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XXVIII. Jber den weiteren husbau der Krtippelfiirsorge in Posen, Von Dr. Marcus~ Spezialarzt ffir Orthopiidie. Auf dem Gebiete der Kriippelfiirsorge wird iiberall, wie man aus der einschl~gigen Literatur ersieht, recht fieissig gearbeitet. Uberall ist man eifrigst bestrebt, das Kriippelelend nach Kr~ften zu lindern und es bedeutet sicherlich auch eine FSrderung dieser Bestrebungen, wenn die auf diesem Gebiete Arbeitenden ihre Erfahrungen durch Wort nnd Schrift mSglichst weiten Kreisen bekannt geben. In meinem im vorigen Jahre verSffentlichten Bericht fiber den Stand der Kriippelffirsorge in Posen babe ich als besonders wichtig die Kontrolle hervor- gehoben, unter die wir die Krfippelkinder gestellt haben. Wir haben uns seinerzeit viel yon derselben versprochen und wir haben uns darin auch nicht get~tuscht. Naturgemgss ging mit dem weiteren Ausbau der Kriippelfiirsorge fiber- haupt auch eine bessere und umfassendere Organisation der Kontrolle Hand in Hand.. Und es dfirfte ffir all die Kreise, die direkt oder indirekt mit der Kriippelffirsorge zu tun haben, nicht uninteressant sein, einen kurzen Uber- blick fiber die yon uns getroffenen Massregeln, soweit die Kontrolle in Frage kommt, zu bekommen. Ich werde mir deshalb erlauben, im folgenden kurz die Kontrolle, wie sie zurzeit bet uns geiibt wird, zu beschreiben, und ich will dann noch im Anschluss daran fiber einige, uns wiihrend der Ietzten Unter- suchungen aufgefallene Erscheinungen berichten, die wit wohl mit Recht als Erfolge der Kriippelfiirsorge ansehen kSnnen. Die Kontrolle, wie sie sich allmghlich bet uns entwickelt hat und jetzt gehandhabt wird, ist eine dreifache: Erstens tibt die Kriippelkommission eine Kontrolle aus. 0her Einrichtung, Zusammensetzung und Funktion der Kommission habe ich in der vorher erwiihnten Arbeit eingehend berichtet. Sie hat die Aufgabe, sgmtliche Krfippelkfinder in angemessenen Zwischen- riiumen ether Untersuchung zu unterziehen, sich yon den Resultaten der bet den friiheren Untersuchungen vorgeschlagenen und inzwischen ausgeffihrten Massnahmen zu iiberzeugen und weitere Anordnungen zu treffen. Selbstver-

Über den weiteren Ausbau der Krüppelfürsorge in Posen

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XXVIII.

Jber den weiteren husbau der Krtippelfiirsorge in Posen,

Von

Dr. Marcus~ Spezialarzt ffir Orthopiidie.

Auf dem Gebiete der Kriippelfiirsorge wird iiberall, wie man aus der einschl~gigen Literatur ersieht, recht fieissig gearbeitet. Uberall ist man eifrigst bestrebt, das Kriippelelend nach Kr~ften zu lindern und es bedeutet sicherlich auch eine FSrderung dieser Bestrebungen, wenn die auf diesem Gebiete Arbeitenden ihre Erfahrungen durch Wort nnd Schrift mSglichst weiten Kreisen bekannt geben.

In meinem im vorigen Jahre verSffentlichten Bericht fiber den Stand der Kriippelffirsorge in Posen babe ich als besonders wichtig die Kontrolle hervor- gehoben, unter die wir die Krfippelkinder gestellt haben.

Wir haben uns seinerzeit viel yon derselben versprochen und wir haben uns darin auch nicht get~tuscht.

Naturgemgss ging mit dem weiteren Ausbau der Kriippelfiirsorge fiber- haupt auch eine bessere und umfassendere Organisation der Kontrolle Hand in Hand.. Und es dfirfte ffir all die Kreise, die direkt oder indirekt mit der Kriippelffirsorge zu tun haben, nicht uninteressant sein, einen kurzen Uber- blick fiber die yon uns getroffenen Massregeln, soweit die Kontrolle in Frage kommt, zu bekommen. Ich werde mir deshalb erlauben, im folgenden kurz die Kontrolle, wie sie zurzeit bet uns geiibt wird, zu beschreiben, und ich will dann noch im Anschluss daran fiber einige, uns wiihrend der Ietzten Unter- suchungen aufgefallene Erscheinungen berichten, die wit wohl mit Recht als Erfolge der Kriippelfiirsorge ansehen kSnnen.

Die Kontrolle, wie sie sich allmghlich bet uns entwickelt hat und jetzt gehandhabt wird, ist eine dreifache: Erstens tibt die Kriippelkommission eine Kontrolle aus. 0her Einrichtung, Zusammensetzung und Funktion der Kommission habe ich in der vorher erwiihnten Arbeit eingehend berichtet. Sie hat die Aufgabe, sgmtliche Krfippelkfinder in angemessenen Zwischen- riiumen ether Untersuchung zu unterziehen, sich yon den Resultaten der bet den friiheren Untersuchungen vorgeschlagenen und inzwischen ausgeffihrten Massnahmen zu iiberzeugen und weitere Anordnungen zu treffen. Selbstver-

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st~ndlich geht nebenher st~indig die Untersuchung neuer, der Fiirsorge zuge- ffihrter Kinder. Die Tii.tigkeit der Krfippelkommission ist also im wesent- lichen unver~indert geblieben.

Als zweites Organ der Krfippelkontrolle kommen die Schwestern in Be- tracht. Diese Kontrolleinrichtung ist wesentlich ausgebaut und erweitert worden. Dementsprechend ist die T~itigkeit in diesem Zweig der Kontrolle eine viel in- und extensivere geworden. Anfangs waren drei Gemeinde- schwestern im Nebenamt mit der Wahrnehmung der Beaufsichtigung der Kriippelkinder betraut. Es stellte siah bald heraus, dass die Zahl der Pflegerinnen nicht ausreichte und dass die Uberwachung auf diese Weise nicht genug leistete, besonders nicht das, was wir yon ihr erwarteten und hofften. Da der Gedanke der Kontrolle aber an sich ein durchaus guter war, so konnte es nicht zweifelhaft sein, dass unsere anf~nglich geringen Erfolge nicht sowohl in der Einrichtung als solcher begriindet waren, sondern vielmehr verursaeht wurden durch die nicht genfigende Zahl der Hilfskr~ifte, die den Uberwachungsdienst zu versehen hatten.

Die Zahl der in Posen angestellten Gemeindeschwestern war eben zu gering, als dass diese die Kontrolle mit der unbedingt erforderlichen Sch~rfe h~tten ausfiihren kSnnen. Auch bot die Heranziehung weiterer ehrenamtlicher Organe, yon der ich in meiner vorigen Arbeit fiber Kriippelffirsorge gesprochen babe, nicht die geniigende Gew~hr einer ausreichenden Kontrolle. Deshalb hat der Vorsitzende der Kriippelfiirsorge in Posen, Herr Stadtrat L e m m el, auch hier in dankenswerter Weise eingegriffen und auch diesen Zweig der Kriippelfiirsorge in vollkommen neuer und, sower unsere Erfahrungen bis jetzt gehen, ausreichender Weise organisiert.

Schon aus vorstehend geschilderten M~ngeln ergaben sich einige Haupt- gesichtspunkte, die fiir die Neuorganisation der Kontrolle zu beachten waren.

Im ganzen waren fiir die Neuorganisation nun folgende Punkte mass- gebend.

Der Zahl der in der Kriippelfiirsorge stehenden Kinder musste durch eine entsprechende hnzahl yon Pflegerinnen Rechnung getragen werden.

Die spezielle Art der Krfippelffirsorge war zu beriicksichtigen. Der Kostenpunkt war nicht zu vernachl~issigen, da die Krfippelfiirsorge hier eine rein stiidtische Einrichtung ist und private Mittel ihr nicht zur Verfiigung stehen.

Diesen drei Gesichtspunkten gerecht zu werden, erschien zuni~chst nicht ganz einfach.

Die Aufgabe ist aber schliesslich, und wie ich glaube, in ganz vorziig- ]icher Weise dadurch gelSst worden, dass unser Vorsitzender die Kontrolle der Kriippelkinder an eine schon bestehende Organisation angliederte, indem er sie den Kinderpflegerinnen iibertrug.

In der Kinder- und Si~uglingspfiege sind zurzeit sechs Schwestern yon der Stadt angestellt~ so dass jede Schwester - - es stehen augenblicklich zirka 250 Kinder in der Kri ippelf i i rsorge- etwa 40 Pfleglinge bekommt, w~hrend friiher die doppelte hnzahl auf eine Schwester entfiel.

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Sodann waren die Kinderpflegerinnen nicht vor eine ganz neue Aufgabe gestellt, mit der sic sich erst vertraut machen mussten. Die Kriippelfiirsorge hat es ja fast durchgehend nur mit Kindern zu tun und ist eigentlich nut als ein besonderer Zweig der Kinder- und S~uglingsfiirsorge anzusehen. Auch ist eine grosse Anzahl der in unserer Fiirsorge stehenden Kinder den Kinder- pflegerinnen aus der S~,uglingsfiirsorge her persSnlich bekannt und spielt schon heute das uns aus der S~uglingsfiirsorge iiberwiesene Material - - die an Rachitis leidenden Kinder fiir unsere Fiirsorge eine grosse Rolle, so wird das sparer - - wie wir zuversichtlich hoffen - - noch welt mehr der Fall sein, denn unsere Erfolge werden desto gr5sser sein, je friiher unsere Fiirsorge einsetzen kann.

Endlich konnte diese Einricbtung ohne grosse Kosten getroffen werden, denn die vermehrte Arbeit erforderte nur die Anstellung yon zwei wciteren Kinderpflegerinnen und sie wird welter ohne erhebliche Mehrbelastung der Stadt durchzufiihren sein, da wir in Zukunft nicht mit einer Zunahme, sondern eher mit einer Abnahme des Kriippelmaterials zu rechnen haben werden.

Zum Zwecke dieser Kontrolle ist die ganze Stadt in einzelne Bezirke eingeteilt. Jeder Bezirk untersteht einer Schwester, die je naeh Bedarf s/imt- liche Kriippelkinder bzw. die Familien derselben in l~ngeren oder kfirzeren Zwischenr~i.umen besucht, streng darauf sieht, dass nile getroffenen Anord- nungen ausgefiihrt werden, ratend und helfend eingreift, soweit ihre Kr:Mte reichen und ihr Mittel zur Verfiigung stehen, das Kind dem Arzte zufiihrt, sobald ihr das notwendig erscheint - - Verschlimmerung des Zustandes, defekter Apparat usw. - - und endlich dem Vorsitzenden entsprechende Mit- teilung macht, sobald sie sieht, dass die Anordnungen der Kommission in mangelhafter Weise oder gar nicht ausgefiihrt werden. Der Vorsitzende seiner- seits verfiigt dann das Weitere.

Die Schwestern, wir haben deren jetzt sechs, haben also ihre ganz genauen Anweisungen. Sie sind verpflicktet, ihre Beobachtungeu sehriftlich niederzulegen und den Akten, die fiber jedes Krfippelkind geffihrt werden, beizugeben und vor allen I)ingen, sobald sie sehen, dass etwas nieht ord- nungsgem~ss vorgeht und sie aus eigenen Kr~ften nicht Abhilfe schaffen kSnnen, sofort dem Yorsitzenden bzw. dem Arzte die n~Stigen Meldungen zu machen. Die jetzige Einrichtung bew~hrt sich sehr gut. Klagen derart, ~Tie ich sie in meiner ersten Arbeit fiber Kriippelfiirsorge in Posen babe vor- bringen mfissen, dass die Kinder nieht regelm~ssig oder gar nieht zur Behand- lung kommen, dass die verordneten Appparate gar nicht oder ungeniigend ge- braueht werden, dass die Kinder nicht zur Untersuchung kommen, sind heate im allgemeinen nicht mehr zu fiihren, wenn auch natiirlich immer wieder FS.lle zu verzeiehnen sind, bei denen gegen mangelnden Willen und fehlendes Verst~ndnis angek~impft werden muss.

Mit diesen beiden Uberwachungseinrichtungen, so gute Dienste sie uns aueh leisteten, kamen wir aber noch nicht ~'ollst~ndig aus. Wir sahen bald ein~ dass wir ausser der Uberwachung dutch die Schwestern noch eine

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bessere iirztliche LTberwaehung nStig hatten, dass die Kommission als i~rzt- liches 0berwachungsorgan ihre Aufgabe nicht ganz 15sen konnte.

Wir haben deshalb noch eine dritte Kontrolleinrichtung in der Weise getroffen, dass wit einen speziell ~rztlichen L'berwachungsdienst eingerichtet haben. Die Notwendigkeit dieser Einriehtung mSchte ich etwas n~her be- griinden. Der Kriippelkommission werden die Kinder zur Nachuntersuchung, je nach Lage des Falles, in Zwischenr~umen yon 3, 6 und 9 Monaten zuge- fiihrt. Solche Untersuchungen in kfirzeren Zwischenriiumen zu veranstalten, w~re zwecklos. Die Kommission so]l naturgem~iss nur einen Gesamteindruck be- kommen und kann sich auf eigene spezialistische Untersuchung s~mtlicher Kinder nicht einlassen. Das ist vielmehr Sache der Arzte, denen die Kinder zur Behandlung iiberwiesen werden. In kfirzeren Zwischenriiumen als den oben angefiihrten, kann auch yon einer wesentlichen ='A, nderung des Gesamt- zustandes bei der Natur der Kriippelhaftigkeit nicht die Rede sein~ w~hrend anderseits eine genaue Detailuntersuchung oft genug zeigt, dass schon nach verh~ltnism~issig kurzer Zeit sehr iible Ver~inderungen eingetreten sein kSnnen. Ausserdem w~re es auch gar nicht mSglich, bei der grossen Zahl yon Kriippe]- kindern noch h~ufigere Revisionssitzungen abzuhalten.

Es kann aber auch gar nicht Sache der Kriippelkommission sein, sich mit der Detailarbeit zu befassen. Wiirde man das doch yon ihr verlangen, ob- wohl es auch nach meiner Ansicht rein teehnisch schon nicht ausffihrbar wi~re, so wiirde man nicht nur die Gesamtorganisation damit sch~digen dadurch, dass man die Zeit der Kommission mit weniger wiehtigen Dingen aufh~lt und wiehtigere Sachen dann zu kurz kommen wiirden, sondern man w i i r d e - und das ersehiene mir als das gef~hrliehste - - das Interesse der einzelnen Kommissionsmitglieder abstumpfen.

Unserer Kommission gehSren bekanntlich an, ausser dem Vorsitzenden~ ein Chirurg, ein Orthopiide~ ein Nervenarzt und ein Kinderarzt. Selbst~er- st~ndlieh interessiert sich jeder Spezialarzt in erster Reihe fiir F~lle, die in sein Spezialgebiet gehSren, wenn sie auch bei den Sitzungen zur Beurteilung des Gesamtzustandes sich zusammenfinden. Undes ist daher auch ohne weiteres verstiindlich~ dass der Chirurg das Kind, das ibm zur Operation nach dem Stadtkrankenhause iiberwiesen wird, weiter im Augebehalt, dass der Nervenarzt sich Kinder mit schwereren nerv5sen StSrungen 5fter einmal in seine Sprech- stunde kommen li~sst und so fort.

Diese seitens der behandelnden Arzte ausgeffihrte Kontrolle wiire ja nun geniigend und stellt ja auch gewissermassen die gewiinschte i~rztliche b'ber- waehung dar. Sie ist auch gentigend bei allen Kindern, so lange sie in Be- handlung stehen und bei diesen wiirden sich weitere Massnahmen eriibrigen. Nun bleiben aber die Kinder doeh nicht st~ndig in Behandlung. ])as Stadt- krankenhaus entl~sst die Kinder, sobald die Operationswunden geheilt sind; aus meiner Anstalt werden sie entlassen~ sobald sie ein Korsett oder sonst einen Apparat bekommen haben und sich geniigend an den Apparat gewShnt haben.

Wenn nun such diese Kinder selbstverst~ndlich in der Fiirsorge bleiben und nach wie vor der Kontrolle durch die Kommission und dutch die Schwestern

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unterliegen, so zeigt es sieh doch, dass gerade in diesen F~llen diese beiden Kontrolleinrichtungen noch nicht geniigen.

Wir haben in unseren Sitzungen beispielshalber die Beobachtung gemacht, dass Kinder, bei denen eine orthop~dische Operation mit vollem Erfolge aus- geffihrt war, mit starken Deformit~ten sich wieder vorstellten. Diese waren offenbar dadurch eingetreten, dass nach abgesehlossener chirurgischer Behand- lung auf eine weitere hiiusliche, wenn auch noch so einfache, Naehbehandlung yon seiten der AngehSrigen der Kinder nicht die geniigende Sorgfalt ver- wendet wurde.

Wir haben weiter Kinder zu sehen bekommen, die aus der orthop~dischen Anstalt mit gut passenden Apparaten entlassen worden waren, deren Apparate dann aber, durch unzweckm~ssiges Umgehen in relativ kurzer Zeit unbrauchbar geworden waren.

Nun war es ja selbst bei unserer bisherigen Kontrolle schon ausgeschlossen, dass wir t3berraschungen iihnlich den friiheren erlebt bi~tten, denn wir sahen ja die Kinder, wenn nStig, schon nach 3 Monaten wieder. Von so kolossalen Verschlimmerungen wie friiher konnte also nicht mehr die Rede sein. Nicht zu verhindern waren aber dutch die bisherige Kontrolie Verschlimmerungen geringeren Grades. War das schon bei chirurgischen Fiillen 5fters der Fall, so waren wir dieser Gefahr noch viel mehr ausgesetzt bei der Mehrzahl der anderen Fi~lle. Diese Mehrzahl yon Fi~llen besteht bei uns im wesentlichen aus Deformit~ten der Wirbels~ule. Wenn irgend eine Affektion, so bedarf eine solche einer st~ndigen regelm~ssigen tJberwachung und zwar nicht nur einer Uberwachung durch Laien, sondern durch Arzte. Es ist das geniigend bekannt und es wird ja dieser Grundsatz auch in der Privatpraxis strikte durehgefiihrt.

In unserer Fiirsorge war das nun im Anfang nicht der Fall. Wir be- kamen da hi~ufig genug Kinder zu sehen, die wir wegen Deformit~iten der Wirbels~ule hatten behandeln lassen, bei denen wir aus dem einem nnd dem anderen Grunde zeitweise mit der Behandlung aufgehSrt hatten und bei denen wir, nachdem wir vor 1/t Jahre ganz zufrieden mit dem Zustande waren, eine erhebliehe Verschlimmerung der Deformit~t der Wirbels~ule konstatieren mussten. Ieh brauche ja die Notwendigkeit dieser stiindigen i~rztlichen ]Jberwachung nicht nigher zu begriinden. Es ist ja allen Orthopiiden zur Geniige bekannt, dass man Kinder mit Riickendeformit~ten st~ndig unter ~irztlicher Kontrolle haben muss, wenn man vor nnangenehmen 0berrasehungen bewahrt bleiben will.

Das war ein Grund, der uns zur Einriehtung dieser iirztlichen (]ber- waehung fiihrte. Wir hatten noeh einen zweiten Grund. Die Schwestern, denen die Oberwachung der Kriippelkinder obliegt, haben selbstversti~ndlieh sehr h~ufig Veranlassung, wegen des einen oder des anderen Kindes i~rztlichen Rat einznholen. Sie sind durch diese U n t e r s u c h u n g s a b e n d e in der Lage, in notwendigen Fiillen die Kinder baldigst dem Arzte zuzufiihren und M~ngel und Fehler kSnnen ohne Zeitverlust beseitigt werden. Ein Beispiel hierfiir: Bei einem Kinde ist das Korsett defekt. Die Schwester bringt das Kind mit dem Korsett zu dem U n t e r s u c h u n g s a b e n d . Der Arzt sieht sich das Korsett

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an und der Bandagist, der zur Hand ist, beseitigt den Fehler, wenn es sich um eine Kleinigkeit handelt, sofort, oder~ wenn eine grSssere Reparatur not- wendig ist, recht bald. Der Arzt macht einen entsprechenden Vermerk in die Akten. Diese werden schon am n~chsten Tage yon der Schwester dem Vorsitzenden vorgelegt, der dann, da es sich um eine notwendige Anordnung gehandelt hat, nachtr~glich seine Genehmigung gibt.

Endlich war noeh ein drifter Grund vorhanden, der nns zur Einriehtung dieses ~rztlichen Uberwachungsdienstes bestimmte und der uns auch veranlasste, den Uberwachungsdienst so einzurichten, wie wir ihn eingerichtet haben, n~mlich, zu diesen Kontrolluntersuchungen s~mtliehe Sehwestern hinzuzuziehen. Dieser Grund war der folgende: Es hat sich als wfinschenswert herausgestellt, der einzelnen Sehwester bei jedem Falle mSglichst genaue Direktiven fiir die Beaufsichtigung zu geben. Die Schwester hat zwar die Kriippelakten. Sie ersieht aus denselben ohne weiteres das Leiden des Kindes und die Anordnungen der Kommission. Das beides genfigt aber fiir den Laien, und das ist ja auch schliesslich die gut eingearbeitete Schwester immer, nicht, um mit der wfinschens- werten Sicherheit entscheiden za kSnnen, worauf sich bei dem einen und dem anderen Kinde die Uberwachung vornehmlich zu richten hat. Wir haben es deshalb fiir angebracht gehalten, die Schwestern zu den Kontrolluntersuchungen zuzuziehen, damit sie vom Arzt die fiir jeden einzelnen Fall notwendigen An- weisungen erhalten.

Dass endlich dieser spezielle Uberwachungsdienst dem Orthop~den iiber- tragen wird, ist natiirlich selbstverst~ndlich und bedarf keiner weiteren Be- grfindung. Es handelt sich ja fast durchwegs um orthop~disehe F~lle. Die Einrichtung dieser arztlichen Kontrolluntersuchung ist nun kurz die folgende:

Einmal in der Woche finder eine solche Kontrolluntersuchung start. Dieselbe wird in der orthop~dischen Anstalt yon dem Orthop~den abgehalten~ der ja alle Kinder kennt und die grosse Mehrzahl derselben auch behandelt hat. Zu dieser Untersuchung, fiir die eine Zeit yon 2 Stunden angesetzt ist, kommen s~mtliche Pflegeschwestern. Jede Schwester bringt die Kinder mit, die sie dem Arzte vorzustellen beabsichtigt. Die Vorstellung erfolgt aus den verschiedensten Grfinden. Entweder hat die Sehwester gemerkt, dass der Apparat~ den das Kind tr~gt, nicht mehr gut passt, oder sie glaubt eine Yerschlimmerung gesehen zu haben, oder es ist ihr sonst irgend etwas auf- gefallen, was ihr nicht ganz richtig zu sein seheint. Kurz, sie bringt alle Kinder mit~ bei denen sie aus irgend welchem Grunde einen ~irztlichen Rat hSren will. Ausserdem aber bringt sie in regelm~ssigen Zwischenr~umen, die nicht fiber 3--4 Wochen hinansgehen sollen, ihre s~mtlichen Pfleglinge mit, wenn auch eine besondere Ursache zu einer Revision nicht vorliegt.

Jedes Kind wird nun im Beisein der betreffenden Schwester untersucht~ M~ngel werden abgestellt, die Schwester wird auf das und jenes aufmerksam gemacht und es wird fiber den Befund der Untersuehung ein entsprechender u in die Akten eingetragen, die die Schwester zur jedesmaligen Unter- suchung mitzubringen hat. Gleichzeitig wird ein Terrain zu einer neuen Unter- suchung bestimmt. Sind die Kinder s~imtlich untersucht und ist alles Er- forderliche bei diesen Kindern angeordnet worden, so wird die noch fibrig

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bleibende Zeit darauf verwandt, mit den Schwestern fiber Kriippelfrirsorge im allgemeinen und fiber unsere Frirsorge im besonderen zu sprechen. Diese Untersuchungsabende finden allwSchentlich einmal start. Sie bewiihren sich gut. Wir behalten so das gesamte Material st~ndig im Auge. Die Kriippel- kommission braucht sich mit der Detailarbeit gar nicht zu befassen, die aus- reichend an diesen Untersuchungsabenden erledigt wird. Sie beh~lt Zeit fiir allgemeinere, die Krrippelfiirsorge betreffende Fragen und sie bekommt yon den in der Ffirsorge befindlichen Kindern einen richtigeren Gesamteindruck, da das ihr zur Untersuchung iiberwiesene Material gesichtet und vorbereitet ist.

Unsere gesamte Kontrollorganisation ist somit so gedacht, dass wir eine st~indige lJberwachung der Kriippelkinder .haben wollen. Mit der dauernden Kontrolle, die yon den Pflegerinnen in den Familien der Kinder ausgeribt wird, soll Hand in Hand die ~irztliche Kontrolle durch den Orthopi~den gehen und w~hrend diesen beiden Faktoren die Detailarbeit zufi~llt, soll die seltener zu- sammen tretende Kriippelkommission das Gesamtresultat bewerten und so gewissermassen als Obergutachter fungieren.

Ich habe unsere wesentlichsten Oberwachungseinrichtungen beschrieben. Es wiirde zu welt fiihren, wenn ich noch einige andere Massregeln mitteilen wollte, z. B. solche, die den Zweck haben, die Kinder auch wiihrend der Behandlung in der Anstalt zu riberwachen oder zu verhindern, class das eine und alas andere der vielen Kinder eine Behandtungsstunde versiiumt. Diese Massnahmen sind ja selbstverstiindlich.

Dass eine Uberwachung nicht nur niitzlich, sondern auch durchaus not- wendig ist, wenn die Kriippelfrirsorge fiberhaupt etwas leisten soll, diesen Grundsatz hat unser Vorsitzender, Herr Stadtrat L e m m e l , nieht nur von An- fang an in energischer Weise betont, sondern er hat aueh dafiir gesorgt, dass er mSglichst schnell in die Tat umgesetzt wurde. Und so hat die Krfippel- fiirsorge es nur ihm zu verdanken, dass infolge der sich gut bew~hrenden Kontrolleinrichtungen wirklich Erspriessliches geleistet werden kann.

Ob wir dauernd mit diesen unseren Einriehtungen auskommen werden, l~sst sich heute noch nicht sagen. Wir sind mit ihnen bis jetzt zufrieden; wir werden aber selbstverst~ndlich nicht aufhSren, unsere Einrichtungen nach Kriiften zu erweitern und zu verbessern.

Uber Resultate zu sprechen, drirfte jetzt noch nicht an der Zeit sein. Man wird damit noch besser warren. Ich mSchte aber nicht unterlassen, wie schon anfangs bemerkt, auf einige Erscheinungen hinzuweisen, die wir bei unseren jiingsten Kommissionsuntersuchungen zu sehen Gelegenheit batten und die wir wohl als Erfolge nnserer gut arbeitenden Organisation aufzufassen berechtigt sind.

Unsere Frirsorge hat eine grosse Ausdehnung angenomraen. Wir sind nicht mehr nur darauf angewiesen, die Krfippelkinder durch die Polizei und Schule ermitteln zu lassen, wenn es auck selbstverst~ndlich nach wie ~or ge- schieht. Die Eltern kommen mit ihren Kindern aus freien Stricken zu unseren Untersuchungsabenden. Und es sind keineswegs immer Arme, die uns auf- suchen, sondern 5fter~ auch AngehSrige der Mittelsti~nde. Auch dieser nehmen wit uns bereitwilligst an, aber nur in der Weise, dass wir ihnen eindringlichst

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zu Gemtite fiihren, wie not ihren Kindern ~rztliche oder sonstige Hilfe tut. Und damit sind diese Leute auch zufrieden; Sie wollen in der Regel gar nicht unentgeltliche Hilfe haben und versichern uns, dass sie gern bereit sind, Kosten selber zu tragen. Wir iiberzeugen uns oft genug davon, dass bei vielen Eltern wirklich nur eine gewisse Indolenz und nicht geniigendes Interesse, vielleicht aueh Unkenntnis der Gefahr vorgelegen hat, wenn sie bisher keine Schritte zur Beseitigung der und jener Deformit~t unternommen haben. Selbst- verst~ndlich kommen wir aber auch solchen Leuten, die nicht zu den notorisch Armen gehSren, gem zur Hilfe, wenn die Kosten ihre Mittel tibersteigen.

Es ist zweifellos ein Erfolg, dass es uns gelungen ist, das mangelnde Interesse nicht nur bei der armen BevSlkerung zu wecken, sondern auch beim Mittelstande. Wir sehen weiter, dass yon seiten der S~uglingsfiirsorge, der Schule, der Armenverb~nde und so fort ein immer grSsserer Gebrauch yon unseren Fiirsorgeeinrichtungen gemacht wird. Man beginnt jetzt al]erseits viel mehr auch auf geringere Grade yon Kriippelhaftigkeit und beginnender Deformits zu achten als friiher u n d e s werden uns dementsprechend jetzt relativ h~ufig leichte und beginnende Fitlle iiberwiesen. Selbstverstgndlich sind wir in der Lage, solche F~lle schneller wieder herzustellen, bezw. grSssere Grade yon Krtippelhaftigkeit zu verhiiteu. Dass wir aber jetzt schon in der Lage sind, gewissermassen eine prophylaktische Kriippelfiirsorge auszuiiben, diirfen wir uns wohl ebenfalls als F, rfolg anrechnen. Endlich haben wir zu unserer Freude auch die Beobachtung gemacht, dass es uns nicht nur gelungen

_ ist, den Eltern der Kriippelkinder das Misstrauen zu nehmen, mit dem sie uns anfangs so oft entgegentraten, sondern auch den Kindern. Die aus der Schule entlassenen Kriippelkinder verlassen unsere Fiirsorge nicht. Wir sorgen ja bekanntlich auch dafiir, soweit es uns mSglich ist, dass schulentlassene Kr~ippel- kinder eine ihren F~higkeiten entspreehende Bescb~ftigung aufnehmen. Und diese schulentlassenen kommen nun zum grossen Teil ganz freiwillig - - wit haben ja bei ihnen gar keine Zwangsmittel - - sobald sie zitiert werden, zur Untersuchung und befolgen freiwillig und gern unsere Anordnungen. Dass es uns gelungen ist, auch den erwachseneren Kindern die Wichtigkeit der Fiirsorge klar zu maehen, erseheint uns ebenfalls als ein nicht zu unter- sch~tzender Erfolg.

Haben wir also auch einzelne nieht zu untersch~tzende Erfolge zu ver- zeichnen, so brauehe ich doeh wohl kaum zu sagen, dass wir uns mit diesen nicht etwa begniigen werden, dass wir vielmehr unentwegt in der Krilppel- fiirsorge weiter arbeiten wollen, so welt unsere Kr~fte reiehen und unsere Mittel. Dass aber ausser persSnlicher Opferwilligkeit und Hilfsbereitschaft grosse finanzielle Mittel notwendig sind, um die Fiirsorge dauernd durchzu- fiihren, ist klar. tJber Einzelheiten der finanziellen Seite werde ich sparer einmal berichten. Ich mSehte hier nut noch erw~hnen, dass bei uns die gesamte Krfippelfiirsorge finanziell yon der Stadt allein unterhalten wird, dass die Stadtverwaltung yon Anfang an uns s~mtliche notwendigen Mittel bereit- willigst zur Verfiigung gestellt hat, so dass wir auf die private Wohltgtigkeit nicht angewiesen waren.