkeit kann sie aus dem Eindringen der Forderung nach medienadäquater Präsentation in das Feld kultureller Produktion resultieren. Es gilt, sowohl für die jedem Avantgardismus (zwangs-läufig) immanente Hermetik einzutreten, als auch für die Notwendigkeit, das Hermetische aufzubrechen und dafür zu kämpfen, daß die entsprechenden Mittel zur Verfügung

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stehen. Anders gesagt, man muß dafür kämpfen, daß die zur Förderung des Universellen notwendigen Produkti-onsbedingungen bereitgestellt werden, und gleichzeitig an der Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zum Universellen arbeiten, damit immer mehr Menschen die Voraussetzungen erfüllen, sich das Universelle anzueignen. Je komplexer ein Gedanke ist, weil er in einem autonomen Universum erzeugt wurde, um so schwieriger ist seine Wei-tergabe. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, müssen die Produzenten aus ihrer kleinen Zitadelle ausbrechen und um gute Verbreitungsmittel, um das Eigentum an ihren Verbreitungsmitteln kämpfen, und zwar kollektiv; und in Verbindung mit Lehrern, Gewerkschaften, Verbänden usw. auch darum kämpfen, daß die Adressaten so ausgebildet werden, daß ihre Kompetenz steigt. Man vergißt oft, daß die Gründer der Französischen Republik im . Jahrhundert das Ziel der Schulbildung nicht nur darin sahen, daß man lesen, schreiben, rechnen lernt, um ein guter Arbeiter zu werden, sondern auch darin, daß man die Voraussetzungen erwirbt, ein guter Staatsbürger zu sein, die Gesetze zu verstehen, seine Rechte zu verstehen und zu verteidigen, gewerkschaftliche Vereinigungen ins Leben zu rufen... Es gilt, an der Universalisierung der Zugangsbedingungen zum Universellen zu arbeiten.

Man kann und muß im Namen der Demokratie gegen die Einschaltquote kämpfen. Das scheint sehr paradox, denn die Parteigänger der Einschaltquote behaupten, daß es nichts Demokratischeres gebe (das Lieblingsargument der zynischsten unter den Anzeigenkunden und Werbe-agenturen, das einige Soziologen übernehmen, ganz zu schweigen von gedankenarmen Essayisten, die die Kritik

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an Umfragen – und an Einschaltquoten – mit der Kritik am allgemeinen Stimmrecht gleichsetzen), daß man den Leu-ten die Freiheit lassen müsse, zu urteilen, zu wählen (»Bloß eure elitär intellektuellen Vorurteile lassen euch all das als verächtlich erscheinen«). Die Einschaltquote ist die Sank-tion des Marktes, der Wirtschaft, das heißt einer externen und rein kommerziellen Legalität, und die Unterwerfung unter die Anforderungen dieses Marketinginstruments ist im Bereich der Kultur genau dasselbe wie die von Mei-nungsumfragen geleitete Demagogie in der Politik. Das unter der Herrschaft der Einschaltquote stehende Fernse-hen trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die, anders als zynische Demagogen glauben machen wollen, mit dem demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts zu tun haben. Die kritischen Denker und die Organisati-onen zur Wahrnehmung der Interessen der Dominierten sind noch weit davon entfernt, dieses Problem klar zu sehen. Was nicht wenig dazu beiträgt, all die Mechanismen zu verstärken, die zu beschreiben ich versucht habe.

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Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen

Literatur

ACCARDO (Alain), mit G. Abou, G. Balastre, D. Marine, Journa-listes au quotidien. Outils pour une socioanalyse des pratiques journa-listiques, Bordeaux, Le Mascaret, .

ACCARDO (Alain), »Le destin scolaire«, in: P. Bourdieu, La misere du monde, Paris, Editions du Seuil, , .-.

BOURDIEU (Pierre), »L‘emprise du journalisme«, Actes de la recber-cbe en sciences sociales, -, März , S. -. In diesem Band S. -.

– (mit Wacquant, Loic), Reponses, Paris, Èditions du Seuil, .CHAMPAGNE (Patrick), »La construction mediatique des >malai-

ses sociaux<«, Actes de la recherche en sciences sociales, , Dezember , .-.

– »La vision mediatique«, in: La misere du monde, op. dt., S.-– »La loi des grands nombres. Mesure de l‘audience et represen-ta-

tion politique du public«, Actes de la recherche en sciences sociales, -, März , S. -.

DELEUZE (Gilles), A propos des nouveaux philosophes et d‘un Proble-me plus general, Paris, Editions de Minuit, .

GODARD (Jean-Luc), Godard par Godard. Des annees Mao aux an-nees , Paris, Flammarion, .

LENOIR (Remi), »La parole est aux juges. Crise de la magistrature et champ journalistique«, Actes de la recherche en sciences sociales, -, März , S. -.

SAPIRO (Gisele), »La raison litteraire. Le champ litteraire français sous l‘Occupation (-)«, Actes de la recherche en sciences so-ciales, -, März , S. -.

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– »Salut litteraire et litterature du salut. Deux trajectoires de ro-manciers catholiques: Franc, ois Maunac et Henry Bordeaux«, Actes de la recherche en sciences sociales, -, März , S. -.

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Personenverzeichnis

ALEXANDRE, Philippe (geb. ), Presse- und Rundfunkjourna-list, ständiger Mitarbeiter u.a. bei Combat (-), Paris-Match (

-), Le Parisien (-), bei dem Rundfunksender RTL (-), heute bei BFM (s. Ockrent), bei den staatlichen Fernsehsendern TF (-) und FR (seit ), regelmäßiger Gast von Talkshows, in denen er zusammen mit Serge July (s. d.) das politische Geschehen der Woche kommentiert, Verfasser politischer Romane und Sachbü-cher (Man livre de cuisine politique, ).

ATTALI, Jacques (geb. ), Wirtschaftsprofessor, Mitglied der Sozialistischen Partei, Berater des Präsidenten Mitterrand, - Direktor der europäischen Entwicklungsbank BERD, seither vor allem als Polygraph tätig: neben vier Bestsellerromanen u. a. drei Bände Erinnerungen an Mitterrand (Verbatim, -), historische, medizinische, musikologische usw. Abhandlungen; publizistische Interventionen vor allem über den Nouvel Observateur.

BOUYGUES, Martin (geb. ), Sohn des Firmengründers Francis Bouygues, Generaldirektor des gleichnamigen führenden französi-schen Baukonzerns, dem insgesamt Gesellschaften in aller Welt zugeordnet werden (DAFSA ), seit im Besitz der Aktien-mehrheit des hinsichtlich Werbebudget wie Einschaltquote (um ) führenden Ersten französischen Fernsehprogramms (TF), dessen Werbesparte seine Schwester Corinne Bouygues leitet; besitzt außer-dem das Nachrichtenfernsehen LCI (La Chaîne Info).

CAVADA, Jean-Marie (geb. ), seit Mitarbeit an diversen Rundfunk- und Fernsehsendern (France Inter, Antenne , TF), seit Mitproduzent und Moderator der Informationssendungen La marche du siede (FR, Mi. .-. Uhr) und Etats d‘urgence, - Generaldirektor des Schul- und Bildungsprogramms La Cinquieme (das seit mit arte liiert ist), seit Februar Generaldirektor des staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogramms RFO (Radio-televisi-on francaise d‘Outre-mer).

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COMTE-SPONVILLE, André (geb. ), Dozent an der Univer-sität Paris , Verfasser zahlreicher, überwiegend moralphilosophischer Abhandlungen (Petit traite des grands vertus, ), ständiger Mitar-beiter der Wochenzeitschrift L‘Express.

DEBORD, Guy (-), avantgardistischer Kunsttheoretiker, Gründer der Internationale Situationniste () und Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift. La Societe du Spectacle (), der Versuch einer Neufassung der marxistischen Entfremdungskritik unter Ein-beziehung der von den Medien produzierten Bilderwelt, ist seit seiner Veröffentlichung der Klassiker der Medienkritik in Frankreich.

DURAND, Guillaume (geb. ), Fernsehjournalist und Moderator, seit Mitarbeiter von TF und Paris-Match, seit bei LCI (La Chaine Info, das Nachrichtenfernsehen des Bouygues-Konzerns) und Canal +, wo er seit Herbst die tägliche Talkshow produziert und moderiert (Nulle part ailleurs, Mo.-Fr. .-. Uhr).

FERRY, Luc (geb. ), Philosophieprofessor und Publizist, seit regelmäßiger Mitarbeiter der Wochenzeitschrift L‘Express, seit Kolumnist bei Le Point, Mitglied der Fondation Saint-Simon (s. Minc), Kritiker des »er Denkens«, zu dem für ihn u. a. Bourdieu, Derrida und Foucault zählen (La Pensée , ), und des ihm ebenso unheimlichen ökologischen Denkens (Le Nouvel Ordre ecologique, ); Herausgeber einer philosophischen Buchreihe (bei Grasset), seit Vorsitzender der für die Schulprogramme verantwortlichen Kommission des Erziehungsministeriums.

FINKIELKRAUT, Alain (geb. ), Philosoph und Publizist, Verfasser allgemein zeitkritischer (La Defaite de la pensée, ) und aktuell politischer Werke (Comment peut-on être croate?, ), Mitar-beiter des staatlichen Rundfunkprogramms France Culture (ständige Sendung: Repliques, samstags .-. Uhr).

IMBERT, Claude (geb. ), seit den fünfziger Jahren vorwiegend als Pressejournalist tätig (Reporter bei AFP, L‘Express, Paris-Match), Gründer und seither Herausgeber des Nachrichten-

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magazins Le Point, seit Mitarbeiter bei Europe , Autor eines seinerzeit vielbeachteten kulturkritischen Resümees der modernen Welt (Ce queje crois, ).

JULLIARD, Jacques (geb. ), Zeithistoriker, Dozent an der EHESS (Ecole des HaMes Etudes en Sciences Sociales), Mitglied der Redaktionsleitung und Kolumnist des Nouvel Observateur, Mitglied der Fondation Saint-Simon (s. Minc), zahlreiche Schriften zur Zeitge-schichte und zur aktuellen Politik (Pour la Bosnie, ).

JULY, Serge (geb. ), ehemaliger Studentenfunktionär, ab führendes Mitglied der verbotenen Gauche Proletarienne, Mitgründer und Chefredakteur der Tageszeitung Liberation (die er seit als Herausgeber leitet), Mitglied der Fondation Saint-Simon (s. Minc), zusammen mit Ph. Alexandre (s. d.) regelmäßiger Gast der Fernsehsendungen Ch. Ockrents (s. d.).

LEVY, Bernard-Henri (geb. ), Philosoph, Dozent, Essayist (La Barbarie a visage humaine, ), Roman- und eaterautor, Filmpro-duzent und -regisseur (Bosna!, ; Le Jour et la nuit, ), literari-scher Berater des Verlags Grasset (seit ), Gründer und Herausge-ber der Vierteljahresschrift La regle du jeu (seit ), Kolumnist der Wochenzeitschrift Le Point (seit ), Vorsitzender des Aufsichtsra-tes der Fernsehproduktionsgesellschaft La Sept/Arte (seit ).

MINC, Alain (geb. ), Politologe, seit Mitarbeiter von L‘Express und Le Debat, Industriemanager (Direktor des Chemiekon-zerns Saint-Gobain -) und Unternehmensberater, führendes Mitglied der Fondation Saint-Simon (ein gegründeter Club, der Wirtschaftsführer mit Wissenschaftlern und Mediengewaltigen zusammenbringen soll; Mitgl. u. a.: Ferry, Julliard, July, s. d.), ein-flußreiche Position bei der Tageszeitung Le Monde (»President de la Societe des Lecteurs du Monde«); zahlreiche Schriften zu Fragen der französischen und europäischen Politik (La Grande Illusion, ; La Vengeance des nations, ).

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OCKRENT, Christine (geb. ), Presse- und Fernsehjournalis-tin, langjährige Nachrichtenredakteurin und -Sprecherin bei dem staatlichen Fernsehsender Antenne und bei RTL, - Redak-tionsleitung des L‘Express, seit Mitproduzentin und Moderatorin des politischen Wochenmagazins Dimanche Soir (FR), seit Leitung der Holding FCC (Finance Communication et compagnie), der der private Rundfunksender BFM (Spezialität: Meldungen aus der Wirtschaft) gehört; dort regelmäßige Wochenchronik (samstags ., ., ., . Uhr); offizielle Lebensgefährtin des Gründers der »Medecins du Monde« und Staatskretärs für Gesundheitsfragen (seit ) Bernard Kouchner.

PEYREFITTE, Alain (geb. ), Jurist, Diplomat (Botschaftssek-retär in Bonn -), gaullistischer Abgeordneter (-, -), mehrfach Regierungsmitglied in wechselnden Ressorts (-, -), Mitglied der Academie Francaise (seit ), Vorsitzender des Herausgeberkomitees der konservativen Tageszeitung Le Figaro (seit ), Senator der Französischen Republik (seit ); Autor vielgele-sener politischer und zeitgeschichtlicher Veröffentlichungen (Quand la Chine s‘eveillera, ; Le Mal francais, ).

PIVOT, Bernard (geb. ), Fernsehjournalist, bekannt geworden durch seine Sendung Apostrophes (-), mit der er das Genre der literarischen Talkshow in Frankreich begründete; seit Bouillon de Culture (France , freitags .-. Uhr), seit Redaktionsleiter, seit Herausgeber der Monatszeitschrift Lire, seit Kolumnist des Journal du Dimanche.

SARKOZY, Nicolas (geb. ), Jurist, gaullistischer Abgeordneter (- und seit ), Finanzminister der Regierung Balladur (-), Mitherausgeber parteipolitischer Periodika (Initiatives, Pour la reforme), Mitglied des Politischen Büros und (seit Sommer ) Sprecher der gaullistischen Partei RPR.

SORMAN, Guy (geb. ),. Politologe, Verlagsgründer (Editions Sorman, ) und Verleger (vor allem kommunalpolitischer Zeit-schriften: La lettre du maire usw.), Propagandist wirtschaftlicher Li-

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beralisierung und Globalisierung (La solution liberale, ; Le monde est ma tribu, ), Mitarbeit bei Le Figaro, L‘Express, gaullistischer Parlamentskandidat, Berater des ehemaligen Premierministers Juppe (-).

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Im Banne des Journalismus1

Es geht hier nicht um die »Macht der Journalisten« und noch weniger um den Journalismus als »vierte Macht« -, sondern um den Einfluß, den die Mechanismen eines den Anforderungen des Marktes (der Leser und der Anzei-genkunden) immer stärker unterworfenen journalistischen Feldes ausüben, einen Einfluß, der sich zunächst auf die Journalisten (und die als Journalisten arbeitenden Intel-lektuellen) selbst auswirkt und anschließend, und zum Teil durch ihre Vermittlung, auf die verschiedenen Felder der Kulturproduktion, das juristische, das literarische, das künstlerische, das wissenschaftliche. Es handelt sich also darum, zu prüfen, wie tief der von diesem – selbst von den Zwängen des Marktes dominierten – Feld ausgehende strukturelle Zwang die Kräfteverhältnisse innerhalb der verschiedenen Felder modifiziert, wie weit er beeinflußt, was man dort macht und was dort geschieht, und wie in diesen auf der Erscheinungsebene sehr unterschiedlichen Welten sehr ähnliche Effekte hervorgerufen werden. Wobei keiner der beiden entgegengesetzten Fehler begangen wer-den soll: weder der, an ein ganz neues Phänomen zu glau-ben, noch der, nur das Immergleiche am Werk zu sehen.

Ich hielt es für nützlich, diesen bereits in den Actes de la rechercbe en sci-ences sociales veröffentlichten Text hier einzurücken, da er die meisten der oben in einer zugänglicheren Version behandelten emen auf striktere, kontrolliertere Weise resümiert.

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Der Einfluß des journalistischen Feldes, und durch es der Marktlogik, auch noch auf die Felder der autonoms-ten Kulturproduktion hat nichts umwerfend Neues: Mit Texten von Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts ließe sich mühelos ein durchaus realistisches Bild der ge-nerellsten Effekte zusammenstellen, die er innerhalb dieser geschützten Welten heute hervorbringt. Man sollte den spezifischen Charakter der gegenwärtigen Situation aber nicht übersehen, die über solche aus homologen Effekten hervorgehende Übereinstimmungen hinaus praktisch nie dagewesene Merkmale zeitigen. Die von der Entwicklung des Fernsehens im journalistischen Feld ausgelösten Konse-quenzen, die dieses Feld in alle anderen Felder der Kultur-produktion weiterträgt, sind an Intensität und Reichweite ungleich nachhaltiger als diejenigen, die das Auftreten der industrialisierten Literatur (der Massenpresse und des Fort-setzungsromans) hervorrief und die bei den Schriftstellern

Davon überzeugt das Werk von Jean-Marie Goulemot und Daniel Oster, Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, das überaus zahlreiche Beispiele von Beobachtungen und Bemerkungen enthält, aus denen sich jene spontane Soziologie des literarischen Milieus zusammensetzt, zu der die Autoren gelangen, ohne indes ihres Prinzips innezuwerden, vor allem nicht, wenn sie sich bemühen, ihre Gegner oder die Gesamtheit dessen zu objekti-vieren, was ihnen in der literarischen Welt nicht gefällt (vgl J.-M. Gou-lemot und D. Oster, Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, Minerve, ). Aber der intuitive Sinn für Homologien kann auch zwischen den Zeilen einer Untersuchung des literarischen Feldes in . Jahrhundert eine Beschreibung des versteckten Funktionierens des heutigen literarischen Feldes erkennen (wie bei Philippe Murray geschehen, »Des regles de l‘art aux coulisses de sa misère«, Art Press, , Juni ,S.-).

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zu jenen entrüsteten, empörten Reaktionen führten, aus de-nen Raymond Williams zufolge die modernen Definitionen von «Kultur» hervorgingen.

Das journalistische Feld erzeugt in den verschiedenen Feldern kultureller Produktion eine Menge von Effekten, die in Form wie Durchschlagskraft an seine eigene Struktur gebunden sind, das heißt an den Stellenwert der verschie-denen Presseorgane und Journalisten nach Maßgabe ihrer Autonomie gegenüber externen Kräften, denen des Leser- und denen des Anzeigenmarktes. Die Autonomie eines Presseorgans läßt sich gewiß daran messen, wie weit es von Werbung und Staatssubventionen (in Form von Anzeigen oder Geldzuweisungen) unabhängig ist, und auch an der Konzentration der Anzeigenkunden. Was die Autonomie eines einzelnen Journalisten angeht, so hängt sie zunächst einmal vom Konzentrationsgrad der Presse ab (bei Verrin-gerung der Anzahl potentieller Arbeitgeber steigt die Unsi-cherheit des Arbeitsplatzes); sodann von der Position seines Periodikums im Raum der Presse, das heißt, ob näher am »intellektuellen« oder am »kommerziellen« Pol; ferner von seiner Position bei dem Presseorgan (Angestellter, freier Mitarbeiter usw.), die für die verschiedenen (vorwiegend an Bekanntheit gebundenen) ihm zur Verfügung stehenden Statusgarantien entscheidend ist, auch für seine Entlohnung (ein Faktor, der für die sanften Formen von Öffentlichkeits-arbeit weniger zugänglich machen kann und unabhängiger von bloß dem Broterwerb dienenden, bestellten Arbeiten

– ein Einfallstor für externe Auftraggeber); schließlich seine Fähigkeit zur autonomen Erzeugung von Informa-tion (Journalisten aus den Bereichen Populärwissenschaft oder Wirtschaft zur Beispiel arbeiten unter besonders

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heteronomen Bedingungen). Klar ist, daß verschiedene In-stitutionen, und besonders die der Regierungen, nicht nur ökonomischen Druck einsetzen, sondern auch alle mög-lichen anderer Pressionen, die ihr Monopol an legitimer Information – durch offizielle Quellen vor allem – zuläßt; dieses Monopol liefert zunächst den Regierungs- und Ver-waltungsbehörden, der Polizei zum Beispiel, aber auch den juristischen, wissenschaftlichen usw. Einrichtungen Waf-fen für den Kampf mit den Journalisten, einen Kampf, bei dem sie versuchen, Informationen oder Übermittler von In-formationen zu manipulieren, während die Presse ihrerseits versucht, die Besitzer von Informationen zu manipulieren, um sich in deren Besitz zu bringen und sich die exklusive Verfügung darüber zu sichern. Wobei die außerordentliche symbolische Macht nicht vergessen werden sollte, die darin besteht, daß die obersten staatlichen Behörden in der Lage sind, durch ihre Aktionen, ihre Entscheidungen und ihre Interventionen im journalistischen Feld (Interviews, Pres-sekonferenzen usw.) die Tagesordnung und die Hierarchie von Ereignissen zu bestimmen, denen sich die Presse nicht entziehen kann.

Einige Eigenschaften des journalistischen Feldes

Will man verstehen, auf welche Weise das journalistische Feld dazu beiträgt, in allen Feldern das »Kommerzielle« zu-ungunsten des »Reinen« zu stärken, die den Versuchungen durch ökonomische und politische Mächte zugänglichsten Produzenten gegenüber denjenigen, die den Grundsätzen

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und Werten ihres »Metiers« am stärksten verhaftet sind, dann muß man sowohl davon ausgehen, daß es homolog zu den anderen Feldern strukturiert ist, als auch davon, daß das »Kommerzielle« hier einen viel größeren Stellenwert einnimmt.

Das journalistische Feld hat sich als solches im . Jahr-hundert um folgenden Gegensatz herum konstituiert: auf der einen Seite Zeitungen, die vor allem »Neuigkeiten« boten, vorzugsweise »sensationelle«, oder besser: »Sensa-tionen auslösende«; auf der anderen Seite Zeitungen, die Analysen und »Kommentare« boten und darauf achteten, ihren Unterschied von den ersteren durch Betonung der Werte der »Objektivität« hervorzuheben. Zwei Logiken und zwei Legitimationsprinzipien treten einander hier ge-genüber: die Anerkennung, die den am vollständigsten den internen »Werten« oder Grundsätzen Verpflichteten durch ihresgleichen zuteil wird, und die Anerkennung durch die

Im amerikanischen Journalismus tauchte der Gedanke der »Objekti-vität« als Ergebnis der Bemühung um ihre Respektabilität besorgter Zeitungen auf, die Information von der schlichten Erzählung in der populären Presse zu unterscheiden (vgl. M. Schudson, Discovering the news, New York, Basic Books, ). In Frankreich hat der Gegensatz zwischen dem literarischen Feld zugewandten, um ihren Stil bemühten Journalisten und denen, die dem politischen Feld nahe standen, zu die-sem Differenzierungsprozeß und zur Erfindung eines eigenen »Metiers« (und der Gestalt des Reporters) beigetragen (vgl. T. Ferenczi, L‘invention du journalisme en France: naissance de la presse moderne à la fin du XIX‘ siécle, Paris, Plon, ). Zu der Form, die dieser Gegensatz im Feld der französischen Presse annimmt, und zur Beziehung zwischen den un-terschiedlichen Kategorien von Lektüren und Lesern vgl. P. Bourdieu, La distinction. Critique sociale du judgement, Paris, Ed. de Minuit, , .- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S. -).

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Menge, wie sie sich in der Anzahl von verkauften Eintritts-karten, von Lesern, Hörern oder Zuschauern, also von Verkaufszahlen (best-sellers), und im finanziellen Gewinn niederschlägt, wobei die Sanktion durch das Publikum hier unlösbar mit dem Verdikt des Marktes verbunden ist.

Wie das literarische Feld oder das künstlerische ist daher auch das journalistische Feld der Ort einer spezifischen, durchaus kulturellen Logik, die sich den Journalisten durch Zwänge und wechselseitige Kontrollen aufnötigt und deren Respektierung (bisweilen als Berufsethos bezeichnet) die Reputation beruflicher Ehrbarkeit einbringt. Allerdings gibt es über Zitate aus erschienenen Artikeln hinaus – Ver-weise, deren Wert und Bedeutung ganz von der Position der Zitierenden und der Zitierten im Felde abhängen – wenig an einigermaßen unbestrittenen positiven Sanktionen; und die negativen – gegenüber denen zum Beispiel, die verges-sen, ihre Quellen anzugeben – sind nahezu inexistent, so daß journalistische Quellen, zumal wenn es sich um ein weniger wichtiges Organ handelt, fast nur zitiert werden, um sich einer Formalität zu entledigen.

Aber ähnlich wie das politische und das ökonomische Feld und viel stärker als das wissenschaftliche, künstleri-sche oder literarische oder auch das juristische Feld ist das journalistische Feld über die direkte Sanktion durch die Kunden oder die indirekte durch die Einschaltquote per-manent dem Verdikt des Marktes unterworfen (selbst dann, wenn staatliche Subvention eine gewisse Unabhängigkeit von unmittelbaren Marktzwängen gewährleisten kann). Und die Journalisten neigen wohl um so stärker dazu, das »Kriterium Einschaltquote« in ihrer Produktion (»einfach darstellen«, »sich kurz fassen« usw.) oder in der Bewer-

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tung von Produkten und sogar Produzenten (»kommt gut an«, »verkauft sich gut« usw.) zu berücksichtigen, je höher ihre Position ist (Programmdirektor, Chefredakteur usw.) und je unmittelbarer vom Markt abhängig ihr Medium (ein kommerzieller Fernsehsender im Vergleich zu einem kulturellen usw.), während die jüngsten und am wenigsten etablierten Journalisten hingegen am meisten dazu neigen, den sei‘s realistischeren, sei‘s zynischeren Anforderungen der »alten Hasen« Grundsätze und Werte des »Metiers« entgegenzuhalten.

In der spezifischen Logik eines auf die Produktion des leichtverderblichen Produkts Neuigkeiten ausgerichteten Feldes tendiert die Konkurrenz um den Kunden dazu, die Form einer Konkurrenz um das Allerneueste (den Scoop) anzunehmen – und dies natürlich um so mehr, je mehr wir uns dem kommerziellen Pol nähern. Der Markt übt seinen Druck nur über den Feldeffekt aus, und viele Scoops, die als Trümpfe bei der Eroberung der Kundschaft gesucht und geschätzt sind, bleiben Lesern oder Zuschauern tatsächlich

Wie im literarischen Feld, so stellt auch hier die Rangfolge nach dem externen Kriterium, dem des Verkaufserfolgs, ungefähr die Umkehrung der Rangfolge dar, die sich bei Anwendung des internen Kriteriums ergibt, des journalistisch »Seriösen«. Und die Komplexität der aus dieser chiastischen Struktur (die auch die des literarischen, künstlerischen oder juristischen Feldes ist) sich ergebenden Verteilung wird dadurch noch verdoppelt, daß sich innerhalb jedes Presseorgans, jedes Rundfunk- oder Fernsehprogramms, die selbst alle wie Unter-Felder funktionieren, der Gegensatz zwischen einem »kulturellen« und einem »kommerziellen« Pol als Organisationsprinzip herausstellt, so daß man mit einer Serie ineinander verschachtelter Strukturen (des Typs a:b:b:b) zu tun hat..- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft-lichen Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S. -).

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verborgen und werden überhaupt nur von den Konkur-renten wahrgenommen (da die Journalisten die einzigen sind, die sämtliche Zeitungen lesen...). In der Struktur und den Mechanismen des Feldes verankert, erfordert und begünstigt die Konkurrenz um den Zeitvorsprung Akteure, deren berufliche Einstellung sie dazu prädisponiert, alle journalistische Praxis unter das Gebot der Geschwindig-keit (oder Übereilung) und der permanenten Innovation zu stellen – Dispositionen, die die Zeitgebundenheit der journalistischen Praxis selbst unaufhörlich verstärken. Die-se Praxis verpflichtet nämlich dazu, ständig von der Hand in den Mund zu leben und zu denken und eine Nachricht auf ihre Aktualität hin zu bewerten (der »Aufmacher« bei den Fernsehnachrichten), und begünstigt damit eine Art permanenter Amnesie, die Kehrseite der Begeisterung für das Neue, und auch eine Neigung dazu, die Beurteilung von Produzenten und Produkten nach dem Gegensatzschema »neu – überholt« vorzunehmen.

Ein anderer, völlig paradoxer, der Ausübung kollektiver oder individueller Autonomie entgegenstehender Effekt des Feldes: Die Konkurrenz verleitet dazu, die Tätigkeit der

Über den oft willkürlich verhängten Zeitdruck wirkt sich die strukturelle Zensur auf die Äußerungen von Studiogästen im Fernsehen praktisch unerkannt aus.

Wenn die Behauptung »das ist überholt« heute so oft und weit über die Grenzen des journalistischen Feldes hinaus alles kritische Argu-mentieren ersetzen kann, so auch deshalb, weil eilige Nachrücker ein ganz natürliches Interesse an der Geltung dieses Bewertungsprinzips haben, das dem zuletzt Gekommenen, das heißt dem Jüngsten, einen unbestreitbaren Vorteil einräumt und, da es in etwa auf das nahezu leere Gegensatzpaar vorher – nachher hinausläuft, ihnen die Mühe abnimmt, ihre Fähigkeiten erst einmal unter Beweis zu stellen.

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Konkurrenten permanent zu überwachen (was bis zu ge-genseitigem Ausspionieren gehen kann), um ihr Scheitern zu nutzen, ihre Fehler zu vermeiden, ihre Erfolge zu kon-terkarieren, wobei versucht wird, die Instrumente zu ent-lehnen, von denen angenommen wird, daß sie zum Erfolg führten: emen von Sondernummern, die zu übernehmen man sich verpflichtet fühlt, von anderen besprochene Bü-cher, »über die man sprechen muß«, Interviewpartner, die man einzuladen hat, Gegenstände, über die zu berichten ist, weil andere sie entdeckt haben, und sogar Journalisten, die man sich streitig macht, nicht nur, um sie wirklich zu haben, sondern ebensosehr, damit die Konkurrenz sie nicht bekommt. Auf diesem Gebiet wie auf anderen tendiert Konkurrenz – die keineswegs automatisch Originalität und Abwechslung hervorbringt – oft zur Uniformisierung des Angebots, wovon sich leicht überzeugen kann, wer den Inhalt der großen Wochenzeitschriften oder der an ein breites Publikum gerichteten Radio- oder Fernsehsendun-gen miteinander vergleicht. Dieser Wirkungsmechanismus führt aber auch dazu, der Gesamtheit des Feldes unmerk-lich die »Entscheidungen« der den Verdikten des Marktes am unmittelbarsten und vollständigsten unterworfenen Medien, etwa des Fernsehens, aufzunötigen, was dazu bei-trägt, die ganze Produktion auf die Bewahrung etablierter Werte auszurichten, wie zum Beispiel deutlich wird, wenn die periodisch erscheinenden Empfehlungslisten, über die Medienintellektuelle versuchen, ihre Sicht des Feldes (und die Anerkennung von ihresgleichen – in Erwartung einer Gegenleistung ...) durchzusetzen, fast immer Autoren hochverderblicher Kulturprodukte, die sich dank solcher Unterstützung ein paar Wochen lang in den Bestsellerlisten

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halten, neben anerkannten Schriftstellern aufführen, die als »Klassiker« geeignet sind, den guten Geschmack derer zu bestätigen, die sie ausgewählt haben, und überdies selbst zu den Longsellern zählen. Womit gesagt ist, daß die Mecha-nismen, denen das journalistische Feld unterliegt, und die Effekte, die sie in anderen Feldern auslösen, in ihrer Inten-sität und Richtung durch die Struktur bestimmt sind, die es kennzeichnet, mögen sich jene Effekte auch fast immer nur durch das Handeln einzelner vollziehen.

Die Intrusionseffekte

Die Ausstrahlungskraft des journalistischen Feldes stärkt tendenziell in jedem Feld die Akteure und Institutionen, die dem Pol am nächsten stehen, der dem Effekt der Menge und des Marktes am stärksten unterworfen ist; und dieser Effekt wirkt sich um so nachhaltiger aus, je direkter die ent-sprechenden Felder strukturell dieser Logik gehorchen und das journalistische Feld, von dem er seinen Ausgang nimmt, selbst wiederum zyklisch externen Zwängen ausgesetzt ist, die es strukturell stärker infizieren als andere Felder kultu-reller Produktion. Heute ist zum Beispiel festzustellen, daß interne Sanktionen ihre symbolische Macht tendenziell verlieren und die »seriösen« Journalisten und Presseorgane ihre Aura einbüßen und genötigt sind, der von dem kom-merziellen Fernsehen eingeführten Logik des Marktes und des Marketing und dem neuen Prinzip der Legitimierung durch die Anzahl und die »Medientauglichkeit« Konzes-sionen zu machen, wodurch bestimmten (kulturellen oder

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auch politischen) Produkten oder bestimmten »Produzen-ten« der scheinbar demokratische Ersatz für spezifische, von speziellen Feldern ausgehende Sanktionen verliehen wird. Manche »Analysen« des Fernsehens verdankten ihren Erfolg bei Journalisten, und zwar vor allem bei den dem Einschaltquoteneffekt ergebensten, dem Umstand, daß sie der kommerziellen Logik eine demokratische Legitimität verliehen, indem sie sich damit begnügten, ein Problem kul-tureller Produktion und Verbreitung als ein solches der Po-litik, und also plebiszitärer Entscheidung, zu formulieren.

So tendiert der zunehmende Einfluß eines der direkten oder indirekten Herrschaft der kommerziellen Logik im-mer stärker ausgesetzten journalistischen Feldes dazu, die Autonomie der verschiedenen Felder kultureller Produktion zu bedrohen, indem er innerhalb eines jeden die Akteure oder Unternehmen stärkt, die am ehesten der Versuchung »externer« Gewinne nachgeben, weil sie über weniger spezifisches (wissenschaftliches, literarisches usw.) Kapital verfügen und der spezifischen Gewinne, die ihnen das Feld sofort oder in mehr oder weniger ferner Zukunft gewährt, weniger sicher sind.

Es reicht dazu aus, Probleme eines Journalisten (wie die Wahl zwischen TF und Arte) in einer journalistisch klingenden Sprache zu formulie-ren: »Kultur und Fernsehen: zwischen Kohabitation und Apartheid« (D. Wolton, Eloge du grand public, Paris, Flammarion, , S. ). Es mag erlaubt sein, im Vorbeigehen darauf hinzuweisen, wie unumgänglich notwendig der Bruch mit den Vorformulierungen und Voraussetzungen der gewöhnlichen Sprache, und insbesondere der journalistischen, ist, wenn der Gegenstand wissenschaftlich adäquat konstruiert werden soll. Soviel zur Rechtfertigung der möglicherweise schwierigen, ja schwerfäl-ligen Züge des vorliegenden Textes.

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Das journalistische Feld gewinnt in den Feldern kulturel-ler (vor allem philosophischer und sozialwissenschaftlicher) Produktion hauptsächlich durch den Eingriff kultureller Produzenten an Boden, die zwischen dem journalistischen Feld und den spezialisierten (literarischen, philosophischen usw.) Feldern zu situieren sind – wo genau, ist schwer zu sa-gen. Diese »Medienintellektuellen«, die sich ihrer Doppel-zugehörigkeit bedienen, um den spezifischen Anforderun-gen beider Welten aus dem Weg zu gehen und in jede ihren in der anderen mehr oder weniger wohlerworbenen Status einzubringen, sind in der Lage, zweierlei Effekte hervorzu-rufen: zum einen die Einführung neuer Formen kultureller Produktion irgendwo auf halbem Wege zwischen den eso-terisch-universitären und den exoterisch-journalistischen Erzeugnissen; zum zweiten die Durchsetzung anderer Be-wertungsprinzipien kultureller Produkte dadurch, daß sie, die »Medienintellektuellen«, den Sanktionen des Marktes namentlich durch ihre kritischen Urteile einen Schein intellektueller Autorität verleihen und somit die spontane Neigung bestimmter Verbraucherkategorien zur Allodo-xia verstärken, was den Einfluß der Einschaltquoten und Bestsellerlisten auf die Rezeption kultureller Produkte und, indirekt und auf Dauer gesehen, auch auf deren Produk-

Innerhalb dieser nicht scharf zu fassenden Kategorie wären diejenigen gesondert aufzuführen, die einer mit der »Industrialisierung« der kul-turellen Produktion aufgekommenen Tradition folgend einen journa-listischen Beruf ausüben, um Existenz- und nicht um Machtmittel zu erwerben, zumal nicht, um in den spezialisierten Feldern Kontroll- oder Sanktionsfunktionen auszuüben (Shdanow-Effekt).

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tion zu verstärken tendiert und die Entscheidungen (von Verlegern zum Beispiel) auf weniger anspruchsvolle, besser verkäufliche Produkte lenkt.

Und sie können mit der Unterstützung all derer rechnen, die, Objektivität mit einer Art allseitiger Verträglichkeit und eklektischer Neutralität gegenüber allen Beteiligten in eins setzend, Erzeugnisse mittlerer Kultur für Avant-gardewerke halten oder die künstlerische Avantgarde (und nicht nur die künstlerische) im Namen des gesunden Men-schenverstands kritisieren; letztere wiederum dürfen auf die Zustimmung oder das heimliche Einverständnis all der Konsumenten zählen, die wie sie aufgrund ihrer Entfer-nung von den »kulturellen Brennpunkten« und ihrer inter-essierten Neigung, die Grenzen ihrer Aneignungsfähigkeit nicht wahrzunehmen, zur Allodoxia neigen – einer Logik der self deception folgend, die von Lesern populärwissen-schaftlicher Magazine häufig so formuliert wird: »Dies ist eine wissenschaftliche Zeitschrift von sehr hohem Niveau und jedermann zugänglich.«

So können Errungenschaften in Gefahr geraten, die von der Autonomie des Feldes und seiner Fähigkeit zum Wi-derstand gegenüber Ansprüchen der Außenwelt ermöglicht wurden – Ansprüchen, wie sie heute von der Einschalt-quote symbolisiert werden und gegen die sich schon die Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts ausdrücklich verwahrten, wenn sie sich über die Vorstellung empörten,

Viele neuere Proteste gegen die moderne Kunst unterscheiden sich allenfalls durch die Prätention ihrer Motive von Verdikten, wie sie sich aus einem Plebiszit über Avantgardekunst – oder, was auf dasselbe hin-ausläuft, aus Meinungsumfragen – ermitteln ließen.

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die Kunst (und dasselbe ließe sich von der Wissenschaft sagen) könnte dem Verdikt des allgemeinen Stimmrechts ausgeliefert werden. Zwei Strategien können gegen diese Gefahr verfolgt werden, und sie werden je nach den Fel-dern und ihrem Grad an Autonomie verschieden häufig eingesetzt: die Grenzen des Feldes deutlich markieren und sie gegenüber dem drohenden Eindringen journalistischer Denk- und Verhaltensweisen wiederherstellen und befesti-gen, oder aber (nach dem von Zola inaugurierten Modell) den Elfenbeinturm verlassen, um draußen die Werte zur Geltung zu bringen, die innerhalb seiner gewonnen wurden, und sich in den spezialisierten Feldern und außerhalb ihrer, bis hin zum journalistischen Feld, aller verfügbaren Mittel in der Absicht zu bedienen, den von der Autonomie mög-lich gemachten Ergebnissen und Entdeckungen andernorts Geltung zu verschaffen.

Um zu einem aufgeklärten wissenschaftlichen Urteil zu gelangen, bedarf es ökonomischer und kultureller Voraus-setzungen, und man wird vom allgemeinen Stimmrecht (oder der Meinungsumfrage) nicht erwarten können, über Probleme der Wissenschaft zu entscheiden (obwohl man es manchmal indirekt und unbewußt tut), wenn man nicht die eigentlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher Produktion außer Kraft setzen will, das heißt die Barriere, die den Zugang zur Wissenschaft (oder zur Kunst) gegen das zerstörerische Eindringen externer, also ungeeigneter und deplazierter Produktions- und Evaluationsprinzipien schützt. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Barriere nicht in entgegengesetzter Richtung überschritten werden kann und es schlechthin unmöglich wäre, an der demokratischen Weitergabe durch Autonomie ermöglichter Ergebnisse zu

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arbeiten. Dies allerdings unter der Voraussetzung, daß man sich darüber im klaren ist, daß jeder Versuch, die höchst raren Errungenschaften wissenschaftlichen oder künstle-rischen Experimentierens zu popularisieren, die Infrage-stellung des Monopols der Verbreitungsinstrumente dieser (wissenschaftlichen oder künstlerischen) Information vor-aussetzt, welches das journalistische Feld faktisch innehat, und auch die Kritik an der Darstellung der Erwartungen der Mehrheit der Menschen – einer Darstellung, wie sie die kommerzielle Demagogie derer hervorbringt, welche über die Mittel verfügen, sich zwischen die kulturellen Produzenten (unter die in diesem Fall die Politiker gezählt werden können) und die große Masse der Konsumenten zu drängen.

Der Abstand zwischen professionellen Produzenten (oder ihren Produkten) und einfachen Konsumenten (Lesern, Hörern, Zuschauern, auch Wählern), der in der Autonomie der spezialisierten Felder seine Grundlage hat, ist je nach Feld mehr oder weniger groß, mehr oder weni-ger schwer zu überwinden und unter dem Gesichtspunkt des Prinzips Demokratie mehr oder weniger inakzeptabel. Und entgegen dem Anschein ist er auch in der Politik zu bemerken, zu deren erklärten Grundsätzen er in Gegen-satz steht. Obwohl die Akteure des journalistischen und des politischen Feldes miteinander konkurrieren und sich ständig bekämpfen und das journalistische Feld in gewisser Weise in das politische einbezogen ist, innerhalb dessen es sehr starke Effekte ausübt, haben beide Felder doch dies gemeinsam, sehr direkt von der Sanktion des Marktes und des Plebiszits betroffen zu sein. Daraus folgt, daß der Einfluß des journalistischen Feldes bei den im politischen

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Feld Agierenden die Tendenzen verstärkt, sich dem Druck der manchmal unreflektierten und von Leidenschaft ge-steuerten, oft von der Presse überhaupt erst zu politischen Losungen umgeformten Erwartungen und Ansprüchen der Menge zu beugen.

Wenn der Journalismus sich nicht der Freiheiten und der Macht der Kritik bedient, die seine Autonomie ihm erlaubt, agiert er, und vor allem sein (kommerzieller) Ableger, das Fernsehen, wie die Meinungsumfrage, mit der er selbst zu rechnen hat. Die Umfrage als Instrument rational gesteuer-ter Demagogie bewirkt zwar tendenziell einen verstärkten Selbstbezug des politischen Feldes. Sie stellt aber auch eine unmittelbare, unvermittelte Beziehung zu den Wählern her, eine Beziehung, die alle gesellschaftlich mit der Erarbeitung und Vertretung einmal gebildeter Meinungen beauftragten individuellen oder kollektiven Akteure (wie Parteien und Gewerkschaften) aus dem Spiel drängt; alle Mandatsträger und alle politischen Repräsentanten verlieren ihren gemein-samen Anspruch (den einst auch große Zeitungsherausge-ber erhoben) auf das Monopol zur legitimen Äußerung der öffentlichen Meinung und gleichzeitig damit auf ihre Befähigung, bei der kritischen (und manchmal, wie in den gesetzgebenden Körperschaften, kollektiven) Herausar-beitung der wirklichen oder unterstellten Meinungen ihrer Auftraggeber mitzuwirken.

All dies bewirkt, daß der unaufhörlich zunehmende Einfluß eines selbst einem wachsenden Einfluß der kom-merziellen Logik unterliegenden journalistischen Feldes auf ein der ständigen Versuchung zur Demagogie (und ganz besonders dann, wenn die Umfrage sie in rationaler Version praktizierbar macht) ausgesetztes politisches Feld

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dazu beiträgt, die Autonomie dieses politischen Feldes zu schwächen und mit ihr zugleich die den (politischen oder sonstigen) Repräsentanten zuerkannte Befugnis, sich auf ihre Kompetenz als Experten oder auf ihre Autorität als Hüter kollektiver Werte zu berufen.

Unvermeidlich drängt sich abschließend der Fall der Juristen auf, die nur um den Preis einer »frommen Heuche-lei« immer noch glauben können, daß ihre Verdikte nicht auf äußeren, namentlich ökonomischen Zwängen beruhen, sondern in transzendenten Normen gründen, zu deren Hü-tern sie bestellt sind. Das Feld der Rechtsprechung ist nicht, was es zu sein glaubt, nämlich ein von allen Kompromissen mit den politischen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten befreites Universum. Daß es ihm aber gelingt, als solches anerkannt zu werden, trägt zur Produktion vollkommen realer sozialer Effekte bei, und zwar zunächst einmal bei denen, deren Beruf es ist, Recht zu sprechen. Was aber wird aus den Juristen, diesen mehr oder weniger aufrech-ten Inkarnationen der kollektiven Heuchelei, wenn einmal allgemein bekannt wird, daß sie, weit davon entfernt, tran-szendentalen und universellen Werten zu gehorchen, ganz wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure Zwängen aus-geliefert sind – Zwängen wie denen, die ohne jeden Respekt vor Prozeduren oder Hierarchien der Druck ökonomischer Notwendigkeiten oder die Versuchung durch journalisti-sche Erfolge ausübt?

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Kleines normatives Postskriptum

Die verborgenen Zwänge enthüllen, die auf den Journalisten lasten und die sie ihrerseits an alle kulturellen Produzenten wei-tergeben, heißt nicht – muß es eigens betont werden? – Verant-wortliche anprangern, mit dem Finger auf Schuldige zeigen Es heißt, den einen wie den anderen eine Chance geben, sich durch Bewußtwerdung von dem Bann zu lösen, der von diesen Mecha-nismen ausgeht, und vielleicht das Programm einer konzertier-ten Aktion zwischen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaft-lern und Journalisten (als Inhabern des Quasi-Monopols an den Verbreitungsmitteln) entwerfen. Nur eine solche Zusammenar-beit würde es möglich machen, effizient die Popularisierung der universellsten Forschungsergebnisse zu fördern und auch, zum Teil wenigstens, zur praktischen Universalisierung des Zugangs zum Universellen beizutragen.

Um den Effekt des »Aufspießen« oder »Karikieren« zu vermeiden, der leicht entsteht, wenn aufgenommene Äußerungen oder gedruckte Tex-te umstandslos zitiert werden, haben wir manches Mal auf die Wieder-gabe von Dokumenten verzichten müssen, die der Beweisführung noch mehr Nachdruck verliehen hätten und durch den entbanalisierenden Effekt, den die Sprengung des vertrauten Zusammenhangs auslöst, den Leser darüber hinaus an all die gleichgearteten Besipiele hätten erinnern können, die dem routinierten Blick gewöhnlich verborgen bleiben.

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Ein UntersuchungsprogrammDie Olympischen Spiele1

Was meinen wir genau, wenn wir von Olympischen Spie-len sprechen? Der offenkundige Referent ist die »wirkliche« Veranstaltung, also eine Sportveranstaltung im eigentlichen Sinne, die Begegnung von Athleten aus aller Welt im Zei-chen universalistischer Ideale, und ein Ritual mit nationa-lem, ja nationalistischem Beigeschmack, der Aufmarsch von Nationalmannschaften, die Medaillenverleihung mit Fahnen und Nationalhymnen. Der verborgene Referent aber ist die Gesamtheit der von den Fernsehgesellschaften aufgenommenen und verbreiteten Bilder dieser Veranstal-tung, die jeweils eine nationale Auswahl aus dem national scheinbar nicht differenzierten (die Wettkämpfe sind ja in-ternational), im Stadion dargebotenen Material vornehmen. Ein doppelt verborgenes Objekt, da niemand es in seiner Gänze sieht und niemand sieht, daß es nicht gesehen wird, so daß jeder Fernsehzuschauer die Illusion hegen kann, er sehe wahrhaft die Olympiade.

Da die Fernsehsender aus den verschiedenen Ländern ei-nem Athleten oder einer sportlichen Disziplin um so mehr Platz einräumen, je mehr Aussichten sie haben, nationalen oder nationalistischen Stolz zu befriedigen, verwandelt das Fernsehbild, mag es auch den Anschein einer bloßen Wie-

Dieser Text ist die Kurzfassung eines bei der Jahresversammlung der Philosopbical Society for the Study of Sport am . Oktober in Berlin gehaltenen Vortrags.

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dergabe besitzen, den sportlichen Wettkampf unter Athle-ten aus aller Welt in eine Konfrontation von Vorkämpfern (im Sinne ordnungsgemäß beauftragter Protagonisten) ver-schiedener Nationen.

Wollte man diesen Prozeß symbolischer Transmutation verstehen, wäre zunächst einmal die soziale Konstruktion des olympischen Schauspiels zu untersuchen, die der Wett-bewerbe selbst, aber auch all der Kundgebungen, die sie einrahmen, wie der Eröffnungsaufmarsch und die Schluß-zeremonie. Sodann wäre die Produktion der Bilder zu un-tersuchen, die das Fernsehen von diesem Schauspiel liefert

– Bilder, welche, da von Werbespots unterbrochen, zu einem kommerziellen, der Marktlogik gehorchenden Produkt werden und daher so konzipiert werden müssen, daß sie das breiteste Publikum erreichen und seine Aufmerksamkeit so lange wie möglich fesseln: Nicht nur müssen sie in den öko-nomisch dominierenden Ländern zu den Hauptsendezeiten geliefert werden, sie müssen sich auch Publikumserwar-tungen unterwerfen und den Präferenzen von Zuschauern unterschiedlicher Nationen für diesen oder jenen Sport und sogar ihren nationalen oder nationalistischen Hoffnungen entgegenkommen, was voraussetzt, daß eine umsichtige Auswahl unter den Sportarten und Wettkämpfen Erfolge für die Mitglieder ihrer jeweiligen Nationalmannschaft und damit die Befriedigung nationalistischer Gefühle garantiert. Daraus folgt zum Beispiel, daß der relative Stellenwert der verschiedenen Sportarten bei den internati-onalen Sportveranstaltungen immer mehr von ihrem Fern-seherfolg und den entsprechenden ökonomischen Profiten abhängt. Die mit den Fernsehübertragungen verbundenen Zwänge beeinflussen auch mehr und mehr die Auswahl

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der olympischen Sportarten, der Ausstragungsorte und des Zeitpunkts, und sogar den Verlauf der Wettkämpfe und der Zeremonien. So wurden bei den Spielen in Seoul die Abschlußwettkämpfe in der Leichtathletik (nach Verhand-lungen, bei denen es um enorme Finanzzusagen ging) so gelegt, daß sie in den Vereinigten Staaten am frühen Abend gesehen werden konnten, wenn die meisten Zuschauer zu erwarten waren.

Gegenstand der Untersuchung müßte daher das gesamte Feld der Produktion der Olympischen Spiele als Fernseh-veranstaltung (oder besser, nämlich in der Marketingspra-che: als »Kommunikationsinstrument«) werden, das heißt die Gesamtheit der objektiven Beziehungen zwischen Akteuren und Institutionen, die um die Produktion und Kommerzialisierung der Bilder und Diskurse zu den Spie-len konkurrieren: das Internationale Olympische Komitee (IOK), das, dominiert von einer kleinen Kamarilla von Sportfunktionären und Vertretern großer Industrieunter-nehmen (Adidas, Coca-Cola usw.), die den Verkauf der Übertragungsrechte (für Barcelona auf Milliarden Dollar geschätzt) und der Sponsorenrechte sowie auch die Wahl der Austragungsorte kontrolliert, sich nach und nach in ein kommerzielles Großunternehmen mit einem Jahres-budget von Millionen Dollar verwandelt hat; die großen Fernsehgesellschaften (vor allem die amerikanischen), die (auf nach Staaten oder Sprachräumen unterschiedener Ebene) um die Übertragungsrechte konkurrieren; die multinationalen Unternehmen (Coca-Cola, Kodak, Ricoh, Philips usw.), die um die Exklusivrechte konkurrieren, ihre Produkte (als »offizielle Lieferanten«) mit den Olympischen Spielen in Verbindung bringen zu dürfen und schließlich

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die Produzenten von Bildern und Kommentaren für Fern-sehen, Rundfunk und Presse ( ooo waren es in Barcelona), die in Konkurrenzbeziehungen untereinander stehen, die ihre individuelle und kollektive Arbeit an der Konstrukti-on der Darstellung der Spiele – Auswahl, Einstellung und Montage der Bilder, Ausarbeitung des Kommentars – aus-richten. Und schließlich wären die vom Fernsehen über die Planetarisierung des olympischen Schauspiels ausgehenden Auswirkungen auf die Intensivierung des Wettbewerbs unter den Nationen zu untersuchen, etwa die Entstehung einer auf internationale Erfolge ausgerichteten Sportpolitik der Staaten, die symbolische und ökonomische Ausnutzung der Spiele und die Industrialisierung der Sportproduktion mit ihrem Rückgriff auf Doping und autoritäre Trainings-formen.

Den Sponsoren wurde ein »komplettes Kommunikationspaket« ange-boten, das »auf der Exklusivität in der Produktkategorie und der Kon-tinuität der Botschaft über vier Jahre hinweg aufbaut. Das Programm für jedes der Sportereignisse schloß die Stadionwerbung, den Titel >offizieller Lieferant<, die Benutzung von Maskottchen und Emblemen ebenso wie Franchisemöglichkeiten ein.« Für Millionen Francs hatte jeder Sponsor die Möglichkeit, am »weltgrößten Fernsehereignis« teilzuhaben und über ein »einmaliges, jeden anderen Sport überbieten-des Schaufenster« zu verfügen (V. Simson und A. Jennings, Mains basses sur les JO, Paris, Flammanon, , S. ).

Der Wettkampfsport setzt mehr und mehr eine industrielle Technologie ins Werk, die den menschlichen Körper durch den Beitrag verschiedener biologischer und psychologischer Wissenschaften in eine leistungsfähi-ge, unermüdliche Maschine verwandeln soll. Die Logik der Konkurrenz unter den Nationalmannschaften und den Staaten macht den Rückgriff auf verbotene Stimulantien und zweifelhafte Trainingsmethoden immer unvermeidlicher (vgl J. Hoberman, Mortal Engines. Tbe Science of Per-formance and the Deshumanization of Sport, New York, e Free Press, ).

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Ganz wie in der künstlerischen Produktion die un-mittelbar sichtbare Tätigkeit des Künstlers das Wirken all der Agenten, Kritiker, Galeristen, Konservatoren usw. kaschiert, die miteinander konkurrierend dazu beitragen, Sinn und Wert des Kunstwerks und, grundsätzlicher noch, jenen Glauben an den Wert der Kunst und des Künstlers zu produzieren, auf dem das ganze Kunstspiel aufbaut, so ist auch im Sport der Champion, der Hundertmeterläufer oder Zehnkämpfer nur das scheinbare Subjekt eines Schauspiels, das in gewisser Weise zweimal produziert wird ein erstes Mal für eine Gesamtheit von Akteuren, zu denen Athleten, Trainer, Ärzte, Organisatoren, Kampfrichter, Zeitnehmer und Regisseure des ganzen Zeremoniells gehören, die am Ablauf der Wettkämpfe im Stadion mitwirken; ein zweites Mal für alle die, welche die Reproduktion dieses Schau-spiels in Bildern und Worten produzieren, meist unter dem Druck der Konkurrenz und des ganzen Systems von Zwän-gen, die das sie umschließende Netz objektiver Bedingun-gen auf sie ausübt.

Die Teilnehmer des globalen Ereignisses, das wir meinen, wenn wir von »Olympischen Spielen« sprechen, könnten die Mechanismen, die das Handeln der bei dieser zweistu-figen sozialen Konstruktion Mitwirkenden bestimmen und deren Effekte jeder verspürt und die er zugleich anderen zu spüren gibt, kollektiv meistern, wenn sie sich diese durch

Vgl. Pierre Bourdieu, Les regles de l‘art, Paris, Editions du Seuil, . Ein brutaler Indikator für den realen Wert der verschiedenen Akteure

des olympischen »Showbusineß« waren die von den koreanischen Be-hörden verteilten Geschenke: von Dollar für die Athleten bis zu Dollar für die lOK-Mitglieder (vgl. V. Simson und A. Jennings, Mains basses sur les JO, op, dt., S. ).

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Untersuchung und Reflexion bewußt machten. Damit trü-gen sie auch zur Entfaltung der in den Olympischen Spielen angelegten, heute vom Verschwinden bedrohten Potentiale des Universalismus bei.

Man könnte zum Beispiel an eine Olympische Charta denken, in der die Grundsätze zu definieren wären, auf die sich die mit der Produktion der Veranstaltungen und ihrer Wiedergabe befaßten Akteure zu verpflich-ten hätten (angefangen natürlich bei den Leitern des Olympischen Komitees, die als erste von der Überschreitung des Gebots materieller Interesselosigkeit profitieren, dessen Einhaltung sie überwachen sollen), oder an einen Olympischen Eid, der nicht nur die Athleten in die Pflicht nehmen würde (indem er ihnen zum Beispiel nationalistische Schaustel-lungen verböte wie die, sich bei der Ehrenrunde in ihre Nationalfahne zu hüllen), sondern auch diejenigen, die die Bilder ihrer Leistungen produzieren und kommentieren.

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Nachwort

Journalismus und Politik

Wie ist die außerordentliche Heftigkeit zu erklären, die die vorstehende Untersuchung bei den bekanntesten französi-schen Journalisten auslöste?

Sie kann nicht nur daher rühren, daß jedenfalls diejeni-gen unter ihnen, die direkt oder indirekt, vermittels ihnen Nahestehender oder Gleichender, zitiert wurden, sich trotz meiner vorsorglichen Dementis persönlich angegriffen fühlten. Die moralinschwere Empörung, die sie an den Tag legten, ist wohl zum Teil auf die Transkription zurückzu-führen, die unvermeidlicherweise das Ungeschriebene, den Tonfall, die Gesten, die Mimik verschwinden läßt – das heißt alles, was für jeden gutwilligen Zuschauer den Unter-schied zwischen der um Erklären und Überzeugen bemüh-ten Rede und dem polemischen Pamphlet ausmacht, das die meisten Journalisten darin gesehen haben. Sie erklärt sich aber vor allem durch einige der typischsten Eigenschaften des journalistischen Blicks (der sie noch vor kurzem für mein Buch Das Elend der Welt einnahm): die Neigung etwa, das Neue mit sogenannten »Enthüllungen« zu identifizie-ren, oder den Hang, den sichtbarsten Aspekt der sozialen

Sur la télévision – die Buchveröffentlichung der beiden einleitenden Fernsehvorträge – war Gegenstand einer breiten Kontroverse, in die alle Berühmtheiten der französischen Tages- und Wochenpresse wie auch des Fernsehens über Monate hinweg – solange das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten lag – eingriffen.

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Welt in den Vordergrund zu stellen, die Individuen nämlich, ihre Taten und vor allem ihre Untaten, und zwar in einer oft denunziatorischen, anklagenden Perspektive und auf Kos-ten jener unsichtbaren Strukturen und Mechanismen (hier derjenigen des journalistischen Feldes), die Handeln und Denken bestimmen und deren Kenntnis eher verständnis-volle Nachsicht fördert als empörte Verurteilung; oder auch die Tendenz, sich mehr für die (unterstellten) »Schlußfol-gerungen« zu interessieren als für den Weg, auf dem man zu ihnen gelangt. Ich erinnere mich eines Journalisten, der mich nach dem Erscheinen meines Buchs La noblesse d‘Etat, der Bilanz zehnjähriger Forschungen, zu einer Debatte über die Grandes Écoles einlud, wobei der Vorsitzende des Vereins ehemaliger Studierender dieser Elitehochschulen »pro« und ich »contra« sprechen sollte, und er verstand nicht, daß ich es ausschlagen konnte. Genauso haben die »berühmten Fe-dern«, die mein Buch angriffen, die Methode, die ich dort anwandte (insbesondere die Untersuchung der journalisti-schen Welt als Feld), schlicht und einfach ausgeklammert und es, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden, da-mit auf eine Reihe banaler, mit einigen polemischen Spitzen gespickter Meinungsäußerungen reduziert.

Ebendiese Methode möchte ich erneut illustrieren und, sei es auch auf die Gefahr neuer Mißverständnisse hin, zu zeigen versuchen, wie das journalistische Feld eine ganz besondere Sicht des politischen Feldes produziert und durchsetzt, eine Optik, die ihr Prinzip in der Struktur des journalistischen Feldes und in den spezifischen Interessen der Journalisten findet, die es hervorbringt.

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In einem Universum, das von der Furcht beherrscht ist, zu langweilen, und von der Bemühung, um jeden Preis unter-haltsam zu sein, muß die Politik als undankbares ema er-scheinen, das man zu den Hauptsendezeiten nach Möglich-keit meidet – ein wenig aufregendes, ja deprimierendes und schwer zu vermittelndes Schauspiel, das doch interessant gemacht werden soll. Daher die in den Vereinigten Staaten wie in Europa beobachtbare Tendenz, den Kommentator und den recherchierenden Reporter durch den Spaßmacher zu ersetzen, Information, Analyse, vertiefte Diskussion, Expertenrunde, Reportage durch reine Unterhaltung, und insbesondere durch das bedeutungslose Geschwätz der Talkshows mit ihren immer wiederkehrenden und unterein-ander austauschbaren Teilnehmern (als Beispiel zitierte ich einige Namen, ein unverzeihlicher Fauxpas). Um wirklich zu verstehen, was bei diesem fiktiven Austausch gesagt wird und vor allem, was nicht gesagt werden darf, müßte man im einzelnen die Bedingungen untersuchen, nach denen die in den Vereinigten Staaten so genannten panelists ausgewählt werden: stets disponibel sein, das heißt allzeit zur Teilnah-me bereit und auch dazu, die Spielregeln zu akzeptieren und auf alle Fragen der Journalisten einzugehen, auch auf die albernsten und schockierendsten (genau das definiert den tuttologo); zu vielem, das heißt auch zu allen Konzessionen (hinsichtlich des emas, der anderen Teilnehmer usw.) be-reit sein, zu allen Kompromissen und Kompromittierungen nur um dabei zu sein und sich damit die direkten und indi-rekten Profite der »Medienbekanntheit« zu sichern, Prestige bei der Presse, Einladungen zu lukrativen Vorträgen usw.; bei den Vorinterviews, von denen manche Produzenten in den Vereinigten Staaten und zunehmend auch in Europa

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die Auswahl ihrer panelists abhängig machen, einfache Standpunkte deutlich und brillant formulieren und vermei-den, sich mit komplexem Wissen zu belasten (der Maxime folgend: »e less you know, the better off you are«).

Die Journalisten, die diese Politik demagogischer Ver-einfachungen (in allem der Gegensatz zu der demokrati-schen Intention, zu informieren oder auf unterhaltsame Weise zu bilden) mit der Berufung auf die Erwartunger des Publikums rechtfertigen, tun nichts anderes, als ihre eigenen Neigungen, ihre eigene Optik auf dieses zu pro-jizieren; und zwar ganz besonders dann, wenn ihre Angst zu langweilen sie dazu treibt, den Streit der Debatte, die Polemik der Dialektik vorzuziehen und alles daranzusetzen, daß die Konfrontation von Personen (namentlich Politi-kern) gegenüber der Konfrontierung ihrer Argumente die Oberhand gewinnt – gegenüber dem also, worum es dabei eigentlich geht, sei es das Haushaltsdefizit, die Steuersen-kung oder die Auslandsverschuldung. Da ihre Kenntnis der politischen Welt im wesentlichen mehr auf persönlichen Kontakten und vertraulichen Mitteilungen (ja Gerüchten und Klatsch) beruht als auf durch Beobachtungen oder Recherchen erworbener Sachkenntnis, tendieren sie näm-lich dazu, alles auf die eine Ebene zu bringen, auf der sie sich auskennen. Und so interessieren sie sich weit mehr für das Spiel und für die Spieler als für den Einsatz, mehr für rein taktische Fragen als für die Substanz der Auseinan-dersetzungen, mehr für den Effekt, den Äußerungen in der Logik des politischen Feldes (der Logik von Koalitionen, Bündnissen oder Konflikten zwischen Personen) auslösen, als für ihren Inhalt (wenn sie nicht so weit gehen, völlig künstliche emen zu erfinden und zu popularisieren, wie

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bei der letzten Parlamentswahl in Frankreich die Frage, ob die Debatte zwischen der Linken und der Rechten von zwei

– Jospin, dem Oppositionsführer, und Juppe, dem rechten Premierminister – oder von vier Diskutanten auszutragen wäre – von Jospin und Hue, seinem kommunistischen Verbündeten, auf der einen, Juppe und Leotard, seinem zentristischen Verbündeten, auf der anderen Seite – eine Frage, die unter dem Anschein der Neutralität auf eine politische Intervention hinauslief, die die konservativen Parteien durch das Hochspielen möglicher Divergenzen innerhalb der Linken begünstigen sollte). Aufgrund ihrer zweideutigen Stellung in der politischen Welt, wo sie als Akteure großen Einfluß haben, ohne doch ganz dazuzu-gehören, und in der Lage sind, den Politikern unerläßliche symbolische Dienste zu leisten, die diese sich selbst nicht verschaffen können (außer heute als Buchautoren, die sich gegenseitig die Stange halten), tendieren sie zur Optik eines ersites und zu einer spontanen Form des generalisierten Verdachts, die sie dazu treibt, die Gründe auch noch der interesselosesten Stellungnahmen und der aufrichtigsten Überzeugungen in Interessen zu suchen, die mit Positionen im politischen Feld (wie Rivalitäten innerhalb einer Partei oder einer »Strömung«) verflochten sind.

All das führt sie dazu, in der Begründung ihrer Kom-mentare oder der Fragestellung ihrer Interviews eine zynische Sicht der politischen Welt zu produzieren und anzubieten: den Blick auf eine Arena, in der Ehrgeizlinge ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen sie sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen. (In dieser Sichtweise werden sie allerdings, nebenbei gesagt, von all den Ratgebern und Experten bestärkt, die Politiker

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bei jener Art von ausdrücklich kalkuliertem, wenn auch nicht notwendig zynischem politischem Marketing unter-stützen, das für einen die Anforderungen des journalisti-schen Feldes berücksichtigenden politischen Erfolg immer notwendiger wird – ein wahrer Caucus, der die Politiker und ihren Ruf zunehmend »macht«.) Die ausschließlich auf den politischen »Mikrokosmos« und auf die von ihm ausgehenden Fakten und Effekte gerichtete Aufmerksam-keit produziert tendenziell einen Bruch mit der Sichtweise der Öffentlichkeit oder jedenfalls ihrer um die wirklichen Folgen politischer Stellungnahmen für ihre Existenz und für die soziale Welt am meisten besorgten Fraktionen. Ein Bruch, den zumal bei den Fernsehstars die mit dem ökono-mischen und sozialen Privileg verbundene Distanz verstärkt und steigert. Bekanntlich verfügen die Medienstars in den Vereinigten Staaten und den meisten Ländern Europas seit den sechziger Jahren nicht nur über äußerst erhebliche Gehälter – in der Größenordnung von Dollar und mehr in Europa, von mehreren Millionen Dollar in Amerika -, sie beziehen außerdem oft horrende Honorare für ihre Teilnahme in Talkshows, an Vortragstourneen, für regelmäßige Mitarbeit bei der Presse, für die Übernahme der Moderation vor allem bei Versammlungen von Berufs-verbänden (auf diese Weise wächst die unterschiedliche Verteilung von Macht und Privilegien im journalistischen Feld in dem Maße, in dem neben kapitalistischen Kleinun-ternehmern, die ihr symbolisches Kapital durch eine Politik permanenter Präsenz im Fernsehen – die zur Pflege ihres Kurses auf dem Markt der Vorträge und Moderationen nö-

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tig ist – wahren und mehren, sich ein breites Subproletariat entwickelt, das seine prekäre Lage zu einer Art Selbstzen-sur verurteilt).

Damit nicht genug: Zu diesen Effekten treten die bereits erwähnten, von der Konkurrenz innerhalb des journalis-tischen Feldes hervorgerufenen hinzu, etwa die Jagd nach dem Scoop und die selbstverständliche Bevorzugung der neuesten und am schwierigsten zu beschaffenden Meldung oder auch das gegenseitige Überbieten bei der Konkur-renz um die subtilste und paradoxeste, das heißt sehr oft: zynischste Interpretation, oder auch jene von Amnesie geschlagenen Vorhersagen in bezug auf weitere Entwick-lungen, Pro- und Diagnosen, die (ähnlich wie Sportwetten) wenig kosten und sogar völlig straflos bleiben, weil das von der fast vollständigen Diskontinuität journalistischen Berichtens und dem rapiden Rotieren sukzessiver Konfor-mismen erzeugte Vergessen sie deckt (man erinnere sich beispielshalber daran, wie Journalisten aller Länder nach innerhalb weniger Monate von schwärmerischer Be-geisterung für das glorreiche Auftauchen neuer Demokra-tien zur unerbittlichen Verurteilung gräßlicher ethnischer Kriege übergehen konnten).

Alle diese Effekte tragen dazu bei, daß sich ein Gesamt-effekt der Entpolitisierung oder genauer: politischer Des-illusioniertheit ergibt. Das Bemühen um Unterhaltsamkeit tendiert dazu, immer dann, wenn sich ein wichtiges, aber scheinbar langweiliges politisches Problem einstellt, die

Vgl. James Fallows, Breaking the News. How Media Undermine American Democracy, New York, Vintage Books, .

Vgl. Patrick Champagne, »Le journalisme entre precarite et concurrence«, Liber , Dezember .

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Aufmerksamkeit auf ein spektakuläres Ereignis (oder einen Skandal) umzulenken, ohne daß dies explizit gewollt sein muß – oder, subtiler noch, die sogenannte »Aktualität« auf eine Abfolge unterhaltsamer Ereignisse zu reduzieren, die oft, wie beispielhaft bei dem Prozeß gegen O.J. Simpson, auf halbem Weg zwischen der »Vermischten Meldung« und der Show liegen; auf eine ungereimte Abfolge von Ereignis-sen, die nichts miteinander zu tun haben und bloß von den Zufällen chronologischer Koinzidenz zusammengebracht werden, ein Erdbeben in der Türkei und die Vorstellung von Kürzungen im Staatshaushalt, ein Sieg im Sport und ein Sensationsprozeß, und die man dadurch vollends ad ab-surdum führt, daß man sie auf das herunterbringt, was sie augenblicklich, aktuell vorstellen, und sie von ihrer ganzen Vorgeschichte wie von ihren Konsequenzen abschneidet. Daß jedes Interesse für unmerkliche Veränderungen fehlt

– für alle Prozesse nämlich, die, wie das Auseinanderdriften der Kontinente, lange unbemerkt bleiben und ihre Aus-wirkungen erst mit der Zeit ganz offenbaren -, vermehrt die Effekte der strukturellen Amnesie, der die Logik eines Denkens Vorschub leistet, das nur von einem Tag zum anderen reicht, und die Konkurrenz, die dazu zwingt, das Wichtige mit dem Neuen (dem Scoop) zu identifizieren, und die Journalisten, diese Tagelöhner des Alltäglichen, zur Produktion einer Wiedergabe der Welt verurteilt, die sie als diskontinuierliche Abfolge von Momentaufnahmen erscheinen läßt. Aus Mangel an Zeit und vor allem an In-teresse und Information (sie informieren sich meist nur an-hand zu demselben ema bereits erschienener Pressearti-kel) können sie die Ereignisse (zum Beispiel eine Gewalttat in einer Schule) nicht wirklich verständlich machen, wozu

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es ja erforderlich wäre, sie in das System von Beziehungen zu stellen, in das sie gehören (etwa die Familienstruktur, die mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängt, der wiederum mit der Steuerpolitik zu tun hat usw.) – worin sie gewiß durch die Tendenz der Politiker bestärkt werden (vor allem der Regierungsmitglieder, die sie ihrerseits wiederum be-stärken), bei ihren Entscheidungen und deren Bekanntgabe die kurzfristigen Aktionen herauszustreichen, ein »Ankün-digungseffekt«, dem meist nicht viel folgt, und Unterneh-mungen ohne sofort sichtbaren Effekt zu vernachlässigen.

Dieser enthistorisierte und enthistorisierende, atomisier-te und atomisierende Blick findet seinen paradigmatischen Ausdruck in dem Bild, das die Fernsehnachrichten von der Welt geben: eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten, die sich schließlich alle ähneln, ununterbrochene Aufmär-sche dem Elend anheimgegebener Völker, eine Reihenfolge von Ereignissen, die, unerklärt aufgetaucht, ungelöst ver-schwinden werden, heute der Kongo, gestern Biafra, mor-gen der Sudan, und die, jeder politischen Zwangsläufigkeit enthoben, allenfalls ein vages humanitäres Interesse auszu-lösen vermögen. Diese zusammenhanglosen Tragödien, die einander ablösen, ohne je historisch eingeordnet zu werden, unterscheiden sich eigentlich nicht von Naturkatastrophen, Tornados, Waldbränden, Überschwemmungen, die eben-falls in den Fernsehmeldungen einen wichtigen Stellenwert einnehmen, sind es doch traditionelle journalistische e-men, um nicht zu sagen rituelle, und vor allem: es ist leicht, darüber zu berichten, und kostet nicht viel. Die Opfer sind, kaum anders als von Zugentgleisungen und anderen Unfällen Betroffene, nicht geeignet, politische Solidarität oder Empörung hervorzurufen. Somit liegt es durchaus in

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der Logik des journalistischen Feldes, namentlich durch die besondere Form, die hier die Konkurrenz annimmt, und die Routinen und Denkgewohnheiten, die es unausgesprochen durchsetzt, eine Vorstellung von der Welt zu produzieren, in der Geschichte als absurde Serie von unverständlichen und unbeeinflußbaren Desastern erscheint. Diese von eth-nischen Kriegen und rassistischem Haß, von Gewalt und Verbrechen überfüllte Welt ist derart unbegreiflich und angsteinflößend, daß man sich vor ihr nur zurückziehen und in Sicherheit bringen kann. Und das durch den Jour-nalismus vermittelte Weltbild ist um so weniger geeignet, zu mobilisieren und zu politisieren, wenn es (wie dies im Zusammenhang mit Afrika oder der banlieue oft geschieht) mit ethnozentrischer oder offen rassistischer Verachtung einhergeht – im Gegenteil: Es werden xenophobe Ängste geschürt, ganz wie der trügerische Eindruck, Verbrechen und Gewalt nähmen ständig zu, die Beklemmungen und Phobien bestärkt, von denen sich das Sicherheitsdenken nährt. Das Gefühl, die Welt, wie das Fernsehen sie zeigt, biete dem gewöhnlichen Sterblichen keine Handhabe, verbindet sich mit dem Eindruck, daß das politische Spiel ähnlich wie der Hochleistungssport mit seiner scharfen Trennung zwischen Praktizierenden und Zuschauern eine Sache für Profis ist, und bestärkt vor allem bei wenig Po-litisierten die fatalistische Ablehnung jeden Engagements, die natürlich der Konservierung der bestehenden Verhält-nisse dient. Man muß schon ein sehr zähes Vertrauen in das (unleugbare, aber doch begrenzte) Potential des Volkes zum »Widerstand« haben, um mit einer gewissen »postmo-dernen Kulturkritik« davon auszugehen, der Zynismus der Fernsehproduzenten, die sich in ihren Arbeitsbedingungen,

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ihren Zielen (dem Ringen um maximale Vermehrung des Publikums, um das »gewisse Plus«, das ausmacht, daß etwas »sich besser verkauft«) und ihrer ganzen Denkweise immer mehr den Werbeagenten nähern, fände seine Grenze oder sein Gegengift in dem aktiven Zynismus der Zuschau-er (den vor allem das zapping illustriert): Die Fähigkeit, bei strategischen Spielen des Typs »Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß« reflexiv und kritisch mitzuhalten und die vom manipulatorischen Zynismus der Fernseh- und Werbe-produzenten angebotenen »ironischen und metatextuellen« Botschaften auf einer dritten und vierten Verstehensebene zu überbieten, als universell gegeben voraussetzen, heißt nämlich, einer der perversesten Formen der scholastischen Illusion in ihrer populistischen Fassung aufsitzen.

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