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Uber Wiederbelebung der Reflexe nach Riickenmarks- verletzung. ~) Von M. Lewandowsky und H. Neuhof (aus New York). (Eingegangen am 28. Oktober 1912.) Zwischen den Folgen der Riickenmarksquertrennung beim Tier einerseits und beim Menschen andererseits besteht zweifellos ein groi~er Unterschied. W~hrend wir bci den niederen Tieren nach einer Durch- schneidung des Riickenmarks die Sehnenreflexe erhalten oder erhSht finden, haben wir beim Menschen in der weitaus grSftten Zahl der FSlle eine Vcrnichtung der Sehnenreflexe. Dieses Verhalten -- die Bast i a n- sche Regel -- ist nicht ganz ohne Ausnahme. Es gibt Fiille, yon denen der yon Kausch am hSufigsten zitiert wird, in denen trotz totaler Quertrennung des giickenmarks auch beim Menschen die Sehnen- reflexe erhalten bleiben, abet das ist sehr selten. Wir haben in den F~illen, welche wit selbst gcsehen haben, niemals einen Sehnenreflex auslSsen k5nnen. Die Hautreflexe sind beim Menschen in einer Anzahl yon Fi~llen nicht ganz erloschen, insbesondere sind Zehenreflexe vonder Planta in einer Anzahl von F:~illen zu erhalten. Sowcit wir uns der einzelnen Fglle crinnern, kSnnen wir in bezug auf die Hautreflcxe denjenigen Autoren zustimmen, welchc angeben, dad bei 15ngerem l~berleben dieser Fglle auch die Hautreflexe noch schwgcher werden oder ganz verschwinden; in der Mehrzahl der F:s haben wit bci tctaler Quertrennung yon vornherein ein Fehlen auch der Hautreflexe beobachtet. Die Theorien2), welche die auffallende Differenz des Verhaltens yon Tier und Mensch speziell in bezug auf die Sehnenreflexe begriinden sollen, nehmen zum Tell anatomischc Schiidigungen des Reflexbogens an, sei cs dag solche anatomisch nachweisbar sein sollen (Blutungen, Zell- verS~nderungen) oder dag sie nut vorausgesetzt werden. Diesen Theorien kann man noch die hinzurechnen, nach welcher die Verminderung oder Vernichtung der Reflexe nur dann eintritt, wenn das Riickenmark accessorischen, toxischen Schgdigungcn, insbesondere durch fieber- hafte Allgemeininfektion des KSrpers ausgcsetzt ist. 1) Nach eir~em auf der Versammlung mitteldeutseher Psychiater und Neuro- logen (Halle 1912) yon M. Lewandowsky gehaltenen Vortrage. 2) Vgl. dariiber Art StSrungen der Reflexe. Handb. d. Neur. l, 597.

Über wiederbelebung der reflexe nach rückenmarksverletzung

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Page 1: Über wiederbelebung der reflexe nach rückenmarksverletzung

Uber Wiederbelebung der Reflexe nach Riickenmarks- verletzung. ~)

Von

M. Lewandowsky und H. Neuhof (aus New York).

(Eingegangen am 28. Oktober 1912.)

Zwischen den Folgen der Riickenmarksquertrennung beim Tier einerseits und beim Menschen andererseits besteht zweifellos ein groi~er Unterschied. W~hrend wir bci den niederen Tieren nach einer Durch- schneidung des Riickenmarks die Sehnenreflexe erhalten oder erhSht finden, haben wir beim Menschen in der weitaus grSftten Zahl der FSlle eine Vcrnichtung der Sehnenreflexe. Dieses Verhalten - - die B a s t i a n- sche Regel - - ist nicht ganz ohne Ausnahme. Es gibt Fiille, yon denen der yon K a u s c h am hSufigsten zitiert wird, in denen trotz totaler Quertrennung des gi ickenmarks auch beim Menschen die Sehnen- reflexe erhalten bleiben, abet das ist sehr selten. Wir haben in den F~illen, welche wit selbst gcsehen haben, niemals einen Sehnenreflex auslSsen k5nnen. Die Hautreflexe sind beim Menschen in einer Anzahl yon Fi~llen nicht ganz erloschen, insbesondere sind Zehenreflexe v o n d e r Planta in einer Anzahl von F:~illen zu erhalten. Sowcit wir uns der einzelnen Fglle crinnern, kSnnen wir in bezug auf die Hautreflcxe denjenigen Autoren zustimmen, welchc angeben, dad bei 15ngerem l~berleben dieser Fglle auch die Hautreflexe noch schwgcher werden oder ganz verschwinden; in der Mehrzahl der F:s haben wit bci tctaler Quertrennung yon vornherein ein Fehlen auch der Hautreflexe beobachtet.

Die Theorien2), welche die auffallende Differenz des Verhaltens yon Tier und Mensch speziell in bezug auf die Sehnenreflexe begriinden sollen, nehmen zum Tell anatomischc Schiidigungen des Reflexbogens an, sei cs dag solche anatomisch nachweisbar sein sollen (Blutungen, Zell- verS~nderungen) oder dag sie nut vorausgesetzt werden. Diesen Theorien kann man noch die hinzurechnen, nach welcher die Verminderung oder Vernichtung der Reflexe nur dann eintritt, wenn das Riickenmark accessorischen, t o x i s c h e n Schgdigungcn, insbesondere durch fieber- hafte Allgemeininfektion des KSrpers ausgcsetzt ist.

1) Nach eir~em auf der Versammlung mitteldeutseher Psychiater und Neuro- logen (Halle 1912) yon M. Lewandowsky gehaltenen Vortrage.

2) Vgl. dariiber Art StSrungen der Reflexe. Handb. d. Neur. l, 597.

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Die andere Gruppe der Theorien nehmen nur funktionelle Differenzen an. Diese Theorien werden durch die Beobaehtung S h e r r i n g t o n s unterstfitzt, dab der Affe eine Mittelstellung einnimmt zwischen den niederen Tieren (z. B. Hund) und dem Menschen, da bei ihm zwar die Reflexe wiederkehren, aber doeh hgufig nach der Quertrennung fiir einige Zeit nicht auslSsbar sind.

Diese funktionellen Theorien kommen entweder auf den Shock zuriick oder sic nehmen an, daB das Rfickenmark des Menschen ge- wissermaBen zu unselbstgndig werde, dab seine eigene Erregbarkeit ohne die ihm vom Gehirn zuflieBenden Impulse nicht genfige, um die Reflexe zur AuslSsung zu bringenl). Dieser letzten Theorie hat te sich auch der eine von uns angeschlossen 2) ohne zu wissen, dab in einer Arbeit yon J a m e s CollierS) - - deren Ergebnisse wir merkwfirdiger- weise in keiner der umfangreichen Abhandlungen 4) fiber das Verhalten der Sehnenreflexe bei Quertrennung des Rfickenmarks zitiert linden - - bereits positive Versuche zur Stfitze dieser Theorien ~ angegeben sind.

C o l l i e r kommt zu dem SchluB, dab die Sehnenreflexe zwar nach lokaler Rfiekenmarksquertrennung auf die Dauer ausnahmslos ver- schwinden, dab sogar die Muskeln ihre faradische Erregbarkeit, und die Sphincteren ihren Tonus verlieren, und" dab nur einige schwache Hautreflexe bestehen bleiben kSnnen. Der nicht gan z haltbare Radikalis- mus dieser Ergebnisse, die j a i m wesentlichen der B a s t i a n schen Lehre entsprechen, hat nun wohl auch einen sehr bemerkenswerten Versuch fibersehen lassen, fiber den C o l l i e r berichtet. Er faradisierte n~mlich die schlaff gelghmten Glieder, und zwar mit Hilfe zweier, und zwar in der Gegend des Peroneus an der Fibula und in die Wadenmusku]atur eingestochener, Nadeln fiir 5--20 Minuten. Hat te der Zustand voll- kommener Schlaffheit (flaccidity), den C o l l i e r als das Zcichen der vollkommenen Quertrennung betrachtet, noch nicht l~nger als 3 Tage gedauert, so war es leicht, dadurch die Kniereflexe wieder zurfickzu- rufen, und zwar ffir je 5--15 Minuten. Je mehr Zeit seit der Quer- trennung verflossen war, um so schwerer wurde die Regeneration der Kniereflexe durch die Faradisierung, und 10 Tage naeh der Quer-

1) Wenn man mit H. Munk die Vergnderungen, welche die Erregbarkeit eines Teiles des Ncrvensystems naeh Isolierung von anderen Teilen erleidet, als Isolicrungsver~nderungen bezeichnet, so kann man diese in positive (Erregbarkeits- steigerung) und negative Isolierungsver~Lnderungen (Erregbarkeitsverminderung) einteilen. Dabei ist zu bemerken, dab bei der ncgativen Isolierungsver~nderung nicht die Wirkung tines Shocks im Sinne einer dauernden Hemmung gemeint ist, ebensowenig wit bei der positiven lsolierungsvergndcrung der Fortfall einer Hemmung.

~) Art. Reflcxe in Handb. d. Neur. 1. 1910. 3) The effects of total transverse lesion of the spinal cord in man. Brain 2~,

38. 1904. ~) Z. B. Lap insky , Archiv f. Psych. 42.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XIII . 30

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44~ M. Low~ndowsky ,and H, Neuhol~:

t r ennung gelang es in ke inem Fa l l e mehr, die Knieref lexe i i be rhaup t noch zu i f ickz~ 'ufen , Von dem Einflul~ der F a r a d i s a t i o n auf ande re Reflexe - - Aeh i l l e~ehnenre f l exe , Hau t re f l exe - - sagt C o 11 ie r in se iner

Arbe i t kein Wor t , ebensowenig er fahren wir fiber den Patellarrefle,x: die ge r ings te Einze lhe i t wei ter a ls die grobe Tatsache . C o l l i e r schliel~t aus seinen Versuchen, dab der Ver lus t des Knieref lexes bed ing t i s t durch die I so la t ion des Rf ickenmarks yon den hSheren Zentren, und n ieh t d u t c h eine accessorische L~sion o d e r einen sonst igen Neben-

ums tand . Ohne yon diesen Versuchen C o l l i e r s zu wissen, auf die wit ers t

bei der Erz~hlung unserer Resu l t a t e von einem bef reunde ten Kol legen (R. C a s s i r e r ) hingewiesen wurden, h a t t e der eine yon uns sich schon lange vorgenommen, in e inem geeigneten Fa l le von sehlaffer Pa rap leg ie nach Quer t rennung des R i i ckenmarks die W i r k u n g l angdauernder , sensibler Reizung auf die Aus lSsbarke i t der Reflexe zu priifen.

Diese Gelegenhei t b o t sieh in dem folgenden Fa l l e :

Die 35j~hrige Frau T. war am 17. September von ihrem Manne in den Riieken gesehossen worden. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus Friedrichs- hain bot sie das Bild einer totalen Querschnittsl/ihmung mit fehlenden Reflexen abw~rts yon der HShe des 7. Dorsalsegments. Die RSntgenaufnahme wies die Kugel im 4. Dorsalwirbel nach. Zwecks Entfernung der Kugel wurde die Laminektomie yon W. B r a u n ausgefiihrt. Die Kugel von 10 mm Katiber land sich gerade im Wirbelkanal, den sie ungef~hr ausfiillte. Das Riiekenmark erwies sich als total zerrissen und die Stiimpfe als retrahiert. Nur dureh diinne Dura- fetzen wurde die Verbindung der beiden Enden noeh hergestellt. Nach Ent- fernung der Kugel wurde die Wunde wieder geschlossen. Die Wunde heilte gut.

Wir haben nun die Patientin 14 Tage nach ihrer Verletzung beobachtet. Das Bild blieb ganz unver/indert das der totalen Quertrennung mit fehlenden Reflexen. Vom 7. Dorsalsegment ab war jede willk~irliche Bewegung, jede be- wullte Empfindung aufgehoben. Die Glieder waren vSllig schlaff. Die Kranke mugte wegen der totalen Blasenl/s katheterisiert werden. Ebenso retentio alvi. Alle Reflexe fehlten, nieht nur die Sehnenreflexe, sondern auch die Haut- reflexe bei allen Untersuchungen, die bis zum 29. September angestellt wurden. Inzwisehen hatte die Kranke iibrigens zu fiebern begonnen (Cystitis, Decubitus).

Wir geben nun einen Auszug aus den bei unseren Versuehen mit der Kranken aufgenommenen Protokollen:

Am 30. S e p t e m b e r faradisierten wir das rechte Bein der Patientin, und zwar in der Weise, dab wir zwei ziemlich groBe Elektroden, die eine in die Knie- kehle, die andere auf andere Punkte des Beins, meist auf den Quadriceps, und zwar aussehlieBlieh der r e c h t e n Seite aufsetzten. Wir beobachteten dabei be- merkenswerte Ver~nderungen der elektrisehen Erregbarkeit der Muskulatur, die wir sp~ter noch weiter erw/~hnen werden (S. 451). Die Reizung geschah nicht ganz kontinuierlich, sondern wurde ab und zu fiir einige Sekunden unterbrochen. Die StrSme waren ziemlich stark, so dal~ sie beim Aufsetzen der Elektroden auf die sensibeln Teile des K5rpers Schmerzen verursachten.

Nach ungefi~hr einer Viertelstunde glaubten wir bei Streichen der Fu$sohle w~hrend der Fortdauer der Reizung einige reflektorische Muskelkontraktionen am Bein zu sehen, die aber bei AufhSren der Reizung zun~ehst nicht mehr zu erzielen waren.

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(;her Wiederbelebung der Refiexo nach R[lekenmarksverletzun~. 447

Nach ungef/~hr einer halhen Stunde, nnd zwar einige Minuten naeh AtffhSren der Reizung, erhielten wir zum erstenmal eanen ~ypischen B a b i n s k i s e h e n Reflex (Extension der ersten und Flexion der zweiten bis .fiinften Zehe), und zwar sofort beiderseits. Sehnenreflexe waren nieht ' ~u erzielen.

4 Stunden sp/iter war, ohne dat] inzwischen eine Reizung vorgenommen worden w/~re, der Babinski beiderseits wieder zu erzielen. Bei Beklopfen des FuR- rfiekens erfolgte eine kurze Dorsalflexion des Ful]es, manehmal aueh gleichzeitig damit eine kontralaterale Adduetion des Ful]es. Diese bei Beklopfen zu erzielenden Kontraktionen traten erst naeh einer sehr auffallenden Latenz yon etwa 1 Sekunde auf. Es wurde jetzt 20 Minuten gereizt, danach waren Reflexe iiberhaupt nicht zu erzielen. Eine Stunde sp/~ter waren die Reflexe noeh immer nicht zu erz~ielen. Je tz t wurde wieder 10 Minuten gereizt. Dana6h waren B a b i n s k i und das be- schriebene Ph/~nomen beim Klopfen wie friiher zu erzielen, indes leicht ersehOpfbar. Naeh einigen Reflexen versagte der Meehanismus.

Am n/~chsten Tage (1. O k t o b e r ) friih lie8 sich ohne vorangegangene Reizung der B a b i n s k i s c h e Reflex erzielen, aber naeh zweimaliger Priifung erloseh er und blieb ungef/ihr 5 Minuten erloschen (beiderseits), worauf er wieder zweimal auszu- 16sen war, um wiederum zu erlSsehen. Dann Reizung l i n k s ffir 35 Minuten. Danach konnte man beliebig oft den B a b i n s k i s e h e n Reflex erzielen, und zwar Streckung der groBen Zehe mit Spreizung der iibrigen (Signe d'6ventail yon Babinski) ohne Bewegung des FuBes dabei und ohne kontralaterale Reflex- bewegung. Latenz dabei anscheinend normal.

Bei Beklopfen des Fu/~riickens eine kurze Kontraktion /~hnlich wie am Tage vorher, bestehend heute in einer Adduction des Ful~es mit Dorsalflektion und mit Adduetion und Innenrotation der ganzen Basis. Dabei wieder die sehon er- w/~hnte auffallende Latenz yon etwa 1 Sekunde. Dieser Reflex ist in ungef/ihr gleicher Art auf beiden Seiten zu erzielen, links st/irker als rechts, und zwar trat eine /ihnliche Bewegung zugleich meist auch kontralateral auf.

Bei Beklopfen der Patellarsehne, und zwar wieder mit der auffallenden Latenz, eine kurze Kontraktion der Adductoren beiderseits. Kein Patellarreflex.

Je tz t auch yon beiden Achillessehnen ein A c h i l l e s r e f l e x yon normaler St/s und Latenz beliebig oft auszulOsen, links etwas lebhafter als rechts.

Am Nachmittag desselben Tages erwiesen sich die Reflexe auger dem Achilles- sehnenreflex, der nicht auszul6sen war, ohne neue elektrische Reizung erhalten, und zwar: Babinski beiderseits prompt, aber nach einigen Malen der AuslOsung verschwindend, um nach einer Pause wieder auslOsbar zu sein. Ferner zum ersten- real O p p e n he i m scher Reflex in Form einer Dorsalflexion der zweiten bis vierten Zehe bei Streichen der Innenkante der Tibia auszul6sen; nach zwei Malen aber vOllig erschSpft.

Bei Beklopfen des FuBriickens/ihnlicher Reflex wie vormittags, auch mit sehr grol~er Latenz; es erfolgen auf einen einzelnen Reiz jetzt meist mehrere kurz auf- einander folgende Zuekungen.

Bei Beklopfen der Patellarsehne zu gleicher Zeit mit der sehon vormittags geschehenen Kontraktion der Adduction eine Dorsalflexion des Fu$es links; dieser Reflex im Unterschied yon dem Ful~riickenklopfreflex leicht ermiidbar.

2. O k t o b e r . Babinski nicht auszulSsen. Keine Zuckung bei Beklopfung der Patellar- oder Achillessehne. Sehr schwache Reflexe (ohne ~bertragung auf die andere Seite) bei Beklopfen des Ful3riickens. Bei Beklopfen des Calcaneus leichte Adduction und Innenrotation des Ful~es mit langer Latenz.

Faradisierung der rechten Seite ffir 20 Minuten. Danach Babinski positiv, beliebig oft. FuBriickenklopfreflex sehr lebhaft und auch kontralateral sehr leb- haft. Oppenheim negativ. Achillessehnem'eflexe leicht auszulOsen. Kniereflexe bleiben nieht auslSsbar.

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Eine Stunde naehher die Reflexe wieder erheblieh sehw~eher. 3. Oktober , Bablnal~i negativ. Positiv nur Oppenheim links und der vom

Calcaneus auszulSsende Reflex. Naeh einer Reizung yon nur 2 Minuten rechts fingen die Reflexe schon an,

lebhafter zu werden. Nach 10 Minuten wieder wie gestern leichte AuslSsbarkeit aller beschriebenen Reflexe. Es f~llt ferner auf, dal~ bei Streiehen der Haut des FuBriickens sehr leieht eine Dorsalflexion der grol~en Zehe mit Zuekung der Ad. duetoren erfolgt. Desgleichen aueh eine Dorsalflexion der Zehe bei Kneifen der I-Iaut des Schenkels an verschiedenen Stellen.

3. 0 k t o b e r n a c h m i t t a g s . Reflexerregbarkeit wieder erheblich gesunken wie gestern. Nach Faradisation yon 10 Minuten wieder Steigerung und zum erstenmal bei Beklopfen der Patellarsehne eine Extension des Untersehenkels, aber mit auffallend langer Latenz. Achillessehnenreflex yon normaler Be- schaffenheit.

5. Oktober . Fast vSlliges Fehlen aller Reflexe, Babinski-- . Nach Faradi- sieren wieder Erwachen der Reflexe, Verhalten wie am 3. Oktober.

7. Oktober . Babinski leicht erschSpfbar. Dabei wird zum erstenmal be- merkt, dal~ der Babinski auch kontralateral (und zwar in Extension auftritt). Es zeigt sich wiederholt, dad bei ErschSpfung des l%flexerfolges auf der gereizten Seite die Extension auf der gekreuzten l~nger bestehen bleibt. Oppenheim beider- seits positiv. Desgleichen die anderen beschriebenen K]opfreflexe heute aueh ohne Faradisieren vorhanden; der Achillessehnenreflex links vorhanden, rechts fehlend.

Beim Faradisieren (links 10 Minuten) treten tremorartige Zuckungen der Muskulatur des rechten Beines auf, die mit dem AufhSren des Faradisierens ver- schwinden.

Nach dem Faradisieren erhebliehe Steigerung aller Reflexe. Bei dem Be- klopfen des FuI~rfickens lebhafte Reflexe der friiher beschriebenen Art; dabei ist die bisher immer so auffallende Latenz anscheinend verschwunden. Jetzt auch beide Achillessehnenreflexe auszulSsen.

10. Oktober . Verhalten ungef~hr wie am 7. Oktober. Noeh st~rkere Stei- gerung durch die Faradisation, wieder die tremorartigen Zuckungen der anderen Seite w~hrend der Faradisation.

14. O ktober . Die Hautreflexe zun~ehst unerregbar. Es geniigt jedoch eine Anzahl yon Malen durch starkes Streiehen die Haut zu reizen, um wieder Babinski und besonders links die Dorsalflexion der Zehe bei Streichen des Ful~riickens zu erzielen. Aehillessehnenreflexe danaeh nicht zu erzielen. Nach Faradisation (5 Minuten) leichte AuslSsbarkeit aller besehriebenen Reflexe inkl. der Achilles- sehnenreflexe. Die Patellarreflexe sind wiederum nieht in normaler Weise zu er- zielen. Bei Bektopfen der Patellarsehne mit deutlicher Latenz doppelseitige Ad- duktorenzuckung und Plantarflexion des Ful3es auf der Seite der Reizung.

17. Oktober. Zustand wie am 14. Oktober. Reflexe zun~chst wieder fast unauslSsbar. Dann dureh Faradisieren Steigerung. Es wird heute bemerkt, dab l~ngeres Faradisieren die nach kiirzerem Faradisieren zun~chst Iebhaften Reflexe wieder abschw~cht bzw. zum Verschwinden bringt.

Es sind in den letzten Tagen Zeichen einer Meningitis aufgetreten. 19. Oktober. Exitus. Die Autopsie best/itigt, dad das Riiekenmark vSllig zerstSrt ist. Die Kugel

hat noeh in die ventrale Dura gerade in der Mitte ein Loch gerissen. Die beiden Stiimpfe des Riickenmarks stehen 21/2 cm voneinander ab.

Es gelang also in dem berichteten Falle bei einer Kranken , die eine totale Quer t rennung des Ri ickenmarks er l i t ten ha t te und bei der

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14 Tage lang weder ein Sehnen-, noeh ein Hautreflex zu erzielen war, durch Faradisieren der unteren Extremit~ten ein~ Anzahl yon Reflexen wieder zu erweeken. Nachdem das erst einmal dureh mehr als halb- stfindige Reizung gelungen war, geniigten vom n~chsten Tage und in der Folge kiirzere Reizungen, um mit einer geradezu experimentellen Sieherheit die Reflexe wieder zu erzeugen oder sie erheblich zu steigern. Die Dauer der Wirkung einer einmaligen Faradisation erstreekte sieh auf Stunden; nachdem wir aber wiederholt solche Faradisationen vor- genommen hatten, schien sieh eine dauernde, wenn auch sehr geringe Reflexerregbarkeit hergestellt zu haben, welehe, wie bemerkt, unter dem unmittelbaren EinfluS der Faradisation dann immer eine sehr er- hebliehe Steigerung erfuhr. Aueh durch die in den letzten Tagen sich entwickelnde Meningitis wurde eine J~nderung nicht herbeigeffihrt.

Die Reflexe, deren Erregbarkeit wir am leichtesten erzeugen konnten, w~ren die H a u t r e f l e x e , vielmehr, da andere Hautreflexe kaum in Betracht kamen, der B a b i n s k i s c h e R e f l e x . Wenn beim Abklingen der Wirkung der Faradisation die Erregbarkeit des B a b i n s k i s e h e n Reflexes sank, so zeigte sich das regelm~Sig in seiner leichten ErsehSpf- barkeit; der Reflex konnte dann nur wenige Male durch das fibliehe Streichen der Ful~sohle erzeugt werden, dann versagte er fiir mehrere Minuten. Diese Ersch5pfbarkeit konnte jedesmal dutch kurzes Faradi- sieren beseitigt werden. Zu erw~hnen ist, daS Extensionsbewegungen der Zehen manehmal leichter vom Rficken des FuSes Ms vonde r Planta auszulSsen waren, und daS wir gelegentlieh sogar yon der Haut des Unter- und Oberschenkels Extensionsbewegungen der Zehen bekamen, die aber etwas anders aussahen als der typische ,,positive Babinski", der v o n d e r FuSsohle ausgelSst wurde. Der positive Babinski wurde einige Male auch kontralateral erhalten. Mit den Zehenreflexen waren oft auch Zuckungen der Oberschenkelmuskulatur verbunden.

Immer erst dann, wenn die Hautreflexe schon auslSsbar waren, und am ersten Tage fiber]laupt nicht, kamen die A c h i l l e s s e h n e n - r e f l e xe unter dem EinfluS der Faradisation zum Vorschein. Sie waren yon etwa normaler St~rke, niemals klonisch ver~ndert. Sie verschwanden auch immer kurze Zeit nach dem Faradisieren wieder, um dann regel- m/~Sig wieder durch das Faradisieren auslSsbar zu werden.

Die typischen P a t e l l a r r e f l e x e konnten niemals erzielt werden. Dagegen konnten durch Beklopfen der Patellarsehne sowohl wie des

FuSes an verschiedenen Stellen e ine R e i h e v o n e i g e n t i i m l i c h e n R e f l e x e n erzeugt werden, fiber die das N/~here S. 447 mitgeteilt ist. Sie zeichneten sich meist aus dureh die a u S e r o r d e n t l i c h l a n g e L a t e n z von ca. 1 Sekunde. Die Latenz fehlte cder verminderte sich nur an Tagen, an denen die Erregbarkeit besonders stark war. Die Reflexe bestanden in kurzen Muskelkontraktionen, tthnlieh (oder gleich)

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den Sehnen- und Knochenreflexen. Sie erstreekten sich z.um Tell auf die kontralaterale Seite und waren einige Male deutlich ldonisch, d. h. dieselbe reflektorische Kontrakt ion wiederholte sich ohne erneuten Reiz einigeMale.

Ein direkter Reflex d u r c h das Elektrisieren schienen uns die t re m o r- a r t i g e n Z u c k u n g e n zu sein, die im sp~teren Verlauf der Beob- achtung w~hrend Reizung ei n e s Beines kontralateral auftraten.

Oiesen tats~chlichen Feststellungen haben wir nur wenig hinzu- zufiigcn.

Zun~chst ist zu betonen, dab die f a r a d i s c h e R e i z u n g h i e r n u r a ls b e q u e m e s M i t t e l s e n s i b l e r R e i z u n g angewandt wurde und wirkte. DaB nicht etwa die Muskelreizung an der Wiedererweckung schuld war, folgt schon aus der Tatsache, dab bei Reizung e i n e s Beines die Reflexe ausnahmslos gleichzeitig an b e i d e n Beinen beeinfluBt wurden. DaB sonst eine Wirkung der Elektrizit~t in Frage kommen kSnnte, ist wohl auszusehlieBen@ Aueh konnten wir eine gewisse Steige- rung der Hautreflexe einige Male schon durch wiederholte mechanischc Reizung der Haut herbeifiihren.

Indessen ist hier noch hinzufiigen, dab auch eine e n t g e ge n ge s e t z t e Wirkung der Faradisation uns nachweisbar zu sein schien. Wenn wit ngmlich zu lange reizten, so glaubten wir die Reflexerregbarkeit wie- der sinken zu sehen, und schon am ersten Tage war es uns aufgefallen, dab wit den B a b i n s k i s c h e n Reflex nicht unmittelbar nach der Reizung, sondern erst einige Minuten nach deren Beendigung erhalten konnten, sowie dab wit spgter wiederholt eine geringe Erregbarkeit durch Faradisieren aufheben konnten. So hatten wir auch spiiter manchmal den Eindruck, als ob ,,iiberreizt" worden wgre. Es wgre das natiirlich leicht mit einer H e m m u n g durch zu starke cder zu lang- dauernde sensible Reizung zu erkl~ren.

Hervorzuheben ist ferner, dab wir n i c h t n u t H a u t r e f l e x e , sondern auch t y p i s c h e S e h n e n r e f l e x e durch die sensible Reizung erzielen konnten, n~mlich den A c h i l l e s s e h n e n r e f l e x . Wie wit schon in der Einleitung bemerkten, ist das Verhalten der Sehnen- reflexe als Folge der Quertrennung des Riickenmarks ja in besonderem MaBe Gegenstand der Diskussion gewesen. Unsere Beobachtung be- st~tigt also, dab typische Sehnenreflexe auch nach totaler Quertrennung des Riickenmarks vorhanden sein kSnnen. Es zeigt sich fernei, dab

1) Mit den Boettigerschen Versuchen, schwache Sehnenreflexe durch den dreiphasischen Wechselstrom mittels des VierzeIlenbades zu verst~rken, haben unsere Versuche wohl gar nichts zu tun. Es soll sich da um eine spezifische Wirkung der genannten Stromart handeln bei nicht organisch bedingtem Fehlen der Reflexe. Der faradische Strom soll nach Boet t iger unwirksam sein (Neu- rol. Centralbl. 29, 122, 1910). Die Wirkung ist iibrigens bestritten (Higier, Neurol. Centralbl. 29, 285, 1910).

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Uber Wiederbe[e'bling der Refiexe nacIl~*Riickenfilarksverletzung. 451

sie ~uch unter dem Einflul~ sensibler Reizung schwerer za erzie!en sind und teiehter wieder Verschwinde,n als gewisse ttautrefiexe.

Dabei. is6 dann darauf hinzuweisen, dal~ typische P a t e t l a r r e f l e x e auch unter dem Einflul~ sensibler Reizung bei unserer Kranken hie ~u erzielen waren. Es ist das eine Besti~tigung der eingangs (S. 445) er- w~ihnten Arbeit Co l l i e r s , welcher die Patellarreflexe vom 10, Tage nach der totalen Quertrennung ab nie mehr auslSsen konnte. (Unsere Versuche begannen erst am 14. Tage.) Es ist freilieh sehr merkwiirdig, dal~ Co l l i e r aul~er dem Kniereflex keinen anderen Reflex in den Kreis seiner Versuehc zog.

Der Grund dieses besonderen VerhMtens des Patellarreflexes ~ - y o n dem wir iibrigens keineswegs behaupten m6chten, dab es ausnahmslos sein wird - - ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Vielleicht is~ die Ursache aber die Atrophie des Quadriceps, die in unserem Falle und - - wenn wir uns recht erinnern - - auch in friiher yon uns beobachteten, sehr friih einsetzte und recht hcchgradig wurde.

Das Ve r h a l t e n de r M us k u l a t u r nach Quertrennung des Rfcken- marks beim Menschen ist iiberhaupt keineswegs geniigend untersucht. Co l l i e r gibt an, dal~ in seinen F~llen die faradische Erregbarkeit der Muskulatur vcllst~ndig erlosch. Wenige Tage vor dem Tode (17. bis 19. Oktober) konnten auch wit keine faradische Erregbarkeit mehr bei den uns zur Verfiigung stehenden StrSmen erzielen, die immerhin an den sensiblen Partien das KSrpers sehr schmerzhaft waren. Es war merkwiirdig, dal~ trotzdem Reflexe zu erzielen waren. In der Zwischen- zeit war die Erregbarkeit der Muskulatur dauernd gesunken, und da- neben war yon vornherein eine sehr starke E r m i i d b a r k e i t insbeson- dere der Muskulatur des Oberschenkels vorhanden gewesen, die mit der m y a s t h e n i s c h e n R e a k t i o n iibereinzustimmen oder ihr min- destens sehr nahe zu stehen schien. Nach einigen Minuten tetani- scher Reizung erschlaffte der Muskel vollst~ndig, um sich nach einer kurzen Pause der Reizung wieder etwas, aber nicht v61lig zu erholen. W~hrend der Reizung waren in diesen leicht ermiidbaren Muskeln meist nicht ganz regelm~l~ige, rhythmische Kontraktionen zu beobachten, die man vielleicht mit der Myautonomie R a u t e n b e r g s 1) auf eine Stufe stellen kann.

Dal~ eine myasthenische Reaktion auch bei zentralen Erkrankungen vorkommen kann, ist bekannt [Be n e d i c t , S te ine r 2]); in so typischer Weise wie in dem vorliegenden Fall haben wir sie aber hier noch hie gesehen. Zweifellos sind aber die Ver~nderungen der Muskelerregbar- keit nach Quertrennung des Riickenmarks noch lange nicht geniigend untersucht. Sie brauehen auch nicht in allen F~llen gleich zu sein,

1) Vgl. dariiber Handb. d. Neur., Art. Myasthenie II, S. 216. 2) Vgl. Handb. d. Neur. III, S. 127.

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man kann z. B. in dem unseren an einen Einflu6 des Fiebers denken. Vielleicht kommt es a'ffer doch gera~te bei totaler Quertrennung h~u- tiger zu einer Aufh~ufung yon Stoffwechselprodukten (Ermiidungs- stoffen ?) in dem gel~hmten Muskel, die seine Erregbarkeit entsprechend vermindern und aufheben. Um eine Entartungsreaktion in dem klassischen Sinne handelt es sich ja dabei zweifellos nieht.

Welter haben wir auf die yon den Knochen und Sehnen in unserem Falle erzielten R e f l e x e hinzuweisen, die s ich d p r c h i hr~ grol~e L a t e n z a u s z e i c h n e t e n , und die nicht mit dem vSllig normal an- sprechbaren Achillessehnenreflex auf eine Stufe zu stellen sind. Der eine yon uns glaubt, ~hnliches auch schon bei anderen zentralen L~h- mungen gesehen zu haben, z. B. bei multipler Sklerose, wo solche sp~ten Zuckungen den normalen Sehnenreflexen nachfolgen kSnnen; aber er konnte sich in diesen F~Uen niemals mit Sicherheit davon iiber- zeugen, dab diese mit so auffallender Latenz erfolgenden Reaktionen nicht wiUkiirlich waren. Diese MSglichkeit war bei unserem Falle ausgeschlossen, so dab man vielleicht auch in anderen F~llen auf diese reflektorischen Reaktionen mit langer Latenz zu achten haben wird. Wir bemerken iibrigens noch einmal, dab die Latenz sich an den Tagen besonders lebhafter Erregbarkeit in unserem Falle erheblich abkiirzte, so dab diese Reflexe dann yon den gewShnlichen Reflexen kaum oder gar nicht zu unterscheiden waren. Ob sie im Grunde auch nichts anderes sind wie gewShnliche Knochen- und Sehnenreflexe, wird durch weitere Beobachtungen entschieden werden kSnnen.

Was nun die spezieUe Bedeutung unserer Beobachtungen fiir die Lehre yon den Reflexen nach totaler Riickenmarksdurchschneidung anlangt, so werden die friiher erw~hnten Versuche Co l l i e r s durch sie erg~nzt und verallgemeinert. Wir haben hier auch auf die sp~teren Mitteilungen H. M u n k s 1) zu verweisen, nach denen Hunde, die ja die Reflexe nach Riickenmarksdurchschneidung behalten, durch viele Priifungen der Reflexerregbarkeit eine Steigerung der Reflexerregbarkeit bekommen. Es wird durch unsere Beobachtungen sehr wahrscheinlich, da~ die Ursache der Reflexlosigkeit des isolierten menschlichen Riickenmarks auf funktionellen Eigenschaften beruht. Das mensch- liche Riickenmark kann zur Aufrechterhaltung seiner reflektorischen TKtigkeit die ihm vom Gehirn zuflie$enden Impulse nieht oder meist nicht entbehren, und wir kSnnen die Funktion dieser Impulse durch Zufiihrung sensibler Reize v o n d e r Peripherie bis zu einem gewissen Grade und nach gewissen Richtungen ersetzen. Der ge- nauere Mechanismus ist nicht ganz klar. Insbesondere kann der Untersehied von Tier und Mensch kaum darauf zuriiekgefiihrt

1) H. Munk, (~ber das Verhalten der niederen Teile des Cerebrospinal- systems nach der Ausschaltung hSherer Teile.Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1909, S. 1106.

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~ber Wiederbelebung der Reflexe nach Rtlckenmarksverletzung. 453

werden, dab dem isolierten Riiekenmark des Menschen nicht ge- niigend Impulse yon der Peripherie zugefiihrr werden, etwa infolge der GleichfSrmigkeit und Hitflosigkeit der Lage des riickenmarks- verletzten Menschen gegenfiber der Bewegliehkeit des Tieres. Denn eine nicht weiter auflSsbare Tatsache bleibt der oft festgestellte Gegen- satz zwischen der haufig~) so aul~erordentlich erhShten reflektorisehen Erregbarkeit des menschlichen Rfickenmarks, solange noch eine kleine, zu willkfirlieher Innervation fast gar nicht mehr ausreiehende Briieke von cerebrofugaten Fasern es mit dem Gehirn verbindet, und der voll- kommenen oder fast vollkommenen Reflexlosigkeit, die dann eintritt, wenn auch diese letzte Briieke abgebrochen wird. Dieser Gegensatz zeigt aber doch, dab es auf die Zuffihrung peripherer Impulse viel weniger ankommt als auf die beim Mensehen gegeniiber dem Tier gesteigerte und anders gestaltete Abhangigkeit des RSekenmarks vom Gehirn. Wir mSchten also keineswegs so verstanden werden, als wenn wir glaubten, durch unsere Versuche die volle Aufklarung der Differenz zwisehen Mensch und Tier gefunden zu haben. Wi r g l a u b e n v i e l m e h r , d a l ~ i n f o l g e de r v o l l k o m m e n e n Q u e r t r e n n u n g des R i i c k e n - m a r k s bzw. s a m t l i e h e r c e r e b r o f u g a l e r B a h n e n b e i m M e n - s e h e n - - im U n t e r s c h i e d v o m T i e r - - die E r r e g b a r k e i t des R f i c k e n m a r k s so s i n k t , dal~ sie n u r d u r e h b e s o n d e r s s t a r k e R e i z e v o n d e r P e r i p h e r i e w i e d e r e r w e c k t w e r d e n k a n n .

Dabei ist fibrigens mit i n d i v i d u e l l e n D i f f e r e n z e n zu rechnen, ~,ie denn auf die Falle, in welchen auch beim Mensehen die Sehnen- reflexe nach Quertrennung des Rfickenmarks fiberhaupt nieht ver- nichtet waren, bereits hingewiesen wurde. Es ist auch sehr wahrscheia- lich, dal~ in anderen Fallen yon Riickenmarksverletzungen nicht genau die gleichen Resultate zu erzielen sind wie in unserem Falle, sondern dal~ sich quantitative und qualitative Abweichungen naeh dieser oder jener Richtung ergeben werden. Es mag Falle geben, in denen die Reflexe auch unter Faradisation fiberhaupt nicht wiederkehren. Es mSgen noeh eine Reihe anderer als die yon uns gefundenen Reflexe in anderen Fallen zu erzielen, und noeh manche interessante Beobachtung z. B. fiber die Ermfidbarkeit und Hemmbarkeit der Reflexe zu machen sein. Da aber die Falle, die sich zu solchen Untersuchungen eignen, doch recht setten sind, durften wir wohl die Ergebnisse in diesem ein- zelnen Fall publizieren. Wir haben aber inzwischen auch schon bei Fallen anderer Art, und zwar bei He m i pie g ie n, bei denen der Plantar- reflex fehlte, Versuehe mit dem Faradisieren angestellt; in zwei Fallen der Art haben wir nach kurzdauernder faradiseher Reizung den bisher fehlenden B a b i n s k i s c h e n Reflex erzielt. In einer Reihe anderer

2) DaB aueh bei teilweise erhaltener motorischer Leitungsbahn die Reflex- exregbarkeit herabgesetzt oder vernichtet sein kann, ist ja bekannt.

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454 M. ~,ewandowsky und H. Neuhof: b~ber Wiederbelebun~ der Reflexe usw.

Falle von Hemiplegie, multipler Sklerose usw. konnten wir eirmn Ein- fiul3 der Faradisation auf die Reflexe indessen nicht nachweisen. Es dfirfte den hier berichteten Resultaten immethln ein fiber die spe- zielle Fragestellung bei der totalen Riickenmarksdurchtrennung hinaus- gehendes allgemeines Interesse zukommen.

Indem unsere Versuche zeigen, dab durch eine kurzdauernde Faradi- sierung eine Erh5hung der Erregbarkeit des Riickenmarks f fir lgngere Zeit bewirkt werden kann, kSnnten sie auch als eine Art Begrfindung der Elek. trotherapie angesehen werden. Es kann das aber nur in dem Sinne ver- standen werden, dal3 die Faradisierung, was nie bestritten wurde, eine gute Art ist, sensible Reize zu erzeugen, nicht etwa zugunsten der spezifischen Wirkung des clektrischen Stroms als solchen. Ob die Zu- ffihrung solcher sensibler Reize in Form des faradischen Stroms nun praktisch oder unpraktisch ist, wird sich jetzt vielleicht an der Hand der Ver~nderung der Reflexe unter der Einwirkung der Faradisation entscheiden lassen. Wir mSchten annehmen, dab es zunKchst indiziert ist, in den FKllen, in welchen keine totale Querschnittsunterbrechung vorliegt, aber die Reflextis nach einer p a r t i e l l e n Verletzung darniederliegt, dutch zweckmKBig abgestufte Faradisierung zu ver- suchen, die Reflexe wieder hervorzurufen und die Reflexerregbarkeit mSglichst dauernd zu erhalten. Denn es wKre nicht unmSglich, daf~ auch die vasomotorischen und trophischen Funktionen des Rficken- marks unter dem Einfluf~ der ibm zugeffihrten Reize gestgrkt werden. Wit wollen nach dieser Richtung erw~hnen, dab ein frfih auf- getretener Decubitus der Kreuzbeingegend, der doch meist in solchen F~tlen rapide Fortschritte zu machen pflegt, in unserem Falle, bei dem vielfach faradisiert wurde, bis zum Exitus beinahe abgeheilt war. Wit kSnnen das vorlgufig f fir nicht mehr als einen Zufall halten, mSchten aber doch daraus die Anregung herleiten, auch auf diese Dinge zu achten. Was die Begrfindung einer eventuellen therapeutischen Bedeutung der Faradisation anlangt, so wird diese ja wesentlich da- durch eingeschr~nkt, daft in den meisten in Betracht kommenden F~llen, z. B. bei multipler Sklerose, die Reflexerregbarkeit yon vornherein zu hoch ist, also eine Kontraindikation einer weiteren Steigerung der Reflexerregbarkeit gegeben schcint. Andererseits haben wit crw~hnt, daf~ auch hemmende Wirkungen der Faradisation nachzuweisen sind. Ob sich demnach eine praktische thcrapeutische Bedeutung der Faradi- sierung bei Querschnittserkrankungen erweiseu lassen wird, scheint zweifelhaft. Abet jedenfalls dfirften auf dem yon uns betretenen Gebiet der Beobachtung der Reflex~nderungen unter dem Einfluft der durch den faradischen Strom vermittelten sensiblen Reize noch eine Reihe yon ob- jektiven Beobachtungen zu machen sein, denen auch eine praktische thera- peutische Bedeutung nicht yon vornherein abgesprochen werden kann.