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Z um jämmerlichen Trauer- spiel war die Gedenkfeier des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Berliner Reichstag schon im Vorfeld gera- ten: Der Präsident des Deutschen Bundestages hatte demonstratives Fernbleiben angedroht, falls dort „Nazitexte“ verlesen würden. Wer solch finstere Absichten hegen könnte, war zunächst nicht er- kennbar. Die Veranstalter hatten lediglich geplant, die Sinfonie „Letzte Briefe aus Stalingrad“ des französischen Komponisten Au- bert Lemeland aufzuführen; die Schauspielerin Senta Berger soll- te die in dieses Werk integrierten Briefe verlesen, die mit der letzten Feldpost aus der umzingelten Stadt ausgeflogen worden waren. Bei zahlreichen Aufführungen, auch in Stalingrad, das heute Wolgo- grad heißt, hatte niemand Anstoß an diesen Briefen genommen – es blieb dem wackeren „Antifaschisten“ Wolfgang Thierse vorbehalten, sie als „Nazitexte“ zu entlarven. Die Einschüchterungsmethode des Bundestagspräsidenten hatte in- sofern Erfolg, als die Veranstalter sich genötigt sahen, die Verlesung der Briefe aus dem Programm zu nehmen und statt dessen Texte zu Gehör zu bringen, die offenbar als politisch korrekt gelten. Thierse kam dann auch zum Festakt, dafür sagte Senta Berger ab – „aus Zeit- gründen“, was man wohl als vor- nehme Umschreibung für Charak- terstärke verstehen darf. Der Fuldaer CDU-Bundestagsab- geordnete Martin Hohmann warf dem Sozialdemokraten Thierse „Unversöhnlichkeit“ vor und er- innerte ihn daran, daß „die wenig- sten der in Stalingrad Gefallenen NSDAP-Mitglieder“ gewesen seien, „und wenn, dann haben sie ihren Irrtum sehr bitter bezahlt. Die mei- sten waren normale junge Deutsche, ohne die heutige Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung“. Hoh- mann verweist in diesem Zu- sammenhang auch darauf, daß die Briefe aus dem letzten Postflugzeug, das Stalingrad verlassen konnte, dem Goebbels-Ministerium gerade nicht für eine Heroisierung der Stalingradkämpfer geeignet erschie- nen. Eigentlich hätte Wolfgang Thierse dies ebenso bekannt sein müssen wie die Tatsache, daß der französi- sche Komponist wohl schon deshalb kaum mit „Nazitexten“ gearbeitet hätte, weil einige seiner engsten Fa- milienangehörigen für ihren Wider- stand gegen die Nationalsozialisten von General de Gaulle persönlich ausgezeichnet worden waren. Auch hat der Präsident sich offenbar nicht klargemacht, welch tiefe Verletzung sein schroffes Verdikt gegen die Ver- lesung der Landserbriefe bei den Angehörigen der gefallenen Stalin- gradkämpfer hervorrufen muß – das ist nicht „Versöhnung über den Grä- bern“, sondern – um Hohmann noch einmal zu zitieren – „Unver- söhnlichkeit über den Tod hinaus“. In letzter Zeit hat der Bundestags- präsident immer häufiger mit ein- seitig moralisierenden Rückgriffen auf die jüngere deutsche Geschichte auf sich aufmerksam gemacht. Da- bei fällt auf, daß seine Form von „Vergangenheitsbewältigung“ sich weitgehend darauf beschränkt, die Vergangenheit anderer zu bewälti- gen, zum Beispiel toter Stalingrad- kämpfer, deren „Schuld“ darin be- steht, keinen Widerstand gegen die Hitler-Diktatur geleistet zu haben. Von offenem Widerstand eines Wolf- gang Thierse gegen die Honecker- Diktatur ist allerdings bislang auch noch nichts bekannt – vielleicht sollte auch dieser Teil der deutschen Vergangenheit einmal „bewältigt“ werden. Hans-Jürgen Mahlitz J ÄMMERLICHES TRAUERSPIEL Wie Wolfgang Thierse Briefe von Gefallenen zu »Nazitexten« umdeutete I m Wahlkampf 1999 ließ sich der damalige SPÖ-Chef und Bundeskanzler Viktor Klima (nun- mehr als VW-Chef in Argentinien entsorgt) noch mit seinen so er- folgreichen Genossen Blair und Schröder plakatieren. Heuer kann man mit Blair, der selbst im eige- nen Land als „Pudel“ von George Bush bezeichnet wird, in Öster- reich nicht viel Wahlwerbung ma- chen. Und mit Schröder? Der war trotz allem als Stargast bei der SPÖ-Schlußkundgebung eingela- den. Doch dem sonst so eifrig mit eingelernten Phrasen hantieren- den SPÖ-Vorsitzenden und Kanz- lerkandidaten, Alfred Gusenbauer, entschlüpfte eine unglückliche Be- merkung: Im Zuge seiner Kritik an der vorzeitig scheidenden ÖVP- FPÖ-Regierung meinte er, daß man die Wähler bei Wahlverspre- chungen über die Finanzlage ge- täuscht habe – wie in Deutsch- land. Dieser politisch unkorrekte Ver- gleich veranlaßte Schröder zur Ab- sage. Selbstverständlich hatte die SPÖ-Parteizentrale eine Meldung parat, die marxistischer Dialektik al- le Ehre macht: Schuld an Schröders Fernbleiben seien ÖVP und FPÖ – mit ihren Warnungen vor Rot-Grün und ihren Hinweisen auf deutsche Verhältnisse. Da sei es verständlich, daß sich Schröder nicht in eine „Schlammschlacht“ hineinziehen lassen wolle. Auch aus Berlin kam die Erklärung, daß man nicht „An- laß zu einer un- differenzierten Wahlkampagne“ sein wolle. Von manchen SPÖ- Funktionären allerdings waren ganz andere Töne zu hören, und insgesamt scheint man in der SPÖ keineswegs unglücklich über den Ausfall dieses „Wahlhelfers“ zu sein. Für die ÖVP kam Unterstützung durch Ministerpräsident Koch und indirekt – in eine vielbeachtete Dis- kussion mit dem Wirtschaftsmini- ster sowie den Spitzen von Wirt- schaftskammer und Industriellen- vereinigung verpackt – durch Ar- beitgeberpräsident Dieter Hundt. Dessen massive Kritik an Schröder und sein Lob für Wiens Wirtschafts- politik war Labsal für die Gastgeber. Ein besonders bemerkenswerter Satz: Österreichs größtes Problem sei Deutschland, denn angesichts der engen Verflechtung kostet die deutsche Wirtschaftsflaute in Öster- reich tatsächlich einen vollen Pro- zentpunkt an Wachstum! Beim anschließenden Empfang war Gele- genheit, Hundt darauf anzuspre- chen, daß die Schere zwischen Steuereinnahmen und Staatsausga- ben nicht zuletzt dadurch so groß sei, daß deutsche Tributzahlungen unter verschieden- sten Titeln ins Ausland fließen. Ob Hundt es wagen würde, dieses Tabu zu thematisieren? Die Grünen, die sich massiv für Drogenfreigabe einsetzen, erhielten Wahlkampfhilfe vom Europa-Abge- ordneten Daniel Cohn-Bendit. Die Freigabe von Sex mit Kindern ist aber bisher noch nicht im Forde- rungskatalog der österreichischen Grünen zu finden. SCHRÖDER NICHT MEHR GEFRAGT Letzte Wahlkampfsplitter aus Österreich, gesammelt von R. G. KERSCHHOFER D er Stern faßte die Gemüts- lage der Nation dieser Tage in einem Witz zusammen, der es verdient, zitiert zu werden: Schröder ruft nach der Wahl seine Mutter an und sagt ihr, er bleibe weiter Bundeskanzler. Darauf sie: „Und was heißt das?“ – „Mutti, ich behalte die Dienstwohnung, den großen Audi, und auch eine Motor- yacht kann ich mir nach der nächsten Diätenerhöhung bald leisten.“ Darauf die Mutter: „Ist ja toll, Gerhard. Paß aber bloß auf, daß die Sozis dir das nicht alles wieder wegnehmen!“ An wen mag die fiktive „Mut- ti“ da wohl gedacht haben? An Schröders Sparkommissar Hans Eichel doch wohl nicht. Der nimmt es ja – bislang zumin- dest – lieber von den „Besser- verdienenden“, den Mittel- ständlern, ganz behutsam vielleicht auch der Großindu- strie (also der klassischen Wäh- lerklientel bürgerlich-liberaler Parteien) oder von Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfängern (die wählen eh nicht SPD, son- dern links- oder rechtsradikal oder gar nicht). Aber aufgepaßt: Bei dem Chaos, das die Regierung inzwi- schen anrichtet, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen: sogar damit, das die Sozis dem eige- nen „Ober-Sozi“ etwas weg- nehmen. H.J.M. Kommentar Heute auf Seite 3: »Wahrheitsgehalt fragwürdig« Unabhängige Wochenzeitung für Deutschland Jahrgang 53 – Folge 47 Erscheint wöchentlich Postvertriebsstück. Gebühr bezahlt 23. November 2002 C 5524 Landsmannschaft Ostpreußen e.V. Parkallee 84/86, 20144 Hamburg DER SPARKOMMISSAR UND DAS CHAOS DIESE WOCHE: Leitartikel »FRIEDLICHE« KRAWALLE Seit Wochen gehören in Hamburg Straßenschlachten mit der Polizei, brennende Barrikaden und demo- lierte Geschäfte wieder zum Alltag. Den Anlaß für die Krawalle, an de- nen sich auch immer mehr „erleb- nisorientierte Jugendliche“ beteili- gen, bot die Räumung eines Bau- wagenplatzes, der als „rechtsfreier Raum“ fungierte. Für Innensenator Schill ist es die bislang schwerste Bewährungsprobe. Seite 2 Aus aller Welt EU-SCHICKSALSGIPFEL Im Dezember soll in Kopenhagen geklärt werden, ob die Türkei Chan- cen hat, eines Tages in die Europäi- sche Union aufgenommen zu wer- den. Während deutsche Politiker den Beitritt der Türkei befürworten, wollen sich die Vertreter des franzö- sischen Volkes nicht auf den türki- schen Kandidaten einlassen. Wie hingegen die Bevölkerung dieser beiden Länder darüber denkt, lesen Sie auf Seite 5 Kultur UNBEQUEM Seine Zeitgenossen schätzten ihn oder sie fürchteten ihn. Er war ein unbequemer Wegweiser, dessen Eigenheiten im deutschen Musik- und Geistesleben noch heute zu spüren sind. Mehr über den Kom- ponisten und Dirigenten Johann Friedrich Reichardt, der vor 250 Jahren in Königsberg geboren wurde, auf Seite 12 Ostpreußen heute KRITIK AN PUTIN Die Transit-Frage um das Königs- berger Gebiet ist geklärt, doch die russische Presse ist von der Lö- sung keineswegs nur angetan. Pu- tin wird öffentlich vorgeworfen, die Region Königsberg mit diesem neuen Kompromiß aufgegeben zu haben. Seite 13 Abschreckung: Mit einem Foto Schröders und seinen neuesten „Errungenschaf- ten für das deutsche Volk“ warnt die Österreichische Volkspartei den Wähler vor Rot-Grün im eigenen Land. Steuerliche Mehrbelastung, schlechtere Bildung und teureres Auto- fahren würden dann auch dort Einzug halten. Foto: ÖVP UNVERSÖHNLICH ÜBER DEN TOD HINAUS DIE SPÖ HAT IN EUROPA KEINE VORBILDER MEHR Wir erfüllen alle Ihre Literatur-, Musik- & Filmwünsche. Preußischer Mediendienst Parkallee 86 20144 Hamburg Telefon: 040 / 41 40 08 27 Telefax: 040 / 41 40 08 58 Preußischer Mediendienst PMD

Unabhängige Wochenzeitung für Deutschland...Ihre Literatur-, Musik- & Filmwünsche. Preußischer Mediendienst Parkallee 86 20144 Hamburg Telefon: 040 / 41 40 08 27 Telefax: 040

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  • Zum jämmerlichen Trauer-spiel war die Gedenkfeierdes Volksbundes DeutscheKriegsgräberfürsorge im BerlinerReichstag schon im Vorfeld gera-ten: Der Präsident des DeutschenBundestages hatte demonstrativesFernbleiben angedroht, falls dort„Nazitexte“ verlesen würden. Wersolch finstere Absichten hegenkönnte, war zunächst nicht er-kennbar. Die Veranstalter hattenlediglich geplant, die Sinfonie„Letzte Briefe aus Stalingrad“ desfranzösischen Komponisten Au-bert Lemeland aufzuführen; dieSchauspielerin Senta Berger soll-te die in dieses Werk integriertenBriefe verlesen, die mit der letztenFeldpost aus der umzingeltenStadt ausgeflogen worden waren.

    Bei zahlreichen Aufführungen,auch in Stalingrad, das heute Wolgo-grad heißt, hatte niemand Anstoß andiesen Briefen genommen – es bliebdem wackeren „Antifaschisten“Wolfgang Thierse vorbehalten, sieals „Nazitexte“ zu entlarven.

    Die Einschüchterungsmethodedes Bundestagspräsidenten hatte in-sofern Erfolg, als die Veranstaltersich genötigt sahen, die Verlesungder Briefe aus dem Programm zunehmen und statt dessen Texte zuGehör zu bringen, die offenbar alspolitisch korrekt gelten. Thiersekam dann auch zum Festakt, dafürsagte Senta Berger ab – „aus Zeit-gründen“, was man wohl als vor-nehme Umschreibung für Charak-terstärke verstehen darf.

    Der Fuldaer CDU-Bundestagsab-geordnete Martin Hohmann warfdem Sozialdemokraten Thierse„Unversöhnlichkeit“ vor und er-innerte ihn daran, daß „die wenig-sten der in Stalingrad GefallenenNSDAP-Mitglieder“ gewesen seien,„und wenn, dann haben sie ihrenIrrtum sehr bitter bezahlt. Die mei-sten waren normale junge Deutsche,ohne die heutige Möglichkeit derKriegsdienstverweigerung“. Hoh-mann verweist in diesem Zu-sammenhang auch darauf, daß dieBriefe aus dem letzten Postflugzeug,das Stalingrad verlassen konnte,dem Goebbels-Ministerium geradenicht für eine Heroisierung derStalingradkämpfer geeignet erschie-nen.

    Eigentlich hätte Wolfgang Thiersedies ebenso bekannt sein müssenwie die Tatsache, daß der französi-sche Komponist wohl schon deshalbkaum mit „Nazitexten“ gearbeitethätte, weil einige seiner engsten Fa-milienangehörigen für ihren Wider-stand gegen die Nationalsozialistenvon General de Gaulle persönlichausgezeichnet worden waren. Auchhat der Präsident sich offenbar nicht

    klargemacht, welch tiefe Verletzungsein schroffes Verdikt gegen die Ver-lesung der Landserbriefe bei denAngehörigen der gefallenen Stalin-gradkämpfer hervorrufen muß – dasist nicht „Versöhnung über den Grä-bern“, sondern – um Hohmannnoch einmal zu zitieren – „Unver-söhnlichkeit über den Tod hinaus“.

    In letzter Zeit hat der Bundestags-präsident immer häufiger mit ein-seitig moralisierenden Rückgriffenauf die jüngere deutsche Geschichteauf sich aufmerksam gemacht. Da-

    bei fällt auf, daß seine Form von„Vergangenheitsbewältigung“ sichweitgehend darauf beschränkt, dieVergangenheit anderer zu bewälti-gen, zum Beispiel toter Stalingrad-kämpfer, deren „Schuld“ darin be-steht, keinen Widerstand gegen dieHitler-Diktatur geleistet zu haben.Von offenem Widerstand eines Wolf-gang Thierse gegen die Honecker-Diktatur ist allerdings bislang auchnoch nichts bekannt – vielleichtsollte auch dieser Teil der deutschenVergangenheit einmal „bewältigt“werden. HHaannss--JJüürrggeenn MMaahhlliittzz

    JÄMMERLICHES TRAUERSPIELWie Wolfgang Thierse Briefe von Gefallenen zu »Nazitexten« umdeutete

    Im Wahlkampf 1999 ließ sichder damalige SPÖ-Chef undBundeskanzler Viktor Klima (nun-mehr als VW-Chef in Argentinienentsorgt) noch mit seinen so er-folgreichen Genossen Blair undSchröder plakatieren. Heuer kannman mit Blair, der selbst im eige-nen Land als „Pudel“ von GeorgeBush bezeichnet wird, in Öster-reich nicht viel Wahlwerbung ma-chen. Und mit Schröder? Der wartrotz allem als Stargast bei derSPÖ-Schlußkundgebung eingela-den. Doch dem sonst so eifrig miteingelernten Phrasen hantieren-den SPÖ-Vorsitzenden und Kanz-lerkandidaten, Alfred Gusenbauer,entschlüpfte eine unglückliche Be-merkung: Im Zuge seiner Kritik ander vorzeitig scheidenden ÖVP-FPÖ-Regierung meinte er, daßman die Wähler bei Wahlverspre-chungen über die Finanzlage ge-täuscht habe – wie in Deutsch-land.

    Dieser politisch unkorrekte Ver-gleich veranlaßte Schröder zur Ab-sage. Selbstverständlich hatte dieSPÖ-Parteizentrale eine Meldung

    parat, die marxistischer Dialektik al-le Ehre macht: Schuld an SchrödersFernbleiben seien ÖVP und FPÖ –mit ihren Warnungen vor Rot-Grünund ihren Hinweisen auf deutscheVerhältnisse. Da sei es verständlich,daß sich Schröder nicht in eine„Schlammschlacht“ hineinziehenlassen wolle. Auch aus Berlin kamdie Erklärung, daß man nicht „An-laß zu einer un-differenziertenWahlkampagne“sein wolle. Vonmanchen SPÖ-Fu n k t i o n ä r e nallerdings warenganz andere Töne zu hören, undinsgesamt scheint man in der SPÖkeineswegs unglücklich über denAusfall dieses „Wahlhelfers“ zu sein.

    Für die ÖVP kam Unterstützungdurch Ministerpräsident Koch undindirekt – in eine vielbeachtete Dis-kussion mit dem Wirtschaftsmini-ster sowie den Spitzen von Wirt-schaftskammer und Industriellen-vereinigung verpackt – durch Ar-beitgeberpräsident Dieter Hundt.Dessen massive Kritik an Schröder

    und sein Lob für Wiens Wirtschafts-politik war Labsal für die Gastgeber.Ein besonders bemerkenswerterSatz: Österreichs größtes Problemsei Deutschland, denn angesichtsder engen Verflechtung kostet diedeutsche Wirtschaftsflaute in Öster-reich tatsächlich einen vollen Pro-zentpunkt an Wachstum! Beimanschließenden Empfang war Gele-

    genheit, Hundtdarauf anzuspre-chen, daß dieSchere zwischenSteuereinnahmenund Staatsausga-ben nicht zuletzt

    dadurch so groß sei, daß deutscheTributzahlungen unter verschieden-sten Titeln ins Ausland fließen. ObHundt es wagen würde, dieses Tabuzu thematisieren?

    Die Grünen, die sich massiv fürDrogenfreigabe einsetzen, erhieltenWahlkampfhilfe vom Europa-Abge-ordneten Daniel Cohn-Bendit. DieFreigabe von Sex mit Kindern istaber bisher noch nicht im Forde-rungskatalog der österreichischenGrünen zu finden.

    SCHRÖDER – NICHT MEHR GEFRAGTLetzte Wahlkampfsplitter aus Österreich, gesammelt von R. G. KERSCHHOFER

    Der Stern faßte die Gemüts-lage der Nation dieser Tagein einem Witz zusammen, deres verdient, zitiert zu werden:Schröder ruft nach der Wahlseine Mutter an und sagt ihr, erbleibe weiter Bundeskanzler.Darauf sie: „Und was heißtdas?“ – „Mutti, ich behalte dieDienstwohnung, den großenAudi, und auch eine Motor-yacht kann ich mir nach dernächsten Diätenerhöhung baldleisten.“ Darauf die Mutter: „Istja toll, Gerhard. Paß aber bloßauf, daß die Sozis dir das nichtalles wieder wegnehmen!“

    An wen mag die fiktive „Mut-ti“ da wohl gedacht haben? AnSchröders Sparkommissar HansEichel doch wohl nicht. Dernimmt es ja – bislang zumin-dest – lieber von den „Besser-verdienenden“, den Mittel-ständlern, ganz behutsamvielleicht auch der Großindu-strie (also der klassischen Wäh-lerklientel bürgerlich-liberalerParteien) oder von Sozial- undArbeitslosenhilfeempfängern(die wählen eh nicht SPD, son-dern links- oder rechtsradikaloder gar nicht).

    Aber aufgepaßt: Bei demChaos, das die Regierung inzwi-schen anrichtet, ist mit demSchlimmsten zu rechnen: sogardamit, das die Sozis dem eige-nen „Ober-Sozi“ etwas weg-nehmen. H.J.M.

    Kommentar

    Heute auf Seite 3: »Wahrheitsgehalt fragwürdig«

    Unabhängige Wochenzeitung für Deutschland

    Jahrgang 53 – Folge 47Erscheint wöchentlichPostvertriebsstück. Gebühr bezahlt 23. November 2002 C 5524

    Landsmannschaft Ostpreußen e.V.Parkallee 84/86, 20144 Hamburg

    DER SPARKOMMISSARUND DAS CHAOS

    DIESE WOCHE:

    Leitartikel

    »»FFRRIIEEDDLLIICCHHEE«« KKRRAAWWAALLLLEE

    Seit Wochen gehören in HamburgStraßenschlachten mit der Polizei,brennende Barrikaden und demo-lierte Geschäfte wieder zum Alltag.Den Anlaß für die Krawalle, an de-nen sich auch immer mehr „erleb-nisorientierte Jugendliche“ beteili-gen, bot die Räumung eines Bau-wagenplatzes, der als „rechtsfreierRaum“ fungierte. Für InnensenatorSchill ist es die bislang schwersteBewährungsprobe. SSeeiittee 22

    Aus aller Welt

    EEUU--SSCCHHIICCKKSSAALLSSGGIIPPFFEELL

    Im Dezember soll in Kopenhagengeklärt werden, ob die Türkei Chan-cen hat, eines Tages in die Europäi-sche Union aufgenommen zu wer-den. Während deutsche Politikerden Beitritt der Türkei befürworten,wollen sich die Vertreter des franzö-sischen Volkes nicht auf den türki-schen Kandidaten einlassen. Wiehingegen die Bevölkerung dieserbeiden Länder darüber denkt, lesenSie auf SSeeiittee 55

    Kultur

    UUNNBBEEQQUUEEMM

    Seine Zeitgenossen schätzten ihnoder sie fürchteten ihn. Er war einunbequemer Wegweiser, dessenEigenheiten im deutschen Musik-und Geistesleben noch heute zuspüren sind. Mehr über den Kom-ponisten und Dirigenten JohannFriedrich Reichardt, der vor 250Jahren in Königsberg geborenwurde, auf SSeeiittee 1122

    Ostpreußen heute

    KKRRIITTIIKK AANN PPUUTTIINN

    Die Transit-Frage um das Königs-berger Gebiet ist geklärt, doch dierussische Presse ist von der Lö-sung keineswegs nur angetan. Pu-tin wird öffentlich vorgeworfen,die Region Königsberg mit diesemneuen Kompromiß aufgegeben zuhaben. SSeeiittee 1133

    Abschreckung:Mit einem Foto Schrödersund seinen neuesten „Errungenschaf-ten für das deutsche Volk“warnt die ÖsterreichischeVolkspartei denWähler vor Rot-Grün im eigenen Land.SteuerlicheMehrbelastung,schlechtere Bildung und teureres Auto-fahren würdendann auch dortEinzug halten.

    Foto: ÖVP

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    DIE SPÖ HAT IN EUROPAKEINE VORBILDER MEHR

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    OB47_1.qxd 19.11.2002 18:34 Uhr Seite 1

  • 2 H I N T E R G R U N DFolge 47 – 23. November 2002

    Die ARD strahlt vom 11. biszum 25. dieses Monats je-weils montags von 21.45 Uhrbis 22.30 Uhr einen bemerkenswer-ten Dreiteiler aus. Sein einzigesThema ist mit dem „Wüstenfuchs“Erwin Rommel der einzige Feldherrdes Zweiten Weltkrieges auf der Sei-te der deutschen Verlierer, den nochdie Aura eines Kriegshelden umgibt.

    Der Filmtitel „Mythos Rommel“ist programmatisch und die Doku-mentation entspricht auch diesemProgramm. „Mythos“ heißt laut Du-den „Sage u[nd] Dichtung von Göt-tern, Helden u[nd] Geistern; Legen-denbildung, Legende“; undwelchem Kind der Aufklärung wärees nicht ein Bedürfnis, einer Legen-denbildung entgegenzuwirken, zuentmythologisieren. So beginnt derMehrteiler denn auch mit einemFrontalangriff auf das weitverbreite-te positive Bild des Generalfeldmar-schalls. Der erste Zeitzeuge, der zuWorte kommt, beschreibt ihn als un-freundlich, der zweite als unbeliebt,der dritte als nervenschwach im An-gesicht des Feindes und der vierteals militärisch durchschnittlich. Imweiteren wird das Bild eines eitlen,ehrgeizigen, naiven, militaristi-schen, charakterschwachen Men-schen vervollkommnet. Im Zu-

    sammenhang mit der als Rommelsgrößter Erfolg geltenden EroberungTobruks wird dem Befehlshaber garvorgeworfen, seine Männer als Folgemangelhafter Aufklärung ins offeneMesser des Gegners laufen gelassenzu haben. Warum die Aktion letzt-lich trotzdem glückte, läßt der Filmleider offen.

    Verdächtig ist auch die vor derAusstrahlung vorgenommene Um-benennung der drei Folgen. Hierzuum eine Begründung gebeten, er-widerte die zuständige Pressespre-cherin der ARD: „Eine Titel- bzw.Untertiteländerung wird von unsnur dann herausgegeben, wenn derTitel bzw. Untertitel sich erst nachdem endgültigen Ausdruck (ca.sechs Wochen vor Sendung) ändert.Bei allem, was davor liegt, handeltes sich um Planungen, die jederzeitohne Angabe von Gründen vonder Redaktion geändert werdenkönnen …“

    Da die ARD also eine Nennung ih-rer Gründe nicht für nötig hält, müs-sen wir nolens volens über die Mo-tive spekulieren. Wir könnenfeststellen, daß die drei neuen Fol-getitel besser zum Haupttitel „My-thos Rommel“ passen. So ist bei derersten Folge, die die Zeit bis zum

    Sieg von Tobruk behandelt, der Titel„Der Wüstenkrieg“ durch „Der Krie-ger“ ersetzt worden. Während derBegriff „Wüstenkrieg“ wertneutralist, hat die Titulierung eines Men-schen als „Krieger“ in einer Zeit, inder sich weltweit Kriegsminister eu-phemistisch „Verteidigungsminister“nennen, einen negativ anmutendenBeigeschmack. Beim zweiten Teil istaus „Das Duell“ „Der Verlierer“ ge-worden. Der auch wegen seiner Er-folge vielgelobte deutsche Strategeist also in Wirklichkeit ein „Looser“,so die klare Botschaft. Und im drit-ten Teil wird aus „Der Widerstand“„Der Verschwörer“. Da denkt mandoch statt an die mittlerweile gutbeleumundeten Männer des 20. Julieher an den Cäsar-Mörder Brutus.Unabhängig von der Titelfrage istder letzte Teil sicherlich von seinemThema her der interessanteste, weilman von ihm zu Recht Antwort aufdie Frage erwarten kann, ob ErwinRommel zum Widerstand gehörte.

    Für Menschen, die zwischen denZeilen zu lesen verstehen, ist die fil-mische Biographie trotz der be-schriebenen kaum zu leugnendenTendenz sehenswert. Das gezeigteBildmaterial zum Thema ErwinRommel sucht in dieser Fülle zwei-fellos seinesgleichen, und viele De-

    tails dürften auch dem historischInteressierten neu sein. Auch ist dasvom Untersuchungsgegenstand ge-zeichnete Bild durchaus wider-sprüchlich, denn außer negativenenthält der Film auch positive Zeit-zeugenaussagen. Teilweise wider-sprechen sich gar die Aussagen, sodaß es dem Zuschauer selber über-lassen bleibt, für sich zu entschei-den, welchen Zeitzeugen er fürglaubhafter hält. Das ist kein Wider-spruch zum Vorhergesagten. Sicher-lich kann man den Filmemachernunterstellen, Rommel vom Sockelholen zu wollen, doch ginge es zuweit, ihnen nachzusagen, sie wolltendas bisherige weitgehend positiveBild des Deutschen durch seinGegenteil ersetzen. Die Produzentenselber sind es, die ihre Botschaft anden Zuschauer am Ende ihres Pro-duktes auf den Punkt bringen, wennsie von Erwin Rommel als einemMann sprechen, „der Karriere ma-chen wollte und dafür seinem För-derer und Führer dankbar war biszum Schluß“, einem „Mann, derVerbrechen ablehnte und dennocheinem Verbrecher diente“, einem„Mann, der Hitler beseitigen wollteund sich trotzdem bis zuletzt nichtvon ihm lösen konnte“, einem„Mann voller Widersprüche“.

    MMaannuueell RRuuooffff

    Die Wochenzeitungder LO –

    das Beste der Woche Im Zuge der Einführung desEURO wollten wir uns nicht anden allgemeinen Preissteigerun-gen beteiligen und haben im nunablaufenden Jahr die angefallenenMehrkosten in den BereichenDruck, Papier, Postgebühren, Her-stellung durch äußerste Disziplinbei den Ausgaben zu kompensie-ren versucht.

    Nun aber drücken die außerhalbunseres Hauses entstehenden Ko-stensteigerungen und zwingen unszu einer Bezugspreisanhebung fürunsere Heimat- und Wochen-zeitung.

    Die ab 1. Januar 2003 gültigenPreise entnehmen Sie bitte dernachfolgenden Übersicht.

    Wie Sie sicher bestätigen werden,hat sich die Qualität der Zeitungstetig verbessert. Die Lesbarkeitwurde durch höhere Druckqualitätweiter verbessert. Namhafte Auto-ren konnten neu gewonnen wer-den. Die schon reichliche The-menvielfalt sowie der Umfangwurden erweitert. Und die Redak-tion arbeitet nachhaltig auch ander optischen Ausgestaltung.

    Das Ostpreußenblatt/ PreußischeAllgemeine Zeitung als Stimme

    der Heimat zeichnet sich durchaktuelle, kritische und unabhängi-ge Berichterstattung aus, ist ge-prägt von fachkundigem Ge-schichtswissen und offenem Blickfür die Gegenwart und die Zu-kunft.

    Das motivierte Redaktionsteamsondiert und recherchiert sach-kundig eine Fülle von Themenund setzt sie professionell um. Esbietet somit Woche für Woche fun-dierten Gesprächsstoff und regtzum Nachdenken an.

    Das Ostpreußenblatt/Preußische Allgemeine Zeitung

    ddiiee WWoocchheennzzeeiittuunngg,, ddiiee ddeebbaatttteennffeesstt mmaacchhtt

    Ab 1. Januar 2003 gelten folgendeAbonnementspreise:Im IInnllaanndda 22,65 vierteljährlicha 45,30 halbjährlicha 90,60 jährlich

    Im postalischen AAuussllaanndda 28,50 vierteljährlicha 57,– halbjährlicha 114,– jährlich

    als LLuuffttppoossttsseenndduunngga 39,60 vierteljährlicha 79,20 halbjährlicha 158,40 jährlich

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    Seit gut einem Jahr ist Hamburgs InnensenatorRonald B. Schill nun im Amt. Nach anfäng-lichen Aufgeregtheiten sah es längere Zeit soaus, als habe sich die Anarchisten- und Chao-tenszene der Freien und Hansestadt mit demWirken des vormaligen „Richter Gnadenlos“ ab-gefunden; Schill und die nach ihm benanntePartei geriet weniger durch linke Attacken alsdurch hausgemachte Ungeschicklichkeiten indie Schlagzeilen.

    Auch wenn die tonangebenden elektroni-schen Medien nicht müde wurden, das Horror-bild vom „Rechtspopulisten“ Schill zu verbreiten– im Alltag bemerkten die Hamburger mehr-heitlich nichts von der angeblichen Demontageder Freiheits-, Bürger- und Menschenrechte, um-so mehr aber von der Eindämmung der Drogen-und Kriminalitätsszene, beispielsweise im Um-feld des Hauptbahnhofs.

    Doch die Ruhe an der anarchistischen Fronttäuschte. Seit ein paar Wochen müssen es sichdie Bürger wieder bieten lassen, daß die Straßendieser Stadt fast täglich zu Schlachtfeldern wer-den – brennende Barrikaden, demolierte Ge-schäfte, Banken und Fahrzeuge, Steine und Mo-lotow-Cocktails gegen Polizisten, Hafenstraßeund Rote Flora feiern unfröhliche Urständ.

    Anlaß: Schills Innenbehörde hatte – längstüberfällig! – einen Bauwagenplatz mit dem

    „friedliebenden“ Namen Bambule räumen las-sen. Im Klartext handelte es sich dabei um einender letzten „rechtsfreien Räume“. Seither hältein zusammengewürfelter Haufen aus „fried-lichen Demonstranten“ und Gewalttätern ausder autonomen Szene Bürger und Polizei inAtem. Mit dabei – so die jüngsten Erkenntnisseder Sicherheitsbehörden – immer mehr „erleb-nisorientierte Jugendliche“, die den Krawall alsFreizeitspaß entdeckt haben.

    Sie alle eint der „Kampf gegen Rechts“, womitin diesem Falle der Innensenator gemeint ist.„Gegen Gesetze, gegen die Hetze, für mehrBauwagenplätze“ und „Alle wollen dasselbe –Schill in die Elbe“ skandieren sie, natürlich ganz„friedlich“. Wenn dann aus der sicheren Deckung dieser „friedlichen Demonstranten“heraus die ersten Steine fliegen, wird das nichtnur hingenommen, sondern auch noch mit Bei-fall bedacht. „Daß sich viele Menschen mit derBambule solidarisieren, ist ein Effekt des unver-hältnismäßigen Auftretens der Staatsmacht“, fa-selt die Chefin der grün-alternativen Rathaus-fraktion, Christa Goetsch. Und: „Wir machenweiter“, droht Yavuz Fersoglu von der PDS an.

    Wie verlogen gerade die Grünen, die sich inHamburg GAL nennen, mit dem Thema umge-hen, zeigt sich besonders kraß an jenem Platz,von dem die ganze Randale ausging. Der end-lich geräumte Bauwagenplatz ist dermaßen mitGift- und Schadstoffen verseucht, daß bis fast ei-nen Meter Tiefe das Erdreich abgetragen wer-den muß. Den selbsternannten Umweltschüt-zern ist in diesem Falle die massiv geschädigteUmwelt kein Wort des Protestes wert. ImGegenteil: Sie fordern lautstark noch mehr sol-cher „alternativ bewohnter Giftmüll-Sammel-plätze“.

    Hans-Jürgen Mahlitz:

    »Friedliche« Krawalleals Freizeitspaß

    www.ostpreussenblatt.deBenutzername/User-ID: ob

    Kennwort/PIN: 2250 Anfang August haben wir Ihnen die24-seitige Beilage „Land, Leute, Lands-mannschaft“ zukommen lassen. Mit derDarstellung der vielfältigen, aufopfe-rungsvollen Aufgaben der ehrenamtlichTätigen in der großen Organisation derLandsmannschaft Ostpreußen wurdeauch die Verwendung der Mitgliedsbei-träge deutlich gemacht.

    Einzelne Exemplare dieser Beilagekönnen zum Weiterreichen an Bekanntenoch angefordert werden unter Telefon040-41 40 08 42. Fax 040-41 40 08 51,E-Mail [email protected].

    EIN DREITEILER MIT PROGRAMMDie ARD präsentiert in »Mythos Rommel« den »Wüstenfuchs« als »Mann voller Widersprüche«

    Erwin Rommel: In seinem bekanntesten Einsatzgebiet Afrika Foto: Polarfilm

    Dieser Ausgabe liegt ein Katalog des Preußischen

    Mediendienstes bei

    OB47_2 19.11.2002 19:48 Uhr Seite 1 (Schwarz/Process Black Bogen)

  • Je größer die Entfernung zur Zeitdes Nationalsozialismus und desZweiten Weltkrieges wird, destophantasievoller werden Medien-

    berichte darüber. Das mag damit zu-sammenhängen, daß die jetzt täti-gen Presse- und Fernsehjournalistendie Ereignisse nicht mehr erlebt ha-ben und daß ihre in der Schule undteilweise auch in der Hochschulevermittelten Kenntnisse miserabelsind, so daß man ihnen zubilligenmuß, es nicht besser zu wissen.

    Das entschuldigt die Falschbe-richterstattung jedoch nicht, gehörtdoch die gründliche und unvorein-genommene Recherche zu denGrundsätzen eines kompetentenJournalismus – so postuliert es je-denfalls der Deutsche Presserat.

    Aber auch einige nun alt gewor-dene Zeitzeugen fühlen sich bemü-ßigt, ihre Erlebnisse von damals sozu frisieren, daß sie den Eindruckerwecken, in ihrer tiefsten Seele im-mer Widerstandskämpfer gewesenzu sein. So können sie sich auf dieSeite der Sieger mogeln, und wergehörte nicht gern zu den Siegern?

    Eine ergiebige Quelle, sich seinMütchen an den Deutschen zu küh-len, die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts lebten, bilden offenbardie Olympischen Spiele in Berlinvon 1936. Nicht wegzudiskutierenist die Tatsache, daß deren Vorberei-tung, Organisation und Durchfüh-rung alle vorherigen OlympischenSpiele in den Schatten stellten. Nurungern wird zugegeben, daß dieBerliner Spiele in den späteren Jahr-zehnten zum Muster wurden. Eskann auch nicht vergessen gemachtwerden, daß in den Sommer- undWinterspielen 1936 die Deutschendie erfolgreichste Nation waren; sieerrangen die meisten Medaillen.

    So bleibt dann nur übrig, dieOlympischen Spiele, seien es dievon 1936, seien es daran anknüp-fend die der folgenden Jahrzehnte,zum Anlaß zu nehmen, hämischeBemerkungen gegen die Deutschenabzusondern oder Greuelmärchenzu verbreiten. Gern wird angepran-gert, daß Hitler sich geweigert ha-ben soll, dem mit vier gewonnenenGoldmedaillen erfolgreichsten Läu-fer aus den USA, Jesse Owens, dieHand zu geben, als er ihm die Me-daillen übereichte, weil der ein Far-biger war. Dabei wird ver-gessen, daß noch nie einStaatsoberhaupt Olympia-Medaillen vergeben hat,sondern daß das die Auf-gaben des internationalenOlympischen KomiteesIOC war und ist. So hatteder Rassist Hitler auch kei-ne Gelegenheit, dem Wunderläuferaus den USA die Hand zu verwei-gern.

    Die Frankfurter Allgemeine veröf-fentlichte am 7. Februar 2002 eine„Rückblende“ auf Olympia undschrieb darin, daß sich „auf dem of-fiziellen Plakat der Winterspiele1936 der Hitler-Gruß nur ahnenläßt“. Tatsächlich ist vom Hitler-Gruß auf dem Plakat weit und breitnichts zu sehen. Weiter: DerSchwimmer „Karl Schäfer verpaßtein halbes Jahr später seinen Startbeim Brustschwimmen in Berlinwegen einer Verbrennung, die er

    sich bei einer Erfindung der Naziszuzieht: dem olympischen Fackel-lauf. Bis zu den nächsten Spielenwird die Welt wissen, daß es nur ei-ne Fingerübung der braunen Brand-stifter war“. Darauf muß man erstmal kommen! Läufer, welche die inOlympia entzündete Fackel an denOrt der Spiele bringen, treiben Fin-gerübungen für spätere Brandstif-tungen, etwa von Synagogen. Fürwas sind wohl die seitdem üblichgewordenen, durch die halbe Weltgetragenen Fackeln mit dem olympi-schen Feuer „Fingerübungen“?

    Wie kritiklos Journalisten sich be-quemer Klischees bedienen, die ih-ren Ursprung nicht selten in derpsychologischen Kriegsführung derSiegermächte haben, das zeigtewiederum die Frankfurter Allge-meine in einem Beitrag am 19. Juli2002. In einem Rückblick auf dieOlympischen Spiele in Helsinki liestman: „Der (sowjetische) Turner Wik-tor Tschukarin war der deutschenKriegsgefangenschaft nur entkom-men, weil die Sprengsätze auf demLastkahn, mit dem man ihn und2.000 andere Arbeitssklaven vonBremervörde zum Sterben auf dieNordsee geschleppt hatte, nichtzündeten.“

    Der kritische Leser stutzt, klingtdie Story doch nach handfester so-wjetischer Greuelpropaganda, wes-wegen er als neugieriger Zeitgenos-se den Verfasser des Artikels nachseiner Quelle fragt. Der beruft sichin seiner Antwort auf ein „Standard-werk der olympischen Statistik“,nämlich auf das Buch von VolkerKluge „Olympische Sommerspiele –Die Chronik II“ aus dem Sportver-lag, Berlin, erschienen 1998. Dortheißt es in einer Fußnote über denerwähnten sowjetischen SportlerTschukarin: „Bei Kriegsausbruch ge-riet er in deutsche Gefangenschaft.Er kam ins KriegsgefangenenlagerSandbostel bei Bremervörde. Dortgab er sich als Landarbeiter aus, wassein Glück war. Er wurde bei einerBäuerin namens Bruns eingesetzt,die mit ihm menschlich umging, sodaß er überlebte.

    Bei Kriegsende jedoch wurde ermit 2000 anderen bis aufs Skelettabgemagerten Kriegsgefangenen aufeinen Lastkahn von Bremervördeauf das offene Meer hinausge-

    schleppt, wo das Schiff durch Mi-nen versenkt werden sollte, dochdie Sprengsätze funktioniertennicht. So blieben die Gefangenenohne Wasser und Verpflegung ihremSchicksal überlassen, bis sie von ei-nem britischen Kriegsschiff gefun-den wurden. Im November 1945kehrte Tschukarin in die UdSSR zu-rück.“

    Eine Prüfung ergab, daß der AutorVolker Kluge aus Berlin auch in sei-nem Nachschlagewerk über dieOlympischen Spiele auf eine Quel-lenangabe verzichtet hatte. Auf diebriefliche Anfrage an Kluge, wel-

    chen Beleg er für seine Behauptungnennen könnte, erfolgte zunächstnichts. Erst als man nachbohrte unddie Vermutung aussprach, seinSchweigen könne bedeuten, daß eskeine Quelle für seine Behauptunggibt, antwortete er dem Berichter-statter in rüdem Ton und äußerteden Verdacht, es werde offenbar be-absichtigt, „deutsche Kriegsverbre-chen zu leugnen“. Dennoch konnteer nicht umhin, nunmehr seine„Quelle“ zu offenbaren. Er verwiesauf die ebenso bekannte wie renom-mierte Dokumentations- und Ge-denkstätte Sandbostel in Bremer-vörde.

    Dort wurde 1939 ein sich immermehr ausweitendes Kriegsgefange-nenlager als „Stalag X B“ eingerich-tet, in dem dann ab 1941 vor allemsowjetische Kriegsgefangene unter-gebracht wurden. Im Herbst und imWinter 1941/42 kam es unter ihnenzu einem Massensterben durchHunger, Seuchen, Erschöpfung undGewalt. Wie viele Tote auf dem gro-ßen Lagerfriedhof beerdigt sind, istungeklärt. Die Schätzungen schwan-ken zwischen 8.000 und 50.000, vonihnen ein großer Teil KZ-Häftlinge,da in den letzten Kriegswochen ausdem Osten zurückgeführte KZ-Häft-linge in dem Lager zusammenge-pfercht worden waren, von denenviele an Seuchen und Erschöpfungsowie durch Gewaltanwen-dungen starben.

    Die dort eingerichteteDokumentations- und Ge-denkstätte Sandbostel ver-fügt über umfangreichesMaterial über sowjeti-sche Kriegsgefangene inDeutschland. Dort also sollten nundie Belege über den Versuch zu fin-den sein, am Kriegsende 2.000 so-wjetische Kriegsgefangene in derNordsee zu ertränken, von dem Vol-ker Kluge in seinem Buch über dieOlympischen Spiele berichtete.

    Die Antwort der Wissenschaftlerder Dokumentations- und Gedenk-stätte Sandbostel war allerdings er-nüchternd. In dem Brief an den Be-richterstatter hieß es unterBezugnahme auf den FAZ-Artikel:„Auf Ihre Fragen kann ich Ihnen nurantworten, daß uns keine einschlä-gigen Fakten bekannt sind und daßwir über keine entsprechenden

    Quellen verfügen. Der Ar-tikel erscheint mir bezüg-lich seines Wahrheitsge-haltes und seiner jour-nalistischen Qualität frag-würdig“.

    Volker Kluge hatte auchbehauptet, Tschukarin ha-

    be seine Erinnerungen hinterlassenund mehrere Interviews gegeben, indenen er offenbar die Geschichtevon dem zur Versenkung bestimm-ten Lastkahn kolportiert habe. Nä-here Angaben fehlen.

    Es ist nicht unmöglich, daß der1945 ins Vaterland aller Werktätigenzurückgekehrte ehemalige Kriegsge-fangene Tschukarin dergleichen er-zählt hat, mußte er doch erwarten,daß er, wie fast alle Rotarmisten indeutscher Gefangenschaft, nun als„Landesverräter“ schweren Repres-salien ausgesetzt gewesen wäre. Dahat dann mancher versucht, sich

    durch Thesen, die in die Propagan-da der Sowjets paßten, zu retten – sovielleicht auch Tschukarin, derallerdings nicht mehr befragt wer-den kann, da er 1984 starb.

    Das Pikante an der Geschichte ist,daß Volker Kluge bereits bei eineranderen Gelegenheit als Verbreiteroffenkundiger sowjetischer Propa-gandathesen in Erscheinung trat.

    Die Leser dieser Zeitung werdensich erinnern an einen Bericht, deram 23. Februar 2002 in der Folge 8unter der Überschrift „Eine bizarre

    Gruselgeschichte“ erschien. Daringing der Autor ein auf einen Artikelder Welt, wonach 1942 in der ukrai-nischen Hauptstadt Kiew ein Fuß-ballspiel zwischen einer Mann-schaft der deutschen Luftwaffe,genauer der Flak, und einer ukraini-schen Elf ausgetragen worden ist.Die Ukrainer hätten vorher von derdeutschen Besatzungsmacht Wei-sung bekommen, zu verlieren. Dastaten sie aber nicht, sondern schlu-gen die Luftwaffen-Elf mit 3 : 1 To-ren. Daraufhin seien mehrere Mit-glieder der Mannschaft zur Strafevon den Deutschen erschossen wor-den.

    Die Story erschien zum erstenMal in der Stuttgarter Zeitung vom5. Dezember 1973, woraufhin einLeser Anzeige beim LandgerichtHamburg wegen Kriegsverbre-chens erstattet hatte. Tatsächlichnahm die Staatsanwaltschaft dieErmittlungen auf, die jedoch zukeiner Klärung des Vorwurfs führ-ten. Auch die zur Amtshilfe heran-gezogenen sowjetischen Behördenkonnten einen solchen Vorgangnicht feststellen. Weder konnten sieZeugen ausfindig machen, nochgab es irgendwelche entsprechen-den Dokumente. So stellte die ham-burgische Staatsanwaltschaft 1976das Verfahren ein.

    Nachdem Das Ostpreußenblatt /Preußische Allgemeine über diesenTatbestand berichtet hatte, erhieltder Autor einen langen Brief vonVolker Kluge aus Berlin. Er, der sei-nerzeit offenbar Sportjournalist inder DDR war, habe am 2. Februar

    1976, also im selben Jahr, in demdeutsche wie sowjetische Stellen er-klärten, keine Belege für das Verbre-chen gefunden zu haben, über dasFußballspiel in Kiew und über dieanschließende Ermordung ukraini-scher Spieler in der Zeitschrift derFDJ, Junge Welt, berichtet, nachdemer bei einer Reise in die UdSSR dreiFußballer in Kiew habe interviewenkönnen, die an jenem Spiel teilge-nommen hatten. Auch sie wußtenvon den blutigen Folgen ihres dama-ligen Sieges. Als weiteren „Beweis“führte Kluge eine von ihm selbst an-gefertigte Fotografie des Plakates an,

    in dem die BevölkerungKiews zum Besuch desSpieles eingeladen wordenwar.

    Niemand bezweifelt, daßes das Fußballspiel gege-ben hat. Die deutsche Be-satzungsmacht war damals

    daran interessiert, gerade in derUkraine, wo sie vielerorts als Be-freier vom Bolschewismus empfan-gen worden war, ein gutes Verhält-nis zur Bevölkerung aufzubauen,was dann allerdings konterkariertwurde durch harte Ausbeutungs-maßnahmen der deutschen Zivil-verwaltung. Es ist aber in keinerWeise belegt, daß hinterher ukraini-sche Fußballspieler ermordet wur-den, weil sie die Deutschen nichthatten siegen lassen. Auch hier dürf-te es sich um Schutzbehauptungender befragten Fußballer (wenn es siedenn überhaupt gibt) gehandelt ha-ben, die nach dem sowjetischenSieg harte Strafen zu erwarten hat-ten, weil sie mit den Deutschenfreundschaftlich Fußball gespielthatten. Auch hier also fehlt ein seri-öser Beweis für eine deutsche Greu-eltat.

    Beim Studium der Medien stößtman immer wieder auf derartige Be-hauptungen, die häufig genug einersachlichen Nachprüfung nichtstandhalten. Es wäre heilsam, wennaufmerksame und neugierige Leserund Zuschauer in höflicher, aber be-stimmter Form per Brief, E-Mailoder Fax nach Quellenbeweisen fürderen Behauptungen fragen. Häufiggenug werden sie das gleiche erle-ben wie in den genannten Fällendes angeblich versuchten Erträn-kens von 2.000 sowjetischen Kriegs-gefangenen oder der Ermordungvon siegreichen ukrainischen Fuß-ballspielern. Wenn auf die Nachfra-ge nicht reagiert wird, ist das aucheine Antwort: dann gibt es offenbarkeinen Beleg. !

    3H I N T E R G R U N D Folge 47 – 23. November 2002

    »WAHRHEITSGEHALT FRAGWÜRDIG«Wie schlampige Recherchen die Spuren der NS-Vergangenheit zum Mythos verwischen

    Rassist Hitler hatte gar keine Chance, ihm die Hand zu verweigern: JesseOwens, farbiger Star von Berlin 1936, 1972 in München Foto: dpa

    WER EINE BEHAUPTUNG ANZWEIFELT, WIRDRÜDE VERDÄCHTIGT, »DEUTSCHE

    KRIEGSVERBRECHEN LEUGNEN« ZU WOLLEN

    HAT WIKTOR TSCHUKARIN SEIN SCHICKSALWOMÖGLICH ERFUNDEN, UM

    NICHT ALS »LANDESVERRÄTER« ZU GELTEN?

    Die Olympischen Spiele von 1936 wa-ren ein gewaltiger Propaganda-Erfolgder Nazis. Dennoch gaben sie das Mu-ster für die späteren Spiele. Gefangen in

    diesem ärgerlichen Dilemma nehmenJournalisten jede Geschichte begierigan, um die Superschau zu entlarven –und sitzen dabei mancher Legende auf.

    Von Hans-Joachim v. LEESEN

    OB47_3 19.11.2002 19:48 Uhr Seite 1 (Schwarz/Process Black Bogen)

  • 4 D E U T S C H L A N DFolge 47 – 23. November 2002

    Am 13. November brachtendie Fraktionen der SPD undder FDP im schleswig-hol-steinischen Landtag den Gesetz-entwurf zur Erhöhung der Diätender Landtagsabgeordneten um ins-gesamt 5,7 Prozent zur ersten Le-sung ein. Die erste Hälfte soll zum 1.Januar 2003 gezahlt werden, derRest sechs Monate später. Damitwird die Grunddiät pro Abgeordne-tem bei 4.150E u r o l i e g e n .Hinzu kommenbei mehr als derHälfte der Ab-geordneten so-genannte „Funk-tionszulagen“,die beispiels-weise beim Fraktionsvorsitzendenzur Verdoppelung der Diäten füh-ren. Allerdings hat das Bundesver-fassungsgericht entschieden, daßdiese Zulagen verfassungswidrigsind. Des ungeachtet werden auchsie um insgesamt 5,7 Prozent wach-sen. Nun geht das Gesetz in die Aus-schüsse. Da SPD und FDP zusam-men die Mehrheit haben, werdenwohl die Volksvertreter in den Ge-nuß von Bezügen kommen, von de-nen manche zu den Zeiten, als sienoch ihren erlernten Beruf aus-übten, nur träumen konnten.

    Nur zwei Tage später erklärte indemselben Landtag SPD-Finanz-minister Möller offiziell die „wirt-schaftliche Notlage“ des Landes. Ergeht, wie auch die Bundesregierungund fast alle anderen Landesregie-rungen, von einer „Störung des wirt-schaftlichen Gleichgewichts“ aus.Nach dieser Ausrufung des wirt-schaftlichen Notstandes wird er indie Lage versetzt, neue Schulden zumachen, die über die in der Verfas-

    sung festgeschriebene Kreditober-grenze hinausgehen. Das Land istam Rande der Pleite. Bereits jetzt istSchleswig-Holstein mit mehr als6.700 Euro pro Kopf das am stärk-sten verschuldete Flächenland deralten Bundesländer. Grund sind dieenormen Ausfälle von insgesamt430 Millionen Euro Steuern für daslaufende Jahr. Im nächsten Jahr wirdmit einem Minus von 282 Millionen

    Euro gerechnet.Eine Besserungist nicht in Sicht.Schuld gibt maneiner offenbara n o n y m e n„schlechten Kon-junktur“, die wievom Himmel ge-

    fallen ist. Verantwortlich fühlt sichniemand.

    Wenigstens die CDU-Fraktionmachte die peinliche Diätenrege-lung nicht mit. Ihr Plan: Nachdemdie Abgeordneten im letzten Jahreine Null-Runde bei der Diätener-höhung hingenommen hatten, solldiese Enthaltung angesichts derkatastrophalen Lage um ein halbesJahr verlängert werden. Dann sei ei-ne Diätenerhöhung fällig, die abererst zum 1. Juli 2003 wirksam wird.

    Dabei sollen alle Funktionszula-gen ausgenommen werden. Gekop-pelt werden soll mit der späterenDiätenerhöhung die längst fälligeDiäten-Strukturreform, also diegrundlegende Änderung der „Funk-tionszulagen“, sowie die Verringe-rung der Zahl der Wahlkreise, damitendlich die von der Verfassung vor-geschriebene Zahl von 75 Abgeord-neten eingehalten wird, statt derderzeit 89 Parteienvertreter. Die Ver-kleinerung des Landtages wird seit

    langem von der SPD verhindert,weil sie offenbar bewährten Partei-genossen lukrative Landtagssitzeoffenhalten will.

    Zugegeben: Seit einem Jahr sinddie Diäten in Kiel nicht erhöht wor-den. Viele halten das für recht undbillig, zumal nicht jeder der imLandtag sitzenden Damen und Her-ren als Leistungsträger bezeichnetwerden kann. Aber ist die Erhöhunggerade jetzt in der wohl tiefstenfinanziellen Krise des Staates poli-tisch und moralisch zu vertreten?Schnodderig antwortete daraufLandtagspräsident Ahrens (SPD):„Diätenerhöhungen kommen immerzur falschen Zeit“, so unbewußt zu-gebend, daß die Bürger nicht gar soviel halten von ihren Abgeordneten.

    Bemerkenswert auch die Begrün-dung des SPD-Fraktionsvorsitzen-den Lothar Hay. Nach der Devise„Die Demokratie bin ich“ ermahnteer die Bürger, sie sollten mit ihrerZustimmung zur Diäten-Erhöhungendlich bewei-sen, daß ihnendie Demokratieetwas wert ist.

    Die Bürgerkönnen das Ver-halten ihrer Ab-g e o r d n e t e nlängst nicht mehr verstehen. DieLandesregierung unter Heide Simo-nis hegt den Plan, die Einkommender Mitarbeiter des öffentlichenDienstes kräftig zu beschneiden. DieRede ist von Gehaltskürzungen vonzehn Prozent, von Kürzung desWeihnachtsgeldes und Streichungdes Urlaubsgeldes. Das trifft vor al-lem die kleineren Einkommen. Undso gingen denn einen Tag, nachdem

    der Antrag auf Diäten-Erhöhungvon SPD und FDP im Landtag ein-gebracht worden war, 10.000 De-monstranten aus Polizei, Lehrer-schaft, Feuerwehr, Justiz auf dieStraße, um deutlich zu machen, daßsie die Finanzpolitik von Regierungund Landtag nicht länger mitma-chen.

    Die Sprechchöre hallten von denMauern des Landeshauses wider:„Heide muß weg!“ Eine Dampfwalzemit Transparenten „Frau Simonismacht die Polizei platt“ überfuhrsymbolisch eine in eine Polizeiuni-form gekleidete lebensgroße Puppe.Sprecher der Gewerkschaften grif-fen die Landesregierung scharf an,sie behandele Beschäftigte „wieLeibeigene“, und beschuldigten sie,Mitarbeiter des öffentlichen Dien-stes „zu verunglimpfen“. Einer trugein Schild: „Stoiber statt Simonis –für mehr Biß“. „Nicht nur Politikerhaben höhere Lebenshaltungs-kosten, sondern wir auch“, äußerteeiner der Demonstranten, dabei auf

    die Diäten-Erhö-hung der Parla-mentarier hin-weisend.

    Die Antwortder Volksvertre-ter im Landtag:Die Demonstra-

    tion trage „totalitäre Züge“, so derSPD-Abgeordnete Puls, der den Ge-werkschaftsspitzen vorwarf, sie hät-ten sich als „Aufheizer und Einpeit-scher“ betätigt und die Polizei-beamten offen zum „Aufstand“ auf-gerufen. Man hört nichts davon, daßsich Abgeordnete wenigstens mit-verantwortlich fühlen für denNiedergang der Wirtschaft und da-mit der Staatsfinanzen – nicht ein-

    mal aus den Reihen der die Regie-rung und den ihre Politik tragendenParteien SPD und Grünen kommennachdenkliche Stimmen zu der vonihnen getriebenen Politik. Sie allehaben mit dem Desaster nicht, zutun, meinen sie. Und sie verlangenin allem Biedersinn die Erhöhungihrer Einkommen, auch wenn sichdadurch das Land noch mehr ver-schulden muß. Offenbar trauen siesich selbst keinerlei Einfluß auf dieEntwicklung zu.

    Damit stellen sie ihre politischeExistenz selbst in Frage und merkenes nicht einmal. HHaannss--JJ.. vvoonn LLeeeesseenn

    Gedanken zur Zeit:

    DIE MORAL AUS DER KNOCHENMÜHLEVon Hans HECKEL

    Am Stammtisch im DeutschenHaus hörte man mit Erstaunen,daß nach den Worten des deut-schen VerteidigungsministersPeter Struck die deutschen Trup-pen in Afghanistan die „Lead-Funktion“ übernehmen werden– was immer das auch ist.

    Doch Peter Bomba aus Kirch-linteln schaffte im Internet Auf-klärung, die am Stammtischnicht nur mit Genugtuung, son-dern auch mit großer Heiterkeitaufgenommen wurde. Hatte erdoch folgenden Brief an denChef der deutschen Bundeswehrgeschrieben:

    „Sehr geehrter Herr Minister,mein Vater hat mich gebeten, Ih-nen zu schreiben. Er sieht nichtmehr gut und kann es deshalbnicht selbst tun. Aber er ist gei-stig rege und interessiert. So hater am 9. November in den Fern-sehnachrichten Ihre Pressekon-ferenz mit dem amerikanischenVerteidigungsminister mehr ge-hört als gesehen. Und da sagtenSie: ,Im nächsten Jahr werden diedeutschen Truppen in Afghani-stan die Lied-Funktion überneh-men.‘ Darunter konnte er sich garnichts vorstellen, und ich kannihm auch nicht helfen.

    Bleibt die Frage, was durchdiese Aktion bezweckt werdensoll. Ob man hofft, nach demMotto ,Wo man singt, da laß dichnieder, böse Menschen habenkeine Lieder‘ die Afghanen vonihrer kriegerischen Traditionweg umzuerziehen? Aber welcheLieder kann das Militär ihnenbeibringen? Mein Vater – ichkonnte leider nicht dienen –kann sich aus seiner Wehr-machtszeit im Krieg nur an Lie-der wie ,O du schöner Wester-wald‘ und ,Schwarzbraun ist dieHaselnuß‘ oder ,Im grünen Wald,dort der Vogel singt, und im Ge-büsch ein muntres Rehleinspringt‘ erinnern, andere hat erwohl verdrängt. Aber diese Lie-der passen doch schlecht nachAfghanistan. Sollte man deshalbdie ganze Lied-Aktion nicht dochnoch einmal überdenken, bevoreine Menge Steuergelder sinnlosausgegeben wird, die letztlich imInland fehlen?

    Für eine baldige Antwort wä-ren wir sehr dankbar. MeinenVater beschäftigt das Themasehr, zumal er um Abzüge beiseiner Rente bangt, die auchdurch solche Aktionen mit ver-ursacht werden können.

    Mit hochachtungsvollen Grü-ßen.“

    MEHR GELD FÜR DIE VOLKSVERTRETERDer Landtag in Schleswig-Holstein erhöht die Diäten – der Bürger schaut in die leere Geldbörse

    Ich finde nach wie vor die Theorievon Marx richtig, daß der ganzeSchlamassel da ist durch das Privat-eigentum an Produktionsmitteln.“„... wenn Theater gut gemacht undeine sinnvolle Botschaft vorhandenist, kann das eine sehr menschen-und wertebildende Kraft sein.“

    Zitate, die klingen wie abgeschrie-ben aus einer Brandrede für soziali-stische Massenformung mittelsBühnen-Agitprop. Doch der da soideologiefest daherredet, ist keinGeringerer als der gefeierte Opern-regisseur Peter Konwitschny. ZurZeit ist die Hamburgische Staatso-per Austragungsort von Konwit-schnys Vorstellung eines „Theatersals moralische Anstalt“, durchgezo-gen werden Wagners „Meistersin-ger von Nürnberg“.

    Schon bei der Premiere donner-ten dem 56jährigen die Buh-Rufedes ansonsten eher zurückhalten-den hanseatischen Publikums ent-gegen. Wie in anderen Inszenierun-gen konnte der in der DDR großgewordene Konwitschny seine poli-tische Notdurft auch (oder gerade)bei dieser Wagneraufführung nichthalten. Mitten hinein in die be-rühmte Schlußarie kleckerte der Re-gisseur eine peinlich-penetrante Po-litbelehrung: Kurz nach Beginn desfuriosen Endes, wo Hans Sachs den„deutschen Meistern“ huldigt, quat-schen die auf der Bühne versam-melten Mimen auf Regieanweiseungdem Sänger dazwischen, wie erdenn „so was singen kann“. – „Deut-sche Meister!“ Plattestes Antifa-Ge-töse reißt sodann die Wagnersche

    Genialität entzwei. Das war doppeltzum Heulen auch wegen der allge-mein zu Recht gelobten sängeri-schen Leistung der Darsteller. Dochschon durch die beiden vorigen Ak-te mußten sie ihr ganzes Könnenvor dem Hintergrund einer erbärm-lichen Bühnenkulisse zum Glänzenbringen. Der Regisseur wollte es so.

    Die lokalen Opernkritiker warendennoch erwartungsgemäß angetan.Konwitschny habe zur „Entmythifi-zierung des heiklen Stoffes“ beige-tragen, dem „Butzenscheiben-Blink-winkel“ der Wagnerfreunde seinen„Provokationsautomatismus“ ent-gegengestellt.

    Das Wort „Automatismus“ birgteinen Zugang zur tristen Wahrheit.Seit rund 40 Jahren wird nach demimmer gleichen, ausgelatschten Mu-ster „automatisch provoziert“, wirdderselbe ideologische Schmalz überdie Großen der Musik und das Pu-blikum gegossen. Dabei durchziehtalle diese traurigen Darbietungendie unausgesprochene Unterstel-lung, das anwesende Volk sei geistigsimpel, tendenziell „faschistoid“und natürlich reaktionär. Es muß„provoziert“ oder auf dem Niveauvon FDJ-Polittheatergruppen belehrtwerden. Bleiben die Menschen amEnde resigniert zu Hause, macht dasnichts – im Gegenteil: „Dafür kom-men andere nach“, meint Konwit-schny zynisch. Kurzum: wer sichnicht zum „neuen Menschen“ oderwenigstens „neuen Opernbesucher“umformen lassen will, der wird aus-gesondert. Das kennen wir und wirwissen, welche Bahnen derlei mar-

    xistische Bühnentheorie im realenLeben außerhalb der Theater ge-nommen hat.

    Konwitschny machte seine Karrie-re in der DDR, zu seinen großenIdolen zählt der Stalinpreis-TrägerBertolt Brecht („Befohlener Sozia-lismus ist besser als gar keiner“).Neben vielen Opernproduktionenhatte Konwitschny noch Zeit undMuße, 1982 am „Friedensprogrammfür den Zentralrat der FDJ“ am Städ-tischen Theater Leipzig mitzuwir-ken. Jener Konwitschny, der demideologischen Grundgerüst einerDiktatur, die laut Schätzung um die90.000 unschuldige Menschen inden Tod schickte, durchaus positivgegenübersteht, erhebt nun dasTheater zur „moralischen Anstalt“,macht sich über den „heiklen“ Wag-ner her.

    Dabei ist nicht allein der dumpfeideologische Hintergrund, die Drei-stigkeit, daß ein Marxist nach denkommunistischen Verbrechen des20. Jahrhunderts noch „Moral“ ver-ordnet, einfach unerträglich. Nebendiesem politischen steht der künst-lerische Affront: Diese endloseWiederkehr des ewig gleichen, er-müdend absehbaren Affentheaters,das so fürchterlich abfällt vor demGenie der gefledderten Komponi-sten.

    Natürlich ging und geht es beiWagner stets um die Vorliebe hoherNS-Chargen für den Sachsen. Regis-seure wie Peter Konwitschny wollendies „problematisieren“ und stellensich damit in die lange, trostlose

    Reihe jener verspäteten Widerständ-ler, die es mit jedem Diktator auf-nehmen, allerdings nur unter derVoraussetzung, daß er entweder totist oder weit weg – soll heißen: daßer ihnen aus diesem oder jenemGrunde nichts (mehr) anhabenkann.

    Bei real drohenden Gewaltherr-schern sind sie weit weniger tapfer.Konwitschny etwa hatte ein Lebenlang Gelegenheit, einer sehr leben-digen, sehr nahen Diktatur dieStirn zu bieten. Er zog es vor, in ihrKarriere zu machen. Die Mehrzahlder zeitgenössischen Berufskritikerbewirft ihn nun mit Rosen, nenntihn kritisch, gar mutig. Warum?Viele werden sich an die eigene,jüngste Vergangenheit erinnern. Dawar viel Vergangenheitsbewälti-gung, Anklage an die Väter, Protestgegen Diktaturen in Chile odersonstwo – und zynisches Schwei-gen, Schönreden oder gar Sympa-thie gegenüber der deutschen Dik-tatur hinterm Zaun.

    Um 1990 brach – für kurze Zeitnur – Nervosität unter ihnen aus.Manche bekamen richtig Angst:Wird ihre obskure Haltung zur DDRnun etwa ähnlich „kritisch hinter-fragt“ wie die Verstrickungen ver-gangener Generationen in andereDiktaturen? Wurde sie nicht. UndLeute wie Konwitschny helfen mit,daß dies alles unter dem Teppichbleibt, indem sie den Fokus alleinauf jenes Gruselkapitel der deut-schen Geschichte reduzieren, derenletzter Vorhang zum Glück schonvor über 57 Jahren fiel. ■

    DIE VERKLEINERUNGDES LANDTAGS

    WIRD SO VERHINDERT

    DIE REDEIST VON KÜRZUNGEN DES

    WEINACHTSGELDES

    Michels Stammtisch:

    Lied-Funktion

    OB47_4 19.11.2002 15:31 Uhr Seite 1

  • Auf dem EU-Gipfel in Kopen-hagen, am 12. Dezember,könnte sich das Schicksalder Europäischen Union entschei-den. Denn auf diesem Gipfel soll dieTürkei einen Termin für den Beginnvon Beitrittsverhandlungen bekom-men. Es geht natürlich nicht um denZeitpunkt, sondern um das Obüberhaupt. Darüber wird hinter denKulissen der EU heftig diskutiert.Die Front zwischen Befürworternund Gegnern verläuft mitten durchden Kern der europäischen Staaten.Frankreich ist dagegen, Deutschlanddafür. Dabei ist zu unterscheiden: Inbeiden Ländern sind mehr als zweiDrittel der Bevölkerung dagegen(das dürfte auch für die EU insge-samt zutreffen), die Regierung in Pa-ris hält sich zurück, die in Berlinhängt sich aus dem Fenster. Das hateigene Gründe.

    Das künftigeVerhältnis zurTürkei ist wichtig,keine Frage. DasSelbstverständnisEuropas aber istwichtiger. Staats-philosophisch ge-hört die Türkei anden Rand Europas. Ihre Landmasseist wie eine Brücke zur islamischenWelt. Ihr politisches Denken kam ge-rade im jüngsten Wahltriumph fürdie Islamisten zum Ausdruck undkann als Teil dieser Brücke betrach-tet werden. Wenn die Geographienicht mehr zählt und die kleinasiati-sche Landmasse zu Europa gehörensoll, dann ist schwer zu sehen, wieman Aufnahmebegehren von Russ-

    land, Israel oder Algerien, Marokkound selbst Ägypten ablehnen kann.Schon haben einige dieser Staatenden Finger gehoben. Aber selbst oh-ne diese Anrainer des Mare No-strum, nur mit der Türkei wäre dieEU staatsphilosophisch entkernt, po-litisch nicht mehr handlungsfähig,wirtschaftlich im besten Fall einegroße Freihandelszone vom Atlantikbis zum Kaukasus und von Grönlandbis zur Levante und fast zur Sahara.Man überschätzt die Integrationsfä-higkeit des alternden Kontinents,wenn geglaubt wird, junge unddynamische Bevölkerungen wiedie türkische assimilieren zu kön-nen.

    Die Jungen werden die Alten do-minieren. Das ist in der Geschichteimmer so gewesen. Es müssen an-dere Formen der Partnerschaft ge-funden werden. Der Vorsitzende

    des Außenpoliti-schen Ausschus-ses, Volker Rühe,spricht in diesemZusammenhangvon einer Teil-Mitgliedschaft .Das ist der richti-ge Weg. Die Ab-

    sichten von Fischer und Schröder,die sich offen für eine Voll-Mit-gliedschaft einsetzen, haben mitdem Selbstverständnis Europas undder Türkei nichts zu tun. Für solcheFragen haben diese beiden Politikerkeinen Sinn. Ihr Koordinatensystemhat nur die Achsen politische Geg-ner und persönliche Macht. Sach-fragen werden unter diesem Ge-sichtspunkt behandelt. Die Regie-

    rung ist für den Beitritt der Türkei,weil sie sich durch die zu erwarten-de massive Zuwanderung aus Ana-tolien einen Zuwachs an rotgrünenWählern verspricht und dadurch ei-ne strukturelle Mehrheit für dasrotgrüne Projekt, genauer: für diekulturelle Revolution in Deutsch-land, erhofft. Gleichzeitig wollen Fi-scher und Schröder mit dieser Mor-gengabe wieder Gefallen inWashington finden. Daß die Interes-sen einer Weltmacht, die Krieg ge-gen den islamistischen Terror führtund in einem in sich gefestigten Eu-ropa einen künftigen Rivalen sieht,ganz anders gelagert sind, das fichtdie beiden Politiker in Berlin nichtan. Ihre Sicht geht nur bis zum rot-grünen Tellerrand. Washington da-gegen ist der vorauseilende Gehor-sam Berlins nur recht. Er schwächtdie EU und stärkt die Weltmacht.Das ist schon ein kurzes Telefonatmit dem Kanzler wert. Man mußihn deshalb ja nicht wieder inden Arm nehmen, kühle Distanzwird ihn nur noch eilfertiger ma-chen.

    Integrieren und tolerieren kannnur, wer einen eigenen Stand-punkt, eine eigene Identität hat. Je-de andere Politik ist wertlos undführt zur Selbstaufgabe einer Na-tion. Das kann natürlich auch einZiel sein. Für die Franzosen kommtdas nicht in Frage. Deshalb ruhendie Hoffnungen der meisten Deut-schen für Europas und Deutsch-lands Zukunft heute nicht auf derMannschaft in Berlin, sondern aufden Köpfen in Paris. Ein traurigerBefund. JJüürrggeenn LLiimmiinnsskkii

    5A U S A L L E R W E L T Folge 47 – 23. November 2002

    EU-SCHICKSALSGIPFELKommen nach der Türkei auch Israel, Algerien und Ägypten?

    VOLKSABSTIMMUNGÜBER DEN EURO?

    Von Pierre CAMPGUILHEM

    Türkei: Islamistische Frauen mit Kopftüchern demonstrieren in Ankara für ih-ren Glauben und beten zu Allah – mit der türkischen Fahne Foto: reuters

    Die Politik der britischen Re-gierung und ihre Diplomatiescheinen gegenwärtig eherauf die strategischen Probleme alsauf die eigentliche europäische Pro-blematik gerichtet zu sein. Zumin-dest habe ich diesen Eindruck in ei-nem persönlichen Gespräch fürdiese Zeitung mit dem Sprecher derbritischen Botschaft in Paris gewin-nen können. Sicherlich bleibt an derThemse ein Referendum über denEuro auf der Tagesordnung. Die Kri-se mit dem Irak und die Zukunft derstrategischen multilateralen Bezie-hungen im Rahmen der AtlantischenAllianz und der Europäischen Unionsind derzeit allerdings zweifelsohnedas Wichtigste für London. Großbri-tannien sei jedoch weder isolationi-

    stisch noch föderalistisch. Die Regie-rung in der „Downing Street“ wolle,daß Europa eine „Supermacht“ undnicht ein „Superstaat“ werde. Und soist es nicht erstaunlich, daß TonyBlair und seine Mannschaft die Ein-richtung des Präsidentenamtes ander Spitze der EU und auch einenechten Verantwortlichen für die EU-Außenpolitik mit Wohlwollen ak-zeptieren würden.

    Auf jeden Fall sei die britische Re-gierung für eine Osterweiterung derNato, vorausgesetzt, daß diese Er-weiterung gut ausgehandelt wird.Die Erweiterung bedeutet natürlichein Problem in den Beziehungenzwischen Brüssel, das heißt der EU-Kommission, und der Türkei, dieauf dem Balkan großen Einfluß ha-be und ohne die nichts in Mazedo-nien unternommen werden könne.Nach Ansicht des Diplomaten seiseine Regierung hinsichtlich destürkischen Anliegens zu deren EU-Beitritt nicht festgelegt. Auswei-chend merkte er an, London teilenicht die Ansicht von Valéry Gis-card d’Estaing, der unlängst in denSpalten von „Le Monde“ das türki-sche Anliegen nach der EU schroffzurückwies. Alles in allem sieht esso aus, als orientiere sich die briti-sche Regierung weiter in mehrereRichtungen, um „eine Doppelfunk-tion“ zwischen der Nato und der EUzu vermeiden.

    Der Streit zwischen London undParis bezüglich der Einigung zwi-schen Chirac und Schröder in derAgrarpolitik werde in der Öffentlich-keit überzogen dargestellt, so derBotschaftssprecher. Der neue briti-sche Europaminister und seine Kol-legin in Paris haben sich bereits ge-troffen, das Verhältnis werde besser.

    Nuanciert und von der Stimmungder öffentlichen Meinung beeinflußtbleibt die Politik Tony Blairs hin-sichtlich des Euro. Die LondonerRegierung prüfe derzeit fünf Kon-vergenzkriterien, die, wenn sie gün-stig ausfielen, es ihr erlauben dürf-ten, eine Volksabstimmung Ende2003 durchzuführen. Eine solcheVolksabstimmung sei „möglich, abernicht unvermeidbar“, meinte derSprecher. Nach Meinungsumfragensind gegenwärtig 30 Prozent derWähler gegen die Einführung desEuro im Vereinigten Königreich, 25für und der Rest unentschieden. DiePosition des britischen Regierungs-chefs sei noch unklar. Tony Blair, der1997 in die „Downing Street“ ge-langte und 2001 wiedergewähltwurde, könnte in diesem Zu-sammenhang Parlamentswahlenschon 2004 einberufen und dieVolksabstimmung erst später anset-zen. Die britischen Regierungskreiseblieben auf jeden Fall gegenwärtigäußerst vorsichtig hinsichtlich dervon mehreren Ländern geübten Ver-letzung der Kriterien des Stabilität-spaktes. !

    Die bevölkerungsreichste Stadtder Welt steht kurz vor demKollaps. Kriminalität, Smog undÜberbevölkerung setzen Mexiko-Stadt stark zu. Die Stadt wird auf-grund dessen schon von Touristen,Investoren und braven, anständigenBürgern gemieden.

    Der Oberbürgermeister AndrésManuel López Obrador hat sich festvorgenommen, wenigstens die Kri-minalität rigoros zu bekämpfen.Hierfür hat er den Ex-Bürgermeistervon New York, Rudolph Guiliani, alsUnterstützung geholt. Guiliani hattesich einen Namen im Rahmen sei-ner „Null-Toleranz-Doktrin“ ge-macht.

    Bevor Guiliani Bürgermeister derWeltmetropole wurde, stand NewYork für Sündenpfuhl, organisiertesVerbrechen, mörderischen Drogen-krieg, Peep-Shows am TimesSquare, Schnapsleichen und Fixerin nach Urin stinkenden Hausein-gängen. Es gab Pappkartonbehau-sungen der Obdachlosen auf Bür-ger- und Bahnsteigen, Dreck inParks und Straßen, brennende Müll-tonnen, Polizeischutz in U-Bahnen,Wandschmierereien und an Ampel-kreuzungen die Scheibenputzer mitpenetrant fordernd aufhaltenderHand. New York war der vielleichtam wenigsten lebenswerte Ort aufErden.

    Heute geht statt dessen dasGlanzbild vom „neuen“ New Yorkum die Welt: sauber, effiziente Poli-zei und hilfsbereite Einwohner. DasErfolgsrezept ist einfacher, als manglaubt. Die Devise heißt einfach nur„Zero Tolerance“ („Null-Toleranz“).Dies bedeutet, daß die Ordnungauch gegenüber kleinsten Gesetzes-verstößen aufrechterhalten wird.Eine Art „Wehret den Anfängen!“,mal nicht nur auf den Nationalsozi-

    alismus gemünzt, sondern auf dieKriminalitätsbekämpfung. In derPraxis wirkt sich das wie folgt aus:starke Polizeipräsenz, die bei denkleinsten Vergehen sofort einschrei-tet, denn mit jedem kleinen Geset-zesverstoß sinkt die Hemmschwelleder Täter und die Abschreckungvor zukünftigen – vielleicht sogarschlimmeren – Straftaten ist nichtmehr vorhanden. Der frappierendeKriminalitätsrückgang in der ehe-maligen Verbre-chensmetropoleder Welt suchtbisher seinesglei-chen. In New Yorkist die Kriminali-tätsrate innerhalbvon drei Jahren(1994–1997) umsiebenunddreißig Prozent gesun-ken, die Rate der Tötungsdelikte so-gar um fünfzig Prozent. Kritiker po-lemisieren, daß die Zurechtweisungeines urinierenden Bettlers sichwohl schwerlich als Schlag gegendie Mafia deuten lasse. Andere wei-sen darauf hin, daß sich in den Jah-ren des Kriminalitätsrückganges le-

    diglich die Altersstruktur dermännlichen Straftäter in New Yorkverändert und so diesen erstaun-lichen Rückgang hervorgerufen ha-be. Alle Einwände vermögen aberden richtigen kriminologischen An-satz der Null-Toleranz-Strategienicht zu entkräften. Er basiert aufder ebenfalls in den VereinigtenStaaten entwickelten „Broken-Win-dows“-Theorie, die besagt, daßSchmutz sich immer in besonderem

    Maße dort an-häuft, wo schonSchmutz vorhan-den ist, daß derä u ß e r e n Ve r -wahrlosung dieinnere folgt, daßUnordnung zuimmer weiter ge-

    hender Unordnung ermutigt, daßder äußerliche Regelbruch auch zurVerletzung anderer Regeln verleitet.Ein zerbrochenes Fenster, das nichtinstand gesetzt wird, ist ein Zeichendafür, daß niemand sich um dieOrdnung kümmert. Ist erst einmalein Fenster eines Gebäudes einge-worfen, gibt es kein Halten mehr;

    bald schon werden alle Scheibeneingeschlagen sein. Häuser mit zer-brochenen Fenstern werden aberschnell zum Freiwild für Leute, dieetwas plündern wollen. Der nächsteSchritt in dieser Kettenreaktion istdie Ausbreitung zunächst leichter,dann immer schwererer Krimina-lität. Deshalb müssen zur effektivenVerbrechensbekämpfung alle zer-brochenen Fenster umgehend repa-riert werden. Hinter dem „Broken-windows“-Effekt verbirgt sich dieÜberlegung, daß zuerst die schein-bar „banalen“ Probleme einesWohnviertels behoben werdenmüssen, wie zum Beispiel Ord-nungsverstöße aller Art (Bettelei,Urinieren in der Öffentlichkeit, Al-koholkonsum in der Öffentlichkeit,Ruhestörung, Graffiti, Schwarzfah-ren), um eine erfreuliche Kettenre-aktion in Bewegung zu setzen, dieschließlich über die Steigerung derLebensqualität in die Beseitigunggrößerer Probleme mündet.

    Am 10. Oktober dieses Jahresunterschrieb Guilianis Beratungsfir-ma einen Vertrag mit der Polizeibe-hörde von Mexiko-Stadt, in dem dasgleiche Ziel für Mexikos Hauptstadtangestrebt wird. Experten weisenallerdings darauf hin, daß die Aus-gangslage in beiden Städten geradehinsichtlich der Korruption in denPolizeibehörden sehr unterschiedlichist. Viele mexikanische Behördenseien von Korruption geradezudurchsetzt; die Polizei der Hauptstadtbilde da keine Ausnahme. Insgesamtbewege nach Berechnungen der Pri-vatwirtschaft die Korruption in Mexi-ko jährlich Beträge von mehr als einerMilliarde US-Dollar. Eine effektiveBekämpfung des Verbrechens in derHauptstadt erfordere deshalb nichtnur Null-Toleranz gegenüber Krimi-nellen, sondern auch eine Säuberungdes Polizeiapparates von Korrup-tion. KKaarrll HH.. LLiinncckkee

    Brennpunkt: Erst kommt Armut, dann Müll, dann Kriminalität Foto: dpa

    DIE TEILMITGLIEDSCHAFTIST EINE LÖSUNG FÜR

    DAS STREBEN DER TÜRKEN

    »NULL-TOLERANZ« IN MEXIKO-STADTRudolph Guiliani berät die Polizei in der südamerikanischen Millionen-Metropole

    SCHMUTZ HÄUFT SICHDORT AN, WO

    SCHON SCHMUTZ IST

    OB47_5 19.11.2002 19:53 Uhr Seite 1 (Schwarz/Process Black Bogen)

  • Blick nach Osten

    EINBUSSEN FÜR LINKEWarschau – Die regierende Koali-

    tion aus der postkommunistischenAllianz der Demokratischen Lin-ken (SLD) und der Arbeitsunion(UP) hat sich bei den ersten direktenKommunalwahlen in Polen alsstärkste Kraft behaupten können.Am 27. Oktober und bei der Stich-wahl am 10. November konnte siein den 16 Wojewodschaften diemeiste Zustimmung verbuchen, ge-folgt von der rechtsgerichteten Par-tei für Recht und Gerechtigkeit(PIW). Trotzdem mußte die Linkevor allem bei der Kür der Stadtprä-sidenten (Oberbürgermeister) Fe-dern lassen. Von den größten Städ-ten gewannen die Bewerber derSLD-UP lediglich Krakau, Posen,Rzeszow, Allenstein, Elbing, Thornund Bialystok. In Warschau schnittder „polnische Schill“ Lech Kac-zynski, früherer Solidarnósc-Vor-kämpfer, Ex-Justizminister undheutiger Vorsitzender der PIW, ambesten ab, und in Lodsch siegte derVorsitzende der Christlich-Natio-nalen Allianz (ZChN) Jerzy Kro-powinski. Rechte Erfolge gab es au-ßerdem in Breslau, Stettin, Danzig,Bromberg, Kielce, Lublin undWloclawek.

    Namensstreit bleibtWarschau – Die Namen von in

    Litauen beheimateten Polen undAngehörigen anderer Minderhei-ten müssen in offiziellen Dokumen-ten weiter in litauisierter Schreib-weise abgefaßt sein. Die polnischeRegierung fordert seit einem Jahr-zehnt die Original-Schreibung pol-nischer Namen einschließlich derdiakritischen Zeichen. Zuletzt wur-de dieses Anliegen im Vorfeld desWarschau-Besuchs des litauischenMinisterpräsidenten Brazauskas inder vergangenen Woche abgelehnt.Allerdings hat Litauen als Kompro-miß vorgeschlagen, daß die Namenin Ausweisen generell litauisch auf-tauchen sollen, die polnische Formjedoch in Klammern hinzugesetztwerden könnte.

    SIEBENBÜRGER PRÄGUNGMünchen – Die Landsmann-

    schaft der Siebenbürger Sachsenzeigt sich erfreut darüber, daß mitRenate Schmidt (SPD) erstmals eineFrau mit siebenbürgischen Wur-zeln Bundesministerin gewordenist. Die Mutter der neuen Ministerinfür Familie, Senioren, Frauen undJugend ist eine gebürtige Sächsinaus Frauendorf. Renate Schmidtselbst wurde 1943 im hessischenHanau geboren und wuchs in Fran-ken auf, doch bekannte sich stetsauch zu ihrer siebenbürgischenPrägung. So beteiligte sich die Poli-tikerin 1992, 1993 und 1998 an denHeimattagen der Landsmannschaftin Dinkelsbühl und schloß 1993 eineFestrede mit den Worten: „(...) fürden Reichtum der Kultur Deutsch-lands müssen Ihre Traditionen un-seres gemeinsamen Mutterlandesder Siebenbürger Sachsen lebendigerhalten werden (...).“

    Polen: Kommunalwahl

    STABILISIERUNG IN SCHLESIENAutonomisten landen Achtungserfolg im Industriegebiet / Von Sebastian WIECZOREK

    zehn Prozent. Im Kreis Rybnik kamsie sogar auf 25 Prozent. Würde dieWojewodschaft „Schlesien“ nichtnur ihrem offiziellen Namen nachso heißen, sondern auch territorialrein schlesisch sein, hätte die RASden Sprung über die Fünf-Prozent-

    Hürde locker geschafft. So bleibt esnur bei einem Achtungserfolg von4,5 Prozent. Dennoch wird diesesResultat den Autonomisten Auf-trieb geben, um ihre Ziele – umfas-sende Selbstverwaltungsrechteund internationale Anerkennungals „oberschlesische Minderheit“ –durchzusetzen.

    Deprimierend verlief die Sejmik-wahl dagegen für die Wahlliste„Deutsche des OberschlesischenLandes“ (DOL) des „Zentralratesder Deutschen in Oberschlesien“.Die neue gemeinsame Interessen-vertretung der Deutschen Ar-

    Kreistagsmitgliedern gehören demDFK an, obgleich sie auf drei ver-schiedenen Listen antraten.

    Aber vom guten Ratiborer Ab-schneiden abgesehen, wird im Be-zirk Kattowitz ein bedauerlicherAuflösungsprozeß des deutschenOberschlesiertums deutlich, derseit Mitte der 1990er Jahre zu beob-achten ist.

    Verantwortlich dafür sind struk-turelle Verbandsprobleme, per-sönliche Feindschaften, Überalte-rung der DFK-Vorstände und dieeinfachen Losungen der oberschle-sischen Autonomisten („Wir sindweder polnisch noch deutsch, son-dern oberschlesisch!“).

    Vor allen Dingen ist der Minder-heit die Jugend abhanden gekom-men, die sich für kommunale Be-lange entweder überhaupt nicht in-teressiert, weil sie ihr Heil in der Ar-beitsmigration sucht, oder denüberalterten deutschen Funktionä-ren keine Kompetenz zutraut undandere Parteien wählt. ■

    Polnische Archivpolitik:

    UNLIEBSAME BESUCHERUmgang mit vermeintlichen »Beutedeutschen« hat sich normalisiert

    Kopien abgelehnt wird, da dies dierechtlich geschützten Interessendes polnischen Staates und seinerBürger verletzt“.

    In Polen galt und gilt die Ansicht,daß diese Annahmen der deut-schen Nationalität unter Zwangsowie unter der Drohung von Frei-heitsstrafen erfolgte und eine Ver-weigerung mitunter auch mit demLeben bezahlt werden mußte.

    Vor diesem Hintergrund stellendie genannten Archivbesucher einProblem dar. Denn die Kinder undEnkel vermeintlicher „Beutedeut-scher“ wollen mit den entspre-chenden Kopien beim Bundesver-

    Es gibt zahlreiche Personen, diesich bei der Suche nach Doku-menten, die ihre deutsche Her-kunft bestätigen sollen, an die pol-nischen Staatsarchive wenden.Meist geht es ihnen um die soge-nannte Deutsche Volksliste (DVL)der Kriegszeit oder um Deklaratio-nen bezüglich einer zwischen 1940und 1945 erfolgten Annahme derdeutschen Nationalität.

    Schätzungen zufolge haben da-mals in den besetzten polnischenGebieten sowie im früheren Frei-staat Danzig über eine MillionMenschen eine derartige Erklä-rung abgegeben. Allein in Pom-merellen waren es einige hundert-tausend Menschen, in der Haupt-sache Kaschuben.

    Noch bis vor nicht allzu langerZeit erhielt jede in dieser Angele-genheit an die Archive herantreten-de Person die gleiche monotoneAntwort, wonach „die Bitte um Ein-sicht in die Dokumente sowie dieHerausgabe von diesbezüglichen

    Zugleich betonte der Direktor,daß eine Beglaubigung der entspre-chenden Kopien durch die Archivenicht möglich sei, da den Schrift-stücken damit der Rang eines vonPolen anerkannten Dokuments ein-geräumt würde. In einigen Archi-ven werden seither die Kopien so-gar mit einem eigenen Informati-onsstempel versehen, der das Pa-pier als „nicht-dokumentarisch“ausweist und somit dessen Authen-tizität in Frage stelllt.

    Darüber hinaus ist jegliche ge-nealogisch ausgerichtete Doku-mentensuche in polnischen Archi-ven gebührenpflichtig, und dieGebühren für die einzelnen Lei-stungen sind insbesondere fürAusländer recht hoch.

    Immerhin benötigen nicht-polni-sche Bürger heute keine Genehmi-gung des Direktors der StaatlichenArchive in Warschau mehr, um zuden Beständen Zugang zu erhalten.Ein Antrag vor Ort reicht aus, wasdem Nutzer eine Menge Zeit undNerven spart. Gerhard Olter

    DFK-Büroin Schlesien:

    Die Ergebnisseder deutschen

    Kandidatengeben

    weder zuTrübnis noch zu

    Jubel Anlaß

    Während die polnischenKommunalwahlen am27. Oktober bzw. 10. No-vember landesweit gesehen diepolitischen Verhältnisse erheblichumkrempelten, brachten sie fürOberschlesien keine großen Verän-derungen.

    Sowohl die deutschen Wahlko-mitees als auch die oberschlesi-schen Autonomisten (RAS) dürfenmit ihren Ergebnissen zufriedensein, auch wenn man sie nicht zuden Siegern rechnen kann.

    Die regionalen Kommentatorenbezeichneten den Ausgang derWahlen zu den Sejmiks (Bezirks-parlamenten), Kreistagen, Stadt-und Gemeinderäten als „Stabilisie-rung der Verhältnisse“. Lediglichdie erstmals durchgeführte Direkt-wahl der Stadtpräsidenten, Bür-germeister und Gemeindevorste-her sorgte in manchen Orten fürÜberraschungen.

    Nach der enttäuschenden Sejm-wahl des vergangenen Jahres warvor allem die im DeutschenFreundschaftskreis (DFK) organi-sierte deutsche Minderheit im Be-zirk Oppeln bemüht, verlorenenBoden wiedergutzumachen. Zwarbüßte sie gegenüber der überauserfolgreichen Parlamentswahl von1998 rund 13 000 Stimmen ein undstellt nur noch sieben Abgeordnete(von 30), bleibt aber mit 18,6 Pro-zent (1998: 21,1 Prozent) hinterdem Linksbündnis SLD-UP, dassein 98er Ergebnis halten konnte,zweitstärkste politische Kraft inder Region.

    Zusammen verfügen beide überdie absolute Mehrheit im Sejmikund wollen die bisherige Regie-rungskoalition fortführen. Zudemist nach den ersten Koalitionsge-sprächen davon auszugehen, daßder Deutsche Richard Galla dashöchste politische Amt der Woje-wodschaft, nämlich das des Mar-schalls des Bezirksparlaments, wei-

    terführen wird. Zwar muß derDFK auch auf Kreisebene Einbu-ßen verzeichnen, erreichte aberwie schon 1998 absolute Mehrhei-ten in den Landkreisen Oppeln,Groß Strehlitz und Krappitz.

    Im Kreistag von Rosenberg fehltihm erneut ein Sitz zur Alleinregie-rung. Im Kreis Cosel-Kandrzin er-rang erstmals die SLD-UP dieMehrheit; hier wie auch im Kreis-tag von Neustadt O/S stellt derDFK jedoch die zweitstärkste Frak-tion. Bei den Direktwahlen derBürgermeister und Gemeindevor-steher konnten sich nur noch 25

    DFK-Kandidaten (bisher 31) durch-setzen. Wegen der lokalen Spaltungvieler DFK-Gruppen liegt die tat-sächliche Zahl der deutschen Amts-vorsteher aber höher – nämlich bei31. Vor dem gleichen Hintergrundlassen sich einige erdrutschartigeVerluste des DFK auf Gemeinde-ebene mit den Zugewinnen neue-rer deutscher Wahlkomitees be-gründen.

    Immerhin besetzt der DFK imBezirk Oppeln 340 von 1400 zu ver-gebenen Mandaten zuzüglich etwa40 weiteren deutschen Amtsträ-gern. Entsprechend zeigte sich dieFührung um Heinrich Kroll nachder Wahl zufrieden. Man ließ ver-lauten, daß die politische Stabilisie-rung auf der kommunalen Ebeneauf die erfolgreiche Arbeit in derSelbstverwaltung seit 1990 zurück-zuführen sei, die auch in der polni-schen Bevölkerung Anerkennunggefunden habe.

    Darüber hinaus verwies die DFK-Führung im Wahlkampf ausdrück-lich auf die Finanzhilfen, die sie inden vergangenen Jahren aus derBundesrepublik erhalten und inOppeln und Umgebung verteilenkonnte. Kroll betonte wiederholt,daß ohne „die Bemühungen derMinderheit um weitere bundes-deutsche Hilfen (...), die seit Jahrenkonsequent zur Verbesserung un-serer Lebenssituation geführt ha-ben“ die meisten Vorhaben im kom-munalen Bereich nicht machbar ge-wesen wären und es auch künftignicht anders sein werde.

    Zweifellos stecken die Gemein-den im Bezirk Oppeln in einer tie-fen Finanzkrise und können öffent-lichkeitswirksame Infrastruktur-projekte nur mit westlicher Hilfedurchführen. Durch die Arbeitsmi-gration der Oberschlesier in dieBundesrepublik Deutschland unddie Niederlande verzeichnen dieheimatlichen Gemeinden herbeSteuerverluste und gelten deshalb

    als die ärmsten Gemeinden Polens,obgleich das Pro-Kopf-Einkom-men mit das höchste ist.

    Die im Bezirk Oppeln mit großenErwartungen zum ersten Mal an-getretenen oberschlesischen Auto-nomisten (RAS) mußten dort einenDämpfer hinnehmen. Zwar hatteman mit dem SejmikabgeordnetenHubert Beier, der kürzlich aus Pro-test über die Verbandsführung ausallen DFK-Gremien ausgetretenwar, ein in der Öffentlichkeit be-kanntes Zugpferd gefunden. Den-noch kam die RAS nicht über ma-gere 1,2 Prozent hinaus. Nur in der

    Gemeinde Czissek im Kreis Cosel-Kandrzin gelang es, einen Ratssitzzu gewinnen.

    Ohnehin liegt die traditionelleHochburg der Autonomisten inOst-Oberschlesien, das 1922 zu Po-len kam und heute mit der größtenStadt Kattowitz das Herz der Woje-wodschaft „Schlesien“ bildet. ImIndustrierevier und im südöstli-chen Oberschlesien erreichte dieBewegung in den Städten undKreisen bei der Wahl zum Katto-witzer Sejmik denn auch um die

    Minderheit in Danzig“ deshalb in-terveniert hatten und eine Klage-schrift für den Europäischen Ge-richtshof vorbereiteten, erhieltensie am 31. Mai 2001 ein Antwort-schreiben, das wichtige Änderun-gen der Archivpraxis einleitete.

    Der Direktor der Staatlichen Ar-chive in Warschau, der zugleich al-len polnischen Archiven vorsteht,ließ darin die Auffassung bestäti-gen, daß die Verwehrung von Ein-sicht oder die Herausgabe einerKopie an die unmittelbar Betroffe-nen deren Bürgerrechte verletze.Dann gab er bekannt, er habe An-weisung gegeben, die Benachteili-gungen sofort einzustellen.

    beitsgemeinschaft „Versöhnungund Zukunft“ und des DFK-Be-zirksverbands Kattowitz unter-stützten gerade mal 20 000 Men-schen (1,6 Prozent). Im Kreis Glei-witz, der vor zehn Jahren noch eineHochburg der deutschen Bewe-gung in Oberschlesien war, wirdnur ein Kandidat in den Kreistageinziehen.

    Den einzigen Lichtblick bildendie Gemeinden im Kreis Ratibor.Fünf der acht Gemeindevorstehersind Deutsche, und gleich 21 von 23

    OBERSCHLESISCHE GEMEINDEN SIND DIE ÄRMSTEN IM GANZEN LAND

    waltungsamt in Köln Anträge aufBestätigungen stellen, aus denenhervorgeht, daß auch sie – erblichübernommen von ihren Vorfahren– die deutsche Nationalität undStaatsangehörigkeit besitzen. Sieuntergraben damit natürlich diepolnische These von der zwangs-weisen „Germanisierung“.

    Um das Einreichen derartigerAnträge zu verhindern oder zumin-dest zu erschweren, wurde eine po-litische Entscheidung gefällt, dieschon die Einsicht in die betreffen-den Dokumente verhinderte. Dasbedeutete eine bewußte Verletzungder Bürgerrechte. Nachdem Mit-glieder des „Bundes der Deutschen

    Ö S T L I C H E S M I T T E L E U R O P A6 Folge 47 – 23. November 2002

  • 7G E S C H I C H T E Folge 47 – 23. November 2002

    KIRCHE UND WELT IN DER FRÜHENNEUZEIT IM PREUSSENLAND

    Jahrestagung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung

    Die diesjährige Jahrestagunggehörte in die deutsch-litaui-sche Veranstaltungsreihe„400 Jahre Litauische Bibel“, die inErinnerung an Johannes Bretke(1536–1602), Pfarrer zu Labiau undder litauischen Gemeinde zu Kö-nigsberg sowie erster Übersetzerder Bibel ins Litauische, von JochenDieter Range und seinem Lehrstuhlfür Baltistik in Greifswald geplantwurde. Die Ta-gung hatte dieAufgabe, das poli-tische sowie sozi-al- und bildungs-geschicht l icheUmfeld Bretkes darzustellen und zuerörtern. Da die achtbändige Hand-schrift von Bretkes Bibelüberset-zung nach seinem Tod von seinenErben an den Landesherrn verkauftwurde, dann die längste Zeit überder Staats- und Universitätsbiblio-thek Königsberg gehört hatte undschließlich über das Staatliche Ar-chivlager in Göttingen in das Gehei-me Staatsarchiv Preußischer Kultur-besitz gelangt ist, hat das Archiv dieKommission eingeladen, die Tagungin den Archivräumen in Berlin-Dah-lem durchzuführen. Beides wurdedankbar angenommen und mit gro-ßem Erfolg durchgeführt, zumalzahlreiche Kollegen und Mitarbeiterdes Archivs die Gelegenheit genutzthaben, an der Tagung teilzunehmen.

    Den ersten Vortrag hielt MarioGlauert, Potsdam/Berlin, über „DieVerfassungsentwicklung der Kircheim Preußenland von der Ordenszeitbis zum 18. Jahrhundert“. Er führteaus, daß der Deutsche Orden sichbereits im 13. Jahrhundert eine Vor-machtstellung gegenüber den nurformell gleichrangigen geistlichenLandesherren der vier Bistümer si-cherte, die er im 15. Jahrhundertdank seiner militärischen Schutz-funktion weiter ausbauen konnte.Als ihm nach dem Zweiten ThornerFrieden 1466 nur noch die BistümerPomesanien und Samland verblie-ben, konnten die Hochmeister um1500 faktisch ein Nominationsrechtdurchsetzen, das die frühe Einfüh-rung der Reformation 1523/25 be-günstigte. Dazu sei gekommen, daßdie Bischöfe dabei aktiv mitwirktenund nach der Säkularisierung derOrdensherrschaft auf die weltlichenRechte ihrer Bistümer verzichteten.Während dies weitgehend konflikt-frei verlaufen sei, gelang es der Lan-desherrschaft erst gegen Ende des16. Jahrhunderts gegen den Wider-stand der preußischen Stände, dieevangelischen Bischöfe durch eineKonsistorialverfassung zu ersetzen.Während des 17. Jahrhunderts ließesich ein schleichender Kompetenz-verlust der beiden preußischenKonsistorien be-obachten, so daßder Kurfürst be-reits vor der Kö-nigskrönung von1701 das landes-herrliche Kirchenregiment (iusspremum episcopale) durchsetzenkonnte. 1750/51 schließlich seiendie beiden preußischen Konsisto-rien zusammengelegt und dem neugegründeten Oberkonsistorium inBerlin unterstellt und damit weitge-hend entmachtet worden.

    Räumlich und zeitlich einge-grenzter war der Vortrag von Jan-Erik Beuttel, Berlin, über „Kirchen-gründungen im Insterburgischen“.Er setzte mit der Beobachtung ein,daß erst nach dem Verlust der west-lichen Landesteile infolge des Zwei-ten Thorner Friedens die große

    Wildnis als Siedlungsraum an Be-deutung gewonnen habe, mit Ein-führung der Reformation und Grün-dung des Herzogtums sei diesintensiviert worden. Am Beispieldes Hauptamtes Insterburg wurdegezeigt, daß der Aufbau kirchlicherStrukturen in den östlichen Landes-teilen nur zögerlich voranging undmit der Aufsiedlung der ausgedehn-ten Waldgebiete nicht Schritt halten

    konnte. Zahlrei-che überwiegendlitauische Unter-tanen seien dahergenötigt gewesen,für den Besuch

    des Gottesdienstes übermäßig großeWegstrecken zurückzulegen. DieGründung neuer Pfarrkirchen zurbesseren Versorgung der Bevölke-rung war dem Landesherrn und sei-ner Kirchenleitung daher besondersangelegen. Kriege und Seuchen hät-ten im 16. und 17. Jahrhundert im-mer wieder zu Rückschlägen ge-führt, bevor die Zahl der Kirchen imAmt Insterburg nach 1709 mit demRetablissement und der systemati-schen Ansiedlung unter anderemvon Glaubensflüchtlingen (Salzbur-ger) eine nach Umfang und Vertei-lung seiner Bewohner angemesseneGrößenordnung erreicht habe.

    In die katholisch gebliebeneNachbarschaft des Herzogtumsführte Andrzej Kopiczko, Allen-stein, mit seinem Vortrag „Die Ver-kündigung im Ermland nach der Re-formation“. Für das bisher wenigbearbeitete Thema bildeten Sy-nodalbeschlüsse und Visitations-niederschriften das wichtigsteQuellenmaterial, als aussagekräf-tig erwiesen sich Buchbesitzver-zeichnisse ermländischer Geist-licher. Das Predigen in derMuttersprache der Pfarrkinder warwiederholt anzumahnen – imMittelalter neben den Deutschen fürdie Prußen, in späterer Zeit auchfür Polen. Charakterisiert wurde diePredigttätigkeit der Bischöfe undder beiden Kapitel in nachreforma-torischer Zeit, die Katechese, vor al-lem nach Petrus Canisius, als Aufga-be der Gemeindepfarrer belegt. Essei schwer, im ganzen eine Typolo-gie der Verkündigung zu bestim-men. Am wichtigsten waren bibli-sche Schriften, insbesondere dieEvangelien, aus denen einzelne vor-gelesen und erläutert wurden. Ho-milien oder Postillen seien als Hil-fen benutzt worden. Daneben habees thematische Predigten gegeben,die anhand ausgewählter Schrift-stellen besprochen wurden. Einebesondere Rolle spielten polemi-sche und apologetische Predigten,die der Auseinandersetzung mit derevangelischen Kirche dienten.

    C h r i s t o f e rHerrmann, Allen-stein, stellte „Go-tische Nachklän-ge in der Archi-

    tektur ostpreußischer Kirchen im16., 17. und frühen 18. Jahrhundert“vor. Nach der architekturgeschicht-lichen Blütezeit der Backsteingotikseien im 16. und 17. Jahrhundert inden westlichen und mittleren TeilenOstpreußens kaum noch Kirchengebaut worden, vielmehr ließe sichinfolge der Kriege des 15. und frü-hen 16. Jahrhunderts ein Verlust anPfarreien und Sakralbauten feststel-len. Lediglich in den östlichen undsüdöstlichen Landesteilen, wo dieBesiedlung während der Ordenszeitsehr dünn gewesen sei, sei die Ent-wicklung anders verlaufen. DieBacksteingotik endete etwa an der

    Linie Passenheim – Angerburg –Wehlau. Nur östlich davon seien im16. und 17. Jahrhundert neue Kir-chen entstanden, während in denwestlichen Gebieten oft nur einzel-ne Bauteile (Turm, Gewölbe) ergänztwurden. Die Architektur der länd-lichen Kirchen des 16., 17. und frü-hen 18. Jahrhunderts zeige amAußenbau kaum wirkliche Renais-sance- oder Barockelemente. Viel-mehr orientierten sich die Bautennach wie vor an gestalterischen, insehr vereinfachender Weise über-nommenen Grundzügen der Gotik(chorlose Saalbauten mit Westturm,Blendengliederung der Giebel undTürme). Neu seien unter anderemdie Verputzung der äußeren Wände,die Verwendung des Kreuz- oderBlockverbandes statt des gotischenVerbandes und deutlich kleinereBacksteinformate.

    Einzelheiten aus dem Leben vonKirchengemeinden bieten dieNiederschriften von Kirchenvisita-tionen. Die Edition einer solchenwar die Grundlage des Vortragesvon Jacek Wijaczka, Kielce. Es han-delte sich um die Visitation, die derevangelische Bischof Joachim Mör-lin im Jahre 1569 von April bis Julivorgenommen hatte. Zunächst wur-de die Landschaft historisch charak-terisiert, in der während der Or-denszeit der Bischof in einemDrittel Landesherr war, von demwiederum ein Drittel dem Domkapi-tel unterstanden hatte. Es sei diese

    ein Gebiet mit einer dichten prußi-schen Bevölkerung gewesen, so daßdort kaum Rodungsdörfer entstan-den waren. Dort umfaßten dieKirchspiele bis zu 30 Siedlungen, dadie Kirchen nur an zentralen Ortenerrichtet waren. Die Kirche habe eshier schwer gehabt, die Christiani-sierung durchzuführen, so daß sichauch noch in reformatorischer ZeitSpuren der vorchristlichen Vergan-genheit zeigten. Interessant seiendie Beobachtungen über die Bil-dung der Pfarrer, wie sich diese imBücherbesitz der Pfarrhäuser zeigte,oder wie die Pfarrer mit der Spracheder Prußen zurechtkamen. Der Vor-tragende konnte manches Bemer-kenswerte über das Kirchenvolkvortragen, soweit es der Visitator hatniederschreiben lassen.

    Dann sprach Sven Tode, Ham-burg, über „Die Bildung der Geist-lichkeit in Danzig und im Fürstbis-tum Ermland in der FrühenNeuzeit“. Einleitend stellte er dieBedeutung von Bildung für die früh-neuzeitliche Gesellschaft – insbe-sondere im kirchlichen Bereich –heraus. Durch die Aneignung vonBildung konnten Standesgrenzendurchbrochen und Machtpartizipa-tionen erreicht werden. Anhand vondrei Beispielen verdeutlichte er denhohen konfessionellen Bildungsgradder Gemeinde am Ausgang des 16.Jahrhunderts, die Unterschiede imStadt-Land-Vergleich in bezug aufSeelsorge und Ausbildungsstandder Prediger sowie den theologi-schen Bildungsstand von Pfarrwit-wen, der in dezidierten Supplikenan die Obrigkeit zum Ausdruckkommt. Sein Vortrag mündeteschließlich in fünf Thesen:1) Durch die neu eingerichtetenPriesterseminare sei es zu einer Ver-breiterung der sozialen Basis vonKlerikern gekommen, mithin quasi

    eine „Demokratisierung“ der Prie-sterausbildung erfolgt;2) Zwischen den Lehrinhalten derPrediger in ihren Gemeinden undden besuchten Lehranstalten sei eindirekter Bezug nachweisbar;3) Das Verhältnis zwischen Priester-mangel und Bildungsanspruch anden einzelnen Seelsorger zeige, daßdie Bildungsansprüche konjunktu-rellen Schwankungen unterworfengewesen seien;4) Konfessionelle Lehrinhalte seienauch in der Gemeinde unter theolo-gisch „Ungebildeten“ bekannt gewe-sen; 5) Der Erfolg jesuitischer Bildungs-ideale, die auch in den protestanti-schen Bereich hineinreichten, lassesich nicht verkennen. Nicht zuletztdie borussischeGeschichtsschrei-bung habe dieLeistungen pro-testantischer Bil-d u n g s i n h a l t eüber- und jene der jesuitischen Re-formbewegung unterbetont.

    Im ausführlicheren Abendvortragsprach Heide Wunder, Kassel, über„Das Kirchenvolk im HerzogtumPreußen“. Die Kenntnisse über die-se Thematik seien nicht zuletztwegen der Archivalienverluste amEnde des Zweiten Weltkrieges über-aus selektiv. Unbestreitbar seien je-doch die Unterschiede der Christia-nisierung der deutschen, litauischenund polnischen Bevölkerungsgrup-

    pen, die in den Kirchenordnun-gen der Reformationszeit klar for-muliert seien. Teilweise wärendamit auch unterschiedliche For-men von Christlichkeit und Kirch-lichkeit bei ländlichen und städti-

    schen Bewohnern verbunden.Insbesondere die Kirchenrechnun-gen des 17. und 18. Jahrhunderts, diesich für einzelne Gemeinden in lan-des- oder patronatsherrlichen Aktenerhalten hätten, erlaubten Einsich-ten in das sittliche Verhalten desKirchenvolks, in Einstellungen zuReligion und Pfarrer, in die Bedeu-tung, die sie den „Dienstleistungen“des Pfarrers zumaßen, und nicht zu-letzt in ihre Frömmigkeit, die siebeispielsweise in frommen Stiftun-gen dokumentierten, also in wesent-lichen Bereichen des Alltagslebens.Dennoch bleibe „das Kirchenvolk“ein Forschungsdesiderat, wie derBlick auf die vielfältigen Forschun-gen in anderen deutschen Territo-rien zeige.

    Am letzten Tag stellte Ulrich Mül-ler, Berlin, auf der Grundlage seinerzweiten Disserta-tion unter derÜberschrift „Jo-hann Lohmüllerund die Reforma-tion in Livlandund Preußen“ eine aus Preußenstammende Persönlichkeit vor, dieeher in Livland eine größere Rollegespielt habe. Lohmüller habe dortals Sekretär und Syndikus der StadtRiga die beginnende Reformationgegen die Landesherren (Erzbischofund Deutscher Orden) gefördertund Herzog Albrechts Pläne zurDurchführung der Reformation inLivland unterstützt. Von 1536 bis zuseinem Tod 1560 sei er als herzog-licher Rat in Königsberg auch mittheologischen Lehrstreitigkeiten be-faßt gewesen, die zur Ausweisungder Räte Dr. Westerburg und DanielGnaphäus geführt hätten. Im Streitum Osiander habe Lohmüller denHerzog aufgefordert, dessen Lehrenals irrig aufzugeben. Albrechts Vi-sion von Preußen als Heimstatt für

    Glaubensflüchtlinge sei an der Hal-tung der lutherischen Orthodoxiegescheitert. Lohmüller habe von1555 bis 1559 auch das Amt einessamländischen Offizials bekleidet.

    Einem von der Forschung bisherwenig beachteten Thema wandtesich Hans-Jürgen Bömelburg, War-schau, zu: Reformierte Eliten imPreußenland: Religion, Politik undLoyalitäten in der Familie Dohna(1560–1680). Er stellte diese „zweiteReformation“ durch reformierte Eli-ten im Herzogtum in die Nähe ähn-licher Vorgänge in den großen Städ-ten Danzi