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ÜBER DIE ZUORDNUNG DER QUANTITÄTEN DES URTEILS UND DER KATEGORIEN DER GRÖSSE BEI KANT von Michael Frede und Lorenz Krüger, Göttingen I Kant gewinnt die Kategorientafel in der metaphysischen Deduktion auf Grund von folgender Überlegung: 1. Die Anwendung der einfachsten, d. h. nicht weiter zurückführbaren Urteils- formen zur Beurteilung von Gegenständen setzt eine den Urteilsformen jeweils entsprechende ursprüngliche Form der Synthesis voraus; Urteilsformen und For- men der Synthesis entsprechen sich eindeutig; 2. wir finden, wie die Logik zeigt, in unserem Denken ein System der einfach- sten Urteilsformen vor; 3. auf Grund von (1) und (2) erhalten wir die vollständige Tafel der Kate- gorien als Begriffen dieser Formen der Synthesis. Der 3. Punkt scheint für Kant trivial gewesen zu sein. Jedenfalls erklärt er in seinen Erläuterungen zur Kategorientafel*, daß nur in einem einzigen Fall, dem der Gemeinschaft und des disjunktiven Urteils, die Obereinstimmung zwischen Urteilsformen und Kategorien „nicht so in die Augen fallend (sei), als bei den übrigen" 2 . Dies und die Tatsache, daß der 3. Punkt weder die Möglichkeit einer metaphysi- schen Deduktion der Kategorientafel noch auch die Form dieser Tafel, sondern nur ihre Ausgestaltung im einzelnen betrifft, dürfte der Grund dafür sein, daß sich die Interpreten fast ausschließlich auf den 1. und den 2. Punkt konzentriert haben. Folglich sind die freilich relativ untergeordneten Probleme, die der 3. Punkt aufwirft, zum Teil noch nicht befriedigend gelöst worden. Eines dieser Probleme, die nicht befriedigend gelöst, wenngleich auch allgemein bekannt sind, ist die Frage nach der Zuordnung der Urteilsquantitäten zu den Quantitätskategorien. So, wie die Urteils- und die Kategorientafel angelegt sind, liegt die Annahme nahe, daß sich allgemeine Urteile und Einheit, besondere Urteile und Vielheit, und schließlich einzelne Urteile und Allheit entsprechen sollen, welche 1 Kr. d. r. V. § 11, Bill—112. 2 Vgl. auch Metaphysik Dohna-W., p .535 Kow.: „Daraus können wir leicht die Kategorien bekommen." 28 Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Authenticated | 130.60.206.43 Download Date | 9/15/13 4:42 PM

ÜBER DIE ZUORDNUNG DER QUANTITÄTEN DES URTEILS UND DER KATEGORIEN DER GRÖSSE BEI KANT

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ÜBER DIE ZUORDNUNG DER QUANTITÄTENDES URTEILS UND DER KATEGORIEN DER GRÖSSE

BEI KANT

von Michael Frede und Lorenz Krüger, Göttingen

I

Kant gewinnt die Kategorientafel in der metaphysischen Deduktion auf Grundvon folgender Überlegung:

1. Die Anwendung der einfachsten, d. h. nicht weiter zurückführbaren Urteils-formen zur Beurteilung von Gegenständen setzt eine den Urteilsformen jeweilsentsprechende ursprüngliche Form der Synthesis voraus; Urteilsformen und For-men der Synthesis entsprechen sich eindeutig;

2. wir finden, wie die Logik zeigt, in unserem Denken ein System der einfach-sten Urteilsformen vor;

3. auf Grund von (1) und (2) erhalten wir die vollständige Tafel der Kate-gorien als Begriffen dieser Formen der Synthesis.

Der 3. Punkt scheint für Kant trivial gewesen zu sein. Jedenfalls erklärt er inseinen Erläuterungen zur Kategorientafel*, daß nur in einem einzigen Fall, demder Gemeinschaft und des disjunktiven Urteils, die Obereinstimmung zwischenUrteilsformen und Kategorien „nicht so in die Augen fallend (sei), als bei denübrigen" 2.

Dies und die Tatsache, daß der 3. Punkt weder die Möglichkeit einer metaphysi-schen Deduktion der Kategorientafel noch auch die Form dieser Tafel, sondernnur ihre Ausgestaltung im einzelnen betrifft, dürfte der Grund dafür sein, daßsich die Interpreten fast ausschließlich auf den 1. und den 2. Punkt konzentrierthaben. Folglich sind die freilich relativ untergeordneten Probleme, die der 3. Punktaufwirft, zum Teil noch nicht befriedigend gelöst worden.

Eines dieser Probleme, die nicht befriedigend gelöst, wenngleich auch allgemeinbekannt sind, ist die Frage nach der Zuordnung der Urteilsquantitäten zu denQuantitätskategorien. So, wie die Urteils- und die Kategorientafel angelegt sind,liegt die Annahme nahe, daß sich allgemeine Urteile und Einheit, besondere Urteileund Vielheit, und schließlich einzelne Urteile und Allheit entsprechen sollen, welche

1 Kr. d. r. V. § 11, Bill—112.2 Vgl. auch Metaphysik Dohna-W., p .535 Kow.: „Daraus können wir leicht die

Kategorien bekommen."

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Zuordnung im Folgenden „B" heißen mag. Die Tafeln sind nämlich ansonsten soeingerichtet, daß die Kategorie jeweils genau die Stelle in der Kategorientafel ein-nimmt, die die entsprechende Urteilsform in der Urteilstafel inne hat. Und folgteman diesem Prinzip auch bei den Urteilsquantitäten, so müßte man annehmen,daß Kant die Zuordnung B beabsichtigt hat.

Das Problem entsteht nun dadurch, daß diese Zuordnung keineswegs so un-mittelbar einleuchtend ist, wie Kants oben schon erwähnte Bemerkung uns ver-muten lassen müßte, wohingegen die umgekehrte Zuordnung A, nämlich die vonallgemeinen Urteilen zu Allheit und Einzelurteilen zu Einheit, genau seiner Be-hauptung entspräche, die Zuordnungen verständen sich mit der genannten Aus-nahme, die er dann auch erläutert, von selbst. Diese triviale Zuordnung ist in derTat mit Hinsicht auf Kants Behauptung auch so plausibel, daß sie von vielenAutoren ohne Erklärung für die unerwartete Gegenläufigkeit von Urteilsquanti-täten und Quantitätskategorien einfach vorausgesetzt wird.

Einen naheliegenden Erklärungsversuch für diese Gegenläufigkeit können wirsogleich zurückweisen. Sie ist sicher nicht dadurch zu erklären, daß Kant aus Ver-sehen oder Unachtsamkeit die Urteilsquantitäten in der falschen Reihenfolge auf-geführt hat. Denn in den Prolegomena 3 erscheinen Urteilsquantitäten und Quanti-tätskategorien wieder in derselben Reihenfolge wie in der Kritik^ obschon Kantgerade in den Prolegomena auf einen Irrtum hätte aufmerksam werden müssen,da hier beide Tafeln direkt untereinander stehen. Eine weitere Möglichkeit zurKorrektur hätte die 2. Auflage der Kritik geboten. Und wenn sich schließlich die-selbe Reihenfolge in der Gegenüberstellung von Urteilsformen und Kategorienauch *n der Pölitzschen Version einer Metaphysikvorlesung Kants (S. 28) findet, sowerden wir kaum die Annahme aufrecht erhalten können, Kant habe jeweils ausVersehen die Quantitäten in der falschen Reihenfolge aufgeführt. Vielmehr be-kräftigen die angeführten Stellen die Annahme, Kant habe die Zuordnung B beab-sichtigt.

Das Problem ist nun allerdings verwickelter, als es bisher dargestellt wurde, daer. eine Reihe von Stellen gibt, an denen Kant ohne Zweifel die Zuordnung Avoraussetzt. In der Metaphysik Dohna-Wundlacken 4 nämlich und vermutlich einemKönigsberger Manuskript, wie sich aus den Bemerkungen Erdmanns5 zu dieserHandsdirift ergibt, führt Kant die Urteilsformen in der Reihenfolge: singulär,partikulär, universell auf, um sie den Kategorien Einheit, Vielheit, Allheit gegen-überzustellen.

Ferner bezieht sich Kant in der Fußnote zu § 20 der Prolegomena sicher aufdie Zuordnung A, wenn er sagt: „Wenn ich aber von der Einheit (in einzelnenUrtheilen) anhebe und so zur Allheit fortgehe, ..." An Ausdrücklichkeit nichts zu

' S 21 (IV, 302—303).4 S. 535, ed. Kowalewski.5 B. Erdmann, Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte L Kants;

Philos. Monatshefte, Bd. 19, 1883, S. 104, n. 5.

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wünschen läßt auch die Metaphysikreflexion 4700: „In einem Urtheil drückt dersingulaire satz die einheit, der particulare die Vielheit und der universale dieomnitudinem aus."

Und schließlich kommen die Tafeln der Metaphysiken Volckmann und vonSchön 7, in der sich Urteilsformen und entsprechende Kategorien jeweils neben-einander- bzw. untereinandergeschrieben finden, der expliziten Zuordnung Agleich 8.

Diese Stellen schließen also die Möglichkeit aus, daß Kant durdiweg die Zuord-nung B vertreten hat. So scheinen sich auf Grund des vorgelegten Materials nochzwei Interpretationen anzubieten:

1. Kant hat durchweg die Zuordnung A vertreten. Schließen wir uns dieserInterpretation an, dann haben wir die Gegenläufigkeit von Urteilsquantitätenund Quantitätskategorien in den beiden Tafeln in der Kritik und den Prolegomenaund in der Metaphysik Pölitz zu erklären.

2. Kant hat, was die Zuordnung angeht, seine Meinung geändert. Diese zweiteMöglichkeit hat auch ein Teil der Interpreten gewählt, die wenigstens für dieKritik der reinen Vernunft die Zuordnung B behaupten 9.

Eine genauere Betrachtung zeigt freilich, daß die zweite Interpretation nichtaufrecht erhalten werden kann. Der einzige, der eine Vermutung über den Grundvon Kants angeblicher Meinungsänderung, für die sich sonst keine Zeugnisse fin-den, geäußert hat, ist Adickes. Er sagt: „Vielleicht ist Kant zu der späteren Ver-änderung der Beziehungen durch die Aussicht auf die artige Betrachtung bewogen,dass die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit derersten ihrer Klasse entspringt,..." 10.

Hinter dieser Vermutung steht also die Annahme, daß Kant von den Quantitä-ten: allgemein, besonders, einzeln und den Kategorien: Allheit, Vielheit, Einheitausgegangen ist, dann bemerkt hat, daß die Allheit an 3. Stelle gehöre, und folg-lich einfach die Reihenfolge der Kategorien umgekehrt hat.

Nun sollte man annehmen, daß Kant dem Anliegen, die Kategorie der Allheitan die 3. Stelle zu rücken, einfach dadurch hätte Rechnung tragen können, daß ersowohl die Reihenfolge der Urteilsquantitäten als auch die der Quantitätskate-gorien umgekehrt hätte, um die gewünschte Reihenfolge der Kategorien zu er-halten, ohne den systematischen Zusammenhang zu den Urteilsquantitäten zu zer-stören.

XXVIII, 396—397.7 XXVIII, 480.8 Daß wir die nodi nidit veröffentliditen Metaphysiken Volckmann und von Schön

benützen durften, verdanken wir der Freundlidikeit ihres Herausgebers, Herrn. Dr. habil.Gerhard Lehmann, der uns die Korrekturbögen überließ.

9 Erdmann, op. cit., S. 140, n. 5; Adickes in: Kant's Schriften, XVII, 679, 28—29;Systematik, S. 42—43; Kemp Smith, A Commentary to Kant's Critique of Pure Reason,S. 192, 196. ,

10 Systematik, S. 43.

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Adickes dagegen unterstellt, daß Kant es statt dieses leichten Eingriffs vorgezo-gen habe, seine Meinung über die Zuordnung so zu ändern, daß er statt beiderReihenfolgen nur die der Quantitätskategorien umzukehren brauchte. Diese Unter-stellung ist überhaupt nur verständlich, wenn man den Kantischen Gedanken vomZusammenhang von Urteilsformen und Kategorien und der Möglichkeit einer Ab-leitung der Kategorien aus den Urteilsformen nicht mehr ernst nimmt. Und daAdickes auch kein Argument für seine Voraussetzung vorbringen kann, daß Kantvon zwei Tafeln ausgegangen sei, in denen Allheit und allgemeine Urteile anerster Stelle standen, werden wir seine Erklärung, warum Kant die Zuordnung ge-ändert haben mag, zurückweisen müssen.

Es reichte aber auch gar nicht aus, Gründe für eine Meinungsänderung zu finden,*7eil Kant, wenn er seine Meinung in diesem Punkt überhaupt geändert hat, siewenigstens vier oder fünf Mal geändert haben muß, wie sich aus folgender Über-sicht ll ergibt, die auf der (falschen) Annahme beruht, Kant habe beide Zuord-nungen vertreten:

1. Metaphysikreflexion 4700 ( 1?, 1?)2. Kr.d.r.V., 1. Aufl. (1781)3. Prolegomena, Fußnote § 20 (1783)4. Prolegomena, § 21 (1783)5. Metaphysik Volckmann (1784/85)

Metaphysik von Schön (?)6. Kr. d. r. V·., 2. Aufl. (1787)7. Metaphysik von Dohna-W. (1792/93)

Zuordnung AZuordnung BZuordnung AZuordnung BZuordnung A

Zuordnung BZuordnung A

Besonders bemerkenswert dabei ist, daß sich unter dieser Annahme beide Zuord-nungen auf aufeinanderfolgenden Seiten (S. 84—86 des Erstdrucks) der Prolego-mena fänden. Wenn man ferner in Rechnung stellt, daß man für einen so häufigenMeinungswandel auch sonst irgendwelche Anzeichen finden müßte, bisher abernoch niemandem gelungen ist, ein solches aufzuweisen, wenn überdies kein Grund

11 Es wird darauf verziditet, auch die Metaphysik Pölitz in diese Übersicht aufzuneh-men. Einmal liegen noch nicht alle Texte vor, die ein endgültiges Urteil über die Datie-rung dieser Vorlesung ermöglichten, wenn auch Heinzes Argumente (Vorlesungen Kantsüber Metaphysik aus drei Semestern, Abh. d. Phil.-Hist. Classe d. Kgl. Sachs. Ges. d.Wiss., Bd. 14, Leipzig 1894, S. 504 ff.) dafür zu sprechen scheinen, ihren ontologischcnTeil etwa auf das Jahr 1790 anzusetzen. Überdies hat Heinzc gezeigt, daß Pöiitz die ihmvorliegenden Nadisdiriften redigiert hat, wodurch der Wert seiner Ausgabe für unsereUntersudiung erheblich eingeschränkt ist, da wir nicht wissen können, ob Pölitz nichtetwa die Reihenfolge der Urteilsquantitäten mit Hinsicht auf die Urteilstafeln in derKritik und den Prolegomena umgekehrt hat.

** An dieser Obersicht fällt auf, daß sich die sdieinbare Zuordnung B nur in den vonKant zur Veröffentlichung bestimmten Texten findet, während die übrigen Texte dieZuordnung A vertreten. Eine Ausnahme bildet die Metaphysik Pölitz; es ist aber nicjuauszusdiließcn, daß diese Ausnahme auf Pölitzens Redaktion zurückzuführen ist. DieseBeobachtung verdanken wir Herrn Prof. Dr. Günther Patzig.

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ersichtlich ist, warum Kant seine Meinung auch nur einmal hätte ändern sollen,und wenn man schließlich berücksichtigt, daß die Zuordnung B — im Gegensatzzu Zuordnung A — nirgends ausdrücklich belegt, sondern nur aus der Reihenfolgeder Quantitäten erschlossen ist, wird man folgern müssen, daß Kant die Zuord-nung B nie vertreten und durchweg die Zuordnung A beabsichtigt hat.

Wenn wir uns nun aus den angeführten Gründen auch für die MetaphysikPölitz, die beiden Auflagen der Kr. d. r. V. und die Prolegomena für die Zuord-nung A entscheiden, dann müssen wir eine Erklärung für die unerwartete Gegen-läufigkeit in der Aufzählung von Urteilsquantitäten und Quantitätskategorien indiesen Texten finden, um auch die letzten Zweifel an der durchgängigen Richtig-keit der Zuordnung A aus dem Weg zu räumen.

Die äußere Ursache für diese Gegenläufigkeit ist leicht festgestellt. Sie beruhtnicht darauf, wie Watson 13 meinte, daß Kant die Kategorien iit der falschenReihenfolge aufführt. Aus der zweiten Anmerkung zur Kategorientafel in derÄTr. d. r. V. 14, einer entsprechenden Anmerkung in den Prolegomena 15, der Meta-physik Volckmann 1 und der Metaphysik von Schön 17 ergibt sich vielmehr, daßKant die Kategorien bewußt in der Reihenfolge Einheit, Vielheit, Allheit auf-zählt, und er hält diese Reihenfolge auch überall ein.

Es sind also die Urteilsquantitäten, die in der „falschen" Reihenfolge angeordnetsind, und das heißt, daß wir nach einer Erklärung für deren Reihenfolge zu suchenhaben. Da wir aber bereits gesehen haben, daß Kant die Urteilsquantitäten nichtetwa, wie Bennett18 meint, aus Versehen in dieser Reihenfolge aufgeführt habenkann, werden wir nach einer sachlichen Begründung für diese Reihenfolge zu su-chen haben.

Wenn man sich nun fragt, warum Kant gegen jede Erwartung die Urteils-quantitäten in der Reihenfolge allgemein, besonders, einzeln und nicht umgekehrtaufführt, wird man zu beachten haben, daß sich Kant in seinen Logikvorlesungenimmer an diese Reihenfolge gehalten hat und daß er damit einer verbreiteten Tra-dition folgte, in der immer die partikulären Urteile nach den universellen aufge-führt wurden, und die sich nur darüber nicht geeinigt hatte, ob man die einzelnenUrteile vor den allgemeinen oder — wie Kant — nach den besonderen aufführensollte.

Es liegt also die Vermutung nahe, daß Kants Aufzählung, zumindest was dieuniversellen und die partikulären Urteile angeht, auch in der Reihenfolge derQuantitäten durch formal logische Überlegungen bestimmt war, die es ihm nichtohne weiteres erlaubten, die umgekehrte. Reihenfolge: einzeln, besonders, allge-mein zu verwenden.

13 The Philosophy of Kant Explained, S. 128; zitiert bei Kemp Smith, S. 196.14 B 110/111.15 IV, 325.16 XXVIII; 398, 17 ff.17 XXVIII; 481, 32 ff.18 Kant's Analytic, S. 77.

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Die Ursache für die traditionelle Reihenfolge liegt auf der Hand, wenn mandie Definitionen der universellen und partikulären Urteile bei Kant und seinenVorgängern betrachtet. Schon bei Aristoteles, De interpretatione 7, wo wir zuerstdiese drei Quantitäten vorfinden, wie auch in der an ihn anknüpfenden Traditionsehen wir, daß die Definition der partikulären Urteile jeweils genau von der Be-stimmung der universellen abhängt, wie verschieden diese auch ausfallen mag.Wird etwa das affirmative universelle Urteil, wie in der Logik Blomberg, so be-stimmt, daß die nota des Subjekts ganz in der Sphäre des Prädikats enthalten ist,so wird das affirmative partikuläre Urteil so definiert, daß die nota des Subjektsnur zum Teil, also nicht ganz, in der Sphäre des Prädikats enthalten ist. Es sinddiese Definitionen und die ihnen zugrundeliegende Auffassung, daß partikuläreUrteile in irgendeiner Form Einschränkungen der entsprechenden universellen Ur-teile sind, die die Auffassung nahelegten, partikuläre Urteile seien etwa in demSinn sekundär gegenüber universellen Urteilen, in dem man auch gemeint hat,negative Urteile seien sekundär gegenüber den entsprechenden affirmativen Ur-teilen. Kant mußte also die Reihenfolge, die er in der Kritik gewählt hat, alsselbstverständlich und die umgekehrte Reihenfolge in einer logischen Urteilstafelgeradezu als falsch erscheinen. Da nun Kant zumindest vorgibt, die Urteilstafelaus der formalen Logik als einem Leitfaden zu gewinnen, werden wir uns alsonicht mehr darüber wundern, die Quantitäten in der Reihenfolge: allgemein, be-sonders, einzeln vorzufinden. Hätte Kant nämlich die andere Reihenfolge ge-wählt, so müßten wir ihm vorwerfen, er habe sich bei der Aufstellung der Urteils-tafel von transzendentallogischen Erwägungen leiten lassen.

Betrachtet man dies als eine ausreichende Erklärung für die Gegenläufigkeit derAufzählung von Quantitätskategorien und Urteilsquantitäten, so stellt sich sofortein neues Problem, welches befriedigend gelöst werden muß, wenn wir die ersteErklärung aufrecht erhalten wollen.

In den drei Metaphysikvorlesungen nach Volckmann, von Schön und Dohna-Wundlacken fühlt sich Kant nämlich keineswegs mehr verpflichtet, die Urteils-quantitäten in der traditionellen Reihenfolge aufzuführen. Vielmehr gibt er siejetzt als einzeln, besonders, allgemein an. Für die Metaphysiken Volckmann undvon Schön mag man das so erklären, daß es Kant bei den Tafeln, in denen sichUrteilsformen und entsprechende Kategorien jeweils nebeneinander- bzw. unter-einandergeschrieben finden, um die Kategorien ging, und er auf Grund dieserDarstellungsweise die Reihenfolge der Urteilsquantitäten von der der Kategorienabhängig machen mußte, obschon er behauptet, die Tafeln, was die Urteilsformenangeht, aus der Logik zu übernehmen 19, und obgleich er die Tafel in der Meta-physik Volckmann mit der Erklärung einleitet: „Alle Urtheile können auf fol-gende Weise eingetheilt werden/'

» Metaphysik Voldtmann. XXVIII, 396, 28—30; Metaphysik von Schön, XXVIIi,480, 5 ff.

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Diese Annahme wird durch eine Bemerkung bestätigt, die Kant in der Meta-physik von Schön wenige Zeilen vor der Tafel macht 20: „Nun ist aus der Logikbekannt daß es nur 4 Formen von Urtheilen gibt. Quantitaet, und mit dieser dieModi Allgemein etc. etc. ..." Die Bezeichnung der Quantitäten durch den Aus-druck „Allgemein etc. etc." legt zumindest nahe, daß Kant auch in der Meta-physik von Schön in der formalen Logik von der Reihenfolge allgemein, beson-ders, einzeln ausgeht und nur aus Gründen der Darstellung hier in der Tafel dieReihenfolge umkehrt.

Damit könnte man für unser zweites Problem zu folgendem Schluß kommen:Kant geht in der formalen Logik von der Reihenfolge allgemein, besonders, ein-zeln aus. Bei der Beschreibung der Kategorien als Begriffen der Urteilsformen ister bereit, aus Gründen der Einfachheit der Darstellung an den Stellen von dieserReihenfolge abzusehen, an denen er nicht beansprucht, die Kategorien aus denUrteilsformen abzuleiten. In der metaphysischen Deduktion der Kritik hingegenmuß er die Urteilstafel ohne Rücksicht auf die Kategorientafel und die Einfach-heit der Beschreibung so darstellen, wie sie sich allein in der formalen Logik er-gibt.

In Wirklichkeit aber scheint die Sachlage wesentlich verwickelter zu sein. DieProlegomena nämlich und die Metaphysik Pölitz geben nicht vor, die Kategorienaus den Urteilsformen abzuleiten, und führen die Urteilsquantitäten dennoch inder Reihenfolge der Kr. d. r. V. auf. Und die Metaphysik Dohna-Wundlackenverwendet die umgekehrte Reihenfolge, ohne daß sich aus unseren bisherigen Über-legungen ein Grund dafür finden ließe, der Kant nicht auch in der MetaphysikPölitz und den Prolegomena dazu veranlaßt haben müßte, die Reihenfolge ein-zeln, besonders, allgemein zu wählen.

Es gibt nun Anzeichen dafür, daß nicht nur Gründe der Darstellungsweise, son-dern auch systematische Überlegungen Kant dazu geführt haben, die Urteilsformenin der Reihenfolge einzeln, besonders, allgemein aufzuführen.

Wie wir bereits gesehen haben, hängt die Reihenfolge der Quantitäten wesent-lich von der Auffassung der partikulären Urteile ab. Und in diesem Punkt scheintKant seine Meinung wenigstens modifiziert zu haben. Daß dazu reichlich Anlaßbestand, sieht man am besten, wenn man zunächst Kants Definitionen des univer-sellen Urteils betrachtet. Kant bestimmt diese Quantität fast durchweg so, daß einuniverselles Urteil dann vorliegt, wenn ein Prädikat vom Subjekt ohne Ausnahmegilt, bzw. nicht gilt. Nur in der Logik Busolt21 drückt er sich vorsichtiger so aus,daß ein universelles Urteil dann vorliegt, wenn ein Prädikat von einer Mengeinsgesamt ausgesagt wird. Es ist leicht zu sehen, wie man bei der Definition derpartikulären Urteile in die Irre geführt werden kann, wenn man bei der Defini-tion des universellen Urteils nicht den Unterschied zwischen Kriterien für dasVorliegen eines universellen Urteils und Kriterien für die Wahrheit eines sol-

20 480, 5—721 XXIV, 664, 34—35.

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"Hegel was the end of Western philosophy, of objectiver confident, absoluterationality, and recent philosophizing in the manner of Hegel is a contemporaryknowledge about the total!ty of a past reality" S5).

It was by challenging the isiifficiency of Hegelian thought that Jaspersdiscovered a way of escape from the dilemma into whicäi philosophyhad. thus been led. In developing his own position, Jaspers came torealize the. importance of Kant's fundamental distinction between ap-pearance and the thdng its/eäf — a posiition 'to wfhich ihe stood committed.

A similar conclusion is foxced upon us fro<m aaother set of consid-erations:

In the 'Jaspers-Volume' 36), Jaspers is concerned with an attempt toansweor Ms Critics. It is significant thai Jaspers in seeking to andiorinquiry in Existence and Transcendence and, particularly, the Encompas-sing in an analogical effort to Kantian transcendental thinking("'all of which point to one, the Encompassing of everything Bncompass-mgu 37) seems to. be moving under the control of the regulative prin-ciple. He points out that

*By the guiding thread of psychological. methodological, and metaphysicaiobjecüfications Kant thinks that which itself is none of these objectifications,although being the necessary condition of all of them, that wiüdi itself isneither subject nor object" 88J.Jaspers' argument against mere isatisfaction with the knowledge of tan-gible objects prooeeds throughoiit cm the principle th'ait

"Kant's transcendental thinking can be understood only if one rejects theseinterpretations, which lead on to unequivocal, objective tracks, and throwsoneself instead with Kant into the language of Symbols, guided by multifariousthreads, any one of which may contradict any other one, so long äs one takesthe guiding lines themselves äs direct assertions"39).

It may be helpful to note that"One only begins to linderst and, if, with Kant, one ascertains that which,

toudied by all guiding lines although struck by none, in the totality of thisonly seemingly perplexing procedure becomes beautifully clear".40)

The füll extent of this Kantian Interpretation which illustrates —according to Jaspers' own views — 'the method of (thinking the Encom-passing' will become more apparent when we come to deal with thebasic question:

"shall we be satisfied with knowledge of tangible objects — and reject allthinking which goes beyond this äs "empty chatter", äs "romantic fancy", äs'metaphysics"? — in other words: shall we practice science only and not philos-sophy?" 41).

In the perspectives defined,'shall we give up the basic Operation just because we are not immediately

successful?, and, by doing so, remain under the spell of the objects which aretaken for absolute reality or of the propositions whidi Claim absolute valid-ity?"4g).

35) Jaspers, "Reason and Existenz*, o. c. p. 128.36) "The Philosophy of Karl Jaspers". Ed. by Paul Arthur Schilpp (Library öl

Living Philosophers, Tudor Publ. Co. New York, 1957), pp. 749 ff.l7) Jaspers-volume, o. c. 'Jaspers' Reply", p. 792.39) Jaspers. o. c. p. 792.M) Jaspers, o. c. p. 793.^j Jaspers, o. c. p. 793.41) Jaspers, o. c. p. 793. .«*) Jaspers, o. c. p. 793.

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es, wie wir sehen werden, in der Tendenz der Betrachtung der Logik in derKr. d. r. V.t der neuen Reihenfolge auch den systematischen Vorzug zu geben.

Nun lesen wir in der Fußnote zu „iudicia plurativa" im § 20 der Prolegomena:„So wollte ich lieber die Urtheile genannt wissen, die man in der Logik, parti-

cularia nennt. Denn der letztere Ausdruck enthält schon den Gedanken, daß sienicht allgemein sind. Wenn ich aber von der Einheit (in einzelnen Urtheilen) an-hebe und so zur Allheit fortgehe, so kann ich noch keine Beziehung auf die Allheitbeimischen: ich denke nur die Vielheit ohne Allheit, nicht die Ausnahme von der-selben. Dieses ist nöthig, wenn die logisdien Momente den reinen Verstandesbegrif-fen untergelegt werden sollen; im logischen Gebrauche kann man es beim Altenlassen."

Wenn wir dies also lesen, so könnten wir geneigt sein, auch schon hier unsereAnnahme bestätigt zu sehen, daß Kant seine Interpretation der iudicia particula-ria geändert hat. Und dies wäre wohl möglich, wenn nicht der letzte Satz unmiß-verständlich nicht nur besagte, daß man in der formalen Logik den Ausdruck„particularia" ruhig weiter verwenden dürfe, sondern auch überdies, daß man inder formalen Logik auch weiterhin die Vielheit als Ausnahme von der Allheitdenken könne. Es ist nur die transzendentale Betrachtungsweise, die ein solchesVorgehen verbietet, weil offensichtlich nach Kants Meinung partikuläre Urteile alsFormen der Synthesis nicht auch dadurch bestimmt sein können, daß sie nicht all-gemein sind.

Dieser Gedanke scheint freilich unvereinbar mit der Annahme zu sein, daß dieKategorien Begriffe von den Formen der Synthesis sind, wenn man darunter auchversteht, daß die Kategorien diese Formen vollständig bestimmen. Denn wenig-stens nach dieser Interpretation der Prolegomena ist die Urteilsform partikulärdurch mehr bestimmt als die Kategorie der Vielheit, was dadurch zum Ausdruckkommt, daß die formallogische Reihenfolge der Quantitäten genau umgekehrt zurtranszendentallogischen verläuft.

Die gleiche Schwierigkeit ergibt sich übrigens auch bei den singulären Urteilen.Sie sind nach der Theorie Kants und seiner Vorgänger formallogisch dadurch be-stimmt, daß ihr Subjektsbegriff der Begriff von einem einzigen Gegenstand 27 ist.Die transzendentallogische Bestimmung durch die Kategorie der Einheit dagegenist insofern schwächer, als es über einen Gegenstand auch Urteile der verschieden-sten Form gibt, deren Subjekt nicht der Begriff von einem einzigen Gegenstandist.

Unsere bisherigen Untersuchungen können wir folgendermaßen zusammenfas-sen:

1. Bis in die Zeit der Prolegomena geht Kant von der traditionellen Annahmeaus, die richtige Reihenfolge der Urteilsquantitäten sei die, welche er auch in derKr. d. r. V. verwendet: allgemein, besonders, einzeln.

27 Vgl. vor allem: Kant, Logik Blomberg, XXIV, 275, 32 f.; Logik Philippi, 463, 15—17; Logik Pölitz, 578, 22—26; Logik Busolt, 665, 3—4; Wiener Logik, 931, 23—27, vgl.auch Jäsche, IX, 102, 16—18; Kr. d. r. V., A 71.

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2. In den Prolegomena kommt in der zitierten Fußnote eine Überlegung zumAusdruck, nach der vom transzendentallogischen Standpunkt aus die Reihenfolgeder Urteilsquantitäten die umgekehrte sein müßte. Dennoch findet es Kant nichtnötig, in der unmittelbar folgenden Urteilstafel die Anordnung entsprechend zuändern; vielmehr hält er an der traditionellen Darstellung fest und räumt aus-drücklich ein, in der Logik könne es beim alten bleiben. Ob er eine andere Dar-stellung der Urteilslehre in der formalen Logik geben könnte, die doch den üb-lichen Erfordernissen (insbesondere der Geltung der Subalternation und der Äqui-valenz von allgemeinen und einzelnen Urteilen in der Schlußlehre) genügen wür-de, bleibt hier offen.

3. Die transzendentallogische Erwägung über die besonderen Urteile dürfte aberdazu beigetragen haben, daß Kant dann auch in der formalen Logik dazu neigt,

i l seine ohnehin unzureichende Auffassung von den partikulären Urteilen in derRichtung zu revidieren, daß er nun vorzieht, sie „pluralia" oder „plurativa" zu

, | nennen. Diese Revision bleibt allerdings in der formalen Logik ohne Konsequen-zen; sie wäre ja auch mit der traditionellen Theorie unvereinbar28 und würde

i eine durchgreifende Umgestaltung nicht nur der Urteilslehre erfordern, ein Um-stand, auf den Kant nicht gefaßt war und den er dementsprechend nicht bemerkthat. Er behält in seinen Logikvorlesungen ausnahmslos die irreführende Bestim-mung der Quantitäten bei und beläßt es mit ausdrücklichem Hinweis auf dieTradition29 bei dem alten Ausdruck „partikulär" und der damit verbundenenReihenfolge der Quantitäten.

4. In den Metaphysikvorlesungen der kritischen Zeit scheint er sich jedoch nichtmehr an die traditionelle Reihenfolge gebunden zu fühlen, sondern führt die Ur-teilsquantitäten in der Ordnung singulär, partikulär, universell auf30.

II

Die unterschiedliche Behandlung der Urteilsquantitäten in der Logik und in derMetaphysik bestärkt das oben anläßlich der Interpretation der Fußnote zu § 20der Prolegomena geäußerte Bedenken, daß die in der formalen Logik aufweis-baren Formen der Synthesis möglicherweise nicht genau mit denen übereinstimmen,die in den Kategorien auf den Begriff gebracht sein sollten. Ein solches Bedenkenstellt zwar nicht die Tatsache in Frage, daß Kant die Zuordnung A von Urteils-quantitäten und Quantitätskategorien wirklich behauptet hat; aber es macht denSinn und die Berechtigung einer derartigen unmittelbaren Zuordnung zweifelhaft.Daher wollen wir in diesem zweiten Abschnitt versuchen, die von Kant getroffene

M S. oben S. 35.» Logik Politz, XXIV 577, 36—37." Metaph. Volckmann XXVII 396; Met. v. Schön, XXVIII 480; Met. Dohna-Wund-,

lacken ed. Kowalewski S. 535; eine Ausnahme bildet vielleicht: Met. Pölitz S. 28; vgl.aber dazu Fußnote 12.

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Zuordnung aus seiner transzendentalen Theorie verständlich zu machen. Durchden Blick auf den philosophischen Hintergrund des im Abschnitt I dargelegtenTextbefundes wird sich ergeben, daß Kant wenigstens gesehen hat, welche Be-hauptungen er in Anspruch nehmen mußte, wenn er eine Diskrepanz zwischenlogischer Urteilslehre und transzendentaler Kategorienlehre vermeiden wollte.Daraus erklären sich Existenz und Eigenart einiger unscheinbarer, aber dochgrundsätzlicher Änderungen, die Kant in der äußeren Darstellung der Urteilslehrevorgenommen hat. Sie werden sich als Konsequenzen seiner neuen Lehre von Be-griff und Urteil erweisen, wie sie bereits in der Kr. d. r. V. enthalten ist. Anderer-seits war Kant in der kritischen Zeit so wenig mehr an Logik interessiert, daß ergewisse Probleme, die sich aus seiner Abänderung der Urteilslehre ergeben, inkeiner Weise erwartet und deshalb auch nicht bemerkt oder gar bearbeitet hat.

Bei der Behandlung von Kants philosophischer Theorie der Urteilsformen undihres Zusammenhanges mit den Kategorien wird sich überdies eine weitere Be-stätigung der Zuordnung A durch den Nachweis ergeben, daß sich diese Zuordnungder Kantischen Theorie im ganzen einfügen läßt, während die Zuordnung B ihrzuwiderläuft.

Wir gehen davon aus, daß in der traditionellen Logik die Begriffslehre derUrteilslehre vorangeht; in der ersten wird bereits die Unterscheidung von Einzel-begriffen und Allgemeinbegriffen eingeführt31. Damit liegt eine Dichotomie derUrteile hinsichtlich ihrer Quantität in judicia singularia und communia bereits fest,der dann in einem zweiten Schritt eine weitere Dichotomie der communia in uni-versalia und particularia angeschlossen wird 32.

Eine derartige Einführung der Urteilsquantitäten verletzt nun aber nach KantsAuffassung des „logischen Verstandesgebrauchs überhaupt" (B 92—94) die von derSache her angezeigte Ordnung. Es kommt Kant darauf an zu zeigen, daß derzunächst noch (B 75) in der üblichen Weise als Vermögen der Begriffe eingeführteVerstand besser als ein „Vermögen zu urteilen" (B 94) anzusehen sei; denn Urtei-len ist eine „Verstandeshandlung, die alle übrigen enthält" 33. Wenn der Verstanddurch Spontaneität bestimmt ist, so müssen die seine Leistung kennzeichnendengrundlegenden Formen solche einer Tätigkeit, eben des Urteilens, sein.

Damit entfällt auch die herkömmliche Möglichkeit, die Urteilsquantitäten ineiner zweifachen Dichotomie einzuführen, die dann in der Aufzählung der Quan-titäten traditionell zu den Reihenfolgen einzeln, allgemein, besonders und allge-mein, besonders, einzeln führt. Sie entfällt einmal, weil sie bereits eine Begriffs-lehre voraussetzt, in der schon Einzel- und gemeingültige Begriffe unterschiedenworden sind; sie entfällt aber auch, weil auf Grund einer solchen doppelten Dicho-tomie die Formen des universellen und des partikulären Urteils als sekundärgegenüber der Form des generellen Urteils erscheinen müssen.

31 VgL z. B. G. F. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, § 260.32 Meier, § 301.33 Pro/. § 39.

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Kant dagegen führt in den Urteilstafeln die drei Quantitäten als gleichberech-tigt nebeneinander auf und gibt verschiedentlich ausdrückliche, z. T. sogar mit Be-gründungen verbundene Hinweise darauf, daß wir keine dichotomische Einteilung,sondern eine Trichotomie vorfinden 34.

Dieser Gedanke einer Trichotomie gleichberechtigter Fälle ist, wie schon ange-deutet, für die metaphysische Deduktion der Kategorien an Hand eines Leit-fadens, also für die ganze systematische Konstruktion der transzendentalen Logik,von entscheidender Bedeutung. Wollte Kant an dieser Deduktion festhalten, somußte er auf jeden Fall die Gleichberechtigung und Irreduzibilität aller in seinerTafel aufgeführten Urteilsformen behaupten.

Die hierbei umstrittenen Fälle der einzelnen und unendlichen Urteile haben ihnauch dazu veranlaßt, sich in diesem Sinn später entschiedener als in der Kr. d. r. V.selbst zu äußern. Dabei ist ihm der Gedanke wichtig, daß gerade schon in der

|formalen Logik die verschiedenen „actus des Verstandes"35 angetroffen undi unterschieden werden können. Aus derartigen Äußerungen Kants geht hervor, daß| er bereit war, Konsequenzen aus der Behauptung zu ziehen, die formale Logikj könne zum Leitfaden einer metaphysischen Deduktion dienen, die auf einer un-; mittelbaren Zuordnung von Urteilsformen und Kategorien beruhe.

Betrachtet man freilich näher, wie Kant in der formalen Logik die Einzelurteilecharakterisiert oder mit Beispielen belegt, so stellt man fest,, daß er sie nur durchdie Art des Subjektbegriffs von den universellen Urteilen unterscheidet; sie habeneinen Einzelbegriff als Subjekt. Diese Bestimmung aber setzt die dichotomischeEinteilung der Urteile voraus, die Kant in der Deduktion zurückweisen muß.

Wir haben hier also eine Erklärung für die oben erwähnte Diskrepanz zwischenKants Theorie der singulären Urteile in der formalen Logik und dem Begriff derEinheit, der diese Urteilsform bestimmen soll. Kants Interpretation der Urteils-tafel als einer Tafel von ursprünglichen, von einander unabhängigen Urteilsfunk-tionen setzt eine logische Theorie voraus, über die er gar nicht verfügt.

Anders jedoch als die singulären Urteile hat Kant die partikulären Urteile, wieschon erwähnt36, tatsächlich neu und nunmehr unabhängig von den allgemeinenzu bestimmen versucht. Mit den dabei leitenden Gedanken steht die erwähnte37

Tendenz zu einer neuen Reihenfolge der Urteilsquantitäten in engem Zusammen-hang. Um diese Entwicklungen in der Urteilslehre und ihren Zusammenhang mitder Frage der Zuordnung zu den Kategorien zu verstehen, muß man die Stellungder formalen Logik in der Kr. d. r. V. genauer betrachten.

Dabei ist zunädist zu bemerken, daß die formale Logik — unbeschadet der selb-ständigen und unmittelbaren Gegebenheit ihrer einzelnen Formen — von Kantausdrücklich in die transzendentale Theorie aller Erkenntnis einbezogen wird38.

*4 Kr. d. r. V. B 110; Kr. d. U., Fußnote am Ende der Einleitung, V 197; Refl. 5854,XVIII 370; Brief an Sdiultz vom 17. 2. 1784, X, 343 ff.

35 Logik Pölitz XXIV, 577, 27—28; Wiener Logik XXIV, 929, 22.se S. 35.37 S. 37, Punkt 4.38 Vgl. bes. B 133 n.

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Entsprechend wird gleich zu Beginn der transzendentalen Logik (B 74 ff.) die all-gemeine Logik als Wissenschaft von den „schlechthin notwendigen Regeln desDenkens" als Teil der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt eingeführt. Derfür das Erkennen maßgebliche Gesichtspunkt der Einheit von Vorstellungen ist zu-gleich auch derjenige, der Abgrenzung und Ordnung, also ein systematischesGanzes der formalen Logik zu finden gestattet.

Es liegt nun aber in der Absicht Kants, im Zusammenhang seiner kritischenTheoria den Begriff der Erkenntnis auf Erkenntnis von Gegenständen der An-schauung zu beschränken. Genauso bringt das transzendentalphilosophische Inter-esse Kant dazu, „die logische Form aller Urteile" in der „objektiven Einheit derApperzeption" 39 zu sehen, d. h. in dem Bewußtsein, daß die im Urteil vorkom-menden Vorstellungen „im Objekt ... verbunden" seien. Diese Verbindung wirdder bloßen Assoziation von Wahrnehmungen gegenübergestellt, so daß es wieder-um nahe liegt, nur noch an Objekte der sinnlichen Wahrnehmung zu denken; jaKant definiert geradezu: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfal-tige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist" 40.

Es ist hier nicht möglich, auf die Probleme einzugehen, die sich aus einer Bin-dung der logischen Formen an den Zweck der Erkenntnis von ausschließlich sinn-lichen Objekten ergeben würden. Man muß bezweifeln, daß Kant im Ernste einesolche Einschränkung der allgemeinen Logik beabsichtigt haben könnte. Aber daßer sich de facto an anschaulicher Erkenntnis orientiert, darf nicht übersehen wer-den.

Explizit formuliert er die Verbindung logischer Urteilsformen mit Erkenntnissinnlicher Objekte in seiner „Erklärung der Kategorien" (B 128/9), die er wahr-scheinlich gerade im Hinblick auf die in der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. neuherausgestellte Bedeutung von „Urteil" dem ursprünglichen Text der Oberleitungzur transzendentalen Deduktion hinzugefügt hat. Eine genaue Interpretation die-ser Stelle, insbesondere unter Einschluß des einzigen von Kant angegebenen Bei-spiels, ist nicht leicht. Die Kommentatoren erwähnen diese Stelle meist nur flüch-tig, wenn überhaupt. Eine Ausnahme macht Grayeff, der sie mit Beispielen füralle vier Kategorientitel ergänzt und ausführlich diskutiert41.

Wir wollen zunächst Kants Erklärung behandeln, um zu zeigen, daß sie dieZuordnung A rechtfertigt; anschließend besprechen wir Grayeff s Interpretation,wobei sich ergibt, daß die Zuordnung B sich in Kants Theorie nicht einfügen läßt.Kants Formel lautet: „Kategorien sind Begriffe von einem Gegenstande über-haupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logisdien Funktionenzu Urteilen als bestimmt angesehen wird" (B 128). Nach unseren Überlegungen

39 B 140; kursiv von uns.40 B 137; kursiv von uns.41 F. Grayeff, Deutung und Darstellung der theoretischen Philosophie Kants. Ein

Kommentar zu den grundlegenden Teilen der Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1951.

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muß ein Akzent auf das Wort „Anschauung" gelegt werden42. Es ist ja überdiesaus der Ableitung der Kategorien in § 10 klar, daß ihr Sinn darin besteht, Begriffevon der „Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung" (B 105) vor-zustellen. Überlegt man sich nun, welcher Art die Synthesis in einer Anschauungsein muß, damit Urteile über sie hinsichtlich ihrer Quantität als bestimmt ange-sehen werden können43, so ergibt, sich als einzige plausible Antwort: wir'müssendas Mannigfaltige so synthetisieren können, daß wir einen, mehrere oder eineGesamtheit von Gegenständen vor uns haben; dann werden wir jeweils einzelne,plurative oder allgemeine Urteile fällen können. Damit bestätigt sich also die„normale" Zuordnung A von Urteilsquantitäten und Kategorien der Quantität.

Es soll weiterhin gezeigt werden, daß die „gegenläufige" Zuordnung B mitKants Theorie nicht verträglich ist. Denn zunächst liegt es ja nahe, in folgenderWeise zu argumentieren: Für die Erkenntnis ist niemals ein Gegenstand gegeben,er muß vielmehr allererst vom Verstande konstituiert werden. Dies kann der Ver-stand aber nur vermittels Begriffen leisten, indem er sie auf ein anschaulichesMannigfaltiges in spontaner Synthesis anwendet. Kann man jedoch einen Gegen-stand zunächst nur als Einheit, d. h. durch einen einzigen Begriff vorstellen, so sindAussagen nur mit diesem Begriff möglich, also nur Aussagen, die für die Gesamt-heit der durch den Begriff gekennzeichneten Gegenstände zugleich zutreffen, alsoallgemeine Urteile. Partikuläre Urteile setzen eine weiter differenzierte Beschrei-bung des Gegenstandes durch mehrere Begriffe (d. h. eine Beurteilung unter demTitel Vielheit) voraus, mit deren Hilfe sich weitere Einschränkungen innerhalbder zunächst durch den ersten Begriff bestimmten Subjektsklasse machen lassen; einIndividuum schließlich wird erst durch eine Allheit von Begriffen faßbar, und da-mit als Gegenstand möglicher Urteile konstituiert.

In ähnlicher Weise hat F. Grayeff argumentiert44. Er macht darauf aufmerk-sam, daß allgemeine Urteile eine „begriffliche Einheit" begründen, indem sie einPrädikat einheitlich auf die gesamte Sphäre eines Subjektsbegriffs beziehen; ein-zelne Urteile dagegen beziehen das Prädikat auf eine Allheit von Begriffen, diezusammen den Inhalt des Subjektsbegriffs ausmachen, und begründen so „begriff-liche Allheit". Sowohl Grayeffs wie unsere Ausführung des Gedankens von derursprünglichen Konstitution von Objekten durch Begriffe läuft also darauf hin-aus, daß die Kategorien zu Begriffen von der Anzahl der Prädikate gemacht wer-den, die bei einer logischen Analyse von Urteilen und Begriffen im Prinzip vor-

42 Man vgl. z. B. Refl. 5854: „Categorie ist der Begrif, durch den ein oblect überhauptin Ansehung einer logisdien Function der Urtheile überhaupt (d. i. der obiectiven Einheitim Bewustseyn des Mannigfaltigen) als bestimmt angesehen wird, d. i. dass ich dasMannigfaltige seiner Ansdiauung durch eines dieser Momente des Verstandes denkenmüsse." Vgl. ferner Refl. 5643, XVIII 283,18—20; RefL 5927, XVIII 388, 29—31.

41 Wir glauben nicht die Interpretation für alle Kategorientitel an das von Kant ge-nannte Beispiel unmittelbar anschließen zu sollen. Über die damit verbundenen Problemevgl. man H. J. de Vleeschauwer, La deduction transcendantalc dans l'octtvrc de Kant,tom. III, 81—84. Paris 1937.

44 Op. dt., p. 107.

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ausgesetzt sind. Dies ist aber nicht die ursprüngliche Rolle der Kategorien, Be-griffe von der Synthesis eines anschaulichen Mannigfaltigen zu sein. Sie ist alsomit Kants Erklärung auf B 128 nicht verträglich. Grayeff betont selbst, daß dieKategorie eine Beziehung auf Anschauung verlangt; denn er läßt das Einzelurteilzwar die begriffliche Form der Allheit anzeigen, fährt dann aber fort: „aber erstdie Kategorie ermöglicht es, Allheit von Vorstellungen anzuschauen"45. Kant ver-langt jedoch, eine Anschauung als Allheit zu bestimmen, nicht aber den sie be-treffenden Begriff.

Verdeutlicht wird dies dadurch, daß Kant selbst die Quantitäten in ihrer (se-kundären) Anwendung auf die Prädikate eines Dinges ausdrücklich bespricht undsie dabei als „logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntnis der Dinge über-haupt" den'Kategorien gegenüberstellt 4 .

J. M. O'Sullivan 47 hat — allerdings ohne wie Grayeff auf die Erklärung derKategorien B 128/9 einzugehen — den Konstitutionsgedanken insofern subtilerausgeführt, als er die einzelnen Quantitätskategorien überhaupt nicht unmittelbarauf Anzahl beziehen will, sondern sie als „die notwendigen Momente der Ge-dankenform, nach der wir das mannigfaltige Gleichartige verbinden" 48, ansieht,welche alle zusammen erst zählbare Objekte aus dem Mannigfaltigen herauszu-heben gestatten. Das allgemeine Urteil betone den allgemeinen Begriff, der gleich-artige Einheiten ermöglicht oder symbolisiert; das partikuläre Urteil betone da-gegen die Individuen in ihrer Getrennheit. Das einzelne Urteil sei als einzigesdurch Bestimmtheit seiner Quantität ausgezeichnet, und es sei deshalb nicht über-raschend, daß es der Totalität, die sich ebenfalls durch Bestimmtheit auszeichne, zu-geordnet werde. Mit diesen Überlegungen will O'Sullivan die Zuordnung B be-gründen.

Wir wissen bereits, daß sein Ergebnis dem Textbestand eindeutig widerspricht;aber es mag nützlich sein zu sehen, in welcher Weise der zunächst einleuchtendeAnsatz O'Sullivans bei seiner ohnehin unbefriedigenden Durchführung von unse-rem Standpunkt 'aus seine Überzeugungskraft verliert. Die in Allurteilen, wieO'Sullivan zu Recht meint, hervorgehobene Einheit ist 'die einer qualitativenHomogenität, die uns gestattet, Verschiedenes unter denselben Begriff zu bringen.Wäre nun aber das, was hier unter den einen Begriff fällt, nicht zugleich schon alsvieles (etwa in einer „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis", B 212)erkannt, so ließe sich eine zugehörige Quantität des Urteils gar nicht bestimmen.Entweder also gibt man entgegen O'Sullivans Absicht zu, daß doch eine zu einerGesamtheit vereinigte Vielheit in der Anschauung die Urteilsquantität bestimmt,oder man muß darauf zurückkommen, daß.die Einheit eben die eines einzelnen

45 Op. dt., p. 123.49 Kr. d. r. V. § 12; vgl. audi Refl. 5561: „Diese Begriffe sind nidit die categorien

von Dingen, sondern logische Criterien der Uebereinstimmung mit den Gesetzen des Ver-standes."

47 Vergleich der Metboden Kants und Hegels auf Grund ihrer Behandlung der Katego-rie der Quantität. Berlin 1908.

48 J. M. O'Sullivan, S. 60.

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Begriffes sei, womit man sich, wie oben erläutert, in Gegensatz zu B 128 bringt49.Was die partikulären Urteile angeht, so behauptet O'Sullivan dasselbe wie wir:sie beziehen sich auf die Beurteilung des Urteilsinhalts als einer Vielheit getrennterIndividuen. Bei der Zuordnung der einzelnen Urteile schließlich zur Allheitschreibt O'Sullivan der Allheit als charakteristische Eigenschaft die Bestimmtheitzu. Diese Kennzeichnung paßt aber nur auf die Gesamtheit aller Prädikate einesIndividuums, das unter dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmtheit, als einemlogisdien Erfordernis aller Erkenntnis (s. o.), stehend gedacht werden muß. Allheitin der Anschauung dagegen, auf die es ankäme, ist nicht immer durch Bestimmtheitausgezeichnet, wie die empirischen Allurteile deutlich zeigen.

Es bleibt das wichtigste Argument O'Sullivans zu besprechen, daß nämlich dieZahl sich allererst aus der „Anwendung der ganzen Kategorie, deren MomenteEinheit, Vielheit und Allheit sind"50 auf die Sinneswahrnehmung ergebe. Tat-

. sächlich erscheint ja die Zahl als einziges Schema für alle drei Quantitätskatego-rien zugleich. Eine Erklärung hierfür können wir jedoch anders als O'Sullivan

! und so, daß die Zuordnung A nicht gestört wird, geben: die logischen Quantitäteni sind, zumindest was Vielheit und Allheit angeht, sicherlich nicht unmittelbar ir-

gendwelchen Zahlen zuzuordnen. Wenn nun Zahl das einzige Schema der Quantitätist, und wenn die Schemate dazu dienen sollen, den Kategorien Bedeutung (d. h.mögliche Beziehung auf ein Objekt) zu verleihen, dann muß das doch wohl hei-ßen, daß der anschauliche Sinn der Quantitätskategorien im Hinblick auf abzähl-bare Mengen gewonnen werden soll, die Zahlen repräsentieren51. Es ist nach die-ser Anweisung Kants kaum mehr anders möglich, als Einheit durch die Eins, Viel-heit durch eine Vereinigung von Einsen und Allheit durch eine Zusammenfassungvon Einsen zu einer bestimmten Anzahl zu schematisieren. Diese Erklärung läßtauch erkennen, in welchem Sinne erst beim Zusammenwirken aller drei Katego-rien von Zahl die Rede sein kann, und warum Kant gelegentlich die Zahl speziellder Allheit zuordnet52.

Die hier vorgenommene Zuordnung der logischen Quantitäten zu Zahlvorstel-lungen entspricht offensichtlich der Kantischen Anweisung, wie den KategorienBedeutung zu verschaffen sei; sie entspricht auch dem natürlichen Verständnisvom Sinn der logischen Quantitäten53; sie steht ferner im Einklang mit B 128.Und es zeigt sich bei der Schematisierung, wieso sich die „natürliche" Reihenfolge

49 Im § 12 der Kr. d. r. V. untersdieidet Kant von der Einheit im Sinne der Quantitäts-kategorie eine „qualitative Einheit" und identifiziert sie mit der Einheit des Begriffs; wasdie Vermutung stützt, O'Sullivans Versuch komme auf dasselbe hinaus wie der Grayeffs,nämlich Verwendung der Quantitätskategorien zur Abzählung von Prädikaten." O'Sullivan, S. 60.51 Zahl als Sdiema ist nur die Regel zur Erzeugung der Anschauung von zählbaren

Mengen.« B i l l ; Rcfl. 6338a, XVIII 660.M Ober die Probleme bei dieser Deutung der Vielheit, die sich für die partikulären Ur-

teile ergeben, s. u.

.43Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek ZürichAuthenticated | 130.60.206.43

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ergibt, in der Kant von der Einheit (in einzelnen Urteilen) anheben und so zurAllheit fortgehen will M.

Diese Überlegungen machen nicht nur deutlich, daß die vorliegenden Interpreta-tionen der Zuordnung B unzureichend sind, wodurch die Zuordnung A wiederumbestätigt wird; sie lassen auch die Gründe erkennen, die Kant zur Deutung derbesonderen Urteile als plurativer und zur Reihenfolge einzeln — besonders — all-gemein führen konnten.

Wer/n Urteile in erster Linie unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, daßsie zur Beurteilung eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen dienen,dann liegt die Annahme nahe, daß partikuläre Urteile genau dann verwendet wer-den, wenn es gilt, ein als eine Vielheit bestimmtes Mannigfaltiges zu beurteilen.Denn da einzelne Gegenstände, wenn sie in der Anschauung gegeben sind, sich ein-deutig bestimmen lassen, wird man zu ihrer Beurteilung in der Regel singulärcUrteile verwenden; und verwendet man dennoch Urteile von der Form „ein S istein P", dann wird sich immer die Frage „welches S?" beantworten und das parti-kuläre durch ein singuläres Urteil ersetzen lassen.

Hier zeigt sich, welche Konsequenzen eine unmittelbare Beziehung von Urteils-formen auf die durch abzählbare Mengen darstellbaren Quantitätskategorien hat:Wenn nämlich partikuläre Urteile als plurative verstanden werden sollen, müssensie einer Konjunktion endlich vieler Einzelurteile (oder allenfalls einer Disjunktionsolcher Konjunktionen) 55 äquivalent sein. Man wird weiterhin Allurteile als (mög-licherweise unendliche) Konjunktionen von Einzelurteilen auffassen können, sodaß der Mittelstellung der besonderen Urteile zwischen den einzelnen und denallgemeinen ein guter Sinn zukommt. Damit ist eine Distributionstheorie des Sub-jektsbegriffs vorausgesetzt, nach der „einige S" genau auf einige, nicht ausdrücklichgenannte, aber im Prinzip bestimmte, S bezogen ist. In Wahrheit aber beziehensich partikuläre Urteile im herkömmlichen Sinne, mögen sie nun von der Form„einige S sind P" oder „ein S ist P" sein, ebenso wie die entsprechenden allge-meinen Urteile, auf die gesamte Klasse der S zugleich. Am leichtesten erkennt mandies, wenn man beachtet, daß partikuläre Urteile als Äquivalent zu einer (mög-licherweise unendlichen) Disjunktion angesehen werden können, die auf alleIndividuen der Klasse S Bezug nehmen muß.

Daran sieht man, daß Kants plurative Urteile in der Logik nicht mehr den Platzder partikulären Urteile einnehmen können und daß die an diesen Platz gehöri-gen besonderen Urteile bei Kant überhaupt nicht mehr vorkommen.

Schließlich liegt es nahe, Kants direkte Beziehung der Urteile aller Quantitätenauf die Erfahrung mit dem Umstand in Verbindung zu bringen, daß in derReihenfolge der Urteilsquantitäten nicht nur die besonderen Urteile in der Mitte,sondern auch die einzelnen Urteile an den Anfang, die allgemeinen Urteile aberans Ende gehören. Diese neue Abfolge kann sehr wohl auch durch den Gedanken

54 Pro/., § 20 n.55 Diese Bedingung schließt aus, daß ein pluratives Urteil audi dann wahr sein könnte,

wenn es nur von einem einzigen Gegenstand gilt.

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bestimmt sein, daß Urteile über Anschauung zunächst immer Einzelnes betreffenund daß man zu Allurteilen erst dadurch gelangt, daß man sieht, daß ein partiku-läres Urteil universelle Gültigkeit hat, indem man eine Vielheit zu einer Einheitzusammenfaßt5 .

In diesem Zusammenhang mag die Anmerkung von Interesse sein, daß ver-schiedene Zeitgenossen Kants wie Reimarus57 und Hennings58 in ihrer Urteils-lehre, in der sie die traditionelle Reihenfolge der Quantitäten befolgen, daraufhinweisen, daß die menschliche Erfahrung jedoch in der Reihenfolge einzeln — be-sonders — allgemein fortschreitet.

III

In den vorangehenden Überlegungen haben wir im Hinblick auf die §§ 10 undund 19 der Kr. d. r. V. den Wortlaut von Kants „Erklärung der Kategorien"in B 128 so einfach wie möglich zu verstehen versucht. Diese Auffassung von demVerhältnis zwischen Urteilsformen und Kategorien setzt sich jedoch einem gewich-tigen Einwand aus. Wir waren gezwungen, die in den Quantitätskategorien be-grifflich gefaßte Synthesis so festzulegen, daß ihr Ergebnis eine anschauliche Mengediskreter Einheiten ist. Denn nur so wird verständlich, wie diese Synthesis dieQuantität von Urteilen bestimmen kann. Gegen diese Interpretation aber scheintnun zu sprechen, daß Kant im Grundsatzkapitel der Kr. d. r. V. die Quantitäts-kategorien allein mit Hinsicht auf kontinuierliche Anschauung verwendet.

Man könnte dieser Schwierigkeit dadurch zu entgehen suchen, daß man an-nimmt, wie es Bennett5Ö auch getan hat, daß die Quantitätskategorien im Grund-satzkapitel in Wirklichkeit ganz andere Begriffe sind als die auf einen Begriff ge-brachten Urteilsfunktionen. Aber selbst, wenn diese Annahme der Sache nach rich-tig sein sollte, entfiele unser Interpretationsproblem nur unter der zusätzlichenAnnahme, daß Kant entweder die Identität der Quantitätsbegriffe in Kategorien-tafel und Grundsatzkapitel ohne weitere Überlegung (zu Unrecht) vorausgesetztoder die Frage ihrer Identität zwar bedacht, aber negativ entschieden habe. Dieseweitere Annahme aber ist mit Sicherheit falsch. Denn die Tatsache, daß Kant inder Kategorientafel der Prolegomena die Bezeichnungen „Einheit", „Vielheit" und„Allheit" jeweils in Klammern durch die Ausdrücke „Maß", „Größe" und „Gan-zes" ergänzt, zeigt, daß er jedenfalls ausdrücklich den Anspruch erhoben hat, die

51 Man könnte natürlich die neue Reihenfolge der Urteilsquantitäten auch einfach ausder Angleidiung an die Ordnung der Kategorien und deren Ordnung, wie vielfach ge-schehen, aus B 110/111 begründen wollen. Wir versuchen hier darüberhinausgehend, beideReihenfolgen aus der Theorie des objektiven Urteilens, in der sie miteinander verbundensind, verständlich zu machen.

w Die Vernunftlehre, Hamburg 1758, $ 141.M Kritisch historisches tehrbuch der theoretischen Philosophie, Leipzig 1774, S. 159.*· Kant** Analytic, S. 94.

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Quantitätsbcgriffe, die die Urteilsquantität bestimmen, seien auch genau die Be-griffe, die als Maß, Größe, Ganzes auf das kontinuierliche Mannigfaltige ange-wendet werden.

Dieser Anspruch muß uns, wenn unsere bisherige Interpretation zutrifft, er-warten lassen, daß sich auch eine entsprechende Beziehung zwischen den Urteils-quantitäten und den Quantitätsbegriffen Maß, Größe und Ganzes herstellen läßt,wie wir sie für die Begriffe Einheit, Vielheit und Allheit gefordert haben. Deshalbsoll in diesem dritten Abschnitt kurz versucht werden, das Verhältnis von Quanti-tätskatcgorien, insofern sie die Quantitäten der Urteile bestimmen, und Quanti-tätskategonen als Begriffen kontinuierlicher Anschauung näher zu bestimmen,zumal die Unsicherheit über dieses Verhältnis wesentlich dazu beigetragen habendürfte, daß die Beziehung zwischen Urteilsquantitäten und Quantitätskategorienim einzelnen und damit auch die Frage ihrer gegenseitigen Zuordnung noch nichthinreichend untersucht worden ist.

Wir haben gesehen, daß Kant in der Tafel der Prolegomena ausdrücklich daraufhinweisen wollte, daß die Quantitätskategorien — freilich unter anderem Na-men — auch die kontinuierlichen Größen bestimmen, die Kant durch die Bezeich-nung „Quanta" von der diskreten Größe, der Quantitas (oder der „bloßen Größe",B 745), zu unterscheiden pflegt 60. Diese Ausdehnung des Größenbegriffs auf denFall des Kontinuums mußte ihm besonders wichtig sein, da Raum und Zeit (B 211)und damit auch alle Erscheinungen überhaupt (B 212) kontinuierliche Größensind.

Im Einklang damit handeln die „Axiome der Anschauung" in der These unddem Beweis (der Auflage B) nur von Größen im Sinne des Quantums und schei-nen die Gültigkeit in aller Erfahrung nur für die „Mathematik der Ausdehnung(Geometrie)" (B 204) zu beweisen, die Mathematik der Aggregate (Arithmetikund Algebra) jedoch zu vernachlässigen 61. Diese Interpretation der „Axiome derAnschauung" ist aber unvollständig; denn Kant sagt ausdrücklich, der extensiveCharakter der raumzeitlichen Größen impliziere, daß alle Erscheinungen „alsAggregate (Menge vorher gegebener Teile) angeschaut" werden. Und weiterheißt es: „Auf diese sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft ...gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) ..." (B 204). Kurz ge-sagt: „was eine Größe hat (quantum), enthält eine Menge" 62. Die Mathematik

60 „Quantum" wird sonst audi gelegentlich als Oberbegriff für „quantum discretum"und „quantum continuum" verwendet; für die Entgegensetzung von „Quantum" unddiskreter Größe vgl. man B 212 und die Reflexionen 5832, 5582, 5841, 6338 a. „Quanti-tas" bezeichnet zunächst die Antwort auf die Frage „wie groß?" (B 204), wird dann aber,weil diese Antwort stets die Angabe eines „Wievielmal" (B 300) verlangt, sogleichweiter bestimmt (schematisiert) als „Zahl" (B 182); dazu vgl. man audi „Größe einerAnschauung überhaupt (Zahl)", B 752; ferner B 748; mit Erdmanns plausibler Korrekturder Klammersetzung: „Größen überhaupt (Zahlen)", B 745; weiterhin die Reflexionen5582, XVIII 239, 19—20; 5593, XVIII 243, 23; 5583.

81 Vgl. H. J. Paton, Kant's Metapbysic of Experience, London 1936, II 131.62 Refl. 5727.

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des Diskreten ist also nach Kant die notwendige Voraussetzung der Geometrie,die als metrische Wissenschaft von dem in unserer Anschauung gegebenen Raumaufgefaßt wird 63.

Die Mathematik der Zahlen ist die Disziplin, die die Wissenschaft von denraumzeitlichen Erscheinungen überhaupt erst zur begrifflichen Erkenntnis macht.Denn alle kontinuierlichen Größen (Quanta) haben zum „reinen Bild" (B 182) denRaum und die Zeit, genauer: räumliche und zeitliche Bereiche. Ein „Bild" ist je-doch eine Anschauung. Um davon eine Wissenschaft (Erkenntnis) zu erhalten, istes daher nötig, Begriffe (und wegen der Aprioritat der Mathematik speziell reineVerstandesbegriffe) auf die Anschauung anzuwenden. Die Anwendung von Kate-gorien geschieht nun durch das Schema, d. h. ein „allgemeines Verfahren der Ein-bildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen" (B 179/180). „Das reineSchema der Größe aber (quantitatis), als eines Begriffes des Verstandes, ist dieZahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem(gleichartigen) zusammenbefaßt" (B 182). Diese Formel ist nichts anderes als eineauf unsere besondere Zeitanschauung bezogene Umsetzung einer Formel für denreinen Verstandesbegriff der Quantität, derzufolge er „die Kategorie der Synthe-sis des Gleichartigen in einer Anschauung überhaupt" ist (B 162).

Der Schritt von der reinen Kategorie zum Schema führt in den Bereich derMathematik, d. h. der Konstruktion , von zunächst diskreten, dann kontinuier-lichen Größen in der Anschauung. Mit der Anknüpfung der Mathematik an dasSchema eines reinen Verstandesbegriffes ergibt sich erst die Lösung der philosophi-schen Aufgabe, „zu erwägen, ob und wiefern es (sc. ein Ding im Raum und in derZeit) ein Quantum ist oder nicht" (B 752). Diese Erwägung ist es, die es nötigmacht, sich in den Grundsätzen, die „doch nichts anderes als Regeln des objektivenGebrauchs (der Kategorien) sind"64, zu vergewissern, daß die mathematischenKonstruktionen auch von Gegenständen der Erfahrung gelten. Diese Vergewisse-rung aber schließt nach Kant ein, daß die mathematischen Größenbegriffe, alsoauch die Begriffe vom kontinuierlichen Quantum, auf den reinen Verstandes-begriffen beruhen, und daß diese wiederum dieselbe Synthesis ausdrücken, dieauch in den Formen des Urteils als derjenigen Handlung, die Vorstellungen als imObjekt vereinigt denkt, zum Ausdruck kommt85.

Es hat sich also ergeben, daß Kant auch für die Kontinuumsbegriffe Maß,Größe und Ganzes eine Zuordnung zu den Urteilsformen festhalten wollte undmußte. Diese Begriffe können noch in dem Sinne als dieselben Kategorien der

63 Die Arithmetik ihrerseits bleibt natürlich von der Gegebenheit der Zeitanschauungabhängig; und die Geometrie ist auf die Raumanschauung und, sofern sie die Arith-metik voraussetzt, auch auf die Zeitanschauung angewiesen. Diese Anschauungsformcnselbst jedoch sind nicht als quantitative, sondern nur als quantisierbare gegeben.

w B 200; kursiv von uns.Kant spricht bei der Behandlung der mathematisdien Größcnangabcn geradezu von

„logischer Großenschatzung" (Kr. ä. U.t $ 26 Anfang).

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Quantität angesehen werden, daß sie nur wieder auf eine neue Weise „dieselbeFunktion" der Synthesis (B 104) ausdrücken wie die Urteilsformen.

Diese Behauptung macht es notwendig, die schon bemerkte Tatsache zu erklären,daß die direkte und eindeutige Beziehung der Kontinuumsquantitäten zu denUrteilsformen nicht zu erkennen ist. Die Beurteilung einer Linie als „Größe" (imSinne der Kategorientafel der Prolegomena) bestimmt Urteile über diese Linie janicht notwendig als plurative. Den Grund hierfür sehen wir nun darin, daß beider mathematischen Beschreibung raumzeitlicher Anschauungen die Quantitätselbst zum Thema der Aussagen wird.

Diese Erklärung läßt sich kurz so erläutern: Die Beurteilung einer Anschauungunter den Kategorien Einheit, Vielheit oder Allheit ergibt unmittelbar die Be-stimmung der Quantität eines Urteils, dessen Subjektsbegriff die in Frage ste-hende Anschauung bezeichnet. Wenn z. B. eine Anschauung von „Mensch" unterdie Kategorie Vielheit gebracht werden kann, ist damit ein mögliches Urteil überden Subjektsbegriff Mensch auf die Quantität plurativ festgelegt: etwa „einige(mehrere, viele) Menschen 'sind blond". In einem zweiten Schritt kann aber nundie Quantität des Urteils bzw. die Beurteilung der Anschauung unter einer be-stimmten Quantität selbst zum Inhalt einer Aussage gemacht werden, z. B. in derForm: „Die blonden Menschen sind ihrer etliche (mehrere, viele)." Dieses Urteilist einerseits eine äquivalente Umformung von „viele Menschen sind blond", setztalso die Beurteilung einer Anschauung als Vielheit bzw. ein pluratives Urteil vor-aus, hat aber andererseits selbst nicht mehr die Urteilsquantität Vielheit. Eine der-artige (in unserem Beispiel ziemlich gezwungen wirkende) Umformung wird mandann vornehmen, wenn die Quantität aus der unscheinbaren Stellung der bloßenBedingung der Möglichkeit eines wohlbestimmten objektiven (d. h. auf Anschau-ung bezogenen) Urteils heraustritt und zum eigentlichen Gegenstand des Inter-esses wird.

Genau diese Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Quantität selbst liegtnun bei der Beurteilung der kontinuierlichen Erscheinungen als Quanta vor. Urteileüber sie haben deshalb eine unserem umgeformten Urteil analoge Struktur. Soheißt eine Linie als „Größe" zu bestimmen, ein Urteil etwa folgender Art zufällen: „Die Linie ist eine Größe", oder „die Linie hat eine Länge". Das heißtaber: „Die Linie besteht aus einer Vielheit von Einheits- bzw. Maßstrecken." DieQuantitätskategorie ist also ebenso wie oben in dem umgeformten Satz im Prädi-kat enthalten und bestimmt deshalb nicht die Urteilsquantität selbst (die hier dieEinheit ist, aber ebenso gut auch die Allheit sein könnte, wie ein sogleich noch zuzitierendes Beispiel Kants zeigt). Bei dem Obergang von „Größe" oder „Länge"zu „Vielheit von Einheitsstrecken" ist die oben skizzierte Begründung der Geo-metrie auf die Zahlen und die Deutung der Quantitätskategorien als Maß, Größeund Ganzes impliziert. Vermittelt durch Messen und Zählen bleibt also die Ver-bindung einer Beurteilung kontinuierlicher Anschauungen als Größen mit den logi-schen Urteilsquantitäten gewahrt; diese sind die Voraussetzungen der Möglichkeitjeglicher Größenbestimmung überhaupt. Wird die Größenbestimmung jedoch ei-

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gens zum Thema der Aussage gemacht, wie das in der geometrisch-chronometri-schen Beschreibung kontinuierlicher Erscheinungen in Raum und Zeit geschieht, sotreten die den verwendeten Kategorien jeweils entsprechenden Quantitäten derUrteile nicht notwendig explizit auf, es sei denn, man gehe eigens zu neuen Sub-jektsbegriffen über, z. B. in einem Urteil wie „mehrere Einheitsstrecken sind Teildieser Linie". Ein solcher Übergang muß stets möglich sein, da bezüglich der inFrage stehenden Anschauung plurative Urteile vorausgesetzt sind, wenn sie über-haupt zu Recht als „Größe" bestimmt worden sein soll.

In diesem abgeschwächten Sinne möchten wir einen sonst paradox anmutendenSatz Kants verstehen, in dem er sich explizit über den in unserer Interpretationbeanspruchten Zusammenhang von Urteilsquantitäten und Kategorien vom kon-tinuierlichen Quantum ausspricht: „Der Grundsatz: die gerade Linie ist die kür-zeste zwischen zwei Punkten, setzt voraus, daß die Linie unter den Begriff derGröße subsumiert werde, welcher gewiß keine bloße Anschauung ist, sondern ledig-lich im Verstande seinen Sitz hat und dazu dient, die Anschauung (der Linie) inAbsicht auf die Urteile, die von ihr gefällt werden mögen, in Ansehung der Quan-tität derselben, nämlich der Vielheit (als judicia plurativa) zu bestimmen, indemunter ihnen verstanden wird, daß in einer gegebenen Anschauung dieses Gleich-artige enthalten sei" .

Wir nehmen also an, daß Kant hier nicht (in einer allzu einfachen Auswertungseiner „Erklärung der Kategorien" von B 128) hat sagen wollen, die Beurteilungder Linie als einer Anschauung von einer gewissen Länge führe zu plurativen Ur-teilen über diese Linie (vielmehr — so müßte man sagen — über derartige Linien,hier z. B. Verbindungslinien zweier Punkte), sondern nur: sie setze plurative Ur-teile hinsichtlich der Anschauung der Linie voraus.

Zusammenfassend können wir folgende Ergebnisse festhalten:1. Dem Grundgedanken der Deduktion der Kategorien folgend hat Kant auch

für die Quantitätsbegriffe vom Kontinuum eine Bindung an die Urteilsquantitätenbehauptet.

2. Sie besteht ebenso wie bei den normalen Quantitätskategorien in einer ein-deutigen Entsprechung im Sinne der Zuordnung A, so daß Maß, Größe und Gan-zes zu Recht als Kategorien bezeichnet werden können.

3. Dieser direkte Zusammenhang mit den Urteilen tritt nur deshalb nicht her-vor, weil bei der mathematischen Beschreibung raumzeitlicher Anschauungen dieQuantität selbst zum Gegenstand der Aussage wird und deshalb in den Inhalt desPrädikats eingeht.

" Pro/. S 20 Ende.

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