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VuR Zeitschrift für Wirtschafts- und Verbraucherrecht Nomos Aus dem Inhalt Interview Erwartungen an die Gesundheitsreform RA Wolfgang Schuldzinski, Bereichsleiter Recht und Finanzdienstleistung,Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf III Aufsätze Die Liberalisierung der Gesundheitsversorgung in Europa Die höchstrichterliche Entwicklung europäischer Patientenrechte aus dem Geist der Dienstleistungsfreiheit – oder zur Entdeckung des Binnenmarktes als Motor für die Entwicklung der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme PD Dr. Jörg Benedict, München 441 Zum Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung PD Dr. Jörg Benedict, München Anke Reich, LL.M., Erfurt 448 Die medizinische Behandlung des extrem unreifen Frühgeborenen Dr. Markus Glöckner, Rostock 458 Plädoyer für eine Neuregelung des Heilpraktiker- gesetzes Dr. Marina Tamm, Rostock 465 Verbraucherschutz und Tabakkontrollpolitik Dr. Reinhard Pauling, Lüneburg 472 Verbraucherrecht aktuell 12 / 2008 Jahrgang 23 · Seiten 441–480 ISSN 0930-8369 · E 20025 www.vur-online.de In Verbindung mit Verbraucherzentrale Bundesverband und Bund der Versicherten herausgegeben von Prof. Dr. Hans-W. Micklitz Prof. Dr. Udo Reifner Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski Prof. Dr. Klaus Tonner Prof. Dr. Joachim Bornkamm Dr. Friedrich Bultmann Prof. Dr. Peter Derleder Dr. Stefan Ernst Dr. Günter Hörmann Prof. Dr. Wolfhard Kohte Dr. Rainer Metz Prof. Dr. Norbert Reich Prof. Wolfgang Römer Prof. Dr. Astrid Stadler Prof. Dr. Dirk Staudenmayer Walter Stillner Andreas Tilp Verbraucher und Recht Anlegerschutz Konsumentenkredit Versicherung private Altersvorsorge Verbraucherinsolvenz Verbraucherschutz Schwerpunktheft Gesundheit und Sicherheit

und Recht Genossenschaft Einzelkaufmann VuR · – oder zur Entdeckung des Binnenmarktes als Motor für die Entwicklung der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme PD Dr. Jörg Benedict,

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VuRZeitschrift für Wirtschafts- und Verbraucherrecht

Nomos

Aus dem Inhalt

Interview

Erwartungen an die GesundheitsreformRA Wolfgang Schuldzinski, Bereichsleiter Recht undFinanzdienstleistung, Verbraucherzentrale NRW,Düsseldorf III

Aufsätze

Die Liberalisierung der Gesundheitsversorgung in EuropaDie höchstrichterliche Entwicklung europäischerPatientenrechte aus dem Geist der Dienstleistungsfreiheit– oder zur Entdeckung des Binnenmarktes als Motor fürdie Entwicklung der mitgliedstaatlichen SozialsystemePD Dr. Jörg Benedict, München 441

Zum Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung derPatientenrechte in der grenzüberschreitendenGesundheitsversorgungPD Dr. Jörg Benedict, MünchenAnke Reich, LL.M., Erfurt 448

Die medizinische Behandlung des extrem unreifenFrühgeborenenDr. Markus Glöckner, Rostock 458

Plädoyer für eine Neuregelung des Heilpraktiker-gesetzesDr. Marina Tamm, Rostock 465

Verbraucherschutz und TabakkontrollpolitikDr. Reinhard Pauling, Lüneburg 472

Verbraucherrecht aktuell

12/2008Jahrgang 23 · Seiten 441–480ISSN 0930-8369 · E 20025

www.vur-online.de

In Verbindung mitVerbraucherzentraleBundesverband undBund der Versicherten

herausgegeben vonProf. Dr. Hans-W. MicklitzProf. Dr. Udo ReifnerProf. Dr. Hans-Peter SchwintowskiProf. Dr. Klaus Tonner

Prof. Dr. Joachim BornkammDr. Friedrich BultmannProf. Dr. Peter DerlederDr. Stefan ErnstDr. Günter HörmannProf. Dr. Wolfhard KohteDr. Rainer MetzProf. Dr. Norbert ReichProf. Wolfgang RömerProf. Dr. Astrid StadlerProf. Dr. Dirk StaudenmayerWalter StillnerAndreas Tilp

Verbraucher und Recht

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Schwerpunktheft

Gesundheit und Sicherheit

Umschlag 12_2008 28.11.2008 8:37 Uhr Seite U4

INTERVIEW

Erwartungen an die Gesundheits-reformRA Wolfgang Schuldzinski, Bereichsleiter Recht und Finanzdienst-leistung, Verbraucherzentrale NRW,Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

AUFSÄTZE

Die Liberalisierung der Gesund-heitsversorgung in EuropaDie höchstrichterliche Entwicklungeuropäischer Patientenrechte aus dem Geist der Dienstleistungs-freiheit – oder zur Entdeckung des Binnenmarktes als Motor für die Entwicklung der mitgliedstaat-lichen SozialsystemePD Dr. Jörg Benedict, München . . . 441

Zum Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung der Patienten-rechte in der grenzüberschreiten-den GesundheitsversorgungPD Dr. Jörg Benedict, MünchenAnke Reich, LL.M., Erfurt . . . . . . . . .448

Die medizinische Behandlung des extrem unreifen Früh-geborenenDr. Markus Glöckner, Rostock . . . . .458

Plädoyer für eine Neuregelung des HeilpraktikergesetzesDr. Marina Tamm, Rostock . . . . . . .465

Verbraucherschutz und TabakkontrollpolitikDr. Reinhard Pauling, Lüneburg . . .472

VERBRAUCHERRECHT AKTUELL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

BUCHBESPRECHUNG

Mewes, Marc LotharÖffentliches Recht und Haftungs-recht in der Risikogesellschaft. Die Defizite des öffentlichen Rechtsund die Möglichkeiten und Grenzender Risikosteuerung durch Haftungs-recht und Haftpflichtversicherung, Frankfurt am Main etc. 2006Prof. Dr. Gert Brüggemeier, Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479

INFORMATIONEN

Verbraucherzeitschriften im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .V

Veranstaltungshinweise . . . . . . . . .VI

I N H A LT

IMPRESSUM

Schriftleitung: Priv.-Doz. Dr. Kai-Oliver Knops (V.i.S.d.P.), e-mail: [email protected]

Redaktion:Institut für Finanzdienstleistungen e.V. (iff)Rödingsmarkt 31–33, 20459 HamburgTelefon (0 40) 30 96 91 26Telefax (0 40) 30 96 91 22e-mail: [email protected]

Die redaktionelle Arbeit der Zeitschrift wirddurch den Verbraucherzentrale Bundesver-band und den Bund der Versicherten finan-ziert.

Druck und Verlag: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Waldseestraße 3-5, D-76530 Baden-Baden, Telefon 07221/2104-0, Fax 07221/2104-27

Anzeigen: sales friendly, Verlagsdienstleistungen, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 0228/978980, Telefax 0228/9789820,E-Mail: [email protected]

Die Zeitschrift, sowie alle in ihr enthalteneneinzelnen Beiträge und Abbildungen sind ur-heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,die nicht ausdrücklich vom Urheberrechts-gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigenZustimmung des Verlags. Namentlich gekennzeichnete Artikel müssennicht die Meinung der Herausgeber/Redak-tion wiedergeben. Unverlangt eingesandteManuskripte – für die keine Haftung über-nommen wird – gelten als Veröffentlichungs-vorschlag zu den Bedingungen des Verlages.Es werden nur unveröffentlichte Originalar-beiten angenommen. Die Verfasser erklärensich mit einer nicht sinnentstellenden redak-tionellen Bearbeitung einverstanden.

Erscheinungsweise: monatlich

Bezugspreis 2008: jährlich 149,– € (inkl. MwSt),Einzelheft 18,– €; Die Preise verstehen sich incl.MwSt zzgl. Versandkosten. Bestellungen neh-men entgegen: Der Buchhandel und der Verlag.Kündigung: Drei Monate vor Kalenderjahres-ende. Zahlungen jeweils im Voraus an: NomosVerlagsgesellschaft, Postbank Karlsruhe, Konto73636-751 (BLZ 660 100 75) und Stadtspar-kasse Baden-Baden, Konto 5-002266 (BLZ662 500 30).

ISSN 0930-8369

Zeitschrift für Verbraucher und Unternehmen

23. Jahrgang, S. 441-480

12/2008

VuR V E R B R A U C H E R

U N D R E C H T

Vorschau auf Heft 1/2009AUFSÄTZEDer Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der Verbraucherkredit-richtlinie, des zivilrechtlichen Teilsder Zahlungsdiensterichtlinie sowiezur Neuordnung der Vorschriftenüber das Widerrufs- und Rück-gaberecht – Teil 1Ass. jur. Ulrich Kulke, Würzburg

Geld weg bei falscher Konto-nummer? Sorgfaltspflichten imÜberweisungsverkehrRA Martin Wolters, Düsseldorf

VuR 12/2008 | I

Die Gesundheitsreform soll mehr Wettbewerb zwischen den Kas-sen schaffen. Sie werden mit ihren Produkten um den Verbraucherkonkurrieren, auf einem Markt, den die Verbraucher kaum durch-schauen, bei dem es aber um nichts anderes geht, als um Gesund-heit.

VuR: Was sollte bzw. kann die Stiftung Warentest unterneh-men?

Wolfgang Schuldzinski: Die Stiftung Warentest kann, wie inden letzten Jahren auch, regelmäßig die Angebote der gesetz-lichen Krankenkassen vergleichen. Die Kassen, die im Laufedes kommenden Jahres unter den neuen Rahmenbedingun-gen des Einheitsbeitragssatz Prämien ausschütten könnenoder aber Zusatzbeiträge erheben müssen, werden sicher inregelmäßigen Listen in den Testheften oder anderen Zeit-schriften aufgeführt. Nachdem mit dem Gesundheitsfondsnun aber der Preis als wichtiges Kriterium zunächst wegfällt,wird es um somehr auf Satzungsleistungen, Beratungsqualität

und zusätzliche Tarife als Unterscheidungsmerkmal ankom-men. Hier können Tests punktuell Qualitätsunterschiededeutlich machen.

VuR: Ist mehr erforderlich, wenn die Markttransparenz nichtvon der Stiftung erreicht werden kann?

Wolfgang Schuldzinski: Gerade weil die gesetzlichen Kran-kenkassen in Zukunft den Wettbewerb auch über Leistungs-angebote führen müssen, wird die individuelle Beratungimmer wichtiger.

Bereits jetzt gibt es eine verwirrende Vielfalt von Wahltarifen.Dazu gehören beispielsweise gesonderte Tarife für Chroniker-programme, Hausarztmodelle, integrierte Versorgung,Kostenerstattung, Beitragsrückerstattung und Selbstbehalte.Hinzu kommen noch die privaten Zusatzversicherungen fürAngebote, die gesetzlich Versicherte sonst nicht erhalten bzw.deren Kosten sie ohne zusätzliche Absicherung privat tragenmüssen, wie etwa Zahnzusatzversicherungen oder Kranken-hauszusatzversicherungen für eine Kostenübernahme beieiner Chefarztbehandlung im Krankenhaus.

Da der Preis des Angebots als Unterscheidungsmerkmal einegeringere Rolle spielt als bislang, werden künftig Zusatzange-bote und Wahltarife den Unterschied ausmachen. Die Wahlder richtigen Krankenkasse wird schwieriger und kann bei derfalschen Entscheidung, etwa für einen nicht passendenKostenerstattungstarif, auch teuer werden.

Schon die Aufklärung über den Unterschied zwischen quali-tätsorientierten Tarifen, wie dem Hausarztmodell und densog. Desease Management Programmen (strukturierteBehandlungsabläufe für bestimmte chronische Erkrankun-gen) auf der einen Seite und Kostenspartarifen auf der ande-ren Seite ist schwierig. Wenn man dann noch hinzuzieht,dass bei den Tarifen die eine Kostenersparnis versprecheneine dreijährige Bindung eingegangen werden muss, lässtsich eine Wirtschaftlichkeitsberechnung nur sehr schweranstellen.

VuR: Wer sollte in diesem Fall dann helfen?

Wolfgang Schuldzinski: Neben Basisinformationen zu denAngeboten der Krankenkassen werden die Menschen mehrBeratung benötigen. Angebote unabhängiger Beratung exi-stieren aber bislang kaum. Neben den Verbraucherzentralenbieten nur einzelne Patientenberatungsstellen – in einemdurch die Krankenkassen bis 2010 geförderten Projekt – Bera-tung an.

In Zukunft wird aber eine flächendeckende Beratung benö-tigt werden. Um jeden Anschein einer Beeinflussung zu ver-meiden, sollte eine solche Beratung auch nicht von den Kran-

INTERVIEW

Erwartungen an die GesundheitsreformRechtsanwalt Wolfgang Schuldzinski, Bereichsleiter Recht und Finanzdienstleistung, Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf

VuR 12/2008 | I I I

Rechtsanwalt Wolfgang Schuldzinski, Bereichsleiter Recht und Finanzdienstleistung, Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf

I N T E R V I E W

IV | VuR 12/2008

kenkassen sondern aus dem steuerfinanzierten Anteil desGesundheitsfonds getragen werden.

VuR: Welche Probleme haben sich bereits jetzt schon in derPraxis gezeigt?

Wolfgang Schuldzinski: Nachdem die Wahl der Kranken-kasse in Deutschland jahrzehntelang vor allem durch denBeitragssatz begründet war, werden Kassen nun vermehrt umKunden kämpfen müssen. Wie auf allen liberalisierten Märk-ten wird es dabei auch zu Verletzungen von Verbraucher-schutzvorschriften kommen. So gibt es bereits Fälle uner-

laubter Werbeanrufe bei Versicherten, Lockvogelangeboteund irreführende Werbung, etwa wenn bereits vor Inkrafttre-ten des Gesundheitsfonds und bevor die zukünftigen Geld-zuweisungen aus dem Risikostrukturausgleich feststehen,Kassen behaupten, sie würden eine Prämie zahlen.

VuR: Welche möglichen Lösungen kommen in Betracht?

Wolfgang Schuldzinski: Hier bedarf es eines wirksamen Ver-braucherschutzes, der nicht nur Einzelfallberatung anbietet,sondern als Verbraucher schützendes Regulativ in einem ver-gleichsweise neuen Markt auch mit Abmahnungen und ggf.Klagen Verbraucherrechte durchsetzten kann.

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A U F S Ä T Z E

Herausgeber: Prof. Dr. Udo Reifner, Universität Hamburg, Institut für Finanzdienstleistungen e.V. (geschäftsführend); Prof. Dr. Hans-W. Mick-litz, Universität Bamberg; Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski, Humboldt-Universität Berlin; Prof. Dr. Klaus Tonner, Universität Rostock

Prof. Dr. Joachim Bornkamm, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe; Dr. Friedrich Bultmann, Rechtsanwalt, Berlin; Prof. Dr. Pe-ter Derleder, Universität Bremen; Dr. Stefan Ernst, Rechtsanwalt, Freiburg; Dr. Günter Hörmann, Geschäftsführer der VerbraucherzentraleHamburg e.V.; Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Universität Halle-Wittenberg; Dr. Rainer Metz, Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft, Berlin; Prof. Dr. Norbert Reich, Universität Bremen; Prof. Wolfgang Römer, Richter am Bundesgerichtshof a.D., Berlin;Prof. Dr. Astrid Stadler, Universität Konstanz; Prof. Dr. Dirk Staudenmayer, Europäische Kommission, Referatsleiter Generaldirektion Gesund-heit und Verbraucherschutz, Brüssel; Walter Stillner, Rechtsanwalt, Stuttgart; Andreas Tilp, Rechtsanwalt, Tübingen

Schriftleitung: Priv.-Doz. Dr. Kai-Oliver Knops, Institut für Finanzdienstleistungen e.V. (iff), Rödingsmarkt 31-33, 20459 Hamburg

12/200823. Jahrgang, Seiten 441-480

Zeitschrift für Wirtschafts- und Verbraucherrecht

VuR V E R B R A U C H E R

U N D R E C H T

A. Einleitung

Dienstleistungen im Gesundheitswesen unterscheiden sichvon anderen Dienstleistungen sehr signifikant. Zum einen istaus der individuellen Perspektive das Verhältnis des Patientenzum Arzt von einem besonderen Vertrauensverhältnis geprägt.Der Wertschätzung der eigenen Gesundheit korrespondiertregelmäßig die Wertschätzung der Person, der das persönlicheWohl anvertraut wird. Und in eben dieser Wertschätzung liegtnun zum Zweiten auch die besondere Wertschätzung in einfunktionierendes Gesundheitssystem bei denen, denen dieVerantwortung für das Wohl des Gemeinwesens obliegt. Die Si-cherstellung einer umfassenden Gesundheitsversorgung ist da-her ein zentrales Anliegen des Sozialstaates, bei der seit jeherweniger auf den freien Markt der Dienstleistungen vertrautwurde als bei anderen Dienstleistungen. Die meisten europäi-schen Länder haben dieser besonderen Bedeutung durch eineigens hierfür zuständiges Ministerium deutlichen Ausdruckverliehen.1 Wir können die Sache auch so formulieren: Dasim Grunde privatrechtlich ausgestaltete Verhältnis zwischenArzt und Patient ist in einem Maße sozial- und das heißt öf-fentlich-rechtlich überlagert, dass es mit anderen Dienstleis-tungsverhältnissen kaum mehr verglichen werden kann. DieArt und Weise, wie eine für den Patienten möglichst kosten-freie und zugleich qualitativ hochwertige medizinische Ver-

sorgung gewährleistet werden kann, stellt ein soziales Pro-blem ersten Ranges dar, das in den verschiedenen Ländernder Europäischen Union auch verschiedenen Lösungen zuge-führt worden ist. Die Ausgestaltung der Gesundheitssystemeliegt gem. Art. 152 Abs. 5 EGV in der ausschließlichen Kom-petenz der Mitgliedstaaten und es gab daher gute Gründe fürdie Europäische Kommission, Dienstleistungen der Gesund-heitsversorgung zunächst vom Regelungsbereich der jüngstverabschiedeten Dienstleistungsrichtlinie explizit auszuneh-men.2

Die Liberalisierung der Gesundheitsversorgung in EuropaDie höchstrichterliche Entwicklung europäischer Patientenrechte aus dem Geist derDienstleistungsfreiheit – oder zur Entdeckung des Binnenmarktes als Motor für dieEntwicklung der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme

Von PD Dr. Jörg Benedict, z. Zt. Universität München

VuR 12/2008 | 441

1 So Bulgarien (Министерство на здравео-пазването), Dänemark (Indenrigs-og Sundhedsministeriet), Deutschland (Bundesministerium fürGesundheit), Finnland (Sosiaali- ja terveysministeriö), Frankreich(Ministère de la santé et des solidarités), Vereinigtes Königreich(Department of Health), Irland (Department of Health and Children),Italien (Ministero della salute), Lettland (Veselıbas ministrija),Liechtenstein (Ministerium für Gesundheit), Litauen (Sveikatos apsaugosministerija), Niederlande (Ministerie van Volksgezondheid, Welzijn enSport), Norwegen (Helse- og omsorgsdepartementet), Österreich(Bundesministerium für Gesundheit und Frauen), Polen (MinisterstwoZdrowia), Portugal (Ministério da Saúde), Slowenien (Ministrstvo zazdravje), Slowakei (Ministerstvo zdravotníctva), Spanien (Ministerio deSanidad y Consumo), Tschechien (Ministerstvo zdravotnictví), Ungarn(Egészségügyi Minisztérium), Zypern (�������í ���í�).

2 RL 2006/123/EG v. 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnen-markt (vgl. Präambel und Art. 2 II f). Die ursprünglichen, wenig gründlichvorbereiten Vorschläge der Kommission wurden von Rat und Parlamentnicht akzeptiert: den Besonderheiten der Gesundheitsdienstleistungen, sohieß es, sei nicht hinreichend Rechnung getragen worden.

442 | VuR 12/2008

Wenn die Kommission nunmehr gleichwohl einen separatenVorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung der Patien-tenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversor-gung in einem detailliert ausgearbeiteten Entwurf unterbrei-tet, so betritt sie hiermit ein sehr komplexes juristischesTerrain, bei dem im Grundsatz bisher noch nicht viel mehrsondiert worden ist als die in der Verordnung Nr. 1408/713 undin mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofsbestätigte Erkenntnis, dass auch medizinische Dienstleistun-gen von den Freiheiten des EG-Vertrages, insbesondere derDienstleistungsfreiheit (Art. 49 und 50, ehem. 59 und 60 EGV),erfasst seien und daher auch jedem EU-Bürger grundsätzlichdas Recht zustehen müsse, sich bei einem Arzt seiner Wahl injedem Mitgliedstaat behandeln zu lassen.4 Wie sich allerdingsdiese Einsicht zur exklusiven Zuständigkeit der Mitgliedstaa-ten für ihre Sozialsysteme verhält (vgl. Art. 152 EGV), ist bis-her noch nicht endgültig ausdiskutiert. Der neue Vorstoß ausBrüssel steht denn auch in einem wertungsgeladenen Kon-text und ist auch nur aus diesem heraus sowohl in seiner Mo-tivation als auch in seinen Details zu verstehen.

B. Gegenwärtiger Stand der Patientenrechte beigrenzüberschreitender Gesundheitsversorgung

I. Der Grundkonflikt: Binnenmarkt oder einzelstaatliche sozia-le Planwirtschaft?

Dass auch Gesundheitsdienstleistungen von der Dienstlei-stungsfreiheit erfasst werden, erscheint im Prinzip ganzunzweifelhaft, wenn man nicht nur die grenzüberschreitendeFreiheit des Anbietens, sondern auch die grenzüberschreitendeFreiheit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen hierunterverstehen will.5 Die europäische Geschichte kennt nicht nurden Wanderarzt, sondern es ist für gewisse Patientenkreiseseit jeher üblich gewesen, einen Spezialisten oder einerenommierte medizinische Einrichtung im Ausland aufzusu-chen.6

Das eigentliche Problem dieser Freiheit liegt dann jedochweniger auf der privatrechtlichen Seite des entsprechendenDienstleistungsverhältnisses als vielmehr bei der sozialrecht-lichen Frage, wer die entsprechende Dienstleistung letztlichfinanziert. Das aus Fürsorge für die Allgemeinheit in einemLand bereitgehaltene Gesundheitssystem beruht auf finan-ziellen Beiträgen der Solidargemeinschaft des entsprechen-den Landes (Versicherungsbeiträgen und / oder Steuern).Eine grenzüberschreitende medizinische Versorgung trägt –soweit sie der Patient nicht privat finanziert – also entwederdie Solidargemeinschaft des Mitgliedstaates des behandeltenPatienten oder die, deren Versorgungssystem in Anspruchgenommenen wird. Die Befürchtung, ein allgemeiner Medi-zintourismus könne leicht dazu führen, dass das ohnehinimmer schon gefährdete Gleichgewicht von Quantität undQualität der medizinischen Versorgung in einem Mitglieds-land signifikant gestört würde, durchzieht denn auch dieStellungnahmen der von der Rechtsprechung des EuGHbetroffenen Mitgliedstaaten:

Die Marktfreiheiten, so heißt es, dürften nicht absolut gesetztwerden, die innerstaatlichen Restriktionen einer grenzüber-schreitenden Patientenversorgung dienten der Kontrolle derverbindlich zu erstattenden Gesundheitskosten innerhalb desinnerstaatlichen Systems der sozialen Sicherheit; es gehedarum, eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleich-gewichts in diesem System zu verhindern und dies stelle einen

zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der eineBeschränkung der Waren-7 und Dienstleistungsfreiheit8 recht-fertige. Die Grundfreiheiten kommen in diesem Bereich alsoganz zwangsläufig in Konflikt mit der exklusiven Zuständig-keit der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihrer Sozialsy-steme. Nach bisher ständiger Rechtsprechung des EuGH soll-te das Gemeinschaftsrecht diese Zuständigkeit auch grund-sätzlich unberührt lassen.9 In Ermangelung einer Harmonisie-rung auf Gemeinschaftsebene bestimmen die Mitgliedstaaten,unter welchen Voraussetzungen ein Recht auf oder eine Ver-pflichtung zu einem Anschluss an ein Sozialsystem besteht10

und wann ein Anspruch auf Leistung gegeben ist.11

So hat insbesondere die Regierung des Vereinigten König-reichs in ihren Stellungnahmen auf die besondere Rolle ihresNational Health Service (NHS) hingewiesen. Die Leistungenwerden den Patienten aus Steuermitteln unentgeltlich zurVerfügung gestellt, der NHS sei daher auch eigentlich gar kein„Dienstleister“ im Sinne des Art. 60 (jetzt 50) EGV.12 Die demNHS bewilligten beschränkten finanziellen Mittel werdenvon örtlichen Gesundheitsbehörden verwaltet, die auf derGrundlage klinischer Bewertungen und unter medizinischenGesichtspunkten für verschiedene Behandlungen Prioritätenfestlegen und Zeitpläne erstellen.13 Könnten die Patientendie Wartefrist verkürzen, indem sie ohne vorherige Geneh-

A U F S Ä T Z E | Benedict , Die L ibera l i s ierung der Gesundheitsversorgung in Europa

3 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates v. 14. Juni 1971 über die Anwendungder Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowiederen Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern;in der konsolidierten Fassung der Verordnung Nr. 118/97 v. 2. Dezember 1996,zuletzt geändert durch Verordnung Nr. 647/2005 v. 13. April 2005. Diese Verord-nung soll durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlamentsund des Rates v. 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Si-cherheit abgelöst werden. Letztere ist aber noch nicht in Kraft getreten. „Das In-krafttreten der neuen Verordnung hängt davon ab, wann die Überarbeitung derDurchführungsverordnung abgeschlossen ist (Art. 91 S. 2 der VO).“ (Muckel, So-zialrecht, 2. Aufl. 2007, S. 529) Da frühestens 2009 mit dem Inkrafttreten zu rech-nen ist und die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 inhaltlich mit der Verordnung Nr.1408/71 weitgehend übereinstimmt, soll nachfolgend noch von der derzeit gel-tenden Verordnung Nr. 1408/71 ausgegangen werden.

4 Vgl. EuGH, Urteile v. 28. April 1998, Rs. C-158/96 (Kohll), Rn. 29 und 51;Urteil v. 12. Juli 2001, Rs. C-157/99; (Smits und Peerbooms), LS 1 und 2,Rn. 53-58; v. 13. Mai 2003, Rs. C-385/1999 (Müller-Fauré und van Riet) Rn.38.; v. 18. März 2004, Rs. C-8/02 (Leichtle); v. 16. Mai 2006, Rs. C-372/04(Watts), Rn. 85-91.

5 Zu dieser Frage Rs. Kohll, (s. o. Fn. 4) Rn. 35 f. (Feststellung, dass der freieDienstleistungsverkehr die Freiheit der Dienstleistungsempfänger, insbe-sondere der Personen, die eine medizinische Behandlung benötigen, ein-schließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderenMitgliedstaat zu begeben.)

6 Man denke nur an Thomas Manns „Zauberberg“, zum aktuellen „Medi-zintourismus“ Deutsch, VersR 2007, 1323.

7 Vgl. nur Urteil v. 28. April 1998, Rs. C-120/95 (Decker): „Die luxemburgischeRegierung trägt freilich vor, daß der freie Warenverkehr nicht absolut zu set-zen sei und die streitige Regelung, die der Kontrolle der verbindlich zu erstat-tenden Gesundheitskosten dienen solle, aus diesem Grund gerechtfertigt sei.(…) Rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementa-ren Grundsatzes des freien Warenverkehrs nicht rechtfertigen. Jedoch kanneine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems dersozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar-stellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.“

8 Vgl. insbesondere Urteile v. 12. Juli 2001, Rs. C-157/99 (Smits und Peer-booms) und v. 13. Mai 2003, Rs. C-385/1999 (Müller-Fauré und van Riet).

9 Urteile v. 7. Februar 1984 in der Rs. C-238/82 (Duphar u. a.), Slg. 1984,523, Rn. 16, und vom 17. Juni 1997 in der Rs. C-70/95 (Sodemare u. a.),Slg. 1997, I-3395, Rn. 27.

10 Urteile v. 24. April 1980 in der Rs. C-110/79 (Coonan), Slg. 1980, 1445, Rn.12, und v. 4. Oktober 1991 in der Rs. C-349/87 (Paraschi), Slg. 1991, I-4501, Rn. 15.

11 Urteil v. 30. Januar 1997 in den Rs. C-4/95 und C-5/95 (Stöber und PiosaPereira), Slg. 1997, I-511, Rn. 36.

12 Vgl. insbesondere Urteile v. 12. Juli 2001, Rs. C-157/99; (Smits und Peer-booms) und v. 13. Mai 2003, Rs. C-385/1999 (Müller-Fauré und van Riet);v. 16. Mai 2006, Rs. C-372/04 (Watts). Art. 50 definiert: „Dienstleistungenim Sinne dieses Vertrags sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelterbracht werden“.

13 Anschaulich zur Kontingentierung medizinischer Ressourcen das Urteil v.16. Mai 2006, Rs. C-372/04 (Watts).

migung medizinische Behandlungen in anderen Mitglied-staaten in Anspruch nähmen und müsste die zuständigeKasse die Kosten solcher Behandlungen übernehmen, wäredas finanzielle Gleichgewicht des Systems gefährdet und esstünden wesentlich weniger Mittel für dringendere Behand-lungen zur Verfügung, was die Fähigkeit des NHS, eine ange-messene Gesundheitsversorgung zu leisten, beeinträchtigenwürde. Darüber hinaus könnte bei einer Liberalisierung derGesundheitsdienstleistungen nicht vorhergesagt werden,inwieweit die Nachfrage aufgrund der Inanspruchnahme vonKrankenhausbehandlungen in anderen Mitgliedstaaten sin-ken und aufgrund einer möglichen Inanspruchnahme vonKrankenhausbehandlungen im Vereinigten Königreich durchVersicherte dieser anderen Staaten steigen würde. DerartigeWirkungen der Liberalisierung würden sich nicht notwendigausgleichen und für jedes Krankenhaus im VereinigtenKönigreich anders ausfallen.

Es geht bei der Liberalisierung der Gesundheitsdienstleistungalso im Grunde um einen alten Disput in der Nationalöko-nomie, ob nämlich die Plan- oder die Marktwirtschaft dieeffizientere und mithin vorzugswürdige Wirtschaftsform sei.Der Grundtenor der im Verfahren vor dem EuGH beteiligtenRegierungen war hier bisher erstaunlich einmütig: Wenn derStaat die Gesundheitsversorgung mit knappen finanziellenMitteln (mit-) finanziert, dann will er sie nicht nur kontrol-lieren, sondern er muss es auch. Dass die Kommerzialisierungdes Gesundheitswesens darüber hinaus auch aus ethischenGründen nicht erwünscht ist und daher auch weiterhin unterstaatlicher Regulierung verbleiben soll, scheint ebenfalls mit-gliedstaatlicher Konsens zu sein.

Der Standpunkt, dass etwa der NHS als gemeinnützige Ein-richtung ohne Gewinnerzielungsabsicht kein Dienstlei-stungserbringer im Sinne des Vertrages sei, bringt insoweitden Wertungskonflikt im wahrsten Sinne des Wortes auf denBegriff.14 Dem auf einen freien Binnenmarkt zielendenGemeinschaftsrecht fehlt in Fragen der Gesundheitsversor-gung also aus einsehbarem Grund die rechtliche Kompetenzund es ist so gesehen ebenfalls lediglich Konsequenz jenesgrundlegenden Wertungskonflikts. Voraussetzungen, Aufbau,Entwicklung und Finanzierung der Leistungsgewährung,Qualität, Quantität und die Fristen, innerhalb derer die Lei-stungen erbracht werden können, richten sich allein nachnationalem Recht. Das Gemeinschaftsrecht könne, das wirdvon den Regierungen immer wieder hervorgehoben, Patien-ten weder einen Anspruch auf eine Gesundheitsversorgungin einem anderen Mitgliedstaat als dem der Versicherungszu-gehörigkeit verleihen, auf die sie in ihrem eigenen Mitglied-staat keinen Anspruch hätten, noch einen Anspruch aufBehandlung innerhalb einer kürzeren Frist als der im natio-nalen Recht vorgesehenen.15

II. Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71

Der Konflikt differierender Grundüberzeugungen tritt mithinbei der Gesundheitsversorgung deutlich hervor: Die Freihei-ten des gewünschten Binnenmarktes treffen auf solidarge-meinschaftlich finanzierte Sozialsysteme; marktwirtschaftli-che Grundprämissen auf planwirtschaftliche Grundstruktu-ren.

In Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71 wurde der Konfliktzunächst zur Realisierung der Freizügigkeit für „Wanderarbeit-nehmer“ dahingehend gelöst, dass diese grundsätzlich imSozialsystem des aufnehmenden Mitgliedstaates mit medizi-

nischen Sachleistungen versorgt werden, das Sozialsystemdes Herkunftslandes aber die Kosten der medizinischen Maß-nahmen übernimmt. Ein entsprechender Anspruch wurdedarüber hinaus gem. Art. 22 Abs. 1 c) Verordnung Nr.1408/71 aber auch ganz allgemein für den Fall eingeräumt,dass der Patient „vom zuständigen Träger die Genehmigungerhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zubegeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlungzu erhalten“. Eine grenzüberschreitende medizinische Versor-gung stand also seit jeher unter dem besonderen Vorbehalteiner Genehmigung des zuständigen Trägers der Sozialleistung.Die Voraussetzungen unter denen diese Genehmigung ver-weigert werden konnte, bzw. erteilt werden musste, sind vorallem in jüngerer Zeit immer wieder umstritten und Gegen-stand von Präzisierungsbemühungen durch den EuGH gewe-sen.16 Die Ergebnisse wurden zuletzt in Art. 22 Abs. 2 Ver-ordnung Nr. 1408/71 wie folgt formuliert: „Die nach Absatz 1Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert wer-den, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört,die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind,in dessen Gebiet der Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetrachtseines derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichenVerlaufs der Krankheit diese Behandlung nicht in einem Zeitraumerhalten kann, der für diese Behandlungen in dem Staat, in dem erseinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.“

Doch ist die Rechtsprechung hierüber hinausgegangen undhat unabhängig von Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71 Patien-ten, die sich auch ohne Genehmigung in einem ausländi-schen System haben versorgen lassen, allein auf der Basis derDienstleistungsfreiheit (Art. 49 und 50 EGV) Erstattungsan-sprüche eingeräumt, die das Gemeinschaftsrecht bis dahinnicht kannte.

III. Die Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 49 und 50 EGV

1. Der Erwerb medizinischer Hilfsmittel

Das sachliche Problem wird bereits in einer frühen Entschei-dung des EuGH deutlich, die sich noch auf die Freiheit desWarenverkehrs bezieht: In dem Rechtsstreit zwischen demKläger Decker, einem luxemburgischen Staatsangehörigen,und seiner Krankenkasse, Caisse de maladie des employésprivés, ging es um die Erstattung der Kosten für eine Brillemit Korrekturgläsern, die er bei einem Optiker in Arlon (Bel-gien) auf Verschreibung eines Augenarztes, der in Luxemburgniedergelassen ist, erworben hatte. Die Krankenkasse lehntedie Erstattung der Kosten ab, weil sie ohne ihre Genehmi-gung im Ausland gekauft worden sei und der Optiker in Bel-gien nicht in eine zwischen der Krankenkasse und demBerufsverband der Optiker in Luxemburg geschlossene Kol-lektivvereinbarung mit einbezogen war. Der EuGH sah hierinmit dem Kläger einen Verstoß gegen die Freiheit des Waren-verkehrs (Art. 30, jetzt Art. 28 EGV): Maßnahmen der Mit-gliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die sich

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14 Eine explizite Einordnung des NHS als „Dienstleister“ im Sinne des Art. 49EGV hat der EuGH vermieden und mit wenig überzeugenden Gründenexplizit offen gelassen, vgl. Rs. C-372/04 (Watts), Rn. 91. Wenn diese Frageexplizit unbeantwortet bleibt, dann hängt die weitere Frage, ob der NHSaufgrund des Art. 49 EGV verpflichtet sein soll, Kosten einer auswärtigenGesundheitsversorgung zu übernehmen, gänzlich in der Luft.

15 Vgl. die norwegische Stellungnahme in der Rs. C-385/1999 (Müller-Fauréund van Riet) sowie die Stellungnahmen der spanischen, maltesischen,finnischen und irländischen Regierungen in der Rs. C-372/04 (Watts).

16 Urteile v. 28. April 1998, Rs. C-158/96 (Kohll); v. 12. Juli 2001, Rs. C-368/98 (Vanbraekel u. a.); v. 3. Juli 2003, Rs. C-156/01 (van der Duin); v.12. April 2005, Rs. C-145/03 (Keller); v. 23. Oktober 2003, Rs. C-56/01(Inizan); v. 16. Mai 2006, Rs. C-372/04 (Watts).

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17 Urteil v. 28. April 1998, Rs. C-120/95 (Decker).18 Hierzu etwa die Besprechungen bei Nowak, EuZW 2003, 474-477; Becker,

NJW 2003, 2272-2277; Lorff, ZESAR 2003, 407-414; Fuchs, NZS 2004, 225-230; ders., NZS 2005, 449-456; Beschorner, ZESAR 2006, 47-54.

19 Namentlich die dänische, die deutsche, die irische, die italienische und dieschwedische Regierung, die spanische, die Regierung des VereinigtenKönigreichs sowie die isländische und die norwegische Regierung. Zu dendarüber hinaus gehenden allgemeineren Erwägungen bereits oben.

auf den Absatz medizinischer Erzeugnisse und mittelbar aufderen Einfuhrmöglichkeiten auswirken können, unterliegenden Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Warenver-kehr. Eine Regelung, die die Sozialversicherten dazu veran-lasst, diese Erzeugnisse im Großherzogtum und nicht inanderen Mitgliedstaaten zu erwerben, sei geeignet, die Ein-fuhr von in diesen Staaten angepassten Brillen zu hemmenund stelle ein Hindernis für den freien Warenverkehr dar.Zwar wird der Einwand der luxemburgischen Regierung, diestreitige Regelung diene der Kontrolle der verbindlich zuerstattenden Gesundheitskosten und müsse daher auch imLichte des Art. 30 EGV gerechtfertigt sein, durchaus zurKenntnis genommen. Doch sieht der EuGH hier eher einenProtektionismus zugunsten der luxemburgischen Optikerin-nung als eine Sicherung des „finanziellen Gleichgewichts desSystems der sozialen Sicherheit“ und hält dafür, „daß einenationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicher-heit eines Mitgliedstaats einem Versicherten die pauschaleKostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die die-ser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekaufthat, mit der Begründung versagt, daß der Erwerb medizini-scher Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigungbedarf“, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt.17

2. Das Grundproblem im Sachleistungssystem

Die Probleme, die die medizinische Dienstleistung betreffen,sind nun völlig analog denen der medizinischen Hilfsmittel.Jeweils hat der Krankenversicherungsträger spezielle Verein-barungen mit den Dienstleistern der Gesundheitsversorgung.In Deutschland ist das Problem aufgrund der limitierten Kas-senzulassung von Ärzten bekannt. Bei diesem sog. „Sachlei-stungssystem“ erhält der Patient die entsprechende medizini-sche Versorgung kostenfrei und der insoweit vom Sozialversi-cherungsträger „zugelassene“ Dienstleister (Arzt bzw. Kran-kenhausträger) rechnet entsprechend der bestehendenKostensätze die erbrachte Leistung ab. Nimmt der Patientnun Sachleistungen unmittelbar im Ausland wahr, so fehlt esregelmäßig an einer entsprechenden Einbeziehung der dorti-gen Ärzte und Krankenhäuser in das Abrechnungssystem dereinheimischen Krankenkassen. Es war daher nur eine Frageder Zeit, bis die Vereinbarkeit dieses Systems mit der Dienst-leistungsfreiheit dem EuGH zur Prüfung vorgelegt wurde.

In seiner Grundsatzentscheidung vom 13. Mai 2003 in derRechtssache C-385/99 (Müller-Fauré und van Riet)18 hatteder EuGH die Frage zu klären, ob in einem solchen Fall derPatient Anspruch auf Erstattung der für die ärztliche Behand-lung in Rechnung gestellten Kosten habe. Frau Müller-Fauréhatte, ohne zuvor überhaupt um eine Genehmigung bei ihrerKasse nachgesucht zu haben, Urlaub genommen und inDeutschland eine Zahnbehandlung durchführen und in die-sem Rahmen sechs Kronen und eine festsitzende Prothese imOberkiefer einsetzen lassen und begehrte, wieder nach Hauseheimgekehrt, von ihrer Krankenkasse die Kosten der Zahnbe-handlung i. H. v. insgesamt 7.444,59 DM. Hierzu glaubte sienach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-158/96 (Kohll) berechtigt zu sein, hatte das höchste euro-päische Gericht in diesem Fall doch klargestellt und im Leit-satz verkündet, dass „[e]ine nationale Regelung, die die Erstat-tung der Kosten für Zahnregulierungen durch einen Zahnarzt ineinem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungs-staats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit desVersicherten abhängig macht, […] gegen die Artikel 59 und 60 desVertrages“ verstößt.

Die Arrondissementsrechtbank Rotterdam und der CentraleRaad van Beroep entsprachen allerdings dem Ansinnen vonFrau Müller-Fauré nur eingeschränkt, weil der bloße Vertrau-ensverlust in die niederländische Zahnarztkunst ein Ausbre-chen aus dem bestehenden Versicherungssystem nicht recht-fertige. Die beklagte Krankenkasse Zwijndrecht und dieniederländische Regierung haben in diesem Verfahren dienach europäischem (vgl. Art. 22 Abs. 1 c) Verordnung Nr.1408/71) und niederländischem Recht erforderliche Geneh-migung einer Auslandsbehandlung als Wesensmerkmal desniederländischen Krankenversicherungssystems angesehenund hierfür als Begründung ganz allgemein gültige Überle-gungen angeführt, denen sich denn auch die Regierungenanderer Mitgliedstaaten in ihren Stellungnahmen ange-schlossen haben.19 Die Deckung von Krankheitsrisiken durchSachleistungen mache es erforderlich, dass die Kasse und dieErbringer von Versorgungsdienstleistungen vorher vertragli-che Vereinbarungen über Umfang, Qualität, Wirksamkeitund Kosten der Gesundheitsversorgung träfen, um eineBedarfsplanung und Ausgabenbeherrschung zu ermöglichenund eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung,die Gleichwertigkeit der Leistungen und damit die Gleichbe-handlung der Versicherten zu gewährleisten. Die Versicher-ten müssten sich grundsätzlich an die Erbringer von Versor-gungsdienstleistungen wenden, mit denen eine vertraglicheVereinbarung bestehe (Kassenzulassung); die Behandlung beieinem anderen Arzt oder einer Einrichtung, mit denen keinevorab geregelte Vereinbarung besteht, bedürfe der Kontrolledurch Genehmigung. Wäre eine Genehmigung nicht erfor-derlich, so bestünde ganz generell bei den Erbringern vonVersorgungsdienstleistungen kein Interesse daran, am Systemvertraglicher Vereinbarungen mitzuwirken und sich über dieVerfügbarkeit, den Umfang, die Qualität, die Wirksamkeitund die Preise der Leistungen zu binden. Das hätte denZusammenbruch des Systems zur Folge, weil es den Kranken-versicherungsträgern ohne die entsprechenden Bindungenunmöglich würde, den Bedarf durch Anpassung der Ausga-ben zu planen und eine qualitativ hochwertige und allenzugängliche medizinische Versorgung zu gewährleisten. DasSystem vertraglicher Vereinbarungen verlöre seinen Sinn undZweck als Instrument zur Verwaltung der Gesundheitsfürsor-ge; dadurch würde in die vom Gerichtshof anerkannte sou-veräne Kompetenz der Mitgliedstaaten eingegriffen, ihreSysteme der sozialen Sicherheit auszugestalten. Aus demGedanken der Kontingentierung sei auch die Existenz vonWartelisten bei besonderen Dienstleistungen gerechtfertigt,weil die verfügbaren finanziellen Mittel zur Deckung derGesundheitskosten beschränkt seien und deshalb die durch-zuführenden Behandlungen quantifiziert und streng zubeachtenden Prioritäten unterworfen werden müssten.Schließlich könnten auch die Krankenkassen nicht gezwun-gen werden, vertragliche Vereinbarungen mit einer größerenZahl von Versorgungsdienstleistenden zu treffen, als es fürdie Deckung des Bedarfs der Bevölkerung erforderlich sei.

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3. Die Differenzierung zwischen ambulanter und stationärer Be-handlung

Nach den Entscheidungen Decker, Kohll sowie Smits und Peer-booms war klar, dass nunmehr die Europarechtskonformitätdes Genehmigungserfordernisses aus Art. 22 Abs. 1 c) Verord-nung Nr. 1408/71 selbst zweifelhaft geworden war. Wenn dasin den Mitgliedstaaten vorherrschende Sachleistungssystem inein Erstattungssystem umgewandelt wird, weil und soweit aufder Basis der Grundfreiheiten die grenzüberschreitendeGesundheitsversorgung auch ohne Genehmigung20 deszuständigen Sozialversicherungsträgers möglich sein soll,dann ist das Genehmigungserfordernis und d. h. dann istArt. 22 Abs. 1 c) Verordnung Nr. 1408/71 selbst obsolet. Inder Rechtssache C-385/99 (Müller-Fauré und van Riet) wurdediese Frage jedoch nicht explizit beantwortet und so stattdes-sen eine scheinbar unabhängig von Art. 22 Abs. 1 c) Verord-nung Nr. 1408/71 bestehende zweite Debatte um Genehmi-gungserfordernisse und Erstattungsansprüche eröffnet undnachhaltig festgeschrieben.21 Der EuGH akzeptiert hier imGrundsatz die mitgliedstaatliche Argumentation, dass einequalitativ hochwertige, ausgewogene sowie allen zugänglicheärztliche und klinische Versorgung nur durch ein Genehmi-gungserfordernis aufrechtzuerhalten sei. Wenn und soweitalso Maßnahmen zur Erreichung eines hohen Niveaus desGesundheitsschutzes beitragen, könnten diese durchaus eineRechtfertigung für die Beschränkung des Dienstleistungsver-kehrs darstellen (Art. 56, jetzt Art. 46 EGV).22 Das Gerichtbetont nun allerdings den Gedanken der Verhältnismäßig-keit. Demnach müsse gewährleistet sein, dass derart ein-schränkende Maßnahmen nicht über das hinausgehen, waszu diesem Zweck objektiv notwendig sei, und dass das gleicheErgebnis nicht durch weniger einschneidende Regelungenerreicht werden könne. In ständiger Rechtsprechung giltinsoweit die Prämisse, dass „rein wirtschaftliche Gründe eineBeschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstlei-stungsverkehrs nicht rechtfertigen“ könnten. Um den Bedenkender Mitgliedstaaten gleichwohl Rechnung zu tragen, führtder EuGH die grundlegende Differenzierung zwischen ambu-lanten und stationären Dienstleistungen im medizinischenBereich ein. Während das Gericht im ersten Fall keine Recht-fertigung für eine Einschränkung grenzüberschreitenderGesundheitsversorgung ausmachen kann,23 betrachtet esjedenfalls die innerstaatliche Koordination einer gesichertenKrankenhausbelegung als ein ernst zu nehmendes Argu-ment.24 Die Zahl der Krankenhäuser, ihre geografische Ver-teilung, ihr Ausbau und die Einrichtungen, über die sie ver-fügen, oder auch die Art der medizinischen Leistungen, diesie anbieten können, müssten planbar sein. Zum einen gehees darum, zu gewährleisten, dass ein ausgewogenes Angebotqualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig inausreichendem Maß zugänglich sei. Zum anderen soll die Pla-nung dazu beitragen, „die Kosten zu beherrschen und soweitwie möglich jede Verschwendung finanzieller, technischerund menschlicher Ressourcen zu verhindern. Eine solcheVerschwendung wäre umso schädlicher, als der Sektor derKrankenhausversorgung bekanntlich erhebliche Kosten ver-ursacht und wachsenden Bedürfnissen entsprechen muss,während die finanziellen Mittel, die für die Gesundheitspfle-ge bereitgestellt werden können, unabhängig von der Artund Weise der Finanzierung nicht unbegrenzt sind.“25 EinSystem der vertraglichen Vereinbarungen sei in diesemBereich durchaus geeignet, dazu beizutragen, „ein Angebotan Krankenhauspflege zu gewährleisten, das rationell, stabil,ausgewogen und gut zugänglich ist.“26 Unter diesen Umstän-

den erkennt der EuGH grundsätzlich das Genehmigungserfor-dernis „als eine sowohl notwendige als auch angemesseneMaßnahme“ an. Doch wird nun wiederum an die Versagungder Genehmigung und das Verfahren einer rechtlichen Prü-fung ein strenger Maßstab angelegt.

4. Die Voraussetzungen für die Genehmigung einer grenzüber-schreitenden stationären Behandlung

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer derartigenGenehmigung müssten klar formuliert und inhaltlichgerechtfertigt sein. Vor allem käme eine Ermessensausübungder nationalen Behörden bei der Genehmigung stationärerBehandlungen nicht in Betracht, weil eine solche geeignetsei, den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, insbeson-dere wenn sie eine Grundfreiheit wie die in Rede stehendebetreffen, ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.27 Daherist ein System der vorherigen behördlichen Zustimmung imLichte der maßgeblichen Grundfreiheit nur dann gerechtfer-tigt, wenn es auf objektiven und nicht diskriminierenden Kri-terien beruht, die im Voraus bekannt sein müssen, damitdem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetztwerden, die seine missbräuchliche Ausübung verhindern. Einderartiges System der behördlichen Genehmigung muss sichauch auf eine leicht zugängliche Verfahrensregelung stützenund geeignet sein, den Betroffenen zu garantieren, dass ihrAntrag innerhalb einer angemessener Frist sowie objektivund unparteilich behandelt wird, wobei eine Versagung derGenehmigung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrensanfechtbar sein muss.28

Die Klarstellung der (fehlenden) „Notwendigkeit“ für einegrenzüberschreitende stationäre Behandlung erhält so eine

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20 Eigentlich „Einwilligung“ (als Fall der vorherigen Zustimmung). Die indiesem Kontext üblich gewordene Formulierung „vorhergehende Geneh-migung“ ist für die deutsche Terminologie streng genommen ein Wider-spruch an sich, soweit man die Legaldefinitionen der §§ 183 f. BGBweiterhin für zweckmäßig erachten will.

21 Explizit zur Europarechtskonformität dann erst Rs. C-56/01 (Inizian):„Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 inderen durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fas-sung, der die Gewährung von Sachleistungen in einem anderen Mitglied-staat als dem Versicherungsstaat von der Erteilung einer vorherigenGenehmigung durch den zuständigen Träger abhängig macht, steht inEinklang mit den Artikeln 49 EG und 50 EG über den freien Dienstlei-stungsverkehr, da er dadurch, dass er für die Sozialversicherten, die unterdie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats fallen und mit einer Genehmi-gung versehen sind, einen Zugang zur Behandlung in den anderen Mit-gliedstaaten unter Voraussetzungen der Kostenübernahme garantiert, dieebenso günstig sind wie für die unter die Rechtsvorschriften der letztge-nannten Staaten fallenden Sozialversicherten, dazu beiträgt, die Freizügig-keit der Sozialversicherten zu fördern und die Erbringung von grenzüber-schreitenden medizinischen Dienstleistungen zu erleichtern.“

22 Vgl. Urteile Kohll, (s. o. Fn. 4) Rn. 50; Smits und Peerbooms, (s. o. Fn. 4)Rn. 73.

23 Insoweit liegt hierin eine Bestätigung der in der Rs. Kohll gemachten Aus-sage. In der Rs. Müller-Fauré und van Riet begründet der EuGH seinenStandpunkt vor allem mit Zweifeln darüber, „dass die den Versichertengewährte Freiheit, sich ohne vorherige Genehmigung zur Inanspruchnah-me derartiger Leistungen bei einem nicht vertraglich gebundenen Lei-stungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat als den der Niederlassungihrer Krankenkasse zu begeben, das finanzielle Gleichgewicht des nieder-ländischen Systems der sozialen Sicherheit erheblich beeinträchtigenkönnte.“(Rn 92).

24 Smits und Peerbooms, (s. o. Fn. 4) Rn. 76 - 80; Müller-Fauré und van Riet,(s. o. Fn. 4) Rn. 76 - 92; Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 108 - 114.

25 Müller-Fauré und van Riet, (s. o. Fn. 4) Rn. 80; Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 109.26 Müller-Fauré und van Riet, (s. o. Fn. 4) Rn. 82; Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 111.27 Vgl. Urteile v. 23. Februar 1995 in den Rechtssachen C-358/93 und C-

416/93, Bordessa u. a., Slg. 1995, I-361, Rn. 25, v. 14. Dezember 1995 inden Rechtssachen C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Sanz de Lera u. a.,Slg. 1995, I-4821, Rn. 23 bis 28, und vom 20. Februar 2001 in der Rechts-sache C-205/99, Analir u. a., Slg. 2001, I-1271, Rn. 37.

28 Urteile Smits und Peerbooms, (s. o. Fn. 4) Rn. 90; Müller-Fauré und vanRiet, (s. o. Fn. 4) Rn. 84; Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 115 f.

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29 Urteil Smits und Peerbooms, (s. o. Fn. 4) Rn. 103; Müller-Fauré und vanRiet, (s. o. Fn. 4) Rn. 89.

30 Müller-Fauré und van Riet (s. o. Fn. 4), Rn. 93; Smits und Peerbooms, (s. o.Fn. 4) Rn. 104.

31 Müller-Fauré und van Riet, (s. o. Fn. 4) Rn. 95. 32 Vgl. hierzu die Vorlagefrage 5 im Urteil Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 42: „Bei rich-

tiger Auslegung des Artikels 22 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr.1408/71 und insbesondere der Wendung ‚in einem Zeitraum, der für dieseBehandlung normalerweise erforderlich ist’: a) Sind die anzuwendendenKriterien mit denen identisch, die bei der Beantwortung von Fragen der„Rechtzeitigkeit“ für die Zwecke des Artikels 49 EG anwendbar sind?“

33 Vgl. EuGH, Urteil v. 12. Juli 2001, Rs. C-368/98 (Vanbraekel u. a.) (s. o. Fn. 4),Rn. 43-52; Rs. C 372/04 (Watts), (s. o. Fn. 4) Rn. 129; die Konsequenzen, dieder EuGH im Urteil Watts aus dieser Differenzierung zieht, sind leider mehrals unklar geblieben, vgl. LS 4 - 6, Tenor 3, Rn 143 (s. o. Fn. 4).

34 Müller-Fauré und van Riet, (s. o. Fn. 4) Rn. 98: „Auf jeden Fall ist es alleinSache der Mitgliedstaaten, den Umfang des Krankenversicherungsschutzesfür die Versicherten zu bestimmen, die deshalb, wenn sie sich ohne vor-herige Genehmigung zur Versorgung in einen anderen Mitgliedstaat alsden der Niederlassung ihrer Krankenkasse begeben, die Übernahme derKosten für ihre Versorgung nur insoweit verlangen können, als das Kran-kenversicherungssystem des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörig-keit eine Deckung garantiert.“

35 Zu diesem Fall auch Dettling, EuZW 2006, 519 - 524.

besondere Bedeutung. Die erforderliche Genehmigung dürfedemnach nur dann versagt werden, „wenn die gleiche oder einefür den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einerEinrichtung erlangt werden kann, mit der die Krankenkasse desVersicherten eine vertragliche Vereinbarung geschlossen hat.“29

Wann genau das der Fall ist, bleibt in der Rechtsprechung desEuGH allerdings unklar und unsicher. Bei der Beurteilung derFrage, ob eine Behandlung, die für den Patienten ebensowirksam und rechtzeitig in einer Einrichtung verfügbar ist,die eine vertragliche Vereinbarung mit der Krankenkasse desVersicherten geschlossen hat, „müssen die nationalen Behördensämtliche Umstände jedes konkreten Falles beachten und habendabei nicht nur den Gesundheitszustand des Patienten zum Zeit-punkt der Einreichung des Genehmigungsantrags und gegebenen-falls das Ausmaß seiner Schmerzen oder die Art seiner Behinde-rung, die z. B. die Ausübung einer Berufstätigkeit unmöglichmachen oder außerordentlich erschweren könnte, sondern auch dieVorgeschichte des Patienten zu berücksichtigen.“30 Es kommtalso auf jeden Einzelfall an.

5. Offene Fragen: Der Fall Watts

Nach den Entscheidungen Smits und Peerbooms und Müller-Fauré und van Riet scheint im Grundsatz immerhin einesgeklärt: ambulante Behandlungen können ganz generell undohne vorherige Zustimmung des Sozialversicherungsträgersgrenzüberschreitend in Anspruch genommen werden. DerEuGH sieht für diesen Bereich der Gesundheitsdienstleistun-gen keinen hinreichenden Rechtfertigungsgrund dafür, diebestehenden mitgliedstaatlichen Sachleistungssysteme imLichte der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49, 50 EGV) gleichsamals geschlossene Systeme weiterhin zu bewahren und geht beidieser Entscheidung ersichtlich nicht davon aus, „dass dieAufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung fürdiese Art der Versorgung […] derart viele Patienten veranlassenwürde, sich ins Ausland zu begeben, dass dadurch das finanzielleGleichgewicht des […] Systems der sozialen Sicherheit erheblichgestört würde und infolgedessen das Gesamtniveau des Schutzesder öffentlichen Gesundheit gefährdet wäre.“31

Ob und wann demgegenüber eine Genehmigung für eine sta-tionäre Behandlung im Ausland erteilt werden muss oder einErstattungsanspruch des Patienten besteht, ist weitgehendungeklärt. Scheinbar erhält in diesem Zuge die Frage, ob eineGenehmigung nach Art. 22 Abs. 1 c) Verordnung Nr. 1408/71oder auf der Basis der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 49,50 EGV begehrt wird, eine eigenständige Bedeutung. DieseUnterscheidung ist aber nicht vor allem deshalb wichtig, weilfraglich sein mag, ob die Voraussetzungen für eine Genehmi-gung hier, den Voraussetzungen dort entsprechen,32 son-dern, weil offenbar die Rechtsfolgen unterschiedliche sind.Die Frage nämlich, welche Kosten bei einem Erstattungsan-spruch erstattungsfähig sein sollen, bleibt generell (d. h.unabhängig davon, ob es sich um Kosten einer stationärenoder ambulanten Behandlung handelt) ein offener Punkt.Basiert die Behandlung auf Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71,dann besteht grundsätzlich ein Anspruch auf die Kosten, dieim System des behandelnden Mitgliedstaates erstattet wer-den, und, sind diese Kosten geringer als eine gleichwertigeinländische Behandlung, dann soll sogar ein Aufstockungs-anspruch hinsichtlich des Differenzbetrages bestehen.33

Wird der Erstattungsanspruch hingegen originär aus dem Pri-märrecht (Art. 49, 50 EGV) deduziert, dann sollen die Kostenzu erstatten sein, die bei einer entsprechenden Behandlungim Heimatland angefallen wären.34

Das Maß der nach den bisherigen Entscheidungen verbliebe-nen Unsicherheit zu Voraussetzungen und Rechtsfolgeneiner nach europäischem Primärrecht zu Unrecht verweiger-ten Genehmigung wird deutlich, wenn man sich die Fragenansieht, die vom Court of Appeal (England & Wales) in einerzu dieser Thematik verhandelten Rechtssache dem EuGH zurVorabentscheidung vorgelegt worden sind. Mit nicht wenigerals 7 Fragen und insgesamt 21 Unterfragen, spiegelt der FallWatts die Brisanz der europarechtlichen und der Sachverhaltselbst die ethische Dimension der gesamten Problematikwider.35 Frau Watts, die mit 72 Jahren an schwerer Hüftarth-ritis litt, chronische Schmerzen hatte und in ihrer Bewe-gungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war, bedurfte einerHüft-OP. Der begutachtende Arzt befand allerdings, dass FrauWatts genauso behandlungsbedürftig sei wie seine übrigenPatienten mit schwerer Arthritis und stufte sie als „Routine-fall“ ein, was bedeutete, dass sie ca. ein Jahr auf einen ortho-pädischen Eingriff in einem örtlichen Krankenhaus hättewarten müssen. Die Patientin hatte Kontakt zu einem fran-zösischen Facharzt aufgenommen und begehrte, sich zeitnahim Ausland operieren zu lassen. Die zuständige Stelle inner-halb des NHS lehnte dieses Ansinnen jedoch mit dem Hin-weis ab, die zweite Voraussetzung des Art. 22 Abs. 2 Verord-nung Nr. 1408/71 sei nicht erfüllt, weil eine Behandlungauch in einem Krankenhaus am Wohnort der Patientin„innerhalb der Zielvorgaben der Regierung für den NHS“ unddamit „rechtzeitig“ erfolgen könne. Auch damit fand sichFrau Watts nicht ab und beschritt den Rechtsweg. Im Zugedes insoweit angestrengten Verfahrens zur Zulassung einerAnfechtungsklage wurde sie aufgrund einer neuerlichenUntersuchung beim selben Arzt nunmehr als Patientin einermittleren Kategorie zwischen der Kategorie der dringlichstenFälle und der Kategorie der Routinefälle eingestuft. Diese Ein-ordnung bedeutete, dass sie nun „bald“, d. h. in drei bis vierMonaten mit der begehrten medizinischen Maßnahme rech-nen konnte. Auch das genügte Frau Watts nicht, sie ließ sichbinnen eines Monats in Frankreich operieren und hat diehierbei von ihr verauslagten Kosten im Zuge des von ihr wei-ter verfolgten Anfechtungsprozesses gegenüber dem NHS gel-tend gemacht.

Der zuletzt mit dieser Angelegenheit befasste Court of Appe-al sah sich aufgrund der jüngsten Rechtsprechung des EuGHgenötigt, das Verfahren auszusetzen und mit den vorgelegtenFragen um eine weitere detaillierte Klärung des Einflusses vonArt. 49 EGV auf Zuschnitt und Struktur eines nationalen

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Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere mit Blick aufdie Eigenarten des britischen NHS, nachzusuchen. So stützteder Secretary of State for Health (Gesundheitsminister) seineArgumentation in dem Verfahren bis zuletzt im Wesentlichenauf das Argument, dass NHS-Patienten nicht berechtigt seien,sich auf Art. 49 EGV zu berufen, sodass der Fall von FrauWatts ausschließlich durch Anwendung des Art. 22 Verord-nung Nr. 1408/71 zu regeln sei. Kern und Ausgangspunkt desausführlichen Vorlageersuchens war daher zunächst dieschlichte Frage, ob im Lichte der Urteile Smits und Peerboomsund Müller-Fauré und van Riet auch Patienten des VereinigtenKönigreichs unabhängig vom Genehmigungsverfahren nachArt. 22 Verordnung Nr. 1408/71 Anspruch auf Krankenhaus-behandlung in anderen Mitgliedstaaten auf Kosten des NHShaben. Es muss daher nicht verwundern, wenn der EuGH,nachdem er die Anwendbarkeit des Art. 49 EGV auch für dasbritische Gesundheitssystem explizit ausgesprochen hat, überweite Strecken lediglich die genannten Entscheidungen auchfür diesen Fall rezitiert: Aus der Perspektive des EuGH machtes keinen Unterschied, ob das Sachleistungssystem durchexklusive Vereinbarungen oder eine große Behörde organi-siert wird, und es macht ebenso wenig einen Unterschied, obdas Gesundheitssystem durch Versicherungsleistungen oderdurch Steuern finanziert wird.

Die eigentliche Brisanz der Entscheidung Watts geht nun frei-lich über die Klarstellung, dass die Rechtsprechung des EuGHauch für das britische Gesundheitssystem gelte,36 hinaus.Wenn dem nämlich so ist, und niemand hätte wohl eineandere Aussage vom EuGH erwartet, dann, so der Court ofAppeal vorausschauend, stelle sich die Frage, ob die Geneh-migung einer stationären Auslandsbehandlung und damitdie Auslegung der Voraussetzungen des Art. 22 Abs. 2 Unter-abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 und des vom EuGH ver-wandten Begriffes nur anhand klinischer Erwägungen, diemit dem jeweiligen Einzelfall zusammenhingen, und nichtauch unter Berücksichtigung von normalen Wartezeiten undListen anhand wirtschaftlicher Erwägungen auszulegen sei.Wenn dem wiederum so wäre und insoweit Haushaltserwä-gungen unerheblich seien, dann stelle sich die Frage, ob einMitgliedstaat verpflichtet sei, Mittel bereitzustellen, um sei-nen Staatsangehörigen zu ermöglichen, sich zu einem frühe-ren Termin im Ausland behandeln zu lassen, was wiederumdie Gefahr berge, dass sich die Wartezeiten für eine Behand-lung im Inland in dringlicheren Fällen verlängerten und dieVerwaltung der Mittel sowie die Planung des betreffendenGesundheitssystems beeinträchtigt würden. Für den Fall, dasseine solche Verpflichtung bestehen sollte, fragen die Richterdes Court of Appeal weiter, ob der betreffende Mitgliedstaatdie Kosten einer im Ausland erfolgten Behandlung gemäßArt. 22 Verordnung Nr. 1408/71 nach den Rechtsvorschriftendes Aufenthaltsmitgliedstaats oder gemäß Art. 49 EGV nachseinen eigenen Rechtsvorschriften ersetzen muss und ggf. dieReise- und Aufenthaltskosten ebenfalls zu übernehmensind.37 Eine Erstattungspflicht nach den Rechtsvorschriftendes zuständigen Mitgliedstaats würde für ein System wie denNHS, in dem die Gesundheitsversorgung kostenfrei erfolge,eine Verpflichtung zu vollständiger Erstattung bedeuten.Sollte daher der Begriff „nicht rechtzeitig“ ohne Rücksichtauf Haushaltserwägungen zu beurteilen sein, würde dieAnwendung des Art. 49 EGV zu einem Eingriff des Gemein-schaftsrechts in die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten imBereich der öffentlichen Gesundheit führen, die geeignet sei,Fragen im Hinblick auf Art. 152 Abs. 5 EGV aufzuwerfen.38

Der EuGH hat nun in Beantwortung dieser Fragen noch ein-mal ausdrücklich bestätigt, dass die Mitgliedstaaten einrechtsstaatlich nachprüfbares Verfahren zur Erteilung oderVersagung der Genehmigung einer stationären Behandlungin einem anderen Mitgliedstaat vorhalten müssen. Die Beru-fung auf Dringlichkeitskategorien und eine wie auch immeramtlich bestätigte Warte- und Prioritätenliste reiche hierfürnicht aus. Erforderlich für die Erteilung oder Ablehnung derGenehmigung sei allein „eine objektive medizinische Beurtei-lung des Gesundheitszustands des Patienten, seiner Vorgeschichte,der voraussichtlichen Entwicklung seiner Krankheit, des Ausmaßesseiner Schmerzen und / oder der Art seiner Behinderung“. Wenneine stationäre Behandlung insoweit objektiv geboten sei,könne „der zuständige Träger die beantragte Genehmigung nichtunter Berufung auf die Existenz dieser Wartelisten, auf eine angeb-liche Beeinträchtigung der üblichen Prioritätenfolge nach Maßga-be der jeweiligen Dringlichkeit der zu behandelnden Fälle, auf dieKostenfreiheit der im Rahmen des fraglichen nationalen Systemserbrachten Krankenhausbehandlungen, auf die Verpflichtung, fürdie Übernahme der Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaatbeabsichtigten Behandlung besondere finanzielle Mittel vorzuse-hen, und / oder auf einen Vergleich der Kosten dieser Behandlungund der Kosten einer gleichwertigen Behandlung im zuständigenMitgliedstaat versagen.“39

Kurz: Entscheidend für eine wirksame und zeitnahe medizi-nische Maßnahme ist demnach allein die medizinische Indi-kation, nicht aber eine wie auch immer beurteilte Haushalts-lage. Es sei insoweit Aufgabe der Gerichte, zu prüfen, ob dannim Fall Watts und zukünftig in jedem Einzelfall die betroffe-nen Patienten entsprechend ihres „individuellen klinischenBedarfs“ im innerstaatlichen System hinreichend wirksamund rechtzeitig behandelt worden sind oder hätten versorgtwerden können.40

Der EuGH hat in der Entscheidung Watts bis hierher dieDienstleistungsfreiheit in den Dienst einer optimalenGesundheitsversorgung des Patienten zu stellen gesucht, beider die Frage, wie die Mitgliedstaaten die geforderte objektivgebotene Behandlung gewährleisten, deutlich in den Hinter-grund getreten ist. Das politische Ziel ist insoweit klar: Die

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36 Unter Bezug auf die Aussagen in den Entscheidungen Smits und Peerbooms,Rn. 55; Müller-Fauré und van Riet, Rn. 39, 103, die Antwort auf die ersten 4Vorlagefragen im Urteil Watts, LS und Tenor 2, Rn. 89, 123.

37 Vgl. die Entscheidung des EuGH v. 18. März 2004, Rs. 08/02 (Leichtle):„Die Artikel 49 EG und 50 EG sind so auszulegen, dass sie einer Regelungeines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Übernahme von Aufwendun-gen für Unterkunft, Verpflegung, Fahrtkosten, Kurtaxe und ärztlichenSchlussbericht bei einer in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtenHeilkur von einer vorherigen Anerkennung der Beihilfefähigkeit abhängigmacht, die nur dann erteilt wird, wenn nach amts- oder vertrauensärztli-chem Gutachten die geplante Heilkur wegen wesentlich größerer Erfolgs-aussichten in diesem anderen Mitgliedstaat zwingend notwendig ist.“ Wasfür eine Kur gilt, wird man für eine notwendige Operation wohl erst rechterwarten dürfen. Nunmehr differenzierend der EuGH im Urteil Watts,(s. o. Fn. 4) Rn. 138 - 143: Nur wenn im System ein Erstattungsanspruchvorgesehen sei. Klarstellungen zur Auslegung von Art. 22 Abs. 1 c) Verord-nung Nr. 1408/71 dann in der Rs. C-466/04 Herrera: Bei Genehmigungeiner Auslandsbehandlung gem. Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71 bestehtkein Anspruch auf Erstattung der Reise-, Aufenthalts- und Verpflegungs-kosten.

38 Vgl. Rs. Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 36 - 42 und in Konsequenz vor allem die 7.Vorlagefrage: „Sind Artikel 49 EG und Artikel 22 der Verordnung Nr.1408/71 so auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf-erlegen, die Krankenhausbehandlung in anderen Mitgliedstaaten ohneRücksicht auf Haushaltszwänge zu finanzieren und, wenn ja, sind dieseErfordernisse mit der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisa-tion des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung, wie sieArtikel 152 Absatz 5 EG anerkennt, vereinbar?“

39 Urteil Watts, (s. o. Fn. 4) Leitsatz 3, Tenor 2; hierzu auch LS 1, Rn. 63, 79,113, 119 – 120, 123.

40 Urteil Watts, (s. o. Fn. 4) Rn. 78.

Benedict , Die L ibera l i s ierung der Gesundheitsversorgung in Europa | A U F S Ä T Z E

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41 Urteil Watts, (s. o. Fn. 4) Leitsatz 7, Tenor 4, Rn. 147, unter Hinweis aufUrteil Müller-Fauré und van Riet, (s. o. Fn. 4) Rn. 102.

42 Urteil Watts, LS 7 a. E., Rn. 145.43 Vgl. zuletzt etwa Urteil v. 19. April 2007, Rs. C 444/05 (Stamatelaki): „Art.

49 EG steht einer Regelung eines Mitgliedstaates entgegen, die jede Erstat-tung der Kosten der Behandlung der bei einem nationalen Versicherungs-träger Versicherten in Privatkliniken in einem anderen Mitgliedstaat (…)ausschließt.“

Mitgliedstaaten haben eben ihr Gesundheitssystem in einerWeise finanziell auszustatten, dass die objektiv erforderlicheGesundheitsversorgung jederzeit zur Zufriedenheit derPatienten gewährleistet ist. Die Inanspruchnahme von Kapa-zitäten in anderen Mitgliedstaaten weist dementsprechendauf Defizite im eigenen Land hin, die nicht länger geduldetwerden. Und so scheint es, als solle der Gedanke des Wettbe-werbes zwischen den mitgliedstaatlichen Gesundheitssyste-men auch für eine qualitativ und quantitativ hochwertigemedizinische Versorgung fruchtbar gemacht werden. Dassinsoweit die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Art.49 EGV massive Veränderungen für die Systeme innerstaat-licher Gesundheitsversorgung nach sich zieht, bedarf keinerweiteren Erörterung. Diese Konsequenz liegt in der Intentionder Rechtsprechung. Die europarechtlich in Art. 152 Abs. 5EGV verankerte exklusive Kompetenz gilt im Lichte derGrundfreiheiten nur dem Buchstaben nach. Der EuGH stelltinsoweit in der Rechtssache Watts unmissverständlich diekonstitutionelle Problematik sogleich als auch den apodikti-schen Standpunkt seiner Argumentation klar, wenn er aus-führt, das die Verpflichtung der Mitgliedstaaten „Anpassungenin ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzuneh-men“ nicht „als Eingriff in ihre souveräne Zuständigkeit in dembetreffenden Bereich angesehen werden könne.“41

Mit dieser Klarstellung hätte es der EuGH bewenden lassenkönnen. Die Entscheidung in der Rechtssache Watts wäreeine Revolution, nicht nur hinsichtlich der Interpretation desArt. 152 EGV, sondern auch hinsichtlich der Konsequenzenfür die Struktur der mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme.Einen Patienten, wie Frau Watts, je nach Einstufung in Prio-ritätenlisten mehrere Monate oder gar Jahre auf die medizi-nisch indizierte Behandlung warten zu lassen, wäre fortannicht mehr möglich. In Beantwortung der letzten, der sie-benten, der eigentlichen Gretchenfrage in diesem Vorlage-verfahren bekommt der EuGH dann aber offenbar dochAngst vor der eigenen Courage und trägt keine Bedenken,alle seine zuvor so eindeutig getätigten Aussagen doch wiederzu relativieren: Es sei „darauf hinzuweisen, dass, wie aus denAusführungen im Rahmen der Antworten auf die ersten sechs Fra-gen hervorgeht, die sich aus den Artikeln 49 EG und 22 der Ver-ordnung Nr. 1408/71 ergebenden Anforderungen nicht so verstan-den werden können, dass dadurch den Mitgliedstaaten die Ver-pflichtung auferlegt wird, die Kosten von Krankenhausbehandlun-gen in anderen Mitgliedstaaten ohne Rücksicht auf Haushalts-

zwänge zu übernehmen, sondern vielmehr dem Bemühen um einGleichgewicht zwischen dem Ziel der Freizügigkeit der Patienteneinerseits und den nationalen Zwängen der Planung der verfügba-ren Krankenhauskapazitäten, der Beherrschung der Gesundheits-kosten und des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozia-len Sicherheit andererseits entspringen.“42

So wird am Ende die Schwierigkeit der Rechtsprechung deut-lich, in diesem Bereich eine klare Linie zu ziehen: EineGenehmigung zur Auslandsbehandlung soll idealerweiseallein nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilensein, doch allein schon das Genehmigungserfordernis istwirtschaftlichen Zwängen bei der Verteilung knapperRessourcen geschuldet. Für die Frage der Erstattung ist ent-weder das System der inländischen Gesundheitsversorgungmaßgeblich oder das des Staates, in dem die ideale Behand-lung vom Patienten begehrt wird. Die Nebenkosten derBehandlung sind entweder zu erstatten oder sie sind es nicht.So können, je nach Interpretation der Rechtsprechung desEuGH, die Mitgliedstaaten alles so belassen wie es ist odersich genötigt sehen, mehr in ihr Gesundheitssystem zu inve-stieren. Wer alle Ausführungen des EuGH im Lichte seinerabschließend doch eingeräumten Haushaltserwägungenbetrachtet, mag die Entscheidung lediglich als Optimierungs-gebot auffassen, innerstaatlich eine bestmögliche Gesund-heitsversorgung zu realisieren. Frau Watts hätte dann keinenAnspruch auf Erstattung der Auslandsbehandlung, weil einentsprechend Schule machender Präzedenzfall die Funktions-fähigkeit und damit das „finanzielle Gleichgewicht desSystems“ unkalkulierbar gefährden würde.

Politisch bleibt hier also viel Spielraum und für die praktischeRechtsanwendung viel Stoff für weitere Rechtsstreitigkeiten undVorlagefragen.43 So muss es nicht verwundern, dass sich dereuropäische Gesetzgeber vor allem aufgrund der aktuell beste-henden Rechtsunsicherheit genötigt und ermutigt gesehen hat,diesen Bereich mit dem im Folgenden näher zu betrachtendenRichtlinienentwurf einer klärenden Regelung zuzuführen.

A U F S Ä T Z E | Benedict/Reich, Zum Vorschlag für e ine Richt l in ie über die Ausübung der Pat ientenrechte

A. Die geplante Richtlinie

Angesichts der höchstrichterlichen Interpretation der Dienst-leistungsfreiheit und der hierbei spätestens nach dem UrteilMüller-Fauré und van Riet im Jahre 2003 offenbar gewordenenUnsicherheit bei Voraussetzungen bzw. Rechtsfolgen einer

grenzüberschreitenden medizinischen Versorgung, „riefendie Gesundheitsminister und andere Akteure die Kommissiondazu auf, Wege zu suchen, wie die Rechtssicherheit“ in die-sem Bereich „verbessert werden könnte“.1

Zum Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübungder Patientenrechte in der grenzüberschreitendenGesundheitsversorgungVon PD Dr. Jörg Benedict, z. Zt. Universität München und Anke Reich, LL.M., Universität Erfurt

1 Begründung RL-Vorschlag, S. 2.

I. Ziel und Gegenstand des Richtlinienvorschlags

Die Kommission wollte die entsprechenden Entwicklungender Rechtsprechung bereits im ersten Vorschlag für eine„Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ (2004)2

über den Gedanken der Freizügigkeit bei Gesundheitsdienst-leistungen mit berücksichtigen. Doch wurde das Ungenügen-de dieses Ansatzes leicht erkannt und der wenig glücklichelegislative Vorstoß von dem Rat und dem Europäischem Par-lament nicht akzeptiert.3 Es gehe darum, „diese Aspekte ineinem eigenen Rechtsinstrument der Gemeinschaft zubehandeln, um eine allgemeinere, wirksame Anwendung derGrundsätze zu erreichen, die der Gerichtshof in Einzelfällenniedergelegt hat.“4 Die Urteile des Gerichtshofes seien „ansich klar“, es sei „dennoch notwendig für noch mehr Klarheitzu sorgen“.5 Der EuGH habe zwar den Gedanken der Dienst-leistungsfreiheit auf die Inanspruchnahme von Gesundheits-dienstleistungen ausgedehnt, doch gebe es „keine klarenRegelungen auf Gemeinschaftsebene darüber, wie dieseAnforderungen bei grenzüberschreitenden Gesundheits-dienstleistungen erfüllt werden können oder wer dafür ver-antwortlich ist, dass sie erfüllt werden.“6

Kurz: Rechtssicherheit und Transparenz kennzeichnen dasstetig wiederholte Credo in der Begründung des Richtlinien-entwurfes.7 Diese Motivation wird dann auch durch das inArt. 1 RL-Vorschlag formulierte „Ziel“ der Richtlinie explizitdahingehend festgeschrieben, „einen allgemeinen Rahmen füreine sichere, hochwertige und effiziente grenzüberschreitendeGesundheitsversorgung“ zu schaffen, wobei der zu schaffende„allgemeine Rahmen“ wiederholt ausdrücklich als ein „klarerund transparenter Rahmen für die grenzüberschreitendeGesundheitsversorgung innerhalb der EU“ bezeichnet wird.8

Im Einzelnen geht es der Kommission dabei darum, dass 1.)eine sichere und hochwertige Versorgung gewährleistet, 2.)ungerechtfertigte Hindernisse abgebaut und 3.) das Verfahrenzur Kostenerstattung klar und transparent gestaltet werdensollen.9

Der insgesamt 21 Artikel umfassende Richtlinienvorschlaggliedert sich in Umsetzung der verfolgten Zwecksetzung indrei Hauptbereiche.10 Eingerahmt von „Allgemeinen Bestim-mungen“ (Kapitel I, Art. 1 - 4, nebst allgemeinen Grundsät-zen Kapitel II, Art. 5) und „Schlussbestimmungen“ (Kapitel V,Art. 19 - 23), steht im Zentrum der Betrachtung die Umset-zung der Rechtsprechung des EuGH11 zur „Inanspruchnah-me der Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitglied-staat“ (Kapitel III, Art. 6 - 12) und die hieraus in praktischerKonsequenz folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten zustärkerer „Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung“(Kapitel IV, Art. 13 - 18).

II. Allgemeine Bestimmungen und Grundsätze

1. Geltungsbereich und Verhältnis zu anderen Gemeinschafts-vorschriften

Nach Art. 2 RL-Vorschlag ist die Richtlinie „anwendbar aufjegliche Gesundheitsversorgung, unabhängig davon, wie sieorganisiert, ausgeführt oder finanziert wird bzw. ob sie öffent-lich oder privat erfolgt.“ Das Erfordernis der Grenzüber-schreitung ist hierbei nicht explizit erwähnt, jedoch mit hin-einzulesen.12 Art. 4 b) RL-Vorschlag definiert den Begriff„grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung“ als „eine Gesund-heitsdienstleistung, die in einem anderen Mitgliedstaat alsdem erbracht wird, in dem der Patient versichert ist, odereine Gesundheitsdienstleistung, die in einem anderen Mit-

gliedstaat als dem erbracht wird, in dem der Dienstleisterwohnhaft, registriert oder niedergelassen ist“.13

Der Geltungsbereich ist mithin umfassend und so fragt sich,wie sich der RL-Vorschlag zu anderen Gemeinschaftsvor-schriften verhält. Art. 3 Abs. 1 RL-Vorschlag zählt zunächstdiejenigen Sekundärgemeinschaftsakte auf, die von der vor-geschlagenen Richtlinie unberührt bleiben;14 in Abs. 3 dieje-nigen, denen Vorrang gebühren soll.15 Wichtig ist auf Grunddes engen sachlichen Zusammenhangs und der sich insoweitbereits in der Rechtsprechung des EuGH abgezeichnetenUnklarheit vor allem das Verhältnis zu Art. 22 VerordnungNr. 1408/71. Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71 ist dabei für diehier vorrangig zu betrachtenden Sachverhalte grenzüber-schreitender Patientenrechte in doppelter Hinsicht bedeut-

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2 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom12.Dezember 2006.

3 Begründung RL-Vorschlag, S. 2.4 Erw. 6.5 Begründung RL-Vorschlag, S. 2.6 Begründung RL-Vorschlag, S. 8.7 Vgl. etwa: S. 2, 5, 8, 9, Erw. 6, 11, 15 passim.; bereits Richtlinie

2006/123/EG, Erw. 23: es gehe darum, „mehr Rechtssicherheit und -klar-heit zu erreichen“. Die RL sei notwendig, um einen „klareren Überblicküber den EU-Rechtsrahmen für die Inanspruchnahme gesundheitlicherVersorgung in einem anderen Mitgliedstaat und deren Kostenerstattung zugeben“ (KOM(2004) 301 endg. v. 20. April 2004, S. 2.).

8 Begründung RL-Vorschlag, S. 4, vgl. auch S. 9 (einen „klaren Rahmen“;„ausreichende Klarheit“ zu schaffen).

9 Begründung RL-Vorschlag, S. 4 f. Das Ziel des Richtlinienentwurfes wirdhier sehr ambitioniert dahingehend präzisiert: „ausreichend Klarheit überden Anspruch auf Kostenerstattung für die in einem anderen Mitgliedstaaterbrachte Gesundheitsversorgung“ zu bieten und zugleich zu „gewährlei-sten, dass die erforderlichen Voraussetzungen für eine hochwertige, siche-re und effiziente Gesundheitsversorgung bei grenzüberschreitendenGesundheitsdienstleistungen gegeben sind.“

10 Begründung RL-Vorschlag, S. 4.11 Einzelheiten dazu siehe Benedict, B. III. (S. 443 ff.) in diesem Heft.12 Die Intention ist aus dem Namen der Richtlinie und aus der Zielbestim-

mung in Art. 1 RL-Vorschlag erkennbar.13 Zu Einzelheiten siehe Erw. 10. Hingewiesen sei darauf, dass der RL-Vor-

schlag nach dessen Erw. 9 im Bereich der Langzeitpflege gilt, d. h. „nichtfür die Unterstützung von Familien oder Einzelpersonen, die über einenlängeren Zeitraum einen besonderen Pflegebedarf haben. So ist sie nichtanwendbar auf Heime oder betreutes Wohnen oder die Unterstützung vonälteren Menschen oder Kindern durch Sozialarbeiter, ehrenamtliche Pfle-gekräfte oder Fachkräfte mit Ausnahme von Angehörigen der Gesund-heitsberufe“.

14 Im Einzelnen sind das die Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Per-sonen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freienDatenverkehr sowie Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung perso-nenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektroni-schen Kommunikation; die Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäi-schen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung vonGemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung vonHuman- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer EuropäischenArzneimittel-Agentur sowie die Richtlinie 2001/83/EG des EuropäischenParlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes fürHumanarzneimittel; die Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- undVerwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung derguten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungenmit Humanarzneimitteln; die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung vonArbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen; dieRichtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung desGleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der eth-nischen Herkunft; die Verordnungen zur Koordinierung der Sozialversi-cherungssysteme, insbesondere Artikel 22 der Verordnung (EWG) Nr.1408/71 des Rates vom 14. Juni 1974 zur Anwendung der Systeme der sozi-alen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, dieinnerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und die Verordnung (EG)Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Ver-ordnung (EG) Nr. 1082/2006 vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Ver-bund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ).

15 Genannt werden: Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung vonBerufsqualifikationen und Richtlinie 2000/31/EG über bestimmte rechtli-che Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere deselektronischen Geschäftsverkehrs.

Benedict/Reich, Zum Vorschlag für e ine Richt l in ie über die Ausübung der Pat ientenrechte | A U F S Ä T Z E

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16 In diesem Zusammenhang ist bezüglich beider Verordnungsvorschriftenzu beachten, dass für diese gem. Art. 22a Verordnung Nr. 1408/71 – abwei-chend von Art. 2 Verordnung Nr. 1408/71 – ein umfassenderer persön-licher Geltungsbereich besteht und diese auf alle nach den gemäß denRechtsvorschriften eines Mitgliedstaats versicherten Staatsbürgern einesMitgliedstaats und den bei ihnen wohnenden FamilienangehörigenAnwendung finden.

17 Vgl. Informationen des Deutschen Konsulats Las Palmas de G.C. unter:http://www.las-palmas.diplo.de/Vertretung/laspalmas/de/04/Konsulari-scher__Service/Rentenangelegenheiten.html (zuletzt abgerufen am14.09.2008).

18 Hierzu Fuchs-Bieback , Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, S. 222, 252.19 Näheres unter: http://www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1168258/Shared-

D o c s / S t a n d a r d a r t i k e l / D E / A Z / E / G l o s s a r - E l e k t r o n i s c h e -Gesundheitskarte/Informationen-zur-Europ_C3_A4ischen-Krankenversi-cherungskarte.html?__nnn=true (zuletzt abgerufen am 14.09.2008).

20 Hierzu bereits Benedict, B. II. (siehe S. 443) in diesem Heft. 21 Begründung RL-Vorschlag, S. 5: Im Überschneidungsfall bestehen „alter-

native Mechanismen für die Kostenübernahme bei grenzüberschreitenderGesundheitsversorgung“.

22 Erw. 22.23 Erw. 21.24 Näheres dazu siehe Benedict, B. II. und III. (S. 443 ff.) in diesem Heft.25 Erw. 23, vgl. auch Erw. 22.26 Begründung RL-Vorschlag, S. 12.27 Begründung RL-Vorschlag, S. 12.28 Begründung RL-Vorschlag, S. 13.29 Konsequent zur Maßgeblichkeit der Behörden des Behandlungsstaats sind

für die Erbringung der Gesundheitsdienstleistung nach Art. 11 Abs. 1 RL-Vorschlag die Rechtsvorschriften des Behandlungsmitgliedsstaats maßgeb-lich, da die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstlei-stungen und die medizinische Versorgung in der Verantwortung der Mit-gliedstaaten liegt (Art. 152 Abs. 5 EGV).

sam.16 Zum einen geht es um Sachverhalte, in denen derZustand einer Person während eines zeitlich begrenzten Auf-enthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats medizinischeSachleistungen erfordert, d. h. Notfälle und dringendeBehandlungen, sowie Folgerezepte.17 Diese Fälle sind vonArt. 22 Abs. 1 a) Verordnung Nr. 1408/71 erfasst, wonachSachleistungen, die sich unter Berücksichtigung der Art derLeistungen und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer alsmedizinisch notwendig erweisen, zu erbringen sind. Auf-grund der zur Durchführung dieser Verordnungsvorschriftam 1. Juni 2004 eingeführten Europäischen Krankenversi-cherungskarte18 hat der gesetzlich Versicherte folglich beieinem Unfall oder einer akuten Erkrankung einen Anspruchauf medizinische Leistungen zu denselben Bedingungen, wiesie für die Versicherten des Gastlandes gelten, und die sichwährend des Aufenthalts unter Berücksichtigung der Art derLeistungen und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer alsmedizinisch notwendig erweisen und kann die anfallendenKosten von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet verlan-gen.19 In Erwägungsgrund 20 RL-Vorschlag heißt es demge-mäß, dass „die Kostenübernahme für Gesundheitsdienstlei-stungen, die während eines vorübergehenden Aufenthaltseines Versicherten in einem anderen Mitgliedstaat aus medi-zinischen Gründen notwendig werden, außen vor“ bleibensoll. Der Anwendungsbereich der Europäischen Krankenver-sicherungskarte bedarf offenbar keiner doppelten Regelung.

Weniger klar ist hingegen das Verhältnis von Art. 22 Abs. 1 c)Verordnung Nr. 1408/71 zu den Bestimmungen des Richtli-nienentwurfs. Nach Art. 22 Abs. 1 c) Verordnung Nr. 1408/71hat der Versicherte einen Anspruch auf Sachleistungen vomTräger des Aufenthalts oder Wohnorts nach den für diesenTräger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem ver-sichert wäre.20 Die Behandlung geht aber auf Rechnung deszuständigen Trägers, wenn und soweit er von diesem dieGenehmigung zur grenzüberschreitenden Behandlung erhal-ten hat. Das hier vermittelte „Recht des Patienten auf Geneh-migung einer Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat“soll durch den RL-Vorschlag nicht tangiert werden. Folglichsind gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 RL-Vorschlag bei Vorliegen der„Bedingungen, unter denen eine Genehmigung zur Inan-spruchnahme einer geeigneten Behandlung gemäß Art. 22Verordnung Nr. 1408/71 in einem anderen Mitgliedstaatgewährt werden muss“, die Vorschriften der genannten Ver-ordnung anwendbar und die entsprechenden Bestimmungendieses RL-Vorschlages (Art. 6, 7, 8 und 9) sollen nicht zumZuge kommen. Umgekehrt soll es sich hingegen verhalten,wenn eine Gesundheitsversorgung in einem anderen Mit-gliedstaat unter anderen, nicht zum Anspruch nach Art. 22Abs.1 c) Verordnung Nr. 1408/71 führenden Bedingungenerfolgen soll. Welche Bedingungen das genau sind, bleibtunklar. Die Regelungen der Verordnung gelten unverändertfort und die des RL-Vorschlags sollen lediglich alternativdaneben treten21: „entweder gilt die vorliegende Richtlinie oderdie Verordnung 1408/71.“22 Der RL-Vorschlag perpetuiertsomit den von der Rechtsprechung des EuGH begründetenDualismus, wonach „auch Patienten, die sich unter nicht imRahmen der […] Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehe-nen Umstände für eine Gesundheitsdienstleistung in einenanderen Mitgliedstaat begeben, in den Genuss der Grundsät-ze des freien Dienstleistungsverkehrs gem. EG-Vertrag undden Bestimmungen“23 der vorgeschlagenen Richtlinie kom-men sollen. Wie gesehen24, bestand gerade hier eine erhebli-che Rechtsunsicherheit. Der RL-Entwurf sucht das Problemdurch eine Meistbegünstigungsklausel für Patienten aufzulö-

sen: Der Patient soll „entscheiden, welchen Mechanismus erbevorzugt; in keinem Fall dürfen aber, wenn die Anwendungder Verordnung Nr. 1408/71 für den Patienten günstiger ist,diesem die aus der genannten Verordnung garantierten Rech-te verweigert werden.“25

2. Zuständige Behörden und gemeinsame Grundsätze der Ge-sundheitsversorgung

In Kapitel 2 des RL-Vorschlags werden ausweislich der Über-schrift grundlegende Fragen hinsichtlich der „für die Einhal-tung der Allgemeinen Grundsätze der Gesundheitsversorgungzuständige[n] Behörden der Mitgliedstaaten“ behandelt.Dadurch soll Hemmnissen, die sich aus „der Unterschiedlich-keit der Systeme und Unklarheit bezüglich der Zuständigkei-ten der einzelnen Behörden“ ergeben könnten, entgegenge-wirkt werden.26 Um dies zu erreichen, sind nach der Begrün-dung zum RL-Vorschlag „2 Elemente“27 klärungsbedürftig:Zum einen muss Klarheit darüber bestehen, welcher Mitglied-staat in einem gegebenen Fall der grenzüberschreitendenGesundheitsversorgung für die Einhaltung der allgemeinenGrundsätze der Gesundheitsversorgung zuständig ist. Zumanderen bedarf es eines Mindestmaßes an Sicherheit darüber,welche Grundsätze im Bereich der Gesundheitsdienstleistun-gen aller Art auf seinem Hoheitsgebiet zu gewährleisten sind.Aufschluss hierüber gibt Art. 5 RL-Vorschlag. Zunächst ist indessen S. 1 festgeschrieben, dass die Behandlungsmitglied-staaten „für die Organisation und Bereitstellung der Gesund-heitsversorgung“ zuständig sind, wodurch „Lücken und Über-schneidungen“28 vermieden werden sollen.29 Nach Art. 5 S. 2RL-Vorschlag haben diese zuständigen Behörden des Behand-lungsmitgliedstaats dann „unter Beachtung der GrundsätzeUniversalität, Zugang zu hochwertiger Versorgung, Gleichbe-handlung und Solidarität, klare Qualitäts- und Sicherheits-standard für die Gesundheitsversorgung in ihrem Hoheitsge-biet“ festzulegen und für eine ganze Reihe von unter a) bis g)aufgezählter Aufgaben Sorge zu tragen: So ist beispielsweisesicherzustellen, dass nach lit. a) Mechanismen verfügbar sind,die gewährleisten, dass Gesundheitsdienstleister die festge-

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schriebenen Standards erfüllen können; nach lit. b) die prak-tische Anwendbarkeit solcher Standards überwacht undAbhilfemaßnahmen getroffen werden sowie nach lit. c) diefür eine fundierte Entscheidung des Patienten erforderlichenfachlichen Informationen30 durch die Gesundheitsdienstlei-ster bereitgestellt werden. Auch sind nach lit. d) „Verfahrenund Systeme für den Fall [zu] errichten, dass aufgrund vonGesundheitsdienstleistungen Schäden auftreten“ und in die-sem Fall „Rechtsmittel und entsprechende Entschädigungs-möglichkeiten zur Verfügung stehen.“31 Ohne an dieser Stel-le auf die einzelnen Grundsätze näher eingehen zu können,32

wird aus den vorgenannten, beispielhaft aufgezähltengemeinsamen Grundsätzen deutlich, dass dadurch „unterBerücksichtigung der vielfältigen Systeme, Strukturen undMechanismen der Mitgliedstaaten […] ein Grundstock angemeinsamen Grundsätzen“ festgeschrieben werden soll, „aufden sich Patienten und Angehörige der Gesundheitsberufe ausanderen Mitgliedstaaten verlassen können.“33 Dies sei „not-wendig, um das Vertrauen der Patienten in die grenzüber-schreitende Gesundheitsversorgung sicherzustellen, waswiederum Voraussetzung dafür ist, dass Patientenmobilitätund die Freizügigkeit der Gesundheitsdienstleistungen imBinnenmarkt und ein hohes Gesundheitsschutzniveaugewährleistet ist.“34 Im Übrigen bleibt die Entscheidung überdie konkreten Normen für die Gesundheitsversorgung imjeweiligen Hoheitsgebiet und die Organisation der Gesund-heitssysteme den Mitgliedstaaten überlassen.35

III. Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in einem an-deren Mitgliedstaat

1. Behandlungs- und Kostenerstattungsanspruch

Durch die im Kern des Richtlinienentwurfs, in Kapitel III,getroffenen Bestimmungen über den Zugang zu und dieErstattung der Kosten für Gesundheitsdienstleistungen inanderen Mitgliedstaaten, soll Patienten die „Freizügigkeit derGesundheitsversorgung“ ermöglicht und ungerechtfertigteHindernisse, die dieser Grundfreiheit in den Versicherungs-mitgliedstaaten entgegenstehen, beseitigt werden.36

a) Recht auf Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat

Die zentrale Regelung des ganzen Entwurfs findet sich inArt. 6 Abs. 1 S. 1 RL-Vorschlag. Demnach hat der Versiche-rungsmitgliedstaat dafür Sorge zu tragen, „dass Versicherte, diesich in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort Gesund-heitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, oder die sich umGesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaatbemühen, nicht daran gehindert werden, eine Gesundheitsversor-gung in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten, sofern die betref-fende Behandlung nach dem Recht des Versicherungsmitglied-staats zu den Leistungen gehört, auf die der Versicherte Anspruchhat.“ Es geht also darum, Patienten das Recht einzuräumen,Gesundheitsdienstleistungen auch im Ausland in Anspruchzu nehmen.37 Art. 6 Abs. 1 RL-Vorschlag gibt mithin denGrundsatz wider, den der EuGH bereits aus Art. 49 EGV her-ausgelesen hat. Der konkrete Rahmen dieses Rechtes wird inden Art. 6 - 9 RL-Vorschlag präzisiert. Der grundlegendeAspekt ist hierbei in konsequenter Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung die Öffnung der mitgliedstaatlichen Sachlei-stungssysteme für Elemente der Kostenerstattung.38

b) Recht auf Kostenerstattung

Das Recht auf Kostenerstattung ist daher sogleich in Art. 6Abs. 1 S. 2 RL-Vorschlag festgeschrieben. Danach hat der Ver-

sicherungsmitgliedstaat „die dem Versicherten entstandenenKosten, die von seinem gesetzlichen Sozialversicherungssys-tem gezahlt worden wären, wäre die gleiche oder eine ver-gleichbare Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsge-biet erbracht worden“, zu erstatten.39

aa) Gegenstand der Kostenerstattung

Art. 6 Abs. 1 S. 3 RL-Vorschlag stellt nun in Referenz zu Art.152 Abs. 5 EGV und den hierzu ergangenen Bemerkungendes EuGH40 klar, dass es „in jedem Fall“ Sache des Versiche-rungsmitgliedstaats sein soll, „festzulegen, für welche Gesund-heitsdienstleistungen die Kosten erstattet werden, unabhängigdavon, wo diese Dienstleistungen erbracht werden.“ Die vorge-schlagene Richtlinie trifft demnach keine Aussage darüber,welche Gesundheitsdienstleistungen vom europarechtlichimplementierten Erstattungssystem letztlich erfasst werden.Die Bestimmung hierüber obliegt ausschließlich den Mit-gliedstaaten. Der Versuch einer Harmonisierung der mit-gliedstaatlichen Gesundheitsdienstleistungen durch Festle-gung gemeinsamer Prinzipien (vgl. Art. 5 RL-Vorschlag) ist indiesem Lichte zu betrachten. Ohne Harmonisierung dererstattungsfähigen Dienstleistungen wird es vermutlichweiterhin zu Streitigkeiten bei ihrer Inanspruchnahme kom-men.

Neben dem unproblematisch erstattungspflichtigen Fall, dasseine in Rede stehende Behandlung gleichermaßen im Versi-cherungs- wie im Behandlungsland unter die zu erstattendenLeistungen fällt, sind des Weiteren zwei Fallgestaltungen zuunterscheiden:41 Wenn ein Mitgliedstaat eine bestimmteBehandlung in den Leistungskatalog im Inland einbezieht,diese aber in dem anderen Mitgliedstaat, in dem die Behand-lung erfolgt, nicht erstattungsfähig ist, besteht aufgrund derMaßgeblichkeit des Erstattungsumfangs im Versicherungs-land dennoch ein Erstattungsanspruch. Ist hingegen die ineinem anderen Mitgliedstaat erfolgte Gesundheitsdienstlei-stung zwar vom Erstattungsumfang im Behandlungslanderfasst, fällt aber nicht unter die zu erstattenden Leistungenim Versicherungsland, so ist kein Erstattungsanspruch gege-ben. Hier bleibt es also beim grundlegenden Unterschied zuArt. 22 Verordnung Nr. 1408/71. Man kann auch von der

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30 Dafür ist ein Zugang zu Informationen über die wichtigsten medizini-schen, finanziellen und praktischen Aspekte der gewünschten Gesund-heitsdienstleistung erforderlich. (Begründung RL-Vorschlag, S. 13) Die vonden fachlichen Informationen zu trennenden formalen Informationensind hingegen Gegenstand des Art. 10 RL-Vorschlag und insbesonderedurch die nach Art. 12 RL-Vorschlag zu benennenden Kontaktstellen zuerteilen.

31 Begründung RL-Vorschlag, S. 13 f.32 Näheres zu den einzelnen Gründsätzen in Art. 5 Abs. 1 RL-Vorschlag und

Begründung zum RL-Vorschlag S. 13 - 15.33 Begründung RL-Vorschlag, S. 12 und Erw. 11.34 Erw. 11.35 Begründung RL-Vorschlag, S. 12.36 Begründung RL-Vorschlag, S. 16; Erw. 26.37 Vgl. repräsentativ Brüssel aktuell Nr. 13/08 – Information der Vertretung

des Saarlandes bei der EU, S. 4, unter: http://www.saarland.de/dokumen-te/thema_europa/040708.pdf (zuletzt abgerufen am: 13.09.2008).

38 Vgl. explizit Art. 6 Abs. 4 RL-Vorschlag: Die Mitgliedstaaten werden einenMechanismus für die Berechnung der Kosten schaffen, die dem Versicher-ten von der gesetzlichen Sozialversicherung für die Gesundheitsversor-gung in einem anderen Mitgliedstaat zu erstatten sind. Dieser Mecha-nismus stützt sich auf objektive, diskriminierungsfreie Kriterien, die vorabbekannt sind, und die gemäß diesem Mechanismus erstatteten Kosten sindnicht geringer als diejenigen, die übernommen würden, wenn die gleicheoder eine ähnliche Gesundheitsdienstleistung im Hoheitsgebiet des Versi-cherungsmitgliedstaates erbracht worden wäre.“

39 Einzelheiten sind dazu insbesondere in Art. 6 - 8 RL-Vorschlag normiert.40 Insbesondere in der Entscheidung Watts v. 16. Mai 2006, Rs. C-372/04.

Näheres dazu siehe Benedict, B. III. 5.) (S. 446 ff.) in diesem Heft.41 Begründung RL-Vorschlag, S. 16, vgl. auch Erw. 25.

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42 Begründung RL-Vorschlag, S. 5.43 Erw. 24.44 Urteil v. 12. Juli 2001, Rs. C-368/98: „Artikel 59 EG-Vertrag (nach Ände-

rung jetzt Artikel 49 EG) ist so auszulegen, dass dann, wenn die Erstattungvon Kosten, die durch in einem Aufenthaltsmitgliedstaat erbrachte Kran-kenhausdienstleistungen veranlasst worden sind, die sich aus der Anwen-dung der in diesem Staat geltenden Regelung ergibt, niedriger als diejeni-ge ist, die sich aus der Anwendung der im Mitgliedstaat der Versiche-rungszugehörigkeit geltenden Rechtsvorschriften im Fall einer Kranken-hauspflege in diesem Staat ergeben würde, dem Sozialversicherten vomzuständigen Träger eine ergänzende Erstattung gemäß dem genanntenUnterschied zu gewähren ist.“ Tenor 1, Rn. 53.

45 Begründung RL-Vorschlag, S. 17.46 Ausführlich zum zu Grunde liegenden Konflikt siehe Benedict, B. I. (S. 442

f.) in diesem Heft. 47 Begründung RL-Vorschlag, S. 16.48 Begründung RL-Vorschlag, S. 19.49 Begründung RL-Vorschlag, S. 17 f. 50 Einzelheiten siehe Benedict, (S. 441 ff.) in diesem Heft.

Erstattungsperspektive des Versicherungslandes (RL-Vor-schlag) im Unterschied zur Erstattungsperspektive desBehandlungslandes (Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71) spre-chen. Durch die vorgeschlagene Richtlinie wird entspre-chend der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 49 EGV alsokein neuer Anspruch der Patienten auf Kostenerstattung füreine Behandlung begründet, sondern nur die Möglichkeit,die erstattungspflichtige Behandlung auch im Ausland vor-nehmen zu können.

bb) Höhe der Kostenerstattung

Auch die Höhe der Kostenerstattung folgt gem. Art. 6 Abs. 2RL-Vorschlag konsequent der Erstattungsperspektive des Ver-sicherungslandes: „Die Kosten für eine solche Gesundheits-versorgung in einem anderen Mitgliedstaat werden vom Ver-sicherungsmitgliedstaat nach Maßgabe dieser Richtlinie biszu der Höhe erstattet, die abgedeckt wäre, wenn die gleichenoder ähnliche Gesundheitsdienstleistungen im Versiche-rungsmitgliedstaat erbracht worden wären, wobei jedoch dietatsächlichen Kosten der erhaltenen Gesundheitsdienstlei-stungen nicht überschritten werden dürfen.“

Wenn also die tatsächlich im Behandlungsland angefallenenKosten für eine bestimmte Behandlung (z. B. 1500 Euro)höher sind als die Kosten, die im Versicherungsland für dieseGesundheitsdienstleistung entstanden wären (z. B. 1000Euro), steht dem Patienten nur ein Anspruch in Höhe der1000 Euro zu. Dann trägt der Versicherte das finanzielle Risi-ko für etwaige zusätzliche Kosten der Behandlung in einemanderen Mitgliedstaat.42 Zum gleichen Ergebnis kommt manauch im umgekehrten Fall. Wenn also für eine bestimmteerstattungspflichtige Gesundheitsdienstleistung beispiels-weise 1500 Euro im Versicherungsland veranschlagt, imBehandlungsland jedoch tatsächlich nur 1000 Euro ange-fallen sind, dann hat der Patient ebenso nur einen Kostener-stattungsanspruch von 1000 Euro.

Damit ist die Kostenerstattung für in einem anderen Mit-gliedstaat erbrachte Gesundheitsversorgung durch zwei Maß-gaben beschränkt: Erstens sind die Kosten nur in der Höhe zuerstatten, wie sie für die gleiche oder ähnliche Gesundheits-dienstleistung im Versicherungsmitgliedstaat angefallenwären. Sie dürfen aber zweitens nicht höher als die tatsäch-lichen Kosten sein, denn der Patient sollte in keinem Falleinen finanziellen Vorteil aus der in einem anderen Mitglied-staat geleisteten Gesundheitsversorgung ziehen.43 Der Richt-linienentwurf widerspricht hier der Erkenntnis des EuGH imUrteil Vanbraekel, wonach der Differenzbetrag zu erstattensein soll.44 Da der EuGH diese Rechtsfolge direkt aus Art. 49EGV herausgelesen hat, mag man fragen, ob der RL-Gesetz-geber oder der EuGH in diesem Punkt die Dienstleistungs-freiheit unzutreffend interpretiert.

Die Öffnung des Sachleistungssystems für Erstattungsansprü-che macht es notwendig, dass die Kosten für die jeweiligenBehandlungen bestimmbar und vergleichbar sind. Mitglied-staaten, die „möglicherweise nicht über feste Kostenerstat-tungssätze verfügen (etwa in Gesundheitssystemen mit inte-grierter öffentlicher Finanzierung und Gesundheitsversor-gung),“45 wird daher in Art. 6 Abs. 4 S. 1 RL-Vorschlag diePflicht auferlegt, „einen Mechanismus für die Berechnungder Kosten, die dem Versicherten von der gesetzlichen Sozial-versicherung für die Gesundheitsversorgung in einem ande-ren Mitgliedstaat zu erstatten sind“, zu schaffen. Die Krite-rien, denen ein solcher Mechanismus entsprechen soll, sindin Art. 6 Abs. 4 S. 2 RL-Vorschlag näher bezeichnet. Die Mit-

gliedstaaten bleiben nach dem RL-Vorschlag mithin zwar frei,das Spektrum der Behandlungen, für welche die Kosten über-nommen werden, festzulegen, sie müssen aber die Behand-lungskosten fixieren und benennen.

Zu den mit einer Auslandsbehandlung notwendig verbunde-nen Nebenkosten, schweigt der Richtlinienentwurf.

cc) Beschränkung der Kostenerstattungspflicht: Das Geneh-migungsproblem

Das Hauptproblem in der Rechtsprechung des EuGH liegt inder mitgliedstaatlichen Regulierung grenzüberschreitenderGesundheitsdienstleistungen zur Kontrolle der anfallendenKosten im eigenen Sozialsystem.46 Der RL-Vorschlag willnun, ganz auf der Linie des EuGH und des Art. 49 EGV ver-bleibend, „keine allgemeine Regelung der Vorabgenehmi-gung“ einführen47, sondern auf einzelne „Systeme der Vor-abgenehmigung“ begrenzt wissen.48 Im Ergebnis geht esdabei um drei zu unterscheidende Sachverhalte.

(1) Inlandsbezogene Zustimmungsvorbehalte (Art. 6 Abs. 3RL-Vorschlag)

In konsequenter Umsetzung der Erstattungsperspektive des Ver-sicherungslandes stellt zunächst Art. 6 Abs. 3 RL-Vorschlagklar, dass für die Inanspruchnahme einer Gesundheitsversor-gung in einem anderen Mitgliedstaat „dieselben Bedingun-gen, Anspruchskriterien und regulatorischen und administra-tiven Verfahren für die Inanspruchnahme der Gesundheits-versorgung und die Erstattung der Kosten für diese Behand-lung“ gelten, „die er für die gleiche oder eine ähnlicheGesundheitsversorgung im eigenen Hoheitsgebiet vorschrei-ben würde, soweit diese weder diskriminierend sind noch einHemmnis für den freien Personenverkehr darstellen.“49

Wenn also etwa eine deutsche Krankenkasse vor der Durch-führung einer Zahnbehandlung ganz generell die Einholungeiner vorherigen Zustimmung zur Kostenübernahme fordert,so soll dieses Erfordernis nicht deshalb entfallen, weil derPatient die Zahnbehandlung in Belgien durchführen lassenwill.

Von derartigen Zustimmungserfordernissen zu unterscheidensind Zustimmungserfordernisse, die exklusiv mit Blick auf dieBehandlung in einem anderen Mitgliedstaat gelten sollen.Solche Zustimmungserfordernisse sind nach der Rechtspre-chung des EuGH Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit50

und bedürfen einer hinreichenden Rechtfertigung, derengenauer Zuschnitt (Aufrechterhaltung des finanziellenGleichgewichts im mitgliedstaatlichen Sozialsystem) bishervom EuGH allenfalls im Grundsatz geklärt worden ist. Der

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RL-Vorschlag übernimmt insoweit erstens die vom EuGH for-mulierte Grundeinsicht, wonach „Vorabgenehmigungen“ fürdie Kostenerstattung einer Gesundheitsdienstleistung ineinem anderen Mitgliedstaat dadurch begründet sein kön-nen, dass anderenfalls die Gesundheitssysteme der Mitglied-staaten oder die finanzielle Nachhaltigkeit ihrer Sozialversi-cherungssysteme nachhaltig beeinträchtigt würden.51 DerEntwurf unterscheidet insoweit zweitens ebenfalls zwischenambulanter und stationärer Behandlung:

(2) Grenzüberschreitende ambulante Behandlungen (Art. 7RL-Vorschlag)

Nach Art. 7 RL-Vorschlag darf der Versicherungsmitgliedstaat„die Erstattung der Kosten einer Behandlung außerhalb einesKrankenhauses in einem anderen Mitgliedstaat nicht […] voneiner Vorabgenehmigung“ abhängig machen, „wenn dieKosten dieser Behandlung, wäre sie im eigenen Hoheitsgebieterbracht worden, von seinem Sozialversicherungssystemübernommen würden.“

Die „Ambulante Behandlung“ wird als „Behandlung außer-halb eines Krankenhauses“ und mithin in negativer Abgren-zung zu der in Art. 8 RL-Vorschlag näher geregelten Kran-kenhaus- und Spezialbehandlung bestimmt: Demzufolge giltjede Gesundheitsdienstleistung, die nicht als Krankenhaus-behandlung im Sinne dieser Richtlinie anzusehen ist, alsambulante Behandlung.52

Die Verfasser des RL-Vorschlags folgen der Ansicht des EuGH,dass bei ambulanter Behandlung eine Einwilligung des Versi-cherungsträgers („Vorabgenehmigung“) in jedem Fall eineungerechtfertigte Behinderung der Dienstleistungsfreiheitdarstellt.53

(3) Grenzüberschreitende Krankenhausbehandlung (Art. 8RL-Vorschlag)

Anders liegt die Sache bei der Krankenhausbehandlung. Fürdiesen Bereich hat der EuGH grundsätzlich die Möglichkeiteiner „Vorabgenehmigung“ akzeptiert und dem folgt Art. 8RL-Vorschlag. Wegen dieser grundsätzlichen Differenzierungkommt der Definition dessen, was als Krankenhausbehand-lung anzusehen sein soll, von vornherein eine zentraleBedeutung zu. Folgerichtig enthält Art. 8 RL-Vorschlagzunächst eine Definition der „Krankenhausbehandlung“,bevor in den Absätzen 3 - 5 die Voraussetzungen, Grenzenund Informationspflichten bezüglich der „Genehmigung“geregelt werden.

Nach Art. 8 Abs. 1, 2 RL-Vorschlag gilt als Krankenhausbehand-lung sowohl die stationäre Behandlung (Art. 8 Abs. 1 a) RL-Vor-schlag („eine Behandlung, die eine Übernachtung des Patien-ten für mindestens eine Nacht erfordert“) als auch darüberhinausgehende „spezifische Behandlungen“, die in einer vonder Kommission zu erstellenden und zu aktualisierenden Listefestgeschrieben werden sollen (Art. 8 Abs. 1, 2 RL-Vor-schlag).54 Die Kommission hat damit dem Umstand Rech-nung getragen, dass die vom EuGH auf den ersten Blick ein-leuchtende Unterscheidung zwischen ambulanter und statio-närer Behandlung auf den zweiten Blick ernste Schwierigkei-ten bereitet. So werden etwa die gleichen Operationen zumTeil stationär und zum Teil auch ambulant durchgeführt. Nie-mand muss heute etwa für eine arthroskopisch durchgeführteKreuzband-OP in ein Krankenhaus und auch die klassische„Hausgeburt“ liegt wieder voll im Trend. Die einrichtungsbe-zogene Anknüpfung bei der Differenzierung der medizini-schen Versorgung (Krankenhaus) bietet daher lediglich eine

„Mindestdefinition,“55 die im Interesse einer einheitlichenAnwendung der prospektiven Richtlinie56 notwendig einerbehandlungsbezogenen Ergänzung bedurfte, weil für die ver-schiedenen Gesundheitssysteme in der EU kein einheitlichesBegriffsverständnis von „Krankenhausbehandlung“ besteht.57

Der Begriff „Krankenhausbehandlung“ im Sinne des RL-Vor-schlags ist daher nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Wel-che grenzüberschreitenden Behandlungen durch Zustim-mungserfordernisse begrenzt werden dürfen, legt letztlich dieKommission anhand der in Art. 8 Abs. 1 b) RL-Vorschlaggenannten Kriterien58 genauer fest.

In den Art. 8 Abs. 3 - 5 RL-Vorschlag ist das „System der Vor-abgenehmigung für die Kostenerstattung […] für eine Kran-kenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat“ genau-er ausformuliert.59 Interessant ist, dass die Kommission inihrer Begründung für diesen zentralen Teil des Richtlinien-entwurfs wörtlich und ausschließlich die sozialökonomi-schen Argumente übernimmt, die sich in den Entscheidun-gen des EuGH (Smits und Peerbooms, sowie Müller-Fauré undvan Riet) finden lassen60 und wonach insbesondere die Pla-nung der kostenintensiven stationären Gesundheitsversor-gung in jedem Mitgliedstaat ein „ausgewogenes, ausreichendzugängliches Angebot hochwertiger Krankenhausversor-gung“ sicherstellen und dazu beitragen soll, „die Kostenbeherrschbar zu machen und, soweit wie möglich, jede Ver-schwendung finanzieller, technischer und menschlicherRessourcen zu verhindern.“61

Art. 8 Abs. 3 RL-Vorschlag erfordert insoweit, dass erstens (lit.a) die Kosten für die Behandlung, so sie im eigenen Hoheits-gebiet erbracht worden wäre, vom Sozialversicherungssystemdes Mitgliedstaats übernommen worden wären und es zwei-tens (lit. b) der Zweck des Systems der Vorabgenehmigung ist,„die Abwanderung von Patienten […] zu bewältigen und zuverhindern, dass dadurch i) das finanzielle Gleichgewicht desSozialversicherungssystems des Mitgliedstaats und/oder ii)

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51 Vgl.: Begründung RL-Vorschlag, S. 16.52 Erw. 28; zu den Schwierigkeiten dieser Abgrenzung im Zuge der EuGH-

Rechtsprechung vgl. nur Becker/Walser, NZS 2005, S. 449 ff.53 Begründung RL-Vorschlag, S. 16, mit Bezug auf die Aussagen in den Ent-

scheidungen Kohll, Rn. 42; Müller-Fauré und van Riet, Rn. 93 f. (s. Benedict,S. 442, Fn. 4, in diesem Heft); vgl. auch Erw. 29.

54 Näheres dazu siehe: Begründung RL-Vorschlag, S. 18; Erw. 30.55 Begründung RL-Vorschlag, S. 18; in diesem Sinne noch die Definition in

Art. 23 des Richtlinienvorschlags zur Dienstleistungsrichtlinie: „UnterKrankenhausversorgung sind die medizinischen Behandlungen zu verste-hen, die nur innerhalb einer medizinischen Einrichtung erbracht werdenkönnen und für die grundsätzlich eine stationäre Aufnahme der Person,die diese Behandlung erhält, erforderlich ist.“

56 Begründung RL-Vorschlag, S. 18: Die Definition soll zum einen sicherstel-len, dass Vorschriften der vorgeschlagenen RL in den Mitgliedstaaten ein-heitlich angewandt werden und zum anderen gewährleisten, dass „keineWettbewerbsverzerrungen zwischen den Gesundheitssystemen entstehen,da sie alle denselben Regelungen unterliegen“.

57 Erw. 30; Begründung RL-Vorschlag, S. 18.58 Genannt werden zwei: 1. „Gesundheitsdienstleistungen, die den Einsatz

einer hochspezialisierten und kostenintensiven medizinischen Infrastruk-tur oder medizinischen Ausrüstung erfordern“ (hierunter dürften die mei-sten ambulant durchgeführten Operationen gelten); und 2. „Gesundheits-dienstleistungen, bei denen die Behandlung ein besonderes Risiko für denPatienten oder die Bevölkerung bedeutet.“ (hierzu mag man auch dieGeburtshilfe zählen).

59 Ausführlich dazu Erw. 31; Begründung RL-Vorschlag, S. 16 - 19.60 Begründung RL-Vorschlag, S. 16-18: Es lasse sich nicht ausschließen, „dass

eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systemsder sozialen Sicherheit“ bestehe und „das Ziel, eine ausgewogene, allenzugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten“gefährdet wäre, wenn die Dienstleistungsfreiheit in diesem Bereich unein-geschränkt realisiert würde. Aufgrund der damit verbundenen Kostenmüsse die „Zahl der Krankenhäuser, ihre geographische Verteilung ihr Aus-bau und die Einrichtungen über die sie verfügen, oder auch die Art dermedizinischen Leistungen, die sie anbieten können, planbar sein“.

61 Begründung RL-Vorschlag, S. 18.

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62 Ausführliche Analyse bei Benedict, (S. 444 ff.) in diesem Heft.63 Anders aber offenbar die Kommission in ihrer Begründung S. 5: Der Vor-

schlag stelle sicher, „dass Patienten sich im Ausland versorgen lassen kön-nen, wenn in ihrem eigenen Land keine geeignete Versorgung ohne über-mäßige Verzögerung möglich ist; etwaige zusätzliche Behandlungskostenwerden in diesem Fall von der öffentlichen Hand getragen.“

64 Begründung RL-Vorschlag, S. 19.65 Erw. 28.66 Vgl. in dieser Hinsicht wiederholt die Betonung, dass mit der geplanten

Richtlinie nicht in die Kompetenz der Mitgliedstaaten eingegriffen werdensoll, ihre Sozialsysteme eigenverantwortlich zu strukturieren; insbesonde-re Begründung RL-Vorschlag, S. 9: „Mit dem Vorschlag wird berücksichtigt,dass die Zuständigkeit für die Gesundheitsdienstleistungen primär bei denMitgliedstaaten liegt, auch wird die Verantwortung der Mitgliedstaaten fürdie Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgunggemäß Art. 152 EG-Vertrag in vollem Umfang gewahrt.“; S. 12: „Es bleibtden Mitgliedstaaten überlassen, über die Normen für die Gesundheitsver-sorgung in ihrem Land zu entscheiden. Auch die Freiheit der Mitglied-staaten, ihre Gesundheitssysteme nach eigenem Ermessen zu organisieren,bleibt unangetastet.“; in diesem Sinne ebenso die Betonungen auf S. 13,15, 16 und passim.

67 Begründung RL-Vorschlag, S. 20.68 Begründung RL-Vorschlag, S. 20.69 Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/health/ph_overview/co_operation/

mobility/docs/health_services_co147.pdf (zuletzt abgerufen am17.09.2008), S. 2. vgl. auch Begründung RL-Vorschlag, S. 20.

70 Erw. 15.71 Erw. 34.

die Planung und Rationalisierung im Krankenhaussektor […]ernsthaft untergraben werden oder die Gefahr einer solchenUntergrabung besteht.“

Wer die Rechtsprechung des EuGH kennt62, sieht leicht, dassdie Richtlinie weder etwas Neues noch etwas Konkretes zuder Frage beisteuert, unter welchen Umständen eine Geneh-migung verweigert werden kann bzw. erteilt werden muss.Insbesondere die in lit. a) gemachte Voraussetzung ist imGrunde keine; vielmehr wird lediglich die ganz generelleBedingung für einen Erstattungsanspruch (vgl. Art. 6 RL-Vor-schlag) nur noch einmal wiederholt. Lit. b) mit seinen beidenUnterpunkten (i und ii), d. h. Finanzierbarkeit und Planbar-keit der Gesundheitsversorgung sind mithin auch nach demRichtlinienentwurf die maßgeblichen Gründe, die ein„System der Vorabgenehmigung“ rechtfertigen. Wann aberPatienten (etwa Frau van Riet oder Frau Watts) einenAnspruch auf Erstattung ihrer im Ausland vorgenommenenGesundheitsbehandlung haben, darüber sagt der Entwurfnichts. Keine Rede davon, dass, wie es der EuGH in seinerWatts-Entscheidung ausgeführt hat, „eine objektive medizini-sche Beurteilung des Gesundheitszustands des Patienten“, dasMaß aller Dinge sein müsse. Bei Krankenhausbehandlungenbleibt es nach dem Richtlinien-Vorschlag also dabei: Es sindallein die Mitgliedstaaten, die Qualität und Quantität derGesundheitsversorgung bestimmen.63 Bescheiden mahntimmerhin Art. 8 Abs. 4 RL-Vorschlag, dass das System derVorabgenehmigung „auf das notwendige und angemesseneMaß zur Vermeidung solcher Auswirkungen begrenzt“ bleibtund „kein Mittel willkürlicher Diskriminierung darstellen“dürfe. Die vom EuGH formulierte Forderung nach Transpa-renz der Genehmigungsvoraussetzungen wird in Art. 8 Abs. 5umgesetzt und gefordert, dass „der Öffentlichkeit alle rele-vanten Informationen über das gemäß Absatz 3 eingeführteSystem der Vorabgenehmigung zur Verfügung“ zu stellensind.

2. Verfahrensgarantien

Art. 9 RL-Vorschlag versucht, die ebenfalls vom EuGH ver-langte Transparenz des Genehmigungsverfahrens in Gestaltvon Verfahrensgarantien umzusetzen. Zur Begründung heißtes, dass „nationale Verwaltungsverfahren und Entscheidun-gen, denen grenzüberschreitende Dienstleistungen unterwor-fen werden, ein Hindernis für die Freizügigkeit von Dienst-leistungen“64 darstellen. Die Mitgliedstaaten können dem-nach zwar ihre allgemeinen Bedingungen, Anspruchskrite-rien und regulatorischen und administrativen Verfahren bei-behalten – beispielsweise die Regelung, vor dem Besuch einesFacharztes oder eines Krankenhauses einen Allgemeinmedizi-ner zu konsultieren,65 allerdings müssen dabei die Anforde-rungen von Art. 9 Abs. 1 - 5 RL-Vorschlag beachtet werden.Die Genehmigungsverfahren haben gem. Art. 9 Abs. 1 RL-Vorschlag auf objektiven, diskriminierungsfreien Kriterien,die vorab veröffentlicht werden, notwendig und dem ange-strebten Ziel angemessen sind, zu basieren. Das Verfahrenmuss gem. Art. 9 Abs. 2 RL-Vorschlag leicht zugänglich seinund sicherstellen, dass Anträge objektiv und unparteiischinnerhalb von Fristen bearbeitet werden, wobei hinsichtlichder Versagung der Vorabgenehmigung vorab und transparentKriterien nach Art. 8 Abs. 3 RL-Vorschlag festzulegen sind. Esliegt also bei den Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen derGenehmigung zu präzisieren. Der Richtlinienentwurf legtden Schwerpunkt ersichtlich auf die Transparenz des Verfah-rens. Hier, bei den Verfahrensgarantien, finden sich dann

auch die Klarstellungen des EuGH in der Rechtssache Watts,wonach „a) die besonderen medizinischen Gegebenheiten, b)das Leiden des Patienten, c) die Art der Beeinträchtigung desPatienten und d) die Fähigkeit des Patienten, einer beruf-lichen Tätigkeit nachzugehen“, für die Bearbeitungsfristen(sic!) der Anträge zu berücksichtigen sein sollen (Art. 9 Abs. 4RL-Vorschlag). Ob es sich bei dieser Bestimmung um eineFehlinterpretation der Watts-Entscheidung, oder, was näherliegt, um einen Kompromiss handelt, der Art. 152 EGV stär-ker in den Blick nimmt als es der EuGH getan hat,66 bedarfhier keiner Spekulation. Frau Watts ging es jedenfalls ganzgenerell um eine zeitnahe Behandlung, nicht um eine nurzeitnahe (ggf. abschlägige) Bescheidung ihres Antrages.

3. Informationen für Patienten und Einrichtung nationaler Kon-taktstellen

Sicherzustellen, dass der einzelne Patient angemessen infor-miert ist, ist eines der großen Anliegen des RL-Vorschlags. DieNotwendigkeit hierfür ergibt sich aus der Sicht der Kommis-sion daraus, dass die Informationen bezüglich der Möglich-keit der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungenin einem anderen Mitgliedstaat derzeit „sehr begrenzt“67

sind. Die Kommission beruft sich dabei auf eine ganze Reiheempirischer Untersuchungen, die im Vorfeld der Erarbeitungdes RL-Vorschlags68 erstellt wurden. Ausweislich einer Studiedes Health Consumer Powerhouse glauben 25 % der Bürgerin Frankreich, Polen, dem Vereinigten Königreich, Spanienund Deutschland, dass sie keinen Anspruch auf Behandlungim Ausland hätten, und 30 % sind sich darüber nichtsicher.69 Ohne nähere Angabe der Quelle wird zudem davonausgegangen, dass „es in etwa 10 % aller Fälle zu Schädendurch Gesundheitsdienstleistungen“ kommt, sodass die„Sicherstellung klarer einheitlicher Pflichten in Bezug auf dieReaktion auf Schäden durch Gesundheitsdienstleistungen[…] von wesentlicher Bedeutung“ ist.70 Insgesamt zieht dieKommission die Schlussfolgerung, dass eine angemesseneInformation über alle wesentlichen Aspekte der grenzüber-schreitenden Gesundheitsversorgung erforderlich ist, „damitPatienten ihr Recht auf grenzüberschreitende Gesundheitsversor-gung in der Praxis wahrnehmen können.“71

In Art. 10 RL-Vorschlag sind die Anforderungen im Einzelnenfestgelegt: Art. 10 Abs. 1 RL-Vorschlag fordert zunächst, dass

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Mechanismen sicherzustellen sind, „die den Patienten aufWunsch Informationen bezüglich der Inanspruchnahme derGesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaatsowie der dafür geltenden Bedingungen bieten, auch im Falleiner Schädigung“. Nach Art. 10 Abs. 2 RL-Vorschlag ist einleichter Zugang zu diesen Informationen zu gewähren und eswerden bestimmte Mindestinformationen festgelegt. Bei letz-teren handelt es sich um sog. „administrative Informationenüber den Zugang zur grenzüberschreitenden Gesundheitsver-sorgung (etwa Verfahren, Fristen für die Kostenerstattung)“;„fachliche Informationen“ über die Gesundheitsversorgungan sich (etwa Kosten, Fristen für die Verfügbarkeit, Ergeb-nisse) müssen hingegen von den entsprechenden Gesund-heitsdienstleistern selbst bereitgestellt werden, wobei derBehandlungsmitgliedstaat gem. Art. 5 Abs. 1 c) RL-Vorschlagdafür Sorge tragen muss, dass sie dies auch wirklich tun.72

Als „der effizienteste Mechanismus73“ für die Bereitstellungsolcher Informationen wird die Einrichtung zentraler Kon-taktstellen (vgl. Art. 12 RL-Vorschlag) in den einzelnen Mit-gliedstaaten angesehen, an die sich Patienten wenden kön-nen und die Informationen über die grenzüberschreitendeGesundheitsversorgung unter Berücksichtigung der Gegeben-heiten des Gesundheitssystems in dem jeweiligen Mitglied-staat bereitstellen können. Diese können auch in bestehendeInformationszentren integriert werden oder auf deren Tätig-keit aufbauen, sofern deutlich erkennbar ist, dass diese auchals nationale Kontaktstellen für die grenzüberschreitendeGesundheitsversorgung fungieren.74 Die Aufgaben sind imEinzelnen in Art. 12 Abs. 2 a) – d) RL-Vorschlag aufgezähltund erstrecken sich von der Informationsbereitstellung, derUnterstützung bei der Rechtsdurchsetzung bis hin zur Ent-wicklung internationaler außergerichtlicher Streitbeilegungs-verfahren.

IV. Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung

Es ist bereits darauf hingewiesen, dass die grenzüberschrei-tende Gesundheitsversorgung solange Genehmigungs- undErstattungsprobleme aufwerfen wird, solange hinsichtlichQualität und Quantität erhebliche Unterschiede in den ein-zelnen Mitgliedstaaten bestehen. In den in Kapitel IV des RL-Vorschlags genannten Bereichen soll daher die Zusammenar-beit der Mitgliedstaaten – in Übereinstimmung mit Art. 152Abs. 2 EGV – gefördert werden.

1. Grundsatz: Allgemeine Zusammenarbeitspflicht

Damit „eine sichere, hochwertige und effiziente Versorgungüber Grenzen hinweg gewährleistet“75 werden kann, sollensich die Mitgliedstaaten nicht nur gem. Art. 13 Abs. 1 RL-Vor-schlag „gegenseitige Unterstützung“ leisten, sondern sichgem. Art. 13 Abs. 2 RL-Vorschlag auch die Zusammenarbeitbei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgungerleichtern. Eine Zusammenarbeit biete sich dabei vor allemin Bereichen an, „in denen die Skaleneffekte zwischen allenMitgliedstaaten koordinierter Maßnahmen den einzelstaat-lichen Gesundheitssystemen einen Mehrwert bringen kön-nen. Dies kann gemeinsame Planung, gegenseitige Anerken-nung oder Anpassung von Verfahren oder Standards, Inter-operabilität einschlägiger nationaler IKT-Systeme, praktischeMechanismen zur Gewährleistung der Kontinuität der Ver-sorgung oder die praktische Erleichterung der grenzüber-schreitenden Gesundheitsversorgung durch Angehörige derGesundheitsberufe auf befristeter oder gelegentlicher Basisumfassen.“76 Die „umfassende Nutzung des Potenzials des

Binnenmarktes“ motiviert so aus Sicht der Kommission eineKooperation der Mitgliedstaaten, die von der nationalstaat-lichen zu einer grenzüberschreitenden Planung im Gesund-heitsbereich führen soll.

2. Einzelne Regelungen

a) Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausge-stellten Verschreibungen

Abgesehen von den nach Art. 14 Abs. 4 RL-Vorschlaggenannten Arzneimitteln, die einer besonderen ärztlichenVerordnung i. S. d. Art. 71 Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EGunterliegen, soll es gem. Art. 14 Abs. 1 RL-Vorschlag grund-sätzlich möglich sein, dass die in einem Mitgliedstaat füreinen bestimmten Patienten ausgestellte Verschreibung ineinem anderen anerkannt wird und eingelöst werden kann,77

sofern das Arzneimittel ein gem. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie2001/83/EG im Gebiet der Mitgliedstaaten zugelassenes Arz-neimittel ist und die Verschreibung durch eine zugelasseneFachkraft erfolgte. Dies soll selbst dann gelten, wenn das„Arzneimittel im Versicherungsmitgliedstaat nicht in Verkehrgebracht werden darf, sofern dieses Arzneimittel unerläss-licher Teil einer wirksamen Behandlung in einem anderenMitgliedstaat ist“.78 Nur ausnahmsweise sind Einschränkun-gen bezüglich persönlicher Verschreibungen zulässig, wenndie Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 a) oder b) RL-Vor-schlag erfüllt sind, d. h. die Einschränkungen entweder fürden Schutz der menschlichen Gesundheit notwendig und aufdas angemessene Maß beschränkt und diskriminierungsfreisind oder auf legitime und begründete Zweifel an der Echt-heit oder dem Inhalt einer konkreten Verschreibung gestütztwerden.

Um ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu wahren undgleichzeitig die Freizügigkeit der Gesundheitsdienstleistun-gen zu erleichtern, sollten nach Ansicht der Kommission spe-zifische Maßnahmen zur Feststellung der Authentizität derVerschreibung und der ausstellenden zugelassenen Personeingeführt werden. Auf diese Weise soll sichergestellt werden,dass der Patient die Informationen über das Arzneimittel ver-steht, und (angesichts unterschiedlicher Bezeichnungen undAufmachung in den einzelnen Ländern) das betreffende Arz-neimittel identifiziert werden kann.79 Zur Erleichterung derDurchführung kann die Kommission gem. Art. 14 Abs. 2 RL-Vorschlag auch die in Art. 14 Abs. 2 a) – c) RL-Vorschlag auf-gezählten Maßnahmen erlassen. Zu beachten ist aber injedem Fall, dass die Beseitigung regulatorischer und admini-strativer Hemmnisse für die Anerkennung von in einemanderen Mitgliedstaat erfolgter Verschreibungen nicht dieNotwendigkeit einer entsprechenden Zustimmung desbehandelnden Arztes oder Apothekers des Patienten in jedemEinzelfall berührt, sofern dies zum Schutz der menschlichenGesundheit gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Zielnotwendig und angemessen ist.80

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72 Vgl.: Begründung RL-Vorschlag, S. 20.73 Erw. 34.74 Erw. 36.75 Begründung RL-Vorschlag, S. 21.76 Begründung RL-Vorschlag, S. 21.77 Vgl. Erw. 39.78 Erw. 27.79 Begründung RL-Vorschlag, S. 22.80 Erw. 39.

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81 Begründung RL-Vorschlag, S. 22.82 Begründung RL-Vorschlag, S. 22.83 Erw. 40; Begründung RL-Vorschlag, S. 22.84 Begründung RL-Vorschlag, S. 22.85 Erw. 43.86 Begründung RL-Vorschlag, S. 23.87 Begründung RL-Vorschlag, S. 23.88 Erw. 42.89 Begründung RL-Vorschlag, S. 23.90 Näheres insbesondere oben unter A. I. 91 Begründung RL-Vorschlag, S. 5.

b) Europäische Referenznetze und Technologiefolgenabschät-zung im Gesundheitswesen

Im RL-Vorschlag ist eine Kooperation in den spezifischenBereichen vorgesehen, „in denen Skalenvorteile eines koordi-nierten Vorgehens aller Mitgliedstaaten den nationalenGesundheitssystemen einen deutlichen Mehrwert bringenkönnen.“81 Dazu ist in Art. 15 RL-Vorschlag der Aufbau sog.„Europäischer Referenznetze“ vorgesehen, die Gesundheits-dienstleistungen für Patienten bereitstellen sollen, derenGesundheitszustand eine verstärkte Konzentration vonRessourcen oder Fachwissen erfordert.82 Dadurch soll zumeinen eine erschwingliche, hochwertige und kostengünstigeVersorgung ermöglicht sowie zum anderen die Möglichkeitgeschaffen werden, medizinische Fortbildung und For-schung, Informationsverbreitung und Bewertung zu bün-deln.83 Gleichzeitig würde dies dazu dienen, „das Potenzialdes Binnenmarktes in diesem Bereich zu verwirklichen,indem Geschwindigkeit und Reichweite der Verbreitung vonInnovationen in Medizinwissenschaft und Medizintechnikmaximiert und damit Binnenmarktvorteile für Patienten undGesundheitssysteme geschaffen, aber auch eine höchstmögli-che Qualität der Versorgung gefördert würde.“84

Neben den europäischen Referenznetzen nach Art. 15 RL-Vorschlag ist zudem in Art. 17 RL-Vorschlag speziell für dieTechnologiefolgenabschätzung im Gesundheitswesen dieEinrichtung eines entsprechenden Netzes vorgesehen. Durchdie damit bewirkte Zusammenarbeit bei der Bewertung neuerGesundheitstechnologien sollen sowohl Skalenvorteilegenutzt und Doppelarbeit vermieden werden als auch einebessere Datengrundlage für die optimale Nutzung neuerTechnologien im Hinblick auf eine sichere, hochwertige undeffiziente Gesundheitsversorgung geschaffen werden.85

c) Gesundheitstelematik

Als „Gesundheitstelematik“ oder „E-Health“ wird dieGesundheitsversorgung bezeichnet, bei der sich der Patientoder Dienstleister nicht „physisch in einen anderen Mit-gliedstaat“ begibt, sondern die Gesundheitsdienstleistung„mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnolo-gien“ erbracht wird.86 Im RL-Vorschlag wird die Frage derGesundheitstelematik in dessen Art. 16 RL-Vorschlag behan-delt. Demnach besteht „keine Verpflichtung zur Einführungvon E-Health-Systemen oder -Dienstleistungen“, allerdingssoll – „sobald die Mitgliedstaaten sich für ein solches Systementschieden haben“ – die Interoperabilität der IKT-Systemeder Mitgliedstaaten durch Harmonisierungsanstrengungensichergestellt werden.87

d) Datenerhebung

Reguläre Statistiken wie auch ergänzende Daten zur grenz-überschreitenden Gesundheitsversorgung werden von derKommission „für eine effiziente Überwachung, Planung undVerwaltung der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen undder grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung imBesonderen“88 für notwendig gehalten, da ihr die bisher zurVerfügung stehenden „Daten zur grenzüberschreitendenGesundheitsversorgung nicht umfangreich und vergleichbargenug“89 sind. Nach Art. 18 Abs. 1 RL-Vorschlag haben dieMitgliedstaaten deshalb „für Überwachungszwecke statisti-sche und andere, ergänzende Daten über die grenzüber-schreitende Gesundheitsversorgung, Behandlung, Dienstlei-ster und Patienten, Kosten und Ergebnisse“ „im Rahmenihrer allgemeinen Systeme zur Erfassung von Daten über die

Gesundheitsversorgung“ zu sammeln. Diese sind dann gem.Art. 18 Abs. 2 RL-Vorschlag – mit Ausnahme der von Richtli-nie 2005/36/EG erfassten Daten – mindestens einmal proJahr an die Kommission zu übermitteln.

B. Fazit und Ausblick

Das oberste, immer wieder erklärte Ziel der geplanten Richt-linie ist, wie gesehen90, Rechtsklarheit und Rechtssicherheit imBereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung.Der RL-Vorschlag hat jedoch in dem insoweit zentralen Teilder Patientenrechte, nämlich der Finanzierung grenzüber-schreitender Gesundheitsversorgung, der Ausgestaltung desGenehmigungsverfahrens und der Begründung von Erstat-tungsansprüchen, „lediglich“ die Rechtsprechung des EuGHverallgemeinert und fixiert.91 Dass die Dinge hier in mate-rieller Hinsicht wirklich „klarer“ geworden wären, lässt sichnicht ernstlich behaupten. Der legislatorische Konflikt, einenmöglichst umfassenden Anspruch des Patienten auf eine anführenden Qualitätsmaßstäben gemessene optimale Gesund-heitsversorgung auf der Basis der Dienstleistungsfreiheit(Art.49 EGV) einerseits zu begründen und hierbei anderer-seits die exklusive Kompetenz der mitgliedstaatlichen Orga-nisations- und Finanzierungshoheit weitgehend unberührtzu lassen (Art. 152 EGV), lässt sich nicht leicht in der Vorga-be klarer Anspruchsvoraussetzungen für die grenzüberschrei-tende Gesundheitsversorgung beheben. Wer Leistungsan-sprüche juristisch absichern will, kommt eben nicht umhin,Überlegungen zur Finanzierbarkeit des Leistungssystemszuzulassen. Wenn insoweit sozialrechtliche Ansprüche miteuropäischen Grundfreiheiten abgesichert werden sollen,dann ist es nicht möglich, gleichzeitig an dem Grundsatzfesthalten zu wollen, dass ökonomische Gesichtspunkteeinen Eingriff in die Freiheiten des Binnenmarktes nichtrechtfertigen könnten. Die Finanzierung der Ansprüchegründet in der Ausgestaltung der jeweiligen Sozialsysteme derMitgliedstaaten. Bei diesen allein liegt, wie der Entwurfimmer wieder betont, die Verantwortung für die Funktions-fähigkeit des Systems und bei diesen verbleibt so auch diekonkrete Ausgestaltung der Patientenrechte.

Der RL-Vorschlag erweist sich gleichwohl als ein wichtigerSchritt, den vom EuGH gleichsam in freier Rechtsschöpfungaus der Dienstleistungsfreiheit kreierten europäischen Patien-tenrechten eine ernste juristische Struktur zu geben und hier-bei die Mitgliedstaaten zu zwingen, sich einem Wettbewerbder medizinischen und sozialen Dienstleistungssysteme inEuropa zu stellen. Transparenz und Rechtssicherheit werdenmit der vorliegenden Richtlinie zwar nicht erreicht; diesesZiel umzusetzen, wird letztlich an die Mitgliedstaaten dele-giert. Dennoch ist das hiermit verbundene politische Signaleindeutig: Von nun an soll es zur Regel werden, dass Miss-stände in der Gesundheitsversorgung, wie im Fall Watts, vordas Forum der europäischen Öffentlichkeit gebracht werdenkönnen. Der EuGH und der europäische Gesetzgeber mögen

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sich mit Rücksicht auf Art. 152 EGV zurückhalten, denbetroffenen Patienten explizit Ansprüche gegen den jeweili-gen Träger der Sozialversicherung zu gewähren. Doch wenndie Rücksicht auf derart peinliche Prozesse und die Verpflich-tung, jene Verfahren in denen entsprechende Missständeoffenbar werden, transparent zu machen, in den betroffenenMitgliedsländern zu grundlegenden Reformen führen, soscheint mit der Richtlinie im Interesse der Patienten vielgewonnen.92 Qualität und Quantität in der Gesundheitsver-sorgung werden sich so am Standard der führenden Mit-gliedstaaten ausrichten.

So weit, so gut. Der Einwand folgt und ist ernst zu nehmen:Jenen Standard gibt es nicht zum Nulltarif. Die zur Wahrungdes finanziellen Gleichgewichts in dem Richtlinienentwurfbezogene Perspektive des Versicherungsstaates erscheint hier-bei ein richtiger Ausgangspunkt. Doch mag dieser Blick zukurz greifen, weil, auch dies offenbart der Fall Watts, nichtnur die für eine konkrete Behandlung veranschlagten Kosten,sondern auch die Anzahl der eingeforderten Behandlungenein limitiertes Budget sprengen, und, auf der anderen Seite,die Kapazität überfordern können. So scheint die Befürch-tung nicht von der Hand zu weisen zu sein, dass der von derRichtlinie angestrebte Medizintourismus die ohnehin zuneh-mend bemerkbare Zweiklassen-Medizin noch verschärfenkann. Durch die Erstattungsverpflichtung finanziert die mit-gliedstaatliche Solidargemeinschaft die Inanspruchnahmeprivater Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt, dadurch fehlenim Zweifel im Versicherungsland die Gelder zur Qualitätssi-cherung im eigenen Gesundheitssystem und im Behand-lungsland kann es zu Engpässen bei der Behandlung von imSolidarsystem erfassten Patienten kommen. Es bleibt insoweitabzuwarten, ob sich die in der Rechtsprechung des EuGHoffenbar gewordene ablehnende Haltung der Mitgliedstaatenauch im weiteren Gesetzgebungsverfahren als Widerstand inRat und Parlament artikulieren wird.93 Dass eine Liberalisie-rung eine Entsolidarisierung mit sich führt, liegt jedenfalls inder Logik der widerstreitenden Konzepte. Kurz: Die Konse-quenzen der Entwicklung, die der EuGH mit seiner Recht-sprechung zur Liberalisierung der Patientenrechte eingeleitethat, sind nicht endgültig prognostizierbar. Die Ausgestaltungeines auf Solidarbeiträgen beruhenden Gesundheitssystemsist vor allem eine politische und weniger eine juristische Auf-gabe. Darüber sollten sich alle Beteiligten im Klaren sein.Kommission, Parlament und Rat müssen sich ihrer politi-schen Verantwortung bewusst werden. Der vorliegende Ent-wurf gibt davon kein Zeugnis. Er bringt keine Klärung dervom EuGH aufgeworfenen und unbeantworteten Fragen,sondern er delegiert die Aufgabe, für Klarheit und Transpa-renz zu sorgen, an die Mitgliedstaaten. Er will nur den Standder Rechtsprechung wiedergeben, und doch weicht er in eini-gen Punkten von den Aussagen der Rechtsprechung ab. Wassoll dann gelten? Wird in Zukunft die Frage der Genehmi-gung und Erstattung von grenzüberschreitenden Behandlun-gen an drei europäischen Rechtsquellen zu messen sein:Zuweilen an Art. 22 Verordnung Nr. 1408/71, gegebenenfallsan dieser Richtlinie und am Ende doch immer noch an derRechtsprechung des EuGH in freier Interpretation des Art. 49EG?

Ein letzter Punkt bleibt insoweit kritisch anzumerken: DerEntwurf hat zwar den eigentlich spannenden Bereich derGenehmigung grenzüberschreitender Behandlungen nicht,dafür aber manches andere neu geregelt. Während etwa derGerichtshof seine Überlegungen zur Rechtfertigung einer Öff-

nung der Sozialsysteme ganz maßgeblich auf die Annahmestützt, das finanzielle Gleichgewicht werde durch die prak-tisch geringe Inanspruchnahme einer grenzüberschreitendenGesundheitsversorgung nicht gefährdet, zielt die Kommis-sion mit dem vorgelegten Entwurf offensichtlich gerade dar-auf, diese Tatsache ganz grundlegend ändern und vor allemdurch entsprechende Informationspflichten und gar die Ein-richtung einer entsprechenden „Kontaktstelle“ für eine ver-mehrte Inanspruchnahme grenzüberschreitender Behand-lungen sorgen zu wollen.94 Die in Art. 18 RL-Vorschlag vor-gesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur „Daten-sammlung für Statistik und Überwachung“ offenbart, dassdie praktischen Auswirkungen einer Liberalisierung der Sozi-alversicherungssysteme noch keineswegs gesichert sind. Obinsoweit nicht der Regelungsgehalt der Art. 10 - 12 RL-Vor-schlag (Informationspflichten und Einrichtung einer Kon-taktstelle zur Förderung grenzüberschreitender Behandlun-gen) dem Regelungsgehalt der Art. 6 - 10 RL-Vorschlag („dieAbwanderung von Patienten aufgrund der Anwendung desvorliegenden Artikels zu bewältigen“) zuwiderläuft, bedarfhier keiner weiteren Untersuchung. Dass nach diesem Richt-linienentwurf die im Interesse einer optimalen Gesundheits-versorgung der Patienten vielleicht wünschenswerte Liberali-sierung nur zum Preis einer weiteren Bürokratisierung derGesundheitssysteme erkauft wird, ist jedenfalls schon jetztdeutlich und insoweit Zeichen einer mit der Liberalisierungder Gesundheitsdienstleistungen einhergehenden Zentrali-sierung der Gesundheitspolitik. Kommission und EuGH wer-den in Zukunft mehr zu tun haben als nur die Liste derBehandlungen zu präzisieren, die als „Krankenhausbehand-lung“ zu gelten haben. Die Möglichkeit eines kassenfinan-zierten Medizintourismus und einer barrierefreien Gesund-heitsversorgung wird gerade erst entdeckt.

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92 Speziell zu den Auswirkungen im Fall Watts: Davies, King’s Law Journal 18,2007.

93 Teile des Parlaments haben ihrer ablehnenden Haltung bereits in einementsprechenden Entschließungsantrag vom 27. August 2008 (B60379/2008) deutlich Ausdruck verliehen: „Das Parlament […] 8. weist dar-auf hin, dass die Gesundheitsdienste aus gutem Grund aus der Richtlinieüber Dienstleistungen im Binnenmarkt ausgenommen wurden, da dieseDienste Teil der Systeme der sozialen Sicherheit und keine Angelegenhei-ten des Marktes sind; betont, dass keine Notwendigkeit besteht und esnicht in der Zuständigkeit der EU liegt, die Gesundheitsversorgung auf derGrundlage von Binnenmarktregeln zu regulieren; besteht darauf, dass dieim Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie behandelten Fragen im Rah-men der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung(EG) Nr. 883/2004) gelöst und reguliert werden müssen; 9. übt scharfe Kri-tik an dem Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie über die Aus-übung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsver-sorgung; weist darauf hin, dass sich dieser Vorschlag auf einen auf denBinnenmarkt ausgerichteten Ansatz gründet und hauptsächlich dazudient, wohlhabenden und gut ausgebildeten Personen zu ermöglichen,günstigere Gesundheitsleistungen im Ausland einzukaufen; betont, dassder Vorschlag die Gleichheit innerhalb der Gesundheitssysteme unter-gräbt, da die Rückerstattung für Patienten aus ärmeren Mitgliedstaatennicht ausreicht, um die Behandlungskosten für hochwertige Gesundheits-leistungen in reicheren Mitgliedstaaten zu decken.“

94 Vgl. Begründung RL-Vorschlag, S. 2: Es sei „notwendig, für mehr Klarheitzu sorgen, um eine allgemeine und effektive Anwendung der Rechte aufInanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungensicherzustellen.“

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A U F S Ä T Z E | Glöckner, Die mediz in ische Behandlung des extrem unrei fen Frühgeborenen

Die medizinische Behandlung des extrem unreifenFrühgeborenen Von Dr. Markus Glöckner, Justitiar der Universität Rostock

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Umfang und Grenzen derärztlichen Behandlungspflicht in der Neugeborenenmedizin,einem Thema, das auch unter dem Begriff „Früheuthanasie“diskutiert wird. Vorgestellt wird ein Behandlungsmodell, dasdie lebenserhaltende Behandlungspflicht bei extrem unrei-fen Frühgeborenen zwar beschränkt, dabei die Behandlungs-grenzen in der Neonatalmedizin aber enger zieht als andereAuffassungen.1

A. Die Problematik

Die medizinische Betreuung von Frühgeborenen, also vonNeugeborenen vor der 37. Schwangerschaftswoche2, hat inden letzten fünfzig Jahren einen atemberaubenden Wandeldurchlaufen. Heute ist es ein Phänomen der entwickeltenwestlichen Welt und deren Ressourcen, dass das Leben vonFrühgeborenen, die früher unmittelbar nach der Geburtgestorben wären, erhalten werden kann. Derzeit liegt dieÜberlebensgrenze in etwa bei der 22. Schwangerschaftswocheoder einem Geburtsgewicht von weniger als 500 Gramm.3

Ursächlich hierfür sind neuere medizinische Erkenntnisse inder vor- und nachgeburtlichen Behandlung, der Einsatz mo-dernster medizinischer Apparaturen sowie die Einrichtungvon Perinatalzentren und Neugeborenenintensivstationenmit hoch qualifiziertem Personal. Doch die medizinischeBetreuung ist nicht unproblematisch. Besonders die Behand-lung von extrem unreifen Frühgeborenen wirft medizinischeund rechtliche Fragen auf. Als extrem unreife oder auch klei-ne Frühgeborene werden solche verstanden, die mit einemGeburtsgewicht von unter 1.000 Gramm oder einer Tragzeitvon 28 Schwangerschaftswochen und weniger geboren wer-den. Das Grundproblem von extrem unreifen Frühgeborenenliegt in der Unreife ihrer Organsysteme, die neben dem Todzu akut lebensgefährdenden und mehr oder minder schwe-ren Schädigungen an Gehirn, Herz, Lunge, Kreislauf sowiedes Magen-Darm-Trakts führen können. Diese mögliche Viel-zahl von Schädigungen führt in der klinischen Praxis zu Ent-scheidungskonflikten über den Umfang und den Einsatz vonIntensivmaßnahmen. Sind nämlich – wie in der Regel beispontanen Frühgeburten – keine Schädigungen pränataldiagnostiziert worden, weiß der Arzt im Kreißsaal allein, dasses sich um eine Frühgeburt handelt, die ebenso gut sterbenwie gesund oder mit Schädigungen überleben kann. Welchekonkreten Schädigungen aufgrund der Unreife vorhandensind, vermag er ohne Weiteres in den ersten Minuten nichtgenau abzuschätzen. Er kann lediglich anhand generellerAussagen zu statistischen Überlebens- und Schadenswahr-scheinlichkeiten sowie allgemeiner Erfahrungen seine sub-jektive Einschätzung mitteilen. Dieses Nichtwissen um denGesundheitszustand erlaubt es ihm auch kaum, zur Bestim-mung der weiteren Therapie eine gesicherte Prognose darü-ber anzustellen, wie effektiv sich eine Behandlungsmaßnah-me auf den aktuellen Zustand des Frühgeborenen auswirktund wie positiv der künftige Krankheitsverlauf einzuschätzenist. Dies gilt umso mehr, als die Regenerationsfähigkeit von

Frühgeborenen im Vergleich zu der von erwachsenen Patien-ten oft erstaunlich gut ist. Selbst bei bereits eingetretenenSchädigungen kann daher der Arzt nur schwer die weitereKindesentwicklung vorhersagen. Diese Unsicherheitenbestimmen zwangsläufig seine Handlungsstrategie, vondenen er drei zur Auswahl hat:

1. Um einen vorzeitigen Tod aufgrund eines Prognoseirrtumsauszuschließen, wird das Frühgeborene maximal therapiert,sodass es eventuell mit mehr oder weniger schweren Schädi-gungen überlebt. Man spricht insoweit von einer Strategieder Lebenserhaltung um jeden Preis.4

2. Es kommt zu einer selektiven Behandlung, was bedeutet,das Frühgeborene wird durch schrittweisen Abbau oder Ver-zicht auf medizinische Behandlungsmaßnahmen bis hin zurso genannten Basisbetreuung sterbengelassen. Je nachBezugspunkt der Entscheidung wird von einer „StatistischenStrategie“5 oder der „Individualisierten Prognosestrategie“gesprochen. Bei der „Statistischen Strategie“ wird ausgehendvon abstrakten statistischen Aussagen zur Überlebens- undSchadenswahrscheinlichkeit und dem Wunsch, ein extremunreifes Frühgeborenes nicht irrig bis in den Tod zu quälenoder in ein als lebensunwürdig empfundenes Leben zu zwin-gen, eine Behandlungsgrenze (Schwellenwert) gesetzt, unter-halb derer das Frühgeborene nicht lebenserhaltend therapiertwird. Hingegen ist bei der „Individualisierten Strategie“6

unter Einbeziehung relevanter statistischer Daten die ärztli-che Einschätzung der individuellen Reife und Vitalität desFrühgeborenen maßgeblich. Hiernach wird keine abstrakteVorentscheidung über die Behandlung getroffen, sondern eswerden zunächst stets intensivmedizinische Maßnahmenergriffen, die Gebotenheit der Weiterbehandlung im indivi-duellen Fall aber im Folgenden immer wieder hinterfragt,

1 Ausführlich Glöckner, Ärztliche Handlungen bei extrem unreifen Frühge-borenen, 2007.

2 Die Angaben zur Schwangerschaftsdauer in diesem Beitrag beziehen sichentsprechend einer auf der WHO beruhenden Definition auf die post-menstruelle Tragzeit. Während die Angaben in der medizinischen Litera-tur zum Gestationsalter meist korrekt erfolgt („p. m.“), bevorzugt derJurist „post conceptionem“- Angaben, was einen Unterschied von 14Tagen weniger ausmacht.

3 Es wird immer wieder von Einzelfällen berichtet, in denen die Gewichts-grenze von 500 Gramm unterboten wurde und das Frühgeborene überlebthat. Laut einer Agenturmeldung, vgl. SZ v. 24.12.2005, S. 12, hat in denVereinigten Staaten sogar ein 26 Wochen alter Säugling mit einemGeburtsgewicht von nur knapp 244 Gramm überlebt und entwickelt sich„prächtig“. Bereits Anfang Februar 2002 wurde in Italien ein „Frühchen“,das nur 285 Gramm wog, geboren, vgl. FAZ v. 27.05.2002, S. 9. Es ent-wickelte sich zu einem normalen und gesunden Säugling, dessen Chan-cen, ein normales Leben zu führen, auf fast 100 % geschätzt werden.Allerdings handelte es sich auch um ein in der 27. Schwangerschaftswocheper Kaiserschnitt geholtes Mangelgeborenes. Von der Geburt eines Früh-chens mit 340 Gramm nach 25 Wochen berichtet die SZ v. 27.08.2004,S. 36.

4 Dieser „Wait Until Certainty- oder auch „Saving-life-at-any-price” appro-ach” wird in den USA praktiziert.

5 Dieser auch „Statistical Strategy“ oder „The A-threshold-limit approach“genannte Strategietyp wird etwa in Schweden und in modifizierter Formin Dänemark und der Schweiz angewandt.

6 Die „Individualized Prognostic Strategy“ oder auch „The-Clinical-judge-ment-settles-the-matter Approach“ findet speziell in GroßbritannienAnwendung.

wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Verschlechtert sich alsoder Gesundheitszustand des Frühgeborenen, so kann inbestimmten klinischen Situationen zu einem späteren Zeit-punkt die Behandlung abgebrochen werden.

3. Anstelle eines Sterbenlassens wird das Frühgeborene zur„Leidvermeidung“ durch gezielte Handlungen aktiv getötet.

Die Beantwortung der so gestellten Frage nach der Angemes-senheit einer Behandlung bedeutet nichts anderes als eine Ent-scheidung zu treffen, bei der das menschliche Leben alsBezugspunkt selbst zur Debatte steht. Ärzte und Pflegepersonalsind in dieser Entscheidungssituation trotz guter Ausbildungoft überfordert. Mangelnde Erfahrung und die Angst vor einemzivilrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren bestimmen dieEntscheidung mit. Es verwundert daher nicht, dass die klini-sche Praxis zweigeteilt ist, wobei fast die Hälfte der Ärzte beimErstkontakt im Sinne eines „hands-off“ keine intensivmedizi-nische Maßnahmen ergreift, während der andere Teil zunächstunbedingt behandelt und die Entscheidung vorläufig bis zurAbsicherung von Diagnose und Prognose vertagt.7

B. Rechtliche Ausgangslage nach dem Verfassungs-recht

Betrachtet man die Rechtslage wie sie aus dem Verfassungs-recht folgt, so zeigt sich bei der Untersuchung ärztlicherBehandlungspflichten im Bereich der Neonatologie, dass ver-schiedene Grundrechte des extrem unreifen Frühgeborenenbetroffen sind, die miteinander konkurrieren, aber auch mitGrundrechten Dritter wie dem Elternrecht und der Berufsfrei-heit des Arztes kollidieren. So lässt sich die Grundrechtslagedes extrem unreifen Frühgeborenen im Wesentlichen als einGrundrechtsquartett aus den Rechten auf Leben und auf kör-perliche Unversehrtheit, dem Selbstbestimmungsrecht und derMenschenwürde begreifen, bei dem die einzelnen Grundrech-te in einem unauflösbaren inneren und sich symbiotischwechselseitig beeinflussenden Zusammenhang stehen, da sichihre Schutzbereiche wenigstens partiell überschneiden. Diesekonkurrierenden Rechtsgüter gilt es nach Maßgabe des Ver-hältnismäßigkeitsprinzips abzuwägen, was zu „schwierigenWertungsproblemen“8 führt. Bei dem verhältnismäßigen Aus-gleich dieses Binnenkonflikts kann bis auf die unantastbareMenschenwürde keines der involvierten Rechtsgüter einenabsoluten Vorrang gegenüber den anderen genießen. Aus demGrundgesetz folgt zwar eine Werteordnung, jedoch keine Wer-terangordnung. Daher kann insbesondere das Grundrecht aufLeben bei diesem Abwägungsprozess keine prinzipielle Vor-rangstellung einnehmen. Es kann mithin trotz seines verfas-sungsrechtlichen Höchstwerts als solches nicht in jedem Falldas entscheidende Kriterium bei der Schaffung eines Aus-gleichs darstellen.9 Vielmehr erlaubt das Selbstbestimmungs-recht dem Patienten, sein Leben nach qualitativen und quan-titativen Aspekten zu bewerten, eine Bilanzierung, an die derArzt gebunden ist. Wenn die Strafrechtsdogmatik demnach dasRechtsgut Leben stets als das höchste Rechtsgut beschwört, dasin Kollisionsfällen als absoluter Wert zu Buche schlägt,10 dannstimmt das nur, sofern es um die Bewertung von außen heran-getragener, das Tötungstabu berührende Abwägungsprozessegeht, nicht hingegen, wenn die Auflösung widerstreitenderRechtsgüter desselben Rechtsgutsträgers in Rede steht.11 Erfor-derlich ist nach all dem freilich, dass der Patient seinen Willenüber die Behandlung entweder tatsächlich äußert oder, wennes sich - wie im Fall des Frühgeborenen - um einen Patientenhandelt, der zur eigenen Willensäußerung noch nicht fähig ist,

sein mutmaßlicher Wille feststellbar ist.12 Auch dieser mut-maßliche Wille ist über Art. 2 GG geschützt.13 Im Zusammen-hang mit der Selbstbestimmung gerät außerdem das Eltern-recht in den Blickpunkt, welches den Eltern ein Wahrneh-mungsrecht gibt, das sie zum Handeln für ihr Kind befugt, undderen Zuständigkeit für alle Entscheidungen begründet, wel-che die Gesundheit ihres Kindes betreffen. Es obliegt dahervorrangig ihnen, den mutmaßlichen Willen ihres Kindes imHinblick auf die Fortsetzung der ärztlichen Behandlung zuinterpretieren und zu formulieren. Die höchstpersönlicheNatur der Behandlungsentscheidung steht der Annahme einerzulässigen Vertretung des Kindes in der Erklärung durch dieEltern nicht entgegen.14 Die stellvertretende Entscheidungsbe-fugnis der Eltern in dieser Situation ist vielmehr als verfah-rensrechtliche Vorkehrung zur Wahrung der Selbstbestim-mung des Frühgeborenen anzusehen. Alles in allem kanndamit als Ergebnis festgehalten werden, dass eine verfassungs-rechtliche Pflicht des Arztes besteht, lebenserhaltend zubehandeln, verbunden mit dem strikten Verbot, eine Nichtbe-handlung von bestimmten Selektionskriterien oder einer Beur-teilung der Qualität und des Werts eines Lebens abhängig zumachen, da prinzipiell alles Leben gleichwertig ist und Würdebesitzt. Grenzen einer Behandlungspflicht in der Neonatologiekönnen deshalb nur in Fällen bestehen, wo entweder dieNichtvornahme der gebotenen Behandlungsmaßnahme demmutmaßlichen Willen des Frühgeborenen entspricht oder dieBehandlung unterlassen werden darf, weil sie jenseits des ärzt-lichen Heilauftrags und der darauf basierenden Indikations-stellung liegt, also außerhalb des Behandlungskorridors dervon Ärzten eingefordert werden kann. Dies zugrunde gelegt,ergeben sich für die Bestimmung von ärztlichen Behandlungs-pflichten und -grenzen die nachfolgenden Konsequenzen:

C. Konsequenzen

I. Es gibt im medizinethischen Bereich keine einheitlichenZielvorgaben

Die Untersuchung des Standesrechts15, der Standesethik undbestehender medizinischer Richtlinien16 ergibt, dass ein kla-

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7 Zur Entscheidungspraxis in Kinderkliniken und auf neonatalen Intensiv-stationen gibt es mehrere nationale und internationale empirische Unter-suchungen. Zusammengefasst sind die Ergebnisse bei Zimmermann/vonLoewenich, Ethik.Med 1997, 56; beziehungsweise Cuttini/Nadai/Kaminski etal., Lancet 2000, 2112.; De Leeuw/Cuttini/Nadai et al., J. Pediatr. 2000, 608.

8 Isensee/Kirchhof-Lorenz, HStR VI, 1989, § 128 Rn. 47.9 BVerfGE 88, 203, 253 f.10 Statt vieler Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn.7; kritisch Eser/Koch,

Schwangerschaftsabbruch und Recht, 2003, S. 280 f.11 Im Ergebnis wie hier MünchKommStGB-Schneider, 2003, Vor §§ 211 ff.

Rn.103.12 Zur exakten Terminologie vgl. etwa Otto, NJW 2006, 2217, 2220.13 Wie hier Hufen, NJW 2001, 849, 852; ihm folgend NK-StGB-Neumann,

2.Aufl. 2005, vor § 211 Rn.104.14 Näher Glöckner (s.o. Fn. 1), S. 99 ff.15 Exemplarisch hierfür die Muster-Berufsordnung für die deutschen Ärztin-

nen und Ärzte (MBO-Ä 1997) in der Fassung von 2004, wie sie von dem107. Deutschen Ärztetag beschlossen wurde.

16 Zu nennen sind die sog. „Einbecker Empfehlungen“ der Deutschen Gesell-schaft für Medizinrecht (DGMR) von 1986; deren „Revidierte Fassung“(1992), welche die DGMR zusammen mit der Deutschen Gesellschaft fürKinderheilkunde und der Akademie für Ethik in der Medizin erarbeitete;die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung(1998/2004); die „Gemeinsame Empfehlung zur Frühgeburt an der Grenzeder Lebensfähigkeit des Kindes“ der Deutschen Gesellschaft für Gynäkolo-gie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde undJugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin sowieder Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin(1999); rechtsvergleichend: die Empfehlungen der Arbeitsgruppe derSchweizerischen Gesellschaft für Neonatologie (SGN) zur „Betreuung vonFrühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit“ (2002).

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rer ärztlicher Heilauftrag für die Behandlung von extremunreifen Frühgeborenen nicht besteht. Es werden zwar Gren-zen einer Behandlungspflicht bei extrem unreifen Frühgebo-renen ausgemacht, doch es kommt dabei nicht nur zu inne-ren Widersprüchen, sondern es fehlen auch nur annäherndeinheitliche Maßstäbe zu ihrer näheren Bestimmung. DerMedizin fällt es angesichts der biologischen Variabilität beiMenschen schwer, exakte Vorgaben dahingehend zumachen, welche Frühgeborenen sie selbst als „behandlungs-würdig“ einschätzt und welche nicht. Darüber hinaus genü-gen die Vorgaben vielfach nicht den rechtlichen Anforderun-gen, die das Recht an den Lebensschutz stellen, das heißt esmisslingt, das gleiche Lebensrecht für alle mit der Einschrän-kung intensivmedizinischer Maßnahmen in Ausnahmefällenschlüssig zu vereinbaren. Und auch die Analyse der unter-schiedlichen Ethikmodelle zur Behandlungspflicht beiextrem unreifen Frühgeborenen (maximale Behandlung,selektive Behandlung, Infantizid) zeigt, dass sich keine dieserVerhaltensalternativen stimmig begründen lässt. Es gibtsomit nicht nur eine ethisch richtige Handlung, sondern ver-schiedene ethisch gerechtfertigte Handlungsmöglichkei-ten.17 Gewiss ist nur, dass sich die Mediziner in Deutschlandmehrheitlich sowohl gegen eine maximale Therapie desFrühgeborenen als auch gegen aktive Sterbehilfehandlungenentscheiden.

II. Eine vorläufige intensivmedizinische Betreuung ist stets ge-boten

Welche konkreten Schädigungen aufgrund der Unreife vor-handen sind, kann der Arzt – gerade bei einer spontanenFrühgeburt – ohne Weiteres in den ersten Minuten nichtgenau abschätzen. Zwangsläufig bestehen Schwierigkeitenbei der Diagnose und der Prognose. Das macht es schwierig,eine richtige Entscheidung im richtigen Moment zu treffen.Bei einer Frühgeburt ist daher unter Berücksichtigung desLebensschutzes stets eine vorläufige intensivmedizinischeBetreuung des extrem unreifen Frühgeborenen geboten. Nurbei Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen kann der Arzt einegesicherte Diagnose erstellen und über weitere Behandlungs-maßnahmen entscheiden. Dem Kind ist deshalb die best-mögliche intensivmedizinische Hilfe zukommen zu lassen,auch um sekundäre Schädigungen möglichst zu vermeiden.Es sind also alle zur individuellen Erstversorgung notwendi-gen Maßnahmen zu ergreifen, was durchaus zu einem gewis-sen Automatismus im Vorgehen führt. Daher wird amAnfang immer ein Therapieversuch indiziert sein, was bedeu-tet, dass die in vielen Kliniken praktizierte „hands-off Taktik“im Gebärsaal bei faktisch möglicher Behandlung ausscheidet.Die Frühgeburt kann als eine Notfallsituation angesehen wer-den, in welcher der Arzt ohne nähere Kenntnis des Gesund-heitszustandes seines Patienten massive Mittel zum Einsatzbringen muss, um zunächst die vitalen Funktionen desextrem unreifen Frühgeborenen in einer lebensgefährdendenSituation zu stabilisieren. Erst wenn das Frühgeborene stabi-lisiert und nach hinreichender Diagnostik eine bessere Ent-scheidungsgrundlage gegeben ist, kann über die weitere The-rapie entschieden werden – und zwar auf der Neugeborenen-intensivstation und ohne Zeitdruck.18 Diese Vorgehensweiseist zwar weitaus schwieriger als eine primäre Weichenstellungaufgrund bestimmter klinischer Kriterien. Aber nur sie ent-spricht dem rechtlich gebotenen Schutz der Rechtsgüter desextrem unreifen Frühgeborenen. Da die Entscheidungen überdie intensivmedizinische Versorgung des Frühgeborenen imKreißsaal komplex und schwierig sind und oft über sein gan-

zes Leben entscheiden, sollte die Geburt eines extrem unrei-fen Frühgeborenen von einem erfahrenen Neonatologieteambetreut werden.19

Bei der Behandlungsentscheidung ist stets auf den Zustanddes individuellen Kindes abzustellen. Zur Anwendung hatdeshalb die „Individualisierte Prognosestrategie“ zu kom-men. Sie ist der „Strategie der Lebenserhaltung um jedenPreis“ vorzuziehen, weil sie den Gesundheitszustand des indi-viduellen Frühgeborenen im Blick hat und die permanenteMöglichkeit einer Entscheidungsrevision besteht. Daher istanhand aller medizinisch einholbaren Informationen eineindividuelle Prognose zu erarbeiten. Zu berücksichtigen sindsowohl pränatale Faktoren als auch der Zustand des Frühge-borenen unmittelbar nach der Geburt.20 In Anbetracht derbegrenzten Prognosesicherheit steht dem Arzt ein Beurtei-lungsspielraum bei der Einschätzung der klinischen Situationzu.21

III. Extrem unreife Frühgeborene sind anfänglich zu reanimie-ren

Bei extrem unreifen Frühgeborenen setzen, bedingt durch dieUnreife, Atmung und Herzschlag sehr oft erst nach künst-licher Sauerstoffbeatmung ein. Zu den Eckpfeilern einererfolgreichen neonatologischen Intensivtherapie gehört des-halb die Beatmung von Frühgeborenen mit Apnoen22 undrespiratorischer Insuffizienz durch Surfactantmangel.23 Auf-grund ärztlicher Erfahrungen ist zwar bekannt, dass falscheMaßnahmen bei der Reanimation Frühgeborener sehr vielmehr Schaden anrichten können als das Unterlassen vonMaßnahmen. Das darf aber nicht dazu führen, dass aufgrundderartiger Risiken und juristischer Folgen sowie in falscherRücksichtnahme auf die betroffenen Eltern das Frühgeboreneunmittelbar nach der Geburt womöglich in einem Depres-sionszustand einen Sauerstoffmangel erleidet, weil die behan-delnden Ärzte über das weitere Vorgehen beraten oder sichfür eine schonende Erstbehandlung entschieden haben. Umnicht einen Behandlungsfehler zu begehen, haben der Arztund sein Behandlungsteam daher die rechtliche Pflicht,unverzüglich mit der Intensivbehandlung zu beginnen unddas extrem unreife Frühgeborene künstlich zu beatmen,sowie es bei Einsetzen der Eigenatmung und des Herzschlagesintensivmedizinisch zu betreuen.24 Erst nach bereits erfolgter

A U F S Ä T Z E | Glöckner, Die mediz in ische Behandlung des extrem unrei fen Frühgeborenen

17 Bei der ärztlichen Entscheidung handelt es sich also um keinen Konfliktzwischen Recht und Moral. Vielmehr zeigt sich, dass die Leistungsfähigkeitangewandter Ethik vorliegend wohl eher in der Reflexion und Begleitungder Praxis statt in der Verordnung präskriptiver Handlungsanweisungenliegt.

18 Ebenso die Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesell-schaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenzeder Lebensfähigkeit unter 3.2.1.2, SÄZ 2002, 1589, 1594; von Loewenich,MedR 1985, 30, 32.

19 Hierfür sprechen auch die Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Schweize-rischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenenan der Grenze der Lebensfähigkeit unter 3.2.1.1, SÄZ 2002, 1589, 1594;vgl. auch von Loewenich, Ethik. Med. 2001, 196, 197.

20 Ähnlich die Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesell-schaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenzeder Lebensfähigkeit unter 3.2.1, SÄZ 2002, 1589, 1593.

21 BGHSt 40, 257, 264;, Auer/Menzel/Eser-Eser, Zwischen Heilauftrag undSterbehilfe, 1977, S. 82; Kaufmann, JZ 1982, 481, 486; Merkel, Früheutha-nasie, 2001, S. 543; Ulsenheimer, MedR 1994, 425, 428.

22 Ein Apnoe ist ein Atemstillstand für mehr als 10 Sekunden.23 Surfactant (= surface active agent) besteht überwiegend aus verschiedenen

Phospholipiden und trägt zur Stabilität des Alveolarsystems der Lunge bei.Die Substanz verhindert in der reifen Lunge durch die Erhöhung der Ober-flächenspannung, dass die Lungenbläschen am Ende der Ausatmung kol-labieren. Eine ausreichende Surfactantsynthese besteht natürlicherweiseerst von der 35. Schwangerschaftswoche an.

24 Ullmann, NJW 1994, 1575; ebenso Weber/Vogt-Weber, Arztrecht 1999,4, 10.

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25 Lemburg, Der Gynäkologe 1992, 160, 162.26 Ebenso Kaufmann, JZ 1982, 481, 485; Kind, Der Gynäkologe 2001, 744,

747.27 Hanack, MedR 1985, 33, 36; Merkel (s.o. Fn. 21), S.438.28 So auch Laber, MedR 1990, 182 188; Kaufmann, JZ 1982, 481, 484;

Weber/Vogt-Weber, MedR 1999, 204, 209; Taupitz in: ArbeitsgemeinschaftRechtsanwälte im Medizinrecht e. V. (Hrsg.), Ärztliche Behandlung an derGrenze des Lebens, 2004, S. 132 f.

29 Kluth, ZEFQ 2008, 204, 207.30 Vgl. zur Arzthaftung auch OLG Oldenburg NJOZ 2008, 2481.

Reanimation wird sich in sehr vielen Fällen klären lassen,durch welche Ursachen dieser schwer wiegende Ausfall derVitalfunktionen hervorgerufen wurde und welche Heilungs-chancen bestehen. Dieses Vorgehen betrifft insbesondereextrem unreife Frühgeborenen ohne primäre Lebenszeichen,die intrauterin noch sichtbare Lebenszeichen zeigten. Beiihnen darf nicht vorschnell von einer Totgeburt ausgegangenund per se der Anspruch auf Reanimationsmaßnahmen undIntensivpflege versagt werden. In jedem Falle ist es besser, dasFrühgeborene zunächst intensivmedizinisch zu versorgen, alsim Kreißsaal über die Intensivbehandlung zu diskutieren.25

Hierbei ginge kostbare Zeit verloren.

IV. Bei der Behandlungsentscheidung ist das persönliche Wohldes Frühgeborenen der Maßstab

Jede medizinische Behandlung setzt eine Indikation voraus,was eine Nutzen-Risiko-Abwägung bedeutet. Nur wenn derPatient von der Behandlung einen überwiegenden Nutzenhat, sie eine Besserung verspricht, ist sie auch indiziert. Dassetzt einen Wertungsmaßstab voraus. Richtigerweise darfman bei der Frage, ob eine lebenserhaltende Behandlungindiziert ist, nur auf das persönliche Wohl des Frühgeborenenabstellen und nicht auch auf drittorientierte, elterliche odergesellschaftliche Interessen. Es mag sein, dass die Einbezie-hung von sozialen Aspekten innerhalb der pränatalen Ethik-diskussion längst üblich ist. Auch trifft es zu, dass ein extremunreifes Frühgeborenes aufgrund seiner Schädigungen für dieEltern und die Familie zu einer schweren Belastung führenund es auch für die Gesellschaft werden kann. Aber es darfnicht vergessen werden, dass es bei der Indikationsstellungallein darum geht, ob bei abwägender Betrachtung dem indi-viduellen Frühgeborenen aus medizinischer Sicht einelebenserhaltende Behandlung zugemutet werden kann. Esgeht allein um sein Leben und nicht darum, was den Elternoder der Gesellschaft zumutbar ist.26 Wertungsmaßstab istdaher einzig das persönliche Wohl des extrem unreifen Früh-geborenen und sein individuelles Behandlungsinteresse.Drittorientierte Interessen wie elterliche oder gesellschaftli-che Interessen sind nicht zu berücksichtigen. Sicher, auf dieseWeise wird den Eltern eine Belastung zugemutet, welche dieGesellschaft angesichts der fehlenden Solidarbereitschaftweder bereit ist noch in absehbarer Zeit bereit sein wird, imangemessenen Umfang mit zu übernehmen. Wer als Arztaber unter sozialen Gesichtspunkten bei gegebener Überle-benschance des Frühgeborenen gegen eine ärztliche Maß-nahme votiert, weil er diesem und eventuell anderen Perso-nen ein vermeintlich schweres Los ersparen will, muss sichbewusst sein, dass er in rechtlich unzulässiger Weise alsAußenstehender das Lebensrecht und den Lebenssinn desFrühgeborenen beurteilt. Es gehört zudem nicht zu seinenAufgaben, über die Indikationsstellung die Folgen einer ver-fehlten Sozialpolitik auszugleichen.27

Wirtschaftliche Erwägungen dürfen daher ebenfalls nichtberücksichtigt werden. Neugeborenenmedizin ist kostenin-tensiv. Vergleicht man einerseits die – statistisch mit einerkostspieligen lebenserhaltenden Behandlung von extremunreifen Frühgeborenen verbundenen, oftmals nur minima-len – Überlebenschancen sowie die zum Teil sehr ungünstigePrognose der Überlebenden mit andererseits den beacht-lichen medizinischen Bedürfnissen von Patienten außerhalbder Neonatologie, verwundert es nicht, dass angesichts deshohen finanziellen Aufwands zynisch von einem Verlustge-schäft gesprochen und nicht selten bezweifelt wird, ob sich

ein solcher Aufwand tatsächlich lohnt, wo doch in anderenBereichen des Gesundheitswesens finanzielle Mittel zur ange-messenen Behandlung von Patienten mit besseren Heilungs-chancen fehlen. Doch medizinische Leistungen aufgrundeiner Kosten-Nutzen-Abwägung trotz Lebensfähigkeit demindividuellen Frühgeborenen vorzuenthalten, begegnetschwer wiegenden rechtlichen Bedenken. Eine solche Ratio-nierung bedeutet nämlich, dass ein Maßstab zur Einteilunggefunden und darauf basierend eine Behandlungsschwellegezogen werden müsste, zum Beispiel extrem unreife Frühge-borene bis zu einem bestimmten Gestationsalter, damit einsolches System sachgerecht funktioniert. Das geht aber nur,wenn der Wert des Lebens für das Frühgeborene abgeschätztund in lebenswertes und nicht lebenswertes Leben unterteiltwird. Damit ist man in Wahrheit aber bei einer das Recht aufLeben und die Menschenwürde missachtenden, unzulässigenFremdbewertung des Lebens.28

Ob und wie angesichts der begrenzten Finanzmittel imGesundheitswesen eine Rationierung vorgenommen werdensoll, ist eine Frage, die der Gesetzgeber zu klären hat.29 Ausder individuellen Behandlungsentscheidung des Arztes sindwirtschaftliche Überlegungen zur Unverhältnismäßigkeitjedenfalls herauszuhalten.

V. Faktische Unmöglichkeit ist eine Behandlungsgrenze

Eine Verpflichtung zur lebenserhaltenden Behandlungbesteht dann nicht (mehr), wenn die erforderliche ärztlicheLeistung unmöglich ist. Denn wie jede rechtliche Hilfs- undErfolgsabwendungspflicht, steht auch die ärztliche Behand-lungspflicht unter dem Vorbehalt des tatsächlich Möglichen.Unter dem Gesichtspunkt der faktischen Unmöglichkeit ist –wenig überraschend – daher eine Behandlungsgrenze zu beja-hen, wenn es noch gar keine Behandlungsmethode gibt oderdie Behandlung wegen fehlender technischer oder personel-ler Ausstattung oder fehlender Fachkompetenz des Behan-delnden ausgeschlossen ist. Der Behandlungsauftrag redu-ziert sich dann auf die Basisversorgung des Frühgeborenen.Als sinnvolle Möglichkeit zur Erfolgsabwendung ist abernach entsprechender Aufklärung auch eine Verlegung desFrühgeborenen in eine andere Klinik mit weiter reichendenBehandlungsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen.30

Darüber hinaus ist eine Lebenserhaltung unmöglich, wennnach der Geburt keine ärztlichen Maßnahmen ergriffen wer-den können, die ein Überleben des Frühgeborenen ermög-lichen, weil es nicht lebensfähig ist. Diese Sachlage trifft aller-dings nur auf Frühgeburten vor der 22. Schwangerschaftswo-che zu, weil erst danach die Luftwege und die Lungenblä-schen anatomisch soweit entwickelt sind, dass sie die Funk-tion des Gaswechsels übernehmen können. Unterhalb diesesGestationsalters ist die Weiterentwicklung des Frühgebore-nen außerhalb des Mutterleibes derzeit technisch unmöglich,das Frühgeborene hat aufgrund seiner Unreife keinerlei Über-lebenschancen, jedenfalls ist nicht bekannt, dass schon ein-

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31 Pohlandt, Z. Geburtsh. Neonatol. 1998, 261; ebenso die Empfehlungen derArbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie zurBetreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit, SÄZ2002, 1589, 1590; von Loewenich, Monatsschrift Kinderheilkunde 2003,1263, 1267.

32 Laufs/Uhlenbruck-Laufs, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 130Rn. 25.

33 Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht Fallgruppenkommentar, 2. Aufl. 2007,S. 320.

34 Martis/Winkhart (s. o. Fn. 33), S. 320; Laufs/Uhlenbruck-Uhlenbruck/Laufs(s. o. Fn. 32), § 44 Rn. 9.

mal ein derart unreifes Frühgeborenes überlebt hat.31 Die 22.Schwangerschaftswoche beschreibt deshalb die derzeitige,biologisch bedingte untere Grenze der extrauterinen Überle-bensfähigkeit. Sollte es eines Tages möglich sein, die Lungen-unreife eines Frühgeborenen zu behandeln, verschiebt sichdie Grenze der Lebensfähigkeit entsprechend. Momentan istdie Vornahme lebenserhaltender Maßnahmen an dergenannten Schwelle jedenfalls von einer „sinnlosen Vergeb-lichkeit“ geprägt. Es besteht daher keine ärztliche Pflicht, dieäußersten Mittel der Medizin einzusetzen. Voraussetzung istallerdings, dass das Gestationsalter des Frühgeborenen sicherist. Ansonsten bleibt es bei der intensivmedizinischen Betreu-ung.

Auch eine fehlende Standardbehandlungsmethode kannunter dem Aspekt der faktischen Unmöglichkeit eineBehandlungsgrenze darstellen, wenn nämlich gleichwertigeandere Behandlungsmethoden nicht bestehen. Geschuldetwird nur eine Behandlung, die dem allgemeinen Soll-Stan-dard entspricht. Ein weitergehender Anspruch auf eineBehandlungsmethode, die klinisch und experimentell nochnicht abgesichert ist, besteht nicht. Weder das Gesetz nochder Behandlungsvertrag begründen solch eine Pflicht.32 DerArzt ist folglich von Rechts wegen nicht verpflichtet, imWege eines Heilversuchs neue Behandlungsmöglichkeitenzur Lebenserhaltung, die vielleicht erst in wenigen Spezialkli-niken erprobt und durchgeführt werden, zu ergreifen.33

Allerdings hat er die Eltern des Frühgeborenen in einem sol-chen Fall auf die anderenorts praktizierte neue Methode hin-zuweisen, unter Umständen sogar das Frühgeborene dorthinzu überweisen, wenn der Heilversuch die einzige Möglichkeitist oder zumindest die deutlich besseren Heilungschancenverspricht, oder wenn die Neulandbehandlung risikoärmerund für den Patienten weniger belastend ist.34 Wo der Arzteinen solchen Heilversuch freilich vor Ort durchführen kannund will, bleibt es ihm unbenommen, die Eltern des Frühge-borenen darüber aufzuklären und eine entsprechende Ver-einbarung zu treffen.

Kein Fall der Unmöglichkeit ist dagegen ein momentanerVersorgungsengpass, wenn also die zur Behandlung notwen-digen apparativen Mittel und personellen Voraussetzungenzwar vorhanden, aber nicht im benötigten Umfang verfügbarsind. Ein Behandlungsverzicht kann in dieser Situation nurunter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit gerechtfertigtsein. Aufzulösen ist die Konfliktsituation nach den Grundsät-zen der Pflichtenkollision, sodass der Arzt nur einer seinerHandlungspflichten nachkommen muss.

VI. Statistischen Aussagen, Geburtsgewicht und Schwanger-schaftsdauer sind keine Prognosekriterien

Es lassen sich keine klinischen Faktoren finden, die jeweilsfür sich genommen als prognostische Kriterien konkrete Aus-sagen über die Lebensfähigkeit und Schädigung des indivi-duellen Frühgeborenen zulassen und hierüber allein bestim-mend für die Behandlungsentscheidung werden. Es ist nichtnur gefährlich, sondern wegen der damit verbundenenLebenswertfragen auch rechtlich unzulässig, in Abhängigkeitvon statistischen Aussagen, vom Gestationsalter oderGeburtsgewicht absolute Behandlungsgrenzen zu setzen undeinzig anhand einer dieser Kriterien Entscheidungen überLeben oder Tod des Frühgeborenen fällen zu wollen.

Statistische Aussagen zur Sterblichkeit und zu Schädigungenbeschreiben ein bloß rechnerisches Risiko, das im konkreten

Fall nicht eintreten muss. Es besteht die Gefahr einer Fehl-einschätzung, weshalb es unter dem Gesichtspunkt desLebensschutzes rechtlich nicht zulässig ist, ungeachtet desGesundheitszustands des individuellen Frühgeborenen auseiner abstrakten rechnerischen Größe eine Schlussfolgerungfür den Einzelfall zu ziehen und die Entscheidung über Lebenund Tod allein von einer mehr oder minder hohen Wahr-scheinlichkeit für eine gewisse Schädigung abhängig zumachen. Statische Aussagen bilden für den Arzt neben seinerErfahrung allenfalls eine Orientierungshilfe bei der Prognoseder weiteren Entwicklung des individuellen Frühgeborenenund zeigen darüber hinaus den aktuellen medizinischenBehandlungsstandard auf. Wer statistische Aussagen als Ent-scheidungskriterium will, muss sich bewusst sein, dass erLebensqualität bewertet. Darüber hinaus würde dies den Wegeröffnen, aus Gleichheitserwägungen auch außerhalb derNeonatalphase Behandlungsgrenzen anzuerkennen, die bis-lang aus guten Gründen nicht bestehen. Die „StatistischePrognosestrategie“ ist deshalb abzulehnen.

Da die Überlebensfähigkeit und die Rate der Schädigung vonder Reife des Frühgeborenen abhängt, der Reifegrad sich abernicht so einfach und sicher bestimmen lässt, wurden klini-sche Kriterien gesucht und mit dem Geburtsgewicht und demGestationsalter auch gefunden, die schnell feststellbar sindund als prognostische Indizes einen Rückschluss auf die Reifedes Frühgeborenen zulassen. Beide Kriterien entsprechendem Wunsch der Mediziner nach einem Schwellenwert,unterhalb dessen intensivmedizinische Bemühungen um dasÜberleben des Frühgeborenen nicht mehr angestellt werdenmüssen. Doch auch hiergegen bestehen erhebliche rechtlicheBedenken, denn es kommt in beiden Fällen zu einer Katego-risierung, die dem Frühgeborenen als menschlichem Wesennicht gerecht wird. Nur aufgrund statistischer Merkmale wer-den Frühgeborene in Gruppen eingeteilt, die pauschal überArt und Umfang einer Behandlung entscheiden, ohne dassdie tatsächliche Reife und Vitalität des individuellen Frühge-borenen zum Gradmesser der Behandlung wird. Geburtsge-wicht und Gestationsalter stehen auf diese Weise keinesfallsfür den medizinischen Wert der Behandlungsmaßnahme,sondern können nur als Ausdruck für die statistische Lebens-chance und den Lebenswert des Frühgeborenen verstandenwerden. Damit wird das aus den Lebensschutzprinzipien fol-gende Lebensbewertungsverbot ebenso verletzt wie die Men-schenwürde des Frühgeborenen und das Diskriminierungs-verbot. Unbenommen bleibt es indes, Geburtsgewicht undGestationsalter als Orientierungshilfe für statistische Aussa-gen über die Sterblichkeit und die Schädigungsrate vonextrem unreifen Frühgeborenen nutzbar zu machen.

VII.Es gibt auch keine objektiven Kriterien für Behandlungs-grenzen

Mit dem Ergreifen von Intensivmaßnahmen dient der Arzteinem Höchstwert unserer Rechtsordnung, nämlich demLeben als vitaler Basis der Menschenwürde des Patienten.

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Deshalb muss er grundsätzlich jedes Mittel einsetzen, um dasLeben zu schützen. Die Suche nach Behandlungsgrenzen fürextrem unreife Frühgeborene zielt deshalb inhaltlich auf Aus-nahmen, welche die lebenserhaltende Behandlungspflichteinschränken. Da bei der Grenzziehung stets die Gefahrbesteht, dass anhand der klinischen Tatsachen nicht nur Sinnund Gesamtnutzen der medizinischen Maßnahme beurteilt,sondern mittelbar auch das Leben des Frühgeborenen unzu-lässig bewertet wird, gestaltet sich die Suche nach objektivenEntscheidungskriterien, die bei der Nutzen-Risiko-Abwägungfür einen Behandlungsverzicht sprechen, schwierig. Disku-tiert werden in diesem Zusammenhang klinische Kriterienwie die „Sinnlosigkeit, Zwecklosigkeit oder Aussichtslosigkeitweiterer Maßnahmen“,35 die „Schicksalhaftigkeit und Natür-lichkeit des Todes“36 oder „gewöhnliche und außergewöhnli-che Maßnahmen,“37 aber auch patientenbezogene Kriterienwie „Todesnähe und infauste Prognose“,38 fehlende „Lebens-qualität“,39 „schwere Schädigungen ohne Besserungschan-cen“40 sowie „irreversible Bewusstlosigkeit und schwere Hirn-schädigungen“.41 Insgesamt gesehen erweisen sich all dieseKriterien bei näherer Betrachtung als zu unbestimmt, umklare Festlegungen im Einzelfall erzielen zu können. Unge-achtet dieser Unbestimmtheit ist ihnen allen gemein, dassstets die Qualität oder die Quantität des Lebens bewertet undhieran der Umfang der Behandlungspflicht geknüpft wird.Die reine Lebenserhaltung weicht hier einer qualitativenLebensbetrachtung. Solche Fremderwägungen zum Wert desLebens des extrem unreifen Frühgeborenen widersprechenjedoch dem Gleichheitsgebot beim Lebensschutz und derMenschenwürde. Es ist ausschließlich Sache des Frühgebore-nen, sein Leben zu messen und zu bemessen. Einzig ihm ste-hen entsprechende Wertungen zu. Dies gebietet die Beach-tung seines Selbstbestimmungsrechts. Ein anderes Vorgehenkann leicht als gesellschaftsnützliche Eugenik gedeutet wer-den. Hinzu kommt, dass sich angesichts der Prognoseunsi-cherheit die jeweils erforderliche sichere Prognose praktischnie treffen lassen wird. Aus diesen Gründen können diegenannten Kriterien keine Behandlungsgrenzen begründen.

VIII.Der mutmaßliche Wille des Frühgeborenen als Behand-lungsgrenze

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass eine Ent-scheidung über die Nichtvornahme einer medizinischenBehandlung jenseits der Unmöglichkeitsfälle ausschließlichauf Bewertungen zur Quantität und Qualität des Lebens desindividuellen Frühgeborenen beruht. Im Gegensatz zu unzu-lässigen Fremdbewertungen über das Leben, ist dem Einzel-nen jedoch eine autonome Entscheidung in Belangen dereigenen körperlichen Integrität erlaubt. Will man dieBehandlungspflicht beschränken, so kommt es folglich aufden erklärten Patientenwillen an, den es freilich bei Frühge-borenen naturgemäß nicht geben kann. Ein Neugeboreneshat schließlich noch nicht die Fähigkeit, eine Patientenver-fügung zu verfassen. Auch ist es nicht fähig, Interessen undGefühle oder gar sachliche Gründe zu äußern, mit Ausnahmevielleicht eines natürlichen Lebenswillens. Abzustellen istdeshalb auf den mutmaßlichen Willen, auf ein Wahrschein-lichkeitsurteil also, das beruhend auf wahrnehmbaren, tat-sächlichen Umständen besagen soll, wie das Frühgeborenebei voller Kenntnis der Sachlage wohl selbst entscheidenwürde, wenn es dürfte und gefragt werden könnte. Da esallerdings niemals einen eigenen Willen artikulieren kann,dient allein eine rein objektivierende Beurteilung seinerInteressen als Mittel zur Feststellung des mutmaßlichen Wil-

lens.42 Ein Ergebnis, das aus dem Zivilrecht bekannt ist (§ 683BGB). Zu diesem Zweck muss auf objektiv feststellbare Krite-rien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstel-lungen entsprechen, wobei eine überragende Wahrschein-lichkeit dafür bestehen muss, dass diese Vorstellungen auchmit denen des Frühgeborenen übereinstimmen (Individu-umsbezogenenheit). Gesucht werden quasi „Übersetzungsre-geln“. Nur dann lässt sich der Vorwurf einer Fremdbestim-mung widerlegen und sich von Fremdverantwortung reden.

Allgemeine Wertvorstellungen mit der erforderlichen Indivi-duumsbezogenheit zur Beantwortung der Frage, ob einLebensinteresse besteht, sind jedoch ebenso wenig vorhan-den wie objektive Anhaltspunkte für ein Sterbeinteresse – wasnicht verwundert, denn es ist wenig darüber bekannt, wasextrem unreife Frühgeborene in dieser Grenzsituation desLebens wollen und empfinden. Es liegt folglich eine Pattsitu-ation vor. Die gleichwertigen Pflichten zur Lebenserhaltungeinerseits sowie zur Unterlassung eigenmächtiger Behandlun-gen andererseits bleiben unvereinbar nebeneinander beste-hen. Dieses Entscheidungsdilemma ist im Interesse derRechtssicherheit und Rechtsklarheit am besten über die Prä-ferenzregel „In dubio pro vita“ aufzulösen.43 Arzt und Elternhandeln deshalb im Zweifel im mutmaßlichen Willen undzum Wohl des Frühgeborenen, wenn zunächst diejenigenMaßnahmen ergriffen werden, die vital indiziert sind. Aufdiese Weise wird die Einwilligung des Frühgeborenen in dieBehandlung zur Regelvermutung.

Dies bedeutet indes nicht, dass extrem unreife Frühgeborenenun unbegrenzt lebenserhaltend behandelt werden müssen.Vielmehr finden in modifizierter Form die allgemeinen Ster-behilferegeln Anwendung.44 Dabei wird sowohl eine resig-nierende Haltung in Todesnähe vermutet als auch, dass nie-mand gerne Schmerzen erträgt und freiwillig leidet. Möglichist danach eine straflose Hilfe im Sterben, wenn sich dasFrühgeborene in der finalen Sterbephase befindet, weil die

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35 In diesem Sinne äußern sich viele Mediziner, etwa von Loewenich, Monats-schrift Kinderheilkunde 2003, 1263, 1268; Opderbecke/Weißauer, MedR1998, 395, 397; vgl. auch die Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Schwei-zerischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenenan der Grenze der Lebensfähigkeit, SÄZ 2002, 1589, 1594; aus der juristi-schen Literatur: Ulsenheimer, MedR 1994, 425, 427; Kaufmann, JZ 1982,481, 485; weitere Nachweise bei Merkel (s. o. Fn. 21), S. 295.

36 Nachweise bei Auer/Menzel/Eser-Eser, (s. o. Fn. 21), S. 56; Everschor, Pro-bleme der Neugeboreneneuthanasie und der Behandlungsgrenzen beischwerstgeschädigten Kindern und ultrakleinen Frühgeborenen aus recht-licher und ethischer Sicht, 2001, S. 259 f.

37 Opderbecke/Weißauer, MedR 1998, 395, 399; Gründel, MedR 1985, 2, 6.Diese Unterscheidung geht maßgeblich auf die katholische Moraltheologiezurück und wird auf eine Äußerung von Papst Pius XII. aus dem Jahre 1957gestützt.

38 BGHSt 40, 257; Hiersche/Hirsch/Graf-Baumann-Jähnke, Grenzen ärztlicherBehandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen, 1. EinbeckerWorkshop der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, 27.–29. Juni 1986,1987, S. 101; Eser, FS Narr, 1988, S. 47, 59; Ulsenheimer, MedR 1994, 425,427; Hanack, MedR 1985, 33, 36; vgl. auch von Loewenich, MedR 1985, 30,31; Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitungunter Punkt II., DÄBl. 2004, A-1298 f.

39 Etwa die Empfehlungen der SGN zur Betreuung von Frühgeborenen an derGrenze der Lebensfähigkeit, SÄZ 2002, 1589. Der Aspekt der Lebensqua-lität wurde von den Philosophen über utilitaristische Ethikmodelle in dieDiskussion eingeführt.

40 Vgl. MünchKommStGB/Schneider (s. o. Fn. 11), Vor §§ 211ff. Rn. 131;Ulsenheimer, MedR 1994, 425, 427; Hanack, MedR 1985, 33, 37; vgl. auchZiffer VI. der Revidierten Einbecker Empfehlungen oder die GemeinsameEmpfehlung zur Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes,Z. Geburtsh .Neonatol. 1998, 261.

41 Vgl. Sch/Sch-Eser, StGB, 27.Aufl. 2006, Rn. 29 vor §§ 211 ff.; Laber, MedR1990, 182, 187; Isensee/Kirchhof-Lorenz, HStR VI, VI, § 128 Rn. 50; Ulsen-heimer, MedR 1994, 425, 427.

42 Näher Glöckner (s. o. Fn. 1), S. 88 ff.43 Glöckner (s. o. Fn. 1), S. 278 f.44 Glöckner (s. o. Fn. 1), S. 279 ff.

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45 Auf beide Aspekte hinweisend BGHSt 40, 257, 260.46 Zum Umfang der Basisbetreuung vgl. nur die Grundsätze der Bundesärzte-

kammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, DÄBl. 2004, A-1298.47 Cignacco/Stoffel/Raio et al., Z. Geburtsh. Neonatol. 2004, 155, 159, Jene-

wein/Fauchère/Glaser/Mörgeli/Büchi, Geburtsh. Frauenheilk. 2006, 745,748 ff.

48 Pohlandt, Z. Geburtsh. Neonatol. 1998, 261, 263; Punkt 3.2.2.3 der Emp-fehlungen der Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Neona-tologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähig-keit, SÄZ 2002, 1589, 1594; Palm, Geburtsh. Frauenheilk. 2002, 90.

49 von Loewenich, Ethik Med 2001, 196, 197; Cignacco/Stoffel/Raio et al.,Z. Geburtsh. Neonatol. 2004, 155, 159 f.

50 Landau, ZRP 2005, 50, 54.

Eltern in dieser Situation einen Sterbewillen ihres Kindes ver-muten können. Medizinische Voraussetzungen für rechtlichzulässige Maßnahmen der indirekten (aktiv unabsichtlichen)Sterbehilfe und passiven Sterbehilfe (durch Unterlassen) sindhingegen, dass das extrem unreife Frühgeborene an einerschweren unheilbaren Erkrankung leidet, deren nach größt-möglicher Sorgfalt erstellte Prognose infaust ist, und diebereits so weit fortgeschritten ist, dass es in absehbarer Zeitstirbt. Bedingt die Unreife folglich „nur“ schwerste Schädi-gungen, so reicht das nicht aus. Ferner sind zur Vermutungeines entsprechenden Willens des Frühgeborenen der Einsatzeines validierten Schmerzerfassungsinstruments und die Fest-legung einer bestimmten Schmerzgrenze notwendig, weil nurdann objektive Indizien dafür vorliegen, dass aufgrund einesunerträglichen Schmerzzustands das Interesse des Frühgebo-renen an einer Nichtbehandlung sein Interesse an einerLebenserhaltung überwiegt. Nennenswerte Bedeutung für dieWillensermittlung erlangen somit sowohl das Akutstadiumder Erkrankung als auch die Absicherung des weiteren Ver-laufs durch die ärztliche Prognose. Anders gesagt: Je sicherersich ein Sterben und die Belastung durch weitere medizini-sche Maßnahmen abzeichnen, desto verlässlichere Schlüsseauf den mutmaßlichen Sterbewillen können daraus gezogenwerden.45 Aktive Sterbehilfehandlungen beim extrem unrei-fen Frühgeborenen schließlich sind rechtlich verboten.Mögen auch Situationen vorstellbar sein, in denen eine akti-ve Tötung humaner als ein passives Sterbenlassen erscheint.Dagegen sprechen, dass eine aktive Tötung dem ärztlichemSelbstverständnis widerspricht sowie eine größere Rechtssi-cherheit und Kontrollierbarkeit der Patientenautonomie vormissbräuchlicher Fremdbestimmung.

Die hier vertretene Ansicht hat zwar zur Folge, dass auch Ent-scheidungen für die Fortsetzung der Behandlung getroffenwerden, die angesichts der damit verknüpften Leiden desextrem unreifen Frühgeborenen für die Ärzte, vor allem aberfür die Eltern aus emotionalen, psychischen oder finanziellenGründen nur schwer erträglich sein mögen. Verhindert wirdauf diese Weise aber – und das ist entscheidend – dass es zuFremdbewertungen über die Lebensqualität kommt und demextrem unreifen Frühgeborenen vorschnell ein Lebensrechtabgesprochen wird, weil externe Interessen mit denen desKindes als identisch angesehen werden. Zugleich wird dermutmaßliche Wille des Kindes aber auch nicht ausnahmslosim Sinne eines schlichten Lebenswillens interpretiert, son-dern berücksichtigt, dass es durchaus Situationen gibt, indenen sich eine Intensivbehandlung des Frühgeborenennicht als interessengerecht darstellt. Auch in diesen Situatio-nen eine Entscheidung im Zweifel für das Leben treffen zumüssen, würde den Verfassungsauftrag verfälschen. KeinMensch leidet freiwillig gern, besonders wenn er sterbens-krank ist.

IX. Basisbetreuung und psychologische Unterstützung der El-tern

Das Unterlassen oder Einstellen einer lebenserhaltendenBehandlung bedeutet nicht das abrupte Ende der medizini-schen Versorgung. Das Frühgeborene gehört weiterhin so gutwie möglich ärztlich und pflegerisch betreut. Es wäre ein gro-ber Behandlungsfehler, es einfach „wegzulegen“ und seinemSchicksal zu überlassen. Abbruch oder Verzicht auf eineBehandlung führen vielmehr dazu, dass eine Eskalation derBehandlungsmaßnahmen verhindert wird, indem keineneuen Therapien mehr angefangen und medizinische Maß-

nahmen schrittweise und adäquat reduziert werden bis hinzur sog. Basisbetreuung, also palliativ-medizinischen undpflegerischen Maßnahmen.46

Bereits der Aufenthalt ihres Kindes auf der neonatologischenIntensivstation nach der Frühgeburt bedeutet für die Elterneine enorme emotionale Belastung.47 Sie bedürfen derpsychologischen Unterstützung. Das gebietet aber auch,sobald auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet wird,den Eltern die Möglichkeit zu geben, ihr Kind bis zum Todeselbst zu begleiten.48 Eine Phase des nahen Kontaktes kanndie Verarbeitung des Todes ihres Kindes während oder kurznach der Geburt begünstigen. Bei diesem Einstieg in einenheilenden Trauerprozess hat das betreuende Neonatologie-team, auf Wunsch zusammen mit einem Seelsorger, dieEltern psychisch zu unterstützen.49 Mit der Trauerarbeit darffreilich nicht zu früh begonnen werden.

D. Ausblick

Das vorgestellte Behandlungsmodell lässt sich in der Praxisnoch durch organisatorische und Verfahrensmaßnahmenabsichern. Zu denken ist an die Etablierung von Beratungs-hilfen wie eine Klinische Ethikkommission oder die grund-sätzliche Einschaltung des Familiengerichts. Gerade eineEthikkommission ist als Konsultativgremium, das Arzt undEltern bei der Entscheidung zur Seite steht, durchaus inBetracht zu ziehen. Auf diese Weise wird nicht nur ein gewis-ses Maß an Rationalität und Sachverstand geschaffen, son-dern auch die alleinige Last der Verantwortung wird Arzt undEltern genommen.

Abschließend lässt sich außerdem konstatieren, dass dasRecht in dieser Grenzsituation des Lebens Arzt und Elternkeine verbindlichen Handlungsanweisungen für die Behand-lungsentscheidung geben kann, die lediglich vollstreckt wer-den müssen. Es erscheint insgesamt betrachtet auch zweifel-haft, ob in dieser komplexen Grenzsituation des Lebens, diegekennzeichnet ist durch Prognoseunsicherheit und fehlen-des Wissen um die Willenslage des Neugeborenen, das Rechtüberhaupt Arzt und Eltern den „richtigen“ Weg weisen kann.Es trifft in gewisser Weise zu, wenn Landau schreibt: „DerGlaube an die Heiligkeit des Lebens ist leicht und tröstlich,welchen Wert der Tod dagegen hat, wird nie ein lebenderMensch wissen.“50

A U F S Ä T Z E | Glöckner, Die mediz in ische Behandlung des extrem unrei fen Frühgeborenen

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Tamm, P lädoyer für e ine Neurege lung des He i lprakt ikergesetzes | A U F S Ä T Z E

Plädoyer für eine Neuregelung des Heilpraktikergesetzesvon Dr. Marina Tamm*, Rostock

Verbraucherschutz betrifft – sowohl auf der Ebene der EU alsauch auf der des einzelnen Mitgliedstaates – nicht nur den Be-reich des Vermögensschutzes durch Sicherung der Vertragspa-rität und einer informierten Konsumentenentscheidung; erdient auch und gerade der Wahrung des Integritätsinteressesdes Verbrauchers. Als solches fordert er ein Tätigwerden desStaates und der Gemeinschaft dort ein, wo Patienteninteressennachhaltig berührt sind und der Markt deren Durchsetzungdurch seine „selbstregulierenden Kräfte“ nicht ausreichend si-cherstellen kann. Es geht um die gesundheitliche Vor- und Für-sorge, die in Erfüllung des staatlichen Schutzauftrages nach Art.2 I GG eines der vordringlichsten Anliegen des Gemeinwesenssein sollte. Leider kommen die staatlichen Organe, allen vorandie Legislative, diesem Schutzauftrag in Bezug auf die Regle-mentierung des Heilpraktikerwesens in Deutschland nicht ge-nügend nach. Die in der Judikatur und Fachpresse besproche-nen Fälle der Behandlung von Krebserkrankungen auf„Naturheilbasis“1 unter Abbruch der durch einen Arzt einge-leiteten schulmedizinischen Behandlung (mit tödlichem Aus-gang),2 durch das Aufstellen von Klötzen zur Abschirmungvon Erdstrahlen3 und anderen unwissenschaftlich behandel-ten Fällen mit tragischem Ausgang,4 zeugen von einer Thera-piefreiheit der Branche, die oft einseitig zulasten des Patien-ten erfolgt. Der nachfolgende Beitrag greift die brisanteProblematik auf, beschreibt Ursache und Wirkung und versuchtLösungen im Sinne des Patientenwohls aufzuzeigen, die in ei-ner Neufassung des Heilpraktikergesetzes münden müssen.

A. Problemstellung

§ 184 des österreichischen Strafgesetzbuches bestimmt: „Werohne die zur Ausübung des ärztlichen Berufes erforderlicheAusbildung erhalten zu haben, eine Tätigkeit, die einem Arztvorbehalten ist, in Bezug auf eine größere Zahl von Personenausübt, ist mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten odermit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.“ Schautman über die sich auch hinsichtlich der unterschiedlichenRechtssysteme immer weiter auflösenden Grenzen zu deneuropäischen Nachbarn, so lässt sich feststellen, dass es –ähnlich den österreichischen Vorgaben – in vielen Länderneine Tendenz zum restriktiven Umgang mit der nichtärzt-lichen Heilkundeausübung gibt. So ist in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten sowie in den meisten Kantonen der Schweizdie Ausübung der Heilkunde kraft nationalen Rechts aus-schließlich den Ärzten vorbehalten.5 Lediglich in Dänemark,Schweden und wenigen Kantonen der Schweiz ist die nicht-ärztliche Heilkundeausübung unter gewissen Beschränkun-gen anerkannt; weitgehende Kurierfreiheit besteht – ebensowie in Deutschland – hingegen nur in Irland.6 Da bishernoch keine gemeinschaftliche Harmonisierung der nichtärzt-lichen Heilkundeausübung stattgefunden hat, steht es deneinzelnen Mitgliedstaaten frei, ob sie diese zulassen odernicht und von welchen Voraussetzungen sie ggf. die Zulas-sung abhängig machen und wie die unerlaubte Ausübung derHeilkunde strafrechtlich zu bewerten ist.

In Deutschland ist die Stellung des Heilpraktikers besondersambivalent, denn Anspruch und Wirklichkeit gehen hier

mitunter weit auseinander. Der Heilpraktiker arbeitet hierzu-lande auf einem hoch sensiblen Gebiet, dem der Gesund-heitssorge, das an sich nur „Spezialisten“ (d. h. Ärzten) nachlanger staatlich überwachter Ausbildung anvertraut ist, erselbst muss jedoch keinerlei tiefer gehende (Fach-) Ausbil-dung nachweisen. Er gilt als minder- bzw. unqualifiziert, ineinigen Fällen ist er aber für Hilfsbedürftige, die bei ihm Lin-derung ihrer Leiden erfahren, unverkennbar die „letzte Ret-tung“.7 Der Erlass des Heilpraktikergesetzes im Jahr 1939diente eigentlich der Eindämmung des Heilpraktikerwesens,jedoch ist aus dem einstigen „Eliminationsgesetz“ aus derZeit des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik aufgrundder grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit in Art. 12 GGein „Erlaubnisgesetz“ geworden.8 Man hält angesichts desBetätigungsfeldes des Heilpraktikers eine Prüfung seinerKompetenz für wichtig, lehnt aber eine bundeseinheitlicheÜberprüfungsordnung ab,9 und zwar mit dem Hinweisdarauf, dass es eine Vielzahl10 von „alternativen“ Behand-lungsmethoden gebe und damit auch die Berufsgruppe zuinhomogen sei, um einheitliche, gruppenspezifische Behand-lungs- und Sorgfaltsstandards aufzustellen.11

Angesichts der fehlenden Ausbildungsvorgaben und inhalt-lichen Standards besteht in Deutschland für Heilpraktikereine weitgehende Freiheit bei Zulassungs- und Behandlungs-fragen.12 Sie führt mitunter dazu, dass sich in die Gruppe der-jenigen, die etwa aufgrund fundierter Kenntnisse der Pflan-

* Dr. Marina Tamm ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl von Prof.Dr. Klaus Tonner, Juristische Fakultät der Universität Rostock.

1 Zu den Grundlagen der Naturheilkunde siehe den Übersichtsaufsatz vonSchneider, Arbeit und Beruf 10/2004, 306 ff.

2 Am 09.08.2007 berichtete die Sendung Kontraste über einen Fall einerHeilpraktikerin, die ihrem Patienten riet, eine schulmedizinische Behand-lung abzubrechen. Eine Gegendarstellung der betroffenen Heilpraktikerinfindet sich dazu unter http://audesapere-online.de (zuletzt abgerufen am16.07.2008).

3 BGH NJW 1987, 2928, 2929.4 Zahlreiche Fälle finden sich bei Eberhardt, VersR 1986, 110, 113 ff.

beschrieben.5 Schulte/Waechter, MedR 2000, 78, 81. In Spanien können nur Ärzte auch

Heilpraktiker sein. In Deutschland gab es lange Zeit Streit, ob ein Arztzugleich Heilpraktiker sein kann. Der hessische Verwaltungsgerichtshofhat mit einem Urt. v. 24.11.1992 (MedR 1993, 240 ff.) die Frage jedochbejaht, vgl. dazu auch Taupitz, MedR 1993, 219.

6 Schulte/Waechter, MedR 2000, 78, 81.7 Zum Befund Taupitz, NJW 1991, 1505.8 Eberhardt, VersR1986, 110, 111.9 Vgl. dazu Fn. 14.10 In Deutschland und Österreich ist die Zahl der alternativen Behandlungs-

methoden besonders groß. Zu ihnen gehören etwa die Zellulartherapie,Ozontherapie, Chelattherapie, Eigenblut- und Eigenharnbehandlung, dieSymbioselenkung, die Magnetfeldtherapie, die Sauerstoff-Mehrschritt-The-rapie, die Ganzheits-Zellregenerationstherapie, die Bioresonanztherapie,die Bachsche Blütentherapie sowie die Homöopathie und die Anthroposo-phische Medizin. Zwischen den Verfahren gibt es Abstufungen ihrer Plau-sibilität, aber allen genannten Verfahren ist gemeinsam, dass sie keineüberprüfbaren diagnostischen Ergebnisse liefern und keine überprüfbaretherapeutische Wirksamkeit besitzen. Drei therapeutische Verfahren, diePhytotherapie (Therapie mit pflanzlichen Arzneimitteln), die Homöopa-thie und die Anthroposophie nehmen jedoch insofern eine gewisseSonderstellung ein, als sie durch das Arzneimittelgesetz als „besondereTherapierichtungen“ anerkannt werden.

11 Vgl. zum Problem Bockelmann, NJW 1966, 1145 ff; Taupitz, NJW 1991,1505; Eberhardt, VersR 1986, 110, 115; Ouaas/Zuck, Medizinrecht 2005,Rn. 9; Laufs/Uhlenbruck-Laufs, Handbuch des Arztrechts, § 10 Rn. 16; Rie-ger/Hespeler/Küntzel-Rieger, Lexikon des Arztrechts, Nr. 2460 Rn. 20 f.;Tadayon, ZMGR, 2005, 346, 347; Klose, KJ 2007, 35 ff.

12 Klose, KJ 2007, 35, 42.

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13 Ein typisches Beispiel, das der Tagesspiegel Nr. 13534 v. 31.03.1990 auf-greift, ist die Verurteilung einer Frau wegen Verstoßes gegen das HeilprG,die krebskranken Frauen für jeweils 4000-5000 DM Heilung durch überna-türliche Kräfte versprach.

14 Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat bezeichnenderweise dieSchaffung einer zunehmend geforderten bundeseinheitlichen Überprü-fungsordnung für Heilpraktiker gerade deshalb abgelehnt, weil eine solcheOrdnung der Bevölkerung den falschen Eindruck vermitteln würde (derbisher offenbar nicht besteht?), der Heilpraktiker sei staatlich geprüft (BR-Drucks. 523/1/87, vgl. dazu Taupitz, NJW 1991, 1505, 1507).

15 Zur Verdreifachung der Zulassungsziffern ab 1970 vgl. Eberhardt, VersR1986, 110; Schneider, Arbeit und Beruf 10/2004, 306.

16 Vgl. dazu Kuni/Oepen/Becker, Der Arzt im Krankenhaus 5, 1982, 286 ff.17 Vgl. hierzu etwa den Sirius-Fall (BGHSt 32, 38 ff. = NJW 1983, 2579), der

nur zufällig nicht tödlich endete.18 Schulte/Waechter, MedR 2000, 78, 79.19 Siehe dazu den Beitrag von Staak/Mitmeyer/Raff, Beiträge zur gerichtlichen

Medizin 38,1980, S. 33 ff.20 Dünisch, Das Recht des Heilpraktikerberufs und der nichtärztlichen Heil-

kundeausübung. Kommentar ,1998, Vor § 1 Rn. 1.21 Vgl. dazu Arndt, Heilpraktikerrecht – Entstehung, Funktionswandel,

Berufszulassungsregelung 1985, S. 66.22 Müller, Kurierfreiheit und Kurpfuschertum. Kurzbücher der Medizin, Bd. 3,

1929, Abschnitt I.23 Siehe hierzu Riese, Zur Heiltätigkeit ohne ärztliche Approbation, 1979,

S. 28.24 Zwar warnt die 1903 gegründete „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung

des Kurpfuschertums“ vor unseriösen Heilern und Behandlungsmethoden,sammelte belastendes Material und erstattete Anzeige gegen einige alter-native Heiler (vgl. dazu Freder, Die Geschichte des Heilpraktikerberufs inDeutschland, 2003, S. 68), 1908/9 scheiterte sie jedoch mit dem Versuch,eine dem § 35 GewO entsprechende Untersagungsmöglichkeit einzufüh-ren.

25 Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung(Heilpraktikergesetz) v. 17.02.1939 (RGBl. I, S. 251).

26 Aus der Begründung zum Heilpraktikergesetz (Reichs- und StaatsanzeigerNr. 50 v. 28.02.1939, S. 2).

27 Vgl. dazu die Stellungnahme des Fachverbandes der deutschen Heilprakti-ker unter http://www.heilpraktiker.org/mtglbrosch/geschichte.htm(zuletzt abgerufen am 15.07.2008).

28 Eberhardt, VersR 1986, 110; Homburg, MDR 1994, 339; Dünisch, Das Rechtdes Heilpraktikerberufs und der nichtärztlichen Heilkundeausbildung,Kommentar 1998, § 1 Rn. 2.1.; Klose, KJ 2007, 35, 42.

29 Der Entwurf eines Heilpraktikergesetzes aus dem Jahr 1933 hatte noch dieSchaffung eines Standes sog. „approbierter Heilpraktiker“ vorgesehen, vgl.dazu Gillhausen, Das Berufsrecht der Heilpraktiker, 1953, S. 26.

zenheilkunde sog. „alternative Medizin“ betreiben, auch„Kurpfuscher“ und „Scharlatane“ mischen.13 Die Politik – soscheint es – ist dagegen machtlos oder will sich des Themasnicht annehmen.14 Die Regelungsbedürftigkeit von inhalt-lichen Zulassungsvorgaben, die an bestimmte (vereinheit-lichte) Ausbildungsinhalte anknüpfen, welche zumindestmedizinische Grundkenntnisse voraussetzen, wird nichtgesehen und damit das hohe Gut der Patientengesundheiteiner Gefährdung preisgegeben, die die meisten europäischenNachbarn nicht dulden.

Sicherlich liegt der in den letzten Jahrzehnten zu verzeich-nende Boom15 der Heilpraktikerbranche in Deutschlandauch und gerade in dieser Marktliberalisierung begründet. Daes auf dem Sektor der nichtärztlichen Heilbehandlung(genauso wie auf dem der ärztlichen Gesundheitsversorgung)um viel Geld geht, ist die Motivation zur „Marktabschöp-fung“ nachvollziehbar groß. Sie ist legitim, und die Tätigkeitdes Heilpraktikers kann eine sinnvolle Ergänzung des ärzt-lichen Handlungsprogramms darstellen, solange der sorgfäl-tige Umgang mit dem hohen Rechtsgut der Patientengesund-heit durch die Professionalität des „Helfenden“ sichergestelltist.16 Ist dies nicht der Fall – was aufgrund der gegenwärtigenRechtslage in Deutschland leider zu konstatieren ist –, dannerhöht sich damit zwangsläufig das Risiko schwerer, ggf.sogar tödlicher „Pannen.“17

I. Zur Geschichte der Heilkunde ohne ärztliche Approbationin Deutschland

Bislang sah sich der Staat in Deutschland nicht in der Lage,eine angemessene Risikominimierung zugunsten des Patien-ten hinsichtlich der Tätigkeit der Heilpraktiker zu betreiben.Das derzeit noch gültige Heilpraktikergesetz (HeilprG) stelltlediglich eine „Pseudoreglementierung“ dar, der sich auch dieJudikatur ohnmächtig gegenübersieht.

Die Geschichte der Regulierung der Paramedizin ist dabei sowechselvoll wie der Umgang mit dem Heilpraktikergesetzselbst.18 Aufgrund der Gefahren, die von der Tätigkeit nicht-approbierter Heiler für die Volksgesundheit ausgehen (kön-nen),19 sah sich der Gesetzgeber bereits in der ersten Hälftedes letzten Jahrhunderts veranlasst, das Ausüben der Heil-kunde durch „Unkundige“ zu verbieten.20 Erst 1869 wurdedas bis dato auch in Deutschland geltende „Kurpfuscherei-verbot“ aufgehoben, es herrschte ab dieser Zeit Kurierfrei-heit.21 Die Aufhebung des Kurpfuscherverbots ging allerdingsmit der idealistischen Einschätzung einher, dass „das deut-sche Volk nunmehr gebildet genug sein würde, den wissen-schaftlichen Ärzten stets den Vorzug vor den Pfuschern zugeben“.22 Dem war jedoch nicht so. Es zeigte sich sehrschnell, dass (auch und gerade in Zeiten schlechter Wirt-schaftslage) der Zulauf zu alternativen Heilern groß blieb. Indiesem Zusammenhang kam auch das Thema in Deutschlandwieder ins Gespräch. In einer Abhandlung über „Kurierfrei-heit und Kurpfuschertum“ fertigte beispielsweise Müller 1929eine Untersuchung mit statistischen Daten an und stellteangesichts des oft „unglaublichen, meist jeden medizini-schen Wertes baren Erkenntnis- und Behandlungsverfahrens“der alternativen Heiler die Frage, was denn eigentlich denLaien zum Nichtapprobierten statt zu dem wissenschaftlicharbeitenden Arzt treibe. Er führte hierfür die – nach wie vorgültigen23 – folgenden Gründe an: 1. die Ohnmacht der Ärzteund ärztlicher Tätigkeit gegenüber unheilbaren Krankheiten,2. der Eindruck bei dem einfachen Mann, dass hinter denAnpreisungen und Belobigungen eines solchen Heilkundigen

doch etwas stecken müsse und 3. der mit oft rücksichtsloserDemagogie geführte Kampf der nicht approbierten Heilerund ihrer Interessenverbände gegen die Schulmedizin, dieeben auch nicht alle Krankheiten heilen könne.

Unterfielen Heilbehandlungen bis zum Ende der WeimarerRepublik der Gewerbefreiheit und waren damit „Jedermann-Tätigkeiten“,24 änderte sich dies in der Zeit des Nationalsozi-alismus. Mit der Einführung des Heilpraktikergesetzes vom17.02.193925 war die Ausübung der Heilkunde durch Nicht-approbierte nur noch Personen gestattet, die entweder bereitsInhaber einer entsprechenden Erlaubnis waren (§ 2 I HeilprGa. F.) oder sich bereits auf den Schulen des Reichsheilprakti-kerbundes in Ausbildung zum Heilpraktiker befanden (§ 1 IIder I. DVO HeilprG). In der Gesetzesbegründung hieß esdazu: „In Zukunft [d. h. nach Ablauf der Antragsfrist am 1.April 1939] wird eine Erlaubnis zur Berufsausübung als Heil-praktiker nicht mehr erteilt werden.“26 § 4 HeilprG a. F. ver-bot es, Ausbildungsstätten für Personen, die sich der Aus-übung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes widmen woll-ten, einzurichten oder zu unterhalten. § 2 II HeilprG a. F. sahstattdessen für jüngere, besonders geeignete Personen dieZulassung zum Medizinstudium „unter erleichterten Bedin-gungen“ vor. Das HeilprG bildete damit zugleich „Wiege undGrab“ der deutschen Heilpraktikerschaft,27 denn es beinhal-tete eine grundsätzliche Berufszugangssperre mit einer besitz-standswahrenden Übergangsregelung.28 Mit Erlöschen derletzten Erlaubnis wäre der Heilpraktikerberuf ausgestorben,an seine Stelle ein Ärztemonopol getreten.29

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Nach der Entnazifizierung durch das Kontrollrats-GesetzNr. 230 und die Kontrollratsproklamation Nr. 331 galt dasHeilprG fort; seit dem Erlass des Grundgesetzes allerdings nurnach Maßgabe des Art. 123 I GG, d.h. nur insoweit, als esdem GG nicht widerspricht. Die bisherige Handhabung desHeilprG wurde vom BVerwG32 sodann als mit Art. 12 GG fürunvereinbar erklärt. Dabei ging es dem BVerwG nicht darumklarzustellen, dass es unzulässig ist, den Beruf des Heilprakti-kers ganz zu verbieten oder an hohe Zulassungskriterien zuknüpfen. Es wies insoweit in seinem Urteil ausdrücklichdarauf hin, dass Art. 12 GG dem Gesetzgeber nicht verbiete,die Zulassung der Berufsaufnahme an die Erfüllung subjekti-ver Voraussetzungen (besondere Fähigkeiten und Kenntnisse)zu knüpfen, d. h. an die Absolvierung von Ausbildungenund Prüfungen. Ausbildungs- und Prüfungsvoraussetzungenlegitimieren sich vielmehr – wie bei allen anderen medizini-schen Berufen – aus der Sache heraus.33 Dem Einzelnen wirdin Gestalt einer vorgeschriebenen formalen Ausbildung nuretwas zugemutet, was er grundsätzlich der Sache nach ohne-hin auf sich nehmen müsste, wenn er den Beruf ordnungsge-mäß praktizieren will.34 Gesetzliche Regelungen der Zulas-sung zu ärztlichen und anderen Heilberufen sieht übrigensArt. 74 Nr. 19 GG35 ausdrücklich vor. Der Gesetzgeber ist also„rechtlich durchaus in der Lage, für die berufsmäßige Aus-übung der Heilkunde ein abgeschlossenes medizinisches Stu-dium zu verlangen“.36 Ein (gewissermaßen folgerichtiges)Kurierverbot für Heilkundler, das die Befugnis zur Ausübungder Heilkunde ausschließlich den approbierten Ärzten über-ließe, wäre also mit Art. 12 GG vereinbar.37 Für unvereinbarmit Art. 12 GG wurde durch das BVerwG lediglich jene alteBestimmung des § 2 I HeilprG gehalten, wonach die Erlaub-nis zur Ausübung der Heilkunde nicht approbierten Perso-nen, welche die Heilkunde bisher (d. h. bis zum Inkrafttretendes HeilprG) nicht ausgeübt haben, nur in besonders begrün-deten Ausnahmefällen, die im freien Ermessen der Behördeliegen, erteilt werden darf. Lediglich diese Ermessensfreiheitder Behörde bei der Vergabe der Ausnahmegenehmigung – so dasBVerwG – tastet die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 GGin ihrem Wesensgehalt an.38

Judikatur und Exekutive war damit aufgegeben, das HeilprGgrundrechtskonform anzuwenden. Das ist jedoch gröblichmisslungen. Denn man verabsäumte es, klare Kriterien für dieZulassung zum Heilpraktikerberuf – die sinnigerweise an einefachliche Qualifikation hätten anknüpfen müssen – einzufüh-ren. Das HeilprG wurde – paradoxerweise39 – vielmehr derge-stalt angewandt, dass die Ausnahmevorschrift zur Zulassungin eine Regelzulassung umfunktioniert wurde.40 Der Sachenach gewährt der gegenwärtige Rechtszustand wieder „Kurier-freiheit“.41 Zwar stimmt er nicht ganz mit der Rechtslageüberein, die vor dem Erlass des HeilprG bestand. Denn andersals früher ist es nicht mehr dem bloßen Belieben des Einzel-nen überlassen, ob er eine heilkundliche Praxis eröffnen undausüben will. Es bedarf der Erlaubnis. Aber die Voraussetzun-gen, von denen die Erteilung der Erlaubnis abhängt, verbür-gen gerade nicht, worauf es eigentlich ankommen sollte: dieFernhaltung fachlich nicht qualifizierter Personen vom Heil-beruf.42 Überdies steht der Behörde bei der Feststellung desMerkmals des „Nichtbestehens einer Gefahr für die Allge-meinheit“ seitens des Antragstellers ein gesetzlich nicht nähergeregelter Beurteilungsspielraum zu.43 Das frühere Problemdes Ermessensspielraums der Behörde auf der Rechtsfolgensei-te hat sich damit nur auf den Tatbestand der Zulassungsrege-lung, der unbestimmt ist, verlagert. Bereinigt wurde das Prob-lem des „behördlichen Spielraums“ damit nicht.

II. Zur derzeitigen gesetzlichen Ausgangsbasis (HeilprG)

Die Zulassung und die Zulassungsvoraussetzungen sowie dieRücknahme der Zulassung sind im HeilprG und deren Durch-führungsbestimmungen geregelt.

1. Erstes Problem: unklarer Regelungsgegenstand – Offenheitdes „Heilkundebegriffs”

Ein erstes Problem hinsichtlich der im Sinne des Patienten-schutzes gebotenen Reglementierung des Heilpraktikerwe-sens stellt sich schon hinsichtlich des unklaren Regelungsge-genstandes des HeilprG. Die Ausübung der „Heilkunde“ ist in§ 1 HeilprG zwar unter eine Erlaubnispflicht und deren unbe-rechtigter Einsatz in § 5 HeilprG unter Strafe gestellt. Jedochgibt das Gesetz selbst nur eine unzureichende Definition fürden Begriff Heilkunde,44 sodass bereits unklar ist, welcheTätigkeit genau darunterfällt.45 § 1 II HeilprG umschreibtHeilkunde als „jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenom-mene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung vonKrankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen“.

Die Praxis hat aber bereits in der Vergangenheit gezeigt, dassder bis heute gültige Wortlaut des § 1 II HeilprG teilweise zueng, teilweise zu weit gefasst ist.46 Zu eng ist er, weil kosmeti-sche oder prophylaktische Maßnahmen, deren Erfassung durchdas Gesetz als wünschenswert erscheint, nicht hierunter fal-len.47 Als zu weit geraten gilt die Vorschrift in Fachkreisenvor dem Hintergrund, dass auch rein handwerkliche Tätigkei-ten, bspw. die Tätigkeiten der Orthopädiemechaniker, derorthopädischen Schuhmacher, der Augenoptiker48 und derHörgeräteakustiker begrifflich unter den sachlichen Anwen-dungsbereich des Gesetzes zu subsumieren wären. Gleichesgilt für sog. Heilhilfstätigkeiten, die etwa von Kranken-schwestern, Krankenpflegern, medizinisch-technischenAssistentinnen, Sanitätern, Laboranten, Röntgenphotogra-phen, Diätköchen etc. vollführt werden. Denn in diesenBerufen gibt es keine Verrichtung, die nicht auf irgendeineWeise im Dienste der Diagnose oder Therapie der mensch-lichen Krankheiten, Leiden und Körperschäden steht. Siedeshalb den beschränkenden Vorschriften des HeilprG zuunterwerfen, hieße jedoch den Stillstand der gesamten

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30 Art. I Nr. 1 des Gesetzes v. 10.10.1945 erklärte die NSDAP und ihre Gliede-rungen für abgeschafft und ungesetzlich.

31 Art. I der Proklamation v. 20.10.1945 verbietet die Ungleichbehandlungaufgrund von Rasse, Staatsangehörigkeit und Religion. Eine expliziteÄnderung des HeilprG erfolgte nicht; das war Sache der Gerichte.

32 BVerwG 4, 250 ff.33 Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1147.34 BVerfGE 7, 377 ff, 406 f. = NJW 1958, 1035.35 Zu diesem Argument vgl. Homburg, MDR 1994, 339.36 BVerwG 4, 250, 255.37 BVerwG, ebenda; vgl. dazu auch Bockelmann, NJW 1966, 1147. Dies ver-

kennt Homburg, MDR 1994, 339, 340, der meint, ein Ärztemonopol sei sit-tenwidrig.

38 BVerwG 4, 250, 255 f.39 Tadayon, ZMGR 2005, 346; Ouaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, Rn. 5; zur

geschichtlichen Entwicklung siehe auch Donhauser, RPG 2000, 109 ff.40 Klose, KJ 2007, 35, 42.41 Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1148.42 Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1149.43 Homburg, MDR 1994, 339.44 Eberhardt, VersR 1986, 110.45 Zu diesem Befund siehe Schulte/Waechter, MedR 2000, 78.46 Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1146; Eberhard, VersR 1986, 110.47 Vgl. dazu Bockelmann, NJW 1966, 1146; Eberhard, VersR 1986, 110. Aus-

führlich zum Beruf der Kosmetikerin Wolf, MedR 1989, 57 ff.48 Siehe zur Nichtanwendbarkeit des HeilprG auf Augenoptiker BVerwG, Urt.

v. 20.01.1966 – I C 73/64 = NJW 1966, 1187 ff.

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49 Was auch deshalb widersinnig wäre, da es hier zumeist besondere Zulas-sungsregelungen mit Fachprüfungen gibt.

50 OLG Königsberg, GoltdA 72, 153; BVerwG NJW 1966, 1187, 1189; Dünisch,Das Recht des Heilpraktikerberufs und der nichtärztlichen Heilkundeausü-bung. Kommentar, 1998, § 1 Rn. 6.1.; Bockelmann, NJW 1966, 1146; Schul-te/Waechter, MedR 2000, 78, 80. Letzteres hat der BGH auch in eineraktuelleren Entscheidung bestätigt, vgl. dazu BGH NJW 1999, 865, 866.

51 BGHSt 8, 237 ff.; BGH NJW 1978, 599 f.; zu einer einmaligen Abweichungvgl. aber BGH NJW 1987, 2928, 2929.

52 Vgl. dazu BGH NJW 1981, 2008, 2009.53 Wegener, MedR 1990, 250, 251.54 Homburg, MDR 1994, 339.55 Vgl. dazu § 1 der ersten DVO zum Heilpraktikergesetz v. 18.02.1939, RGBL.

I, S. 259.56 Klose, KJ 2007, 35, 42.57 2. DVO zum Heilpraktikergesetz v. 03.07.1941 (RGBl. I, S. 368).58 Zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung v. 04.12.2002 (BGBl. I,

S. 4456).59 BVerwG 4, 250 ff.; Zum durchaus kritisch reflektierten Befund vgl. Eber-

hardt, VersR 1986, 110, 111; Rabe, Berufskunde für Heilpraktiker, 1978,S. 27 ff.; Oepen, Zur Heiltätigkeit ohne ärztliche Approbation, 1982, S. 133;Fromm, Ausübung der Heilkunde durch Nichtärzte, Deutsches Ärzteblatt1969, 1712; Taupitz, NJW 1991, 1505, 1507.

60 Klose, KJ 2007, 35, 42.

Gesundheitspflege herbeizuführen,49 was nicht der Intentiondes HeilprG entspricht.50

Nachdenkenswert ist freilich das Argument, dass das nachdem Gesetzeswortlaut mögliche weite Begriffsverständnisvon „Heilkunde“ gerade im Hinblick auf den umfassendsicherzustellenden Patientenschutz eine extensive Auslegunggebiete, gerade dann, wenn keine Spezialregelungen vorhan-den sind. Obgleich das mit dieser Argumentation angestreb-te Ziel des umfassenden Patientenschutzes richtig ist, birgtjedoch die unbeschränkte Definition der heilkundlichenTätigkeit auch Gefahren im Hinblick auf absurde Fehlinter-pretationen. Das zeigt etwa die Rechtsprechung des BGH inStrafsachen. So genügt es nach Auffassung dieses Gerichts fürein heilkundliches (und damit erlaubnispflichtiges) Tätigwer-den, wenn durch die wie auch immer geartete Tätigkeit derbehandelnden Person beim Hilfesuchenden der bloße Eindruckerweckt werde, ihm werde Heilung oder Erleichterungzuteil.51 Dass diese „Eindruckstheorie“ in die Sackgasse führt,zeigt sich bereits daran, dass der Umstand, ob eine Tätigkeiterlaubt ist oder nicht, schon aus Gründen der Rechtssicher-heit nicht vom subjektiven Patientenempfinden abhängendarf. Außerdem verbietet das Schutzziel der Volksgesund-heit,52 den Begriff der Heilkunde (als Regelungsgegenstand)zu subjektivieren,53 denn dieses Gut steht nicht zur indivi-duellen Disposition. Es ist vielmehr die Gesetzgebung bzw.Rechtsprechung gefordert, die notwendigen Konkretisierun-gen des Regelungsgegenstandes anhand objektivierter Krite-rien festzulegen.

2. Zweites Problem: Fehlende Qualitätssicherung über das Zu-lassungsverfahren

Ein zweites Problem im Umgang mit dem HeilprG und sei-nen Durchführungsbestimmungen, das viel schwerer wiegt,stellt sich im Hinblick auf die fehlende Qualitätssicherungdurch das Zulassungsverfahren. Dies hat freilich historischeGründe. Gesetzgeber und Rechtsprechung haben es jedochverabsäumt, diese zu „bereinigen“.

In der ursprünglichen Fassung des HeilprG war die Erlaub-niserteilung betreffend der Zulassung zum Heilpraktikerberufnur als Übergangsregelung konzipiert, denn das Gesetz wardarauf gerichtet, den Berufsstand abzuschaffen.54 Zwarerfolgte für eine kurze Zeit eine Zulassungsprüfung durcheine staatliche Stelle,55 da jedoch das Gesetz nur noch dieübergangsweise Zulassung der Heilpraktiker regelte, wurdekeine Zeit darauf verwendet, Ausbildung und Prüfung näherfestzulegen.56 Für die Übergangskandidaten stellte dasHeilprG i. V. m. § 2 I g der 1. DVO HeilprG lediglich auf die„berufliche Eignung“ ab, ohne diese näher zu konkretisieren.Ab 1941 wurde die Erlaubnis nicht mehr erteilt, wenn sichaus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten desAntragstellers ergab, dass die Ausübung der Heilkunde durchden Betreffenden eine „Gefahr für die Volksgesundheit“bedeuten würde, was ohne Vorhandensein der ärztlichenApprobation stets angenommen wurde (§ 2 I i der 2. DVOHeilprG).57

Jenseits dieser im Nationalsozialismus ausgeübten Verwal-tungspraxis blieb durch den Gesetzgeber und die Recht-sprechung auch später ungeklärt, was genau für erforderlichgehalten wurde, um zu verhindern, dass die Ausübung derHeilkunde eine Gefahr für die Volksgesundheit heraufbe-schwört. Denn der Bundesgesetzgeber hat hierzu keine nähe-ren Konkretisierungen vorgenommen. § 1 III HeilprG a. F.

verweist für die Zulassung zum Heilpraktiker auf die Durch-führungsbestimmungen, gemeint sind damit die Regelungender Ersten DVO zum HeilprG vom 18.02.1939,58 die in ihrem§ 2 das Nähere regeln. Eine Erlaubnis wird danach nichterteilt, wenn: – der Antragsteller das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet

hat, – er nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, – er nicht mindestens eine abgeschlossene Volksschulausbil-

dung nachweisen kann,– ihm die sittliche Reife fehlt (insbesondere wegen schwerer

strafrechtlicher oder sittlicher Verfehlungen), – er in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung des Berufes

nicht geeignet ist, – mit Sicherheit anzunehmen ist, dass er die Heilkunde ne-

ben einem anderen Beruf ausüben wird, – oder wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und

Fähigkeiten des Antragsstellers durch das Gesundheitsamtergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betref-fenden eine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten wür-de.

Während in der Zeit des Nationalsozialismus die Gefahr fürVolksgesundheit bei fehlender Approbation ab dem Zeit-punkt des Auslaufens der Übergangsfrist stets bejaht wurdeund damit der Berufsstand der Heilpraktiker auszusterbendrohte, ist es in der Zeit nach dem Zusammenbruch nichtetwa dazu gekommen, dass die Zulassung zwar auch Nicht-Ärzten erteilt wurde (bzw. wird), daran aber hohe fachlicheKenntnisse zur Abwehr von Gefahren für die Volksgesund-heit gestellt werden. Fachliche Anforderungen sind nämlichnach der Lesart von Rechtsprechung und Literatur für dieZulassung zum Heilpraktiker aufgrund der alten grundrechts-konform „umzuinterpretierenden“ bundesrechtlichen Rege-lungsvorgaben gerade nicht erforderlich.59 Leider haben sichauch die Bundesländer, denen die Ausführung der Gesetzeobliegt, nicht auf eine einheitliche Konkretisierung der unbe-stimmten bundesrechtlichen Vorgaben im Sinne der Bindungder Zulassung an medizinisches Fachwissens bei der Admi-nistration des Heilpraktikerwesens verständigen können.60

Für die Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessenregeln beispielsweise entsprechende Erlasse der Innenminis-ter vom 06.07.1953 und vom 10.05.1953 sowie vom30.10.1951, dass die bezüglich der Zulassung einzufordern-den Fähigkeiten und Kenntnisse keine ausgesprochene Fach-

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prüfung erfordern.61 In einigen Bundesländern ist es nachder Praxis der jeweiligen Gesundheitsämter, die nach eige-nem Gutdünken62 handeln, auch schon ausreichend, wennder Bewerber lediglich Kenntnisse von den einschlägigenRechtsvorschriften hat.63 Da es gewaltige Unterschiede inden Prüfungsanforderungen gab und es diese trotz der 1992erlassenen „Leitlinien64 des Bundesministeriums für die Über-prüfung von Heilpraktikern“65 noch immer gibt, bedingt dieseinen regen Prüfungstourismus. Im Vergleich der Bundeslän-der schwanken die Durchfallquoten zwischen 10 % und 90%.66 Um eine wirkliche Vereinheitlichung und qualitativ aus-sagekräftige Zulassung sicherzustellen, bedarf es daher nichtnur ministerieller Leitlinienvorgaben des Bundes, sonderngesetzlicher Bestimmungen im HeilprG, die inhaltliche Erfor-dernisse ohne Beurteilungsspielräume festlegen. Dass die der-zeitige Zulassungspraxis angesichts des auf dem Spiel stehen-den Rechtsgutes und des Schutzzweckes des HeilprG („Volks-gesundheit“) unbefriedigend ist,67 liegt wohl auf der Hand,gerade wenn man sich vergegenwärtigt, dass Arzt und Heil-praktiker ungeachtet ihrer sonstigen Unterschiede sich inihren Tätigkeitsbereichen gleichen.68

B. Problemlösungsvorschlag

Vorschläge zur Neuregelung des Heilpraktikerwesens werdenimmer wieder erhoben, finden jedoch weder in Politik nochWissenschaft genügend Widerhall. Andererseits ist es offen-sichtlich, dass sich etwas ändern muss und m. E. auch, wasdas ist. Die Problemlösung hat an den beiden referierten„Schwachpunkten“ des HeilprG anzusetzen. Es bedarfzunächst einer genaueren Festlegung des sachlichen Anwen-dungsbereiches des Gesetzes, d. h. einer genaueren Bestim-mung, was „Heilkunde“ ist und was somit in den sachlichenAnwendungsbereich des HeilprG fällt.

Anmerkung: Alles andere (was berufliche bzw. gewerbsmäßigpraktizierte Heilkundeausübung beinhaltet und nicht durchdie staatliche Zugangsprüfung läuft), stellt Kurpfuscherei darund ist – weil unlizenzierte Heilbehandlung – verboten.Etwaige auf derartige Behandlungen gezahlte Entgelte sindwegen Nichtigkeit des Behandlungsvertrages (§ 134 BGB)kondizierbar.69

Es bringt freilich wenig, so gut wie alles, was Heilkunde ist,dem Anwendungsbereich des HeilprG zu unterstellen, wenndie Anforderungen an die Zulassung zum Heilpraktiker laschund fachlich substanzlos sind.70 Um dem Zulassungsverfah-ren überhaupt einen Sinn zu geben, der dem Anspruch desPatientenschutzes (Wahrung der „Volksgesundheit“) gerechtwird, sind Ausbildungsordnungen und Zulassungsvorschrif-ten zu entwickeln, die auf die hohen Anforderungen desBerufes tatsächlich zugeschnitten sind.

I. Genaue (objektivierte) Festlegung des Regelungsgegen-standes „Heilkunde“

Um zu der notwendigen, an objektiven Kriterien ausgerichte-ten Klärung des Begriffes „Heilkunde“ zu gelangen, gehtbereits heute die h. M. davon aus, dass die Definition in § 1II HeilprG dahingehend zu ergänzen ist, dass nur solche Ver-richtungen vom Gesetz als erlaubnispflichtig erfasst werden,die medizinische Sachkenntnisse erfordern bzw. gesundheitlicheSchäden verursachen können.71

Freilich handelt es sich auch hier wieder um einen unbe-stimmten Rechtsbegriff. Herauszustellen ist insoweit, dass es

zwar nicht möglich ist, einen abschließenden Katalog vonVerrichtungen aufzustellen, die medizinische Sachkenntnisseerfordern, da das medizinische Betätigungsfeld aufgrundgestiegener Diagnose- und Therapiemöglichkeiten stetigwächst, aber auch die jeweilige Konstitution des Patientenunterschiedlich sein kann. Allerdings beinhaltet diese Klar-stellung einen wichtigen Ansatz: Sie macht deutlich, dass esobjektiv darauf ankommen muss, ob für die effektive Behand-lung des Patienten (aus der Sicht des durchschnittlichen Bür-gers), hinsichtlich der Art der behandelten Fälle, eine Inan-spruchnahme eines medizinischen Fachmanns erforderlich istoder nicht. Diese begriffliche Klarstellung ist schon aus Grün-den der Rechtssicherheit, zur Umgrenzung des sachlichenAnwendungsbereiches des HeilprG, geboten.

Im Weiteren lässt sich diese Vorgabe wie folgt konkretisieren:Der Rat und die Behandlung durch einen Fachmann sindimmer dann erforderlich, wenn bei einem Patienten einpathologischer Zustand vorliegt, bei dem keine Selbstheilungdurch die natürlichen Kräfte des Körpers zu erwarten ist undein Zuwarten Diagnose bzw. Therapie erschweren würde (sog.ernsthafte, behandlungsbedürftige Krankheit).

Freilich sind auch Fälle denkbar, in denen beim Patienten kein(ernsthafter) „krankhafter Zustand“ auszumachen ist, der„Patient“ jedoch trotzdem eine Behandlung erbittet. Insoweithat das HeilprG bzw. seine Handhabung sicherzustellen, dassjede Durchführung eines mehr als unerheblichen invasivenEingriffs in Bezug auf Körper und Geist des Patienten einemedizinische Profession erfordert und diese Behandlungebenfalls unter die Zulassungspflicht nach dem HeilprG fällt.

II. Arbeitsaufteilung zwischen Arzt und Heilpraktiker: ein „Prä“für den Arzt

Der Fachmann, dessen Sachverstand und Dienst im Fall einesernsthaften pathologischen Zustandes bzw. eines invasivenEingriffes in Anspruch genommen werden muss, kann inso-fern Arzt, aber eben – bei entsprechender Qualifikation –auch Heilpraktiker sein. Daraus leitet sich dann aber die Frageder sinnvollen Arbeitsteilung zwischen Arzt und Heilprakti-ker ab. M. E. muss diese durch ein eindeutiges „Prä“ für denwissenschaftlich agierenden, umfassend ausgebildeten Arztgekennzeichnet sein.72 Hierzu bedarf es einer gesetzlichen

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61 Abgedruckt sind die Richtlinien in Form des Runderlasses bei Federhen, DerArzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes, 1963, S. 128 ff.

62 Homburg, MDR 1994, 339, 340.63 Hierzu Franz, Naturheilmittel und Recht, 1993, S. 165; Klose, KJ 2007, 35,

42 Fn. 52.64 Diese haben rechtlich keine genügende Bindungskraft. Deshalb schlagen

sie auch nicht hinsichtlich der Administration der Zulassungen überall(praktisch wirksam) durch.

65 Verordnung v. 23.03.1992 (BGBl. 719).66 Zur Schwankungsbreite siehe Schneider, Arzt und Beruf 10/2004, 306, 308.67 Zur heftigen Kritik am derzeitigen Rechtszustand siehe Doepner, GRUR 1981,

546, 547; Kühne/Schwaiger, Zum Recht der Heilbehandlung durch Psycholo-gen, 1976, S. 32; Oepen, MedWelt 30, 1979, 632, 632 ff.; Bockelmann, NJW1966, 1145 ff; Tadayon, ZMGR 2005, 346, 346; Klose, KJ 2007, 35 ff.

68 Eberhardt, VersR 1986, 110, 111.69 So insbesondere OLG München, Urt. v. 29.02.1984, Az.: 20 U 3369/83 =

NJW 1984, 1826 f.70 So aber leider Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1150.71 BVerwG NJW 1959, 833; 1966, 418; Eberhardt, VersR 1986, 110; Dünisch,

Das Recht des Heilpraktikerberufs und der nichtärztlichen Heilkundeaus-übung. Kommentar, 1998, § 1 Rn. 6.3; Homburger, MDR 1994, 339, 340;Wolf, MedR 1989, 59; Bockelmann, NJW 1966, 1145 ff.; Schulte/Waechter,MedR 2000, 78, 80.

72 Art. 4 Nr. 7 der Berufsordnung der Heilpraktiker (BOH) schreibt heutebereits vor, dass der Patient in indizierten Fällen auf den Arzt verwiesenwerden muss. Nur welche Fälle „indiziert“ sind, lässt sich durch einenHeilpraktiker, dem eine umfassende medizinische Ausbildung fehlt, frei-lich schwer feststellen.

Tamm, P lädoyer für e ine Neurege lung des He i lprakt ikergesetzes | A U F S Ä T Z E

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73 Staak/Mitmeyer/Raff, Beiträge zur gerichtlichen Medizin 38 1980; 33 ff.,stellte anlässlich einer statistischen Untersuchung bei Heilpraktikern all-gemein eine erhebliche Diskrepanz zwischen klinisch gesicherter Diagno-se und den von den Heilpraktikern eingesetzten diagnostischen und the-rapeutischen Maßnahmen fest; so auch Eberhardt, VersR 1986, 110, 1113.

74 Eberhardt, VersR 1986, 110, 113.75 Zurückhaltender Böhme, Pflege- & Krankenhausrecht 2/1999, 33, 35 f., der

lediglich fordert, dass dann, wenn eine erfolgversprechende Therapiemög-lichkeit seitens des Arztes überhaupt nicht zur Verfügung steht, dieserUmstand zugunsten der Zulässigkeit einer Behandlung mit alternativenMethoden in die Abwägung der Behandlungsteilung zwischen Arzt undHeilbehandler mit einfließt. Und: Wenn Lebensgefahr besteht, ist eineÜberprüfung des eigenen Vorgehens aufseiten des Behandelndenbesonders geboten.

76 Vgl. dazu § 1 II ZahnHKG v. 31.03.1952 (BGBl. I, 221).77 § 9 I Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten v. 23.07.1953

(BGBl. I, 700).78 § 8 I Reichsimpfgesetz v. 08.04.1934 (RGBl. I, 31), geändert durch das

Gesetz v. 02.03.1974 (BGBl. I, 469).79 § 4 Reichshebammengesetz v. 31.12.1938 (RGBl. I, 1893).80 § 48 I Gesetz zur Neuregelung des Arzneimittelrechts v. 24.08.1976 (BGBl.

I, 24, 25)81 Diese ist bereits berufssatzungsmäßig in Art. 17 der Berufsordnung der

Heilpraktiker (BOH) vom Fachverband Deutscher Heilpraktiker festgelegtworden.

82 So auch Taupitz, NJW 1991, 1505, 1507.83 Homburger, MDR 1994, 339, 340.

Festlegung, mit der der Heilpraktiker anzuweisen ist, denPatienten, der noch keine ärztliche Abklärung hat vorneh-men lassen, zunächst zum approbierten Arzt zu schicken, umdessen Befunde und Behandlungsvorschläge abzuwarten.73

Bei einer ernsthaften, behandlungsbedürftigen Krankheitbedarf es mithin zur Abgrenzung zwischen dem Betätigungs-feld von Arzt und Heilpraktiker einer eindeutigen Stellung-nahme des Gesetzgebers für die Schulmedizin. Erst wenndiese versagt oder (sei es auch nur im Hinblick auf den mit derParamedizin oft verbundenen Placeboeffekt)74 als nicht aus-reichend erscheint, sollte es zum Einsatz sog. „alternativer“Behandlungsmethoden kommen.75 Gesetzgeberisch geschul-det ist diese Positionierung nicht nur dem körperlichen undseelischen Patientenwohl, sondern auch der Vermögensfür-sorge des (oft verzweifelten) Patienten. Denn bislang ist –außer in manchen Tarifen privater Krankenkassen und inZusatztarifen der öffentlichen Gesundheitskassen – dieBehandlung durch den Heilpraktiker nicht durch das Leis-tungssystem der Krankenkassen gedeckt. Viele Heilpraktikergehen bereits in der hier präferierten Weise von sich aus vor,weil sie das gänzliche Ignorieren schulmedizinisch gestellterDiagnosen und Therapievorschläge für bedenklich halten.Vorgeschrieben ist diese Diagnose- und Therapiepraxis fürden Heilpraktiker jedoch nicht. Allerdings kann nur diesezweistufige Behandlungsaufteilung zu einer im Patienten-wohl stehenden sinnvollen Kombination von schulmedizini-scher und alternativer Behandlung führen.

Nach der bisherigen Gesetzeslage gibt es kein „Prä“ für denArzt, sondern wenige Bereiche, in denen der Gesetzgeber diealleinige Zuständigkeit von Ärzten und anderen Personenangeordnet hat, wo also der Heilpraktiker von Gesetzeswegen gar nicht tätig werden darf. Diese Grenzziehungensind allerdings nicht im HeilprG normiert, vielmehr hat sieder Gesetzgeber in Form eines bunten Mosaiks in anderenGesetzen einzelfallartig angesprochen. Heilpraktiker könnendanach nicht auf dem Gebiet der Zahnheilkunde tätig wer-den.76 Ferner darf der Heilpraktiker keine Geschlechtskrank-heiten oder Leiden der Geschlechtsorgane untersuchen oderbehandeln.77 Weiter darf er keine Pockenschutzimpfung vor-nehmen78 und keine Geburtshilfe ausüben.79 Außerdem darfer keine Betäubungsmittel und verschreibungspflichtigenMedikamente verordnen.80 Diese Betätigungsfelder solltenim Hinblick auf ihre Brisanz auch weiterhin der Ärzteschaftvorbehalten sein. Nur würde es sich empfehlen, in einem neuzu fassenden HeilprG diese ggf. mit entsprechenden Verwei-sen auf Spezialgesetze aus Transparenzgründen zu zitieren.

Werden „alternative Behandlungsmethoden“, die aus schul-medizinischer Sicht für die Behandlung der durch den Fach-mann diagnostizierten Krankheit noch nicht genügenderprobt bzw. untauglich sind, angewandt, ist der Heilprakti-ker durch eine entsprechende gesetzliche Vorgabe zu ver-pflichten, vor Beginn der Behandlung den Patienten darüberaufzuklären und dies zu dokumentieren. „ÜbermäßigeBehandlungshonorare“, die in Notlagensituationen gefordertwerden, sind der Klarstellung halber (sofern sie nichtunmittelbar bereits mit § 138 BGB in Verbindung gebrachtwerden können) überdies zu verbieten. Erwägenswert ist indiesem Zusammenhang, auch ein Verbot der „Vorauskasse“gesetzlich zu verankern. Ähnlich wie bei Ärzten bedarf eszudem der gesetzlichen Einforderung des Abschlusses einerBerufshaftpflichtversicherung.81

III. Qualitätssicherung über Berufsausbildung und Berufszulas-sung

Jenseits der notwendigen Arbeitsaufteilung zwischen Arztund Heilpraktiker gilt es, eine Qualitätssicherung über dieBerufsausbildung und Zulassung zu erreichen, die zugleichGrundlage für die spätere Herausbildung beruflicher Behand-lungsstandards sein kann und muss. Um eine Qualitätssiche-rung und damit eine Risikominimierung für den Patienten zuetablieren, ist es nun aber m. E. zwingend notwendig, einestaatlich anerkannte und überwachte Ausbildung für Heil-praktiker zu schaffen. Bei der Erstellung der Ausbildungsplä-ne kommt es dann darauf an, dass den angehenden Heil-praktikern medizinische Grundkenntnisse vermittelt werden.Hierfür ist zunächst auf die Kenntnisse der Schulmedizinabzustellen. Insoweit bedarf es einer Vermittlung von Fähig-keiten und Kenntnissen in Anatomie, Physiologie, Psycholo-gie, Pathologie und Diagnostik.82 Das Wort „Grundkennt-nisse“ ist hier freilich so zu verstehen, dass der zu ver-mittelnde Wissensstandard nicht an den des Arztes heranrei-chen muss und es auch wohl nicht kann, wenn daneben„Platz“ für Wissensvermittlung in alternativen Sparten blei-ben soll. In einem Nebenfach können und sollten dann gera-de „alternative Behandlungsmethoden“, die das Berufsbilddes Heilpraktikers mitprägen (beispielsweise Pflanzenheil-kunde, Bädertherapien, Massagepraktiken), vermittelt wer-den. Freilich ist auch die Belegung solcher Kurse zulässig, dieso „alternativ“ sind, dass sie überhaupt keinem wissenschaft-lichen Nachweis zugänglich sind. Diese können und solltenjedoch aus der staatlichen Prüfung ausgeklammert sein.Denn selbst harmlose, aber unwissenschaftliche Praktikenkönnen (falsche) Hoffnungen bei Patienten schüren, nämlichdie, dass sie wirkungsvoll sind und so dazu beitragen, dassggf. effektivere (schulmedizinische) Behandlungen unterlas-sen oder gar abgebrochen werden, weil man auf die ver-meintliche Profession des durch eine staatliche Zulassungs-prüfung gegangenen Heilpraktikers vertraut.83 Dieses Risikodarf der Staat nicht durch das Siegel der Zulassungsprüfungverharmlosen.

Mit der Heranführung des Ausbildungs- und Wissenstandesdes Heilpraktikers an den des Arztes würde es freilich zu einerAngleichung der beiden Berufsgruppen Arzt und Heilprakti-ker kommen. Bereits 1983 wies die Bundesregierung in ihrer

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Antwort auf die Frage, welche Anforderungen an die Ausbil-dung der Heilpraktiker zu stellen seien, auf die Probleme hin,denen sie sich bei einer gesetzlichen Regelung von Ausbil-dung und Prüfung gegenübergestellt sähe. Aufgrund derumfassenden Berechtigung der Heilpraktiker zur Ausübungder Heilkunde müsste eine solche Regelung den für dieBerufsausbildung der Ärzte bestehenden Vorschriften nahekommen und würde damit zugleich die Frage nach der Exis-tenzberechtigung zweier vergleichbarer Heilberufe aufwerfen.84

M. E. liegt jedoch in der Heranführung der Berufsausbildungdes Heilpraktikers an die des Arztes, die ja nur in Teilen –quasi zur Grundsteinlegung – erfolgen soll, nichts Problema-tisches. Vielmehr ist diese Heranführung aus Patientensichtsogar geboten, und sie ist allemal besser als die bisherigeUntätigkeit des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, diedurch den Laissez-faire-Grundsatz gekennzeichnet ist. Soferndiese Heranführung des Bildungsstands des Heilpraktikers anden des Arztes nur (aber zumindest) in Teilen stattfindet, istdamit i. Ü. genügend Spielraum für die Abgrenzung im Hin-blick auf zusätzliche Fähigkeiten und Kenntnisse in alterna-tiv-medizinischen Bereichen gelassen.

C. Fazit

Das Fazit all dieser Überlegungen ist, dass vom HeilprG – sowie es ursprünglich angelegt war – nicht mehr viel übriggeblieben ist, im Grunde nicht mehr als ein formeller, sach-licher, aber nahezu bedeutungsloser Erlaubnisvorbehalt85 fürdenjenigen, der, ohne die ärztliche Approbation zu besitzen,die Zulassung zu einer vollen heilkundlichen Praxisbegehrt.86 Es ist fraglich, ob es bei diesem Rechtszustand seinBewenden haben kann. Die Antwort lautet „nein“. Denn ersteht nicht nur in einem geradezu grotesken Widerspruch zudem Phänomen der fortschreitenden Verwissenschaftli-chung, das die moderne Entwicklung des gesellschaftlichenLebens kennzeichnet. Er steht vor allem in einem Kontrastzur Notwendigkeit der Approbation aufseiten der Ärzteschaft,die an die Höhe des überantworteten Rechtsguts „Gesund-heit“ anknüpft und sich hieraus legitimiert. Gründend aufdiesen Umstand ist es m. E. zwar nicht notwendig, der Ärz-teschaft ein alleiniges Monopol in Sachen Gesundheitsfür-sorge einzuräumen, da mit der Fortentwicklung der Medizinauch eine Spezialisierung und Popularisierung des Fachwis-sens einhergeht, vermöge deren es auf Teilgebieten eine Sach-kunde geben kann, die den, welcher über sie verfügt, zu ihrerAnwendung in praktischer Tätigkeit auch dann befähigt,wenn er in dem Gesamtzusammenhang des Wissensgebietes,zu dem seine partielle Kenntnis gehört, nicht eingeweiht ist.

Aber es muss sichergestellt sein, dass der Wissensstand derHeilpraktiker an den der Ärzteschaft „herangeführt“ wird, umdas bei völliger Unkenntnis medizinischer Zusammenhängebestehende Risiko für die Patientengemeinschaft abzubauen.Wie hoch die Messlatte hinsichtlich der Zugangsprüfunganzulegen ist, steht nach dem Urteil des BVerwG87 im Ermes-sen des Staates. Dass es jedoch eine geben muss, die an Fach-kenntnisse anknüpft, ergibt sich schon daraus, dass andersdem betroffenen Rechtsgut („Volksgesundheit“) kaum Rech-nung getragen werden kann. In diesem Sinne bedarf es –auch um die uneinheitliche Verwaltungspraxis der Länderabzubauen – dringend einer Änderung des HeilprG bzw. sei-ner Durchführungsbestimmungen. Geschieht dies, könnenHeilpraktiker, ohne das Patientenwohl zu gefährden, gerade-zu eine sinnvolle und ggf. auch notwendige Ergänzung desärztlichen Behandlungsprogramms bieten. Dabei trägt diehier vorgeschlagene differenzierte Betrachtungsweise auchdem Umstand Rechnung, dass angesichts des fühlbaren Man-gels an Fachkräften, unter dem die Gesellschaft unseres Säku-lums leidet, gar nichts anderes übrig bleiben wird, als auchund gerade wissenschaftliche Tätigkeiten, bei denen früherein Ärztemonopol bestand, solchen Kräften anzuvertrauen,die nicht über eine (volle) Approbation verfügen.88 In derMedizin ist dieser Prozess schon seit Jahren im Gange, nurdass die Verlagerung bisher auf examinierte Kräfte wie Kran-kenschwestern und Pfleger stattfand.89 In diesem Sinne giltes, auch für eine sinnvolle Examination der Heilpraktiker zusorgen. Die vorzunehmenden Kompetenzabgrenzungenmuss der Gesetzgeber einleiten. Anregungen und konkreteVorschläge, die zumindest die Richtung aufzeigen, in die esgehen müsste (eine genauere Definition des Begriffes „Heil-kunde“, eine Sicherstellung einer an fachlichen Maßstäbenausgerichteten einheitlichen Zulassungsprüfung und Ausbil-dung aufgrund gesetzlicher Vorgaben, eine Regelung des Vor-rangs der Schulmedizin bei ernsthaften Erkrankungen undinvasiven Eingriffen zugunsten der ärztlichen Behandlung),wurden hier unterbreitet.90

VuR 12/2008 | 471

84 Antwort der Parl. Staatsekretärin Frau Karwatzki auf die Frage des MdBFalthauser (BT-Drucks. 10/616, Frage 41, 42) in der 37. Sitzung des Deut-schen Bundestages am 24.11.1983, Sten. Begr, S. 2622 (A).

85 Eberhardt, VersR 1986, 110, 111.86 Bockelmann, NJW 1966, 1145, 1151.87 BVerwGE 4, 250 ff.88 In diesem Sinne auch Klose, KJ 2007, 35, 46.89 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, dass es auf dem Gebiet

der Medizin dazu gekommen ist, dass Maßnahmen, die noch vor wenigenJahrzehnten als ernstere Eingriffe galten, wie z. B. intravenöse Injektio-nen, heutzutage auch von nichtärztlichem Personal (etwa von Kranken-schwestern) vorgenommen werden.

90 Siehe dazu die Darstellung unter B.III.

Tamm, P lädoyer für e ine Neurege lung des He i lprakt ikergesetzes | A U F S Ä T Z E

472 | VuR 12/2008

A U F S Ä T Z E | Pau l ing, Verbraucherschutz und Tabakkontro l lpo l i t i k

Verbraucherschutz und TabakkontrollpolitikVon Dr. Reinhard Pauling, Leuphana-Universität Lüneburg

Verbraucherschutz findet im Spannungsfeld von Gemein-schaft, Mitgliedsstaaten und Wirtschaftsinteressen statt.1

Dabei spielt die Tabakkontrollpolitik seit Beginn der 70er-Jahre zunächst auf nationaler Ebene eine immer bedeuten-dere Rolle. Die Europäische Gemeinschaft hat seit Beginn der80er-Jahre mit dem Programm „Europa gegen den Krebs“zunächst mit Empfehlungen und Entschließungen, seit 1989mit der Verabschiedung der Richtlinie über die Etikettierungvon Tabakerzeugnissen2 eine Reihe von rechtlich verbind-lichen Gemeinschaftsrechtsakten3 verabschiedet. Auf globalerEbene hat die Weltgesundheitsorganisation 2003 die Frame-work Convention on Tobacco Control (FCTC) verabschiedet,die erste Rahmenkonvention in der Geschichte der WHO.4 Aufdiesen drei Ebenen finden zurzeit weitere Bemühungen statt,im Interesse des Verbraucherschutzes neue Maßnahmen imBereich der Tabakkontrolle zu initiieren. Diese Aktivitätenwerden nachfolgend dargestellt und kommentiert.

A. Nationales Aktionsprogramm zur Tabakpräven-tion

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, die Bundestags-abgeordnete Sabine Bätzing, hat am 9. Juni 2008 die „Empfeh-lungen des Drogen- und Suchtrates an die Drogenbeauftragteder Bundesregierung für ein Nationales Aktionsprogramm zurTabakprävention“5 vorgelegt. Diese sind von der Facharbeits-gruppe „Suchtprävention“ im Auftrag des Drogen- und Sucht-rates erarbeitet und zunächst durch den Beschluss der Bund-Länder-Steuerungsgruppe vom 21. April 2008, dann durch denBeschluss des Drogen- und Suchtrates vom 9. Juni 2008 aktua-lisiert worden. Grundsätzlich werden hier zahlreiche Maßnah-men aus den Bereichen der Prävention, gesetzliche Regulie-rungen sowie die Tabakentwöhnung vorgeschlagen.

Ziel 1 ist der Ausbau präventiver Maßnahmen, zu denen ziel-gruppenorientierte Informationsangebote sowie Anzeigen-kampagnen zum Nichtrauchen für Jugendliche zählen.6 Fürandere Zielgruppen wie Familien, junge Frauen, Migrantenund Spätaussiedler, bildungsferne Jugendliche und Men-schen in der mittleren Lebensspanne sollen ebenfalls ent-sprechende Informationsangebote erstellt werden. Begleitendwird die Schaltung zielgruppenspezifischer Fernseh- undKinospots empfohlen sowie der Abschluss von Vereinbarun-gen mit TV-Sendeanstalten und Film/TV-Produzenten, dassSchauspieler/Vorbilder in deren Produktionen weniger rau-chen und das Nichtrauchen positiv positionieren.7

Ziel 2 ist die Unterstützung von rauchfreien Kinder- undJugendeinrichtungen. Hierzu gehören die flächendeckendeBereitstellung und Fortentwicklung von Materialien für die„rauchfreie Schule“, die Verbreitung bestehender sowie dieFörderung neuer Schulprogramme zum Nichtrauchen, Ange-bote in der Lehreraus- und -fortbildung, Schritte zur Intensi-vierung von entsprechenden Maßnahmen in der Jugendhilfesowie die Förderung der Kinder- und Jugendarbeit im Sport.8

Ziel 3 liegt in der Förderung der Ausstiegsbereitschaft und derErhöhung der Inanspruchnahme von Tabakentwöhnungsan-geboten. Hier sollen u. a. die telefonische Beratung zum

Rauchverzicht mit qualitätsgesicherten und proaktiven Bera-tungsangeboten unter einer Hotlinenummer, zielgruppen-spezifische Programme zur Tabakentwöhnung auch im Rah-men der „Suchtmedizinischen Grundversorgung“ sowie dieAngebote in der Fortbildung für Ärzte und andere Berufs-gruppen ausgebaut werden.9

Ziel 4 ist die Förderung des Nichtrauchens in der Familie undwährend der Schwangerschaft. Hierzu gehören u. a. Angebo-te zur Tabakentwöhnung durch Gynäkologen und Hebam-men sowie die Entwicklung einer Kampagne „Unsere Familiefährt rauchfrei“ zum Verzicht auf das Rauchen in Kraftfahr-zeugen.10

Die Verbesserung des Schutzes vor Passivrauchen in derÖffentlichkeit ist Ziel 5 des Programms. So soll eine Kampag-ne zur Umsetzung rauchfreier Krankenhäuser, Hochschulensowie von Bildungs- und Jugendeinrichtungen entwickeltwerden. Bund, Länder und die Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung sollen den Nichtraucherschutz überAngebote zur Unterstützung der Umsetzung des Nichtrau-cherschutzgesetzes in privaten Betrieben und öffentlichenEinrichtungen, z. B. durch die Verbreitung vorbildlicherBetriebs- und Dienstvereinbarungen, verbessern.11

Der Erlass von steuerpolitischen Maßnahmen und Rechtsver-ordnungen für Tabakprodukte ist Ziel 6 des Programms. Eshandelt sich dabei um die Überprüfung regelmäßiger Erhö-hungen der Tabaksteuer, der Steuerbelastung von Zigarettenund Feinschnitt im Hinblick auf mögliche Auswirkungen aufden Konsum, die Intensivierung von Maßnahmen gegen denillegalen Internethandel mit Tabakwaren und deren illegaleEinfuhr sowie das Eintreten auf EU-Ebene für eine Defini-tionsänderung. Verbessert werden soll die Kennzeichnungvon Tabakerzeugnissen durch die Angabe des jeweiligen Her-kunfts- und Bestimmungslandes und ihre Etikettierung durchdie Einführung von Bildwarnhinweisen. Die EU und dasBundesverbraucherschutzministerium sollen Leitlinien undMethoden zur gemeinschaftlichen Überprüfung und Zulas-sung der Inhaltsstoffe in Tabakerzeugnissen erarbeiten. DasBundesfinanzministerium soll die Anhebung der Mindestpa-ckungsgröße auf 20 Stück sowie die rechtliche Möglichkeiteiner zweckgebundenen Abgabe für die Tabakprävention aufder Grundlage der Ergebnisse einer Studie über die gesund-heitspolitischen Effekte von Steuererhöhungen für alkoholi-sche Getränke prüfen. Die Arbeitsgruppe Suchtprävention

1 Reich, Europäisches Verbraucherrecht, 2003, S. 11.2 Richtlinie 89/622/EWG, ABl. L 359 v. 08.12.1989, 1-4.3 European Commission: Tobacco or Health in the European Union. Past,

Present and Future, 2004. Eine aktuelle Übersicht bei Pauling, Problemeproduktbezogener Gesundheitspolitik, 2008.

4 World Health Organization, WHO Framework Convention on TobaccoControl, 2003.

5 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates, abrufbar unter:http://www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1168278/SharedDocs/Standardarti-kel/DE/AZ/D/Glossar-Drogenbeauftragte/Tabak.html.

6 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 16.7 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 16.8 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 16 f.9 Empfehlungn des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 17 f.10 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 18.11 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 18.

hatte sich für die vollständige Abschaffung von Zigarettenau-tomaten ausgesprochen. Der Drogen- und Suchtrat hälteinen Mindestabstand für das Aufstellen von Zigarettenauto-maten vor allen Schulen und Freizeiteinrichtungen von 100Metern (bisher: 50 Meter) über eine Anpassung der bestehen-den Selbstverpflichtung des Bundesverbandes der DeutschenTabakwaren-Großhändler und Automatenaufsteller für sinn-voll und ausreichend.12

Ziel 7 beinhaltet Verbote und Rechtsverordnungen zur Tabak-werbung. Plakatwerbung soll ganz verboten, die Kinower-bung erst ab 20 Uhr erlaubt und wie bisher sollen die Werbe-ausgaben der Tabakindustrie offengelegt werden. Im Bereichder Etikettierung soll das Bundesverbraucherschutzministe-rium eine Verordnung zum Aufdruck von Warnhinweisen fürzigarettenähnliche Produkte in der Tabakwerbung erlassen.13

Zur Förderung der Umsetzung dieser Maßnahmen soll einnationales Koordinierungsbüro eingerichtet werden, das allediese Maßnahmen begleitet, evaluiert und jährlich einenBericht zum Tabakkonsum und zum Umsetzungsgrad in derTabakprävention herausgibt.14

Nach einer Anhörung der betroffenen Wirtschaftsverbändeund von Institutionen der Gesundheitspolitik am 15. Sep-tember 2008 hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierungerklärt, dass sie nunmehr die Plakatwerbung verbieten werde.Dazu sei die Bundesregierung aufgrund der Ratifizierung derTabakrahmenkonvention verpflichtet.15

B. Das Grünbuch der EU-Kommission für ein rauch-freies Europa

Die Gemeinschaft hat zunächst 1989 mit einer Entschlie-ßung16 über ein Rauchverbot in öffentlich zugänglichen undfrequentierten Räumen eine Reihe von Schutzmaßnahmenempfohlen. In einer Empfehlung des Rates zur Prävention desRauchens wurden die Mitgliedsstaaten aufgerufen, wirksameSchutzmaßnahmen vor den Gefahren des Tabakrauchs zuergreifen.17 Weitere Maßnahmen finden sich in den Richtli-nien zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz,18 mit speziel-len Regelungen für bestimmte Arbeitsplätze. Das 2007 erschie-nene Grünbuch für ein rauchfreies Europa19 hat erstmals aufbreiter Ebene Strategieoptionen auf Gemeinschaftsebene zumSchutz der Nichtraucher vor den Gefahren des Passivrauchens(ETS) vorgelegt. Option 1 wäre die Beibehaltung des Statusquo, was darauf hinausliefe, den Mitgliedsstaaten die Verab-schiedung entsprechender Regelungen zu überlassen. Option2 bestünde darin, die Projektbeteiligten aufzufordern, freiwil-lige Maßnahmen, also die Verabschiedung gemeinsamer Ver-haltensrichtlinien auf EU-Ebene zum Nichtraucherschutz, zuvereinbaren oder ein autonomes Abkommen zwischen denSozialpartnern auf EU-Ebene gem. Art. 137 EGV auszuhan-deln. Option 3, die Methode der offenen Koordinierung, sähevor, dass die Mitgliedsstaaten weiter aktiv werden und ihreBemühungen für eine rauchfreie Umgebung so koordinieren,dass sie möglichst identische Regelungen erlassen. Option 4sähe weitere Empfehlungen der Kommission oder des Ratesvor. Option 5 könnte im Erlass rechtlich verbindlicher Vor-schriften durch den Gemeinschaftsgesetzgeber bestehen.20

Dieses könnte über eine Ausweitung der bereits existierendenRichtlinien, den Erlass einer separaten Richtlinie über Rau-chen am Arbeitsplatz oder eine Abänderung der Richtlinie67/548/EWG über Gefahrstoffe erfolgen, „was darauf hinaus-laufen würde, ETS als krebserregend einzustufen. Damit würde

ETS automatisch in den Zielbereich der Richtlinie für denSchutz vor Karzinogenen und Mutagenen fallen“.21 Das Euro-päische Parlament hat zum Grünbuch am 25. Oktober 2007mit großer Mehrheit einen Entschließungsantrag22 angenom-men, in dem die Kommission aufgefordert wird, ETS soschnell wie möglich als krebserregendes Stoffgemisch derKategorie I einzustufen und in den Geltungsbereich der Richt-linie über Kanzerogene und Mutagene aufzunehmen. DieKommission soll darüber hinaus einen Änderungsvorschlagzur Rahmenrichtlinie über Sicherheit und Gesundheitsschutzam Arbeitsplatz vorlegen, wonach die Arbeitgeber für einentabakrauchfreien Arbeitsplatz sorgen müssen. Zudem soll dieKommission einen Bericht über die Kosten aufstellen, die dennationalen Gesundheitssystemen und der Wirtschaft der EUdurch die Folgen des Rauchens entstehen. Des Weiteren sollenalle suchtverstärkenden Zusatzstoffe verboten werden, ebensodie Zusatzstoffe, die aufgrund vorliegender toxikologischerDaten krebserzeugend, erbgutverändernd oder die Nachkom-men schädigend sind. Zusätzlich soll die Produkthaftung aufdie Hersteller ausgeweitet werden. Darüber hinaus soll dieHerstellerverantwortung für die Finanzierung sämtlicherdurch die Folgen des Rauchens entstehender Gesundheitskos-ten eingeführt werden.

Der Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Ver-braucherschutz ist am 30./31. Mai 2007 in einem ersten Mei-nungsaustausch mehrheitlich zu der Überzeugung gelangt,auf nationaler Ebene, koordiniert durch die EU, Regelungenzum Schutz der Nichtraucher zu treffen.23

C. Die Tabakrahmenkonvention der Weltgesund-heitsorganisation

Nach der Verabschiedung der Rahmenkonvention zur Tabak-kontrolle hat die Konferenz der Vertragsparteien (COP), deralle Staaten angehören, die die Rahmenkonvention ratifizierthaben, neue Vorschläge unterbreitet. So hat sie auf ihrerZweiten Tagung in Bangkok 200724 u. a. Leitlinien zumSchutz vor Passivrauchen25 verabschiedet, die es den Ver-tragsparteien ermöglichen sollen, die in Art. 8 der Rahmen-

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12 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 18 f.13 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 19 f.14 Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates (s. o. Fn. 5), S. 20.15 Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums v. 16.09.2008, Bät-

zing: Hearing der Verbände bestätigt politischen Handlungsbedarf in derTabak- und Alkoholprävention, abrufbar unter: http://www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1197282/SharedDocs/Pressemitteilung/DE/Drogenbeauf-tragte/2008/pm-16-09-2008.html?_nn=true.

16 Entschließung der im Rat vereinigten Minister für das Gesundheitswesender Mitgliedsstaaten v. 18.07.1989 über ein Rauchverbot in öffentlichzugänglichen und frequentierten Räumen 89/C189/01, ABl. C 189 v.26.07.1989, 1.

17 Empfehlung des Rates v. 02.12.2002 zur Prävention des Rauchens und fürMaßnahmen zur gezielten Eindämmung des Tabakkonsums, ABl. L 22 v.25.01.2003, 31.

18 EU-Kommission, Grünbuch für ein rauchfreies Europa: Strategieoptionenauf EU-Ebene, KOM (2007) 27 endg., 12 f.; Pauling (s. o. Fn. 3), S. 62 f.

19 EU-Kommission (s. o. Fn. 18).20 EU-Kommission (s. o. Fn. 18), S. 18 ff.21 EU-Kommission (s. o. Fn. 18), S. 23.22 Dok. P6_TA (2007) 0471, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.

eu/sides/getDoc.do?type=TA&language=EN&reference=P6-TA-2007-0471;Pauling, EuZW 24/2007, 749 f.

23 Rat der Europäischen Union, Entwurf eines Protokolls v. 01.08.2007, Dok.10155/07, S. 14 f.

24 Abrufbar unter: http://www.who.int/fctc/cop/second_session_cop/en/index.html.

25 Weltgesundheitsorganisation, Leitlinien zum Schutz vor Passivrauchen,abrufbar unter: http://www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1195892/DE/Dro-gen-und-Sucht/Tabak/tabak__node.html?__nnn=true#doc1179892body-Text3.

Paul ing, Verbraucherschutz und Tabakkontro l lpo l i t i k | A U F S Ä T Z E

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26 World Health Organization, Dok. FCTC/COP/3/6 v. 21.08.2008, abrufbarunter: http://www.who.int/gb/fctc.

27 World Health Organization, Dok. FCTC/COP/INB-IT/2/1, abrufbar unter:http://www.who.int/gb/fctc.

28 World Health Organization, Dok. FCTC/COP/INB-IT/2/3, abrufbar unter:http://www.who.int/gb/fctc.

29 Dok. COP/2/WG/1/1 v. 16.05.2008, nicht veröffentlicht.30 Dok. COP/2/WG/3/1 v. 16.05.2008, nicht veröffentlicht.31 Dok. COP/2/WG/5/1 v. 16.05.2008, nicht veröffentlicht.32 Drahtbericht Nr. 2373 v. 06.06.2008, Nr. 2546 v. 17.06.2008 und Nr. 2630

v. 24.06.2008.33 World Health Organization, Dok. FCTC/COP/3/5 v. 21.08.2008, abrufbar

unter: http://www.who.int/gb/fctc. 34 World Health Organization, Dok. FCTC/COP/3/7 v. 21.08.2008, S. 5,

abrufbar unter: http://www.who.int/gb/fctc.35 World Health Organization (s. o. Fn. 34), S. 5.36 World Health Organization (s. o. Fn. 34), S. 10.37 World Health Organization (s. o. Fn. 34), S. 10.38 World Health Organization (s. o. Fn. 34), S. 10.39 World Health Organization Dok. FCTC/COP/3/9 v. 02.09.2008, S. 5, abruf-

bar unter: http://www.who.int/gb/fctc.40 World Health Organization (s. o. Fn. 39), S. 6.41 World Health Organization (s. o. Fn. 39), S. 8.42 Report from the Commission to the European Parliament and the Coun-

cil on the structure and the rates of excise’ duty applied on cigarettes andother manufactured tobacco products, COM (2008) 460/2, abrufbar unter:http://ec.europa.eu/taxation_customs/index_de.htm.

43 KOM (2008) 459, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/taxation_customs/index_de.htm.

konvention ausgeführten Verpflichtungen zu erfüllen. DesWeiteren wurde dort beschlossen, in Arbeitsgruppen zu denArtt. 926 und 10 der Konvention neue Regelungen bezüglichder Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen und der Bekanntga-be von Angaben über Tabakerzeugnisse zu entwickeln. In vierneuen Arbeitsgruppen sollen Leitlinien zu Art. 5.3 der Kon-vention (Schutz der Maßnahmen vor dem Einfluss von kom-merziellen und sonstigen berechtigten Interessen der Tabak-industrie), zu Art. 11 (Verpackung und Etikettierung vonTabakerzeugnissen), zu Art. 12 (Aufklärung, Information,Schulung und Bewusstseinsbildung der Öffentlichkeit) undzu Art. 13 (Tabakwerbung, Förderung des Tabakverkaufs undTabaksponsoring) entwickelt werden.

Eine weitere Arbeitsgruppe (Intergovernmental NegotiatingBody) unter Leitung von Ian Walton-George vom Europäi-schen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) wurde beauftragt,ein Protokoll zur Bekämpfung des Schmuggels zu entwerfen.Die Arbeitsgruppe hatte geplant, dieses auf ihrer dritten Sit-zung vom 20. bis 25. Oktober 2008 in Genf27 zu verabschie-den, damit es auf der Dritten Tagung der Konferenz der Ver-tragsparteien im November 2008 in Südafrika verabschiedetwerden kann. Man hat sich jedoch nicht einigen können unddie Entscheidung auf Mitte 2009 vertagt. Die Veröffentli-chung des Textvorschlages des Vorsitzes ist am 18. August2008 erfolgt.28

Entwürfe für Leitlinien zu den Art. 5.329, 1130 und 1331 derKonvention sind von den zuständigen Arbeitsgruppen erar-beitet und Mitte Mai 2008 den Mitgliedsstaaten auf einergeschützten Website zugegangen. In der EU hat die Ratsar-beitsgruppe Gesundheit mehrmals über eine gemeinsamePosition der Gemeinschaft zu den Entwürfen beraten.32 DieGeneraldirektion Gesundheit hat für die Kommission EndeJuni 2008 der WHO die grundsätzliche Unterstützung derGemeinschaft zugesagt und die bisher erarbeiteten Positio-nen der Weltgesundheitsorganisation für die weitere Diskus-sion in den jeweils zuständigen Arbeitsgruppen übermittelt.Diese hat im Juli 2008 begonnen. Inzwischen sind die Emp-fehlungen zu den Artt. 5.3., 11 und 13 veröffentlicht.

Zwölf Parteien der FCTC haben Kommentare zu den Emp-fehlungen zu Art. 5.3. eingereicht.33 Dabei geht es um einenwirkungsvollen Schutz vor unangemessenen Interventionender Tabakindustrie bei der Diskussion um die weitere inhalt-liche Gestaltung der Tabakrahmenkonvention und ihreImplementierung in den Ländern der Vertragsparteien.

Der neue Entwurf zu Art. 11 der Rahmenkonvention zu Ver-packung und Etikettierung von Tabakprodukten sieht vor,dass Warnhinweise mindestens 30 % der wichtigsten Flä-chen auf der Verpackung einnehmen müssen, sie solltenjedoch eher 50 % oder mehr betragen.34 Die Vertragspar-teien sollten die Verwendung von Bildwarnungen im Rah-men von Etikettierungs- und Verpackungsbestimmungenzwingend vorschreiben.35 Falsche oder irreführende Produkt-bezeichnungen wie „leicht“ oder „mild“, die direkt oder indi-rekt den Eindruck erwecken könnten, ein bestimmtes Pro-dukt sei weniger schädlich als ein anderes, müssen verbotenwerden.36 Die Vertragsparteien sollen die Möglichkeit prü-fen, die Verwendung von Logos, Farben, Markenimages oderanderen werblichen Informationen zu beschränken oder zuverbieten und nur noch die Verwendung des Markennamenszuzulassen (Plain Packaging).37 Verboten werden soll derAbdruck von auf Abrauchmaschinen gemessenen Werten fürNikotin, Kondensat und anderen Rauchinhaltsstoffen auf

jeder Verpackung. Die so ermittelten Werte geben die tat-sächliche Aufnahme dieser Inhaltsstoffe nicht adäquat wie-der. Darüber hinaus liegen keinerlei epidemiologischeErkenntnisse darüber vor, dass Zigaretten mit niedrigeren aufAbrauchmaschinen ermittelten Werten bezüglich dieserInhaltsstoffe weniger schädlich sind als solche mit höherenWerten.38

Die Leitlinien zu Art. 13 der FCTC sehen ein generelles Ver-bot jeder direkten oder indirekten Werbung für Tabakerzeug-nisse vor.39 Dieses soll nicht nur für alle Medien wie Hörfunkund Fernsehen, Printerzeugnisse, Kino, Plakat, Internet undMobiltelefone gelten, sondern auch für Tabakwarenfachge-schäfte. Zigarettenautomaten sollen verboten werden, weilsie eine Form der Tabakwerbung darstellen.40 Auch Publika-tionen von Tabakherstellern im Rahmen von Firmenbro-schüren, in denen sie sich als „sozial verantwortungsvolles“Unternehmen darstellen, sollen nicht mehr erlaubt sein.41

Die Ratsarbeitsgruppe Gesundheit hat auf Attaché-Ebene am6. November 2008 dem Vorschlag hinsichtlich der Artt. 11und 13 endgültig in der vorgelegten Form zugestimmt.Deutschland hat allerdings zu beiden Artikeln Protokollerklä-rungen abgegeben. Insbesondere weist Deutschland daraufhin, dass man in einer künftigen EU-Richtlinie zu Art. 13 derKonvention die weite Definition von Werbung, Verkaufsför-derung und Sponsoring bezüglich etwaiger Regelungen inden Bereichen Automatenverbot, Plain Packaging, Internet-verkäufe, Verbot der Werbung in Tabakfachgeschäften undCorporate Social Responsibility nicht mittragen werde.

D. Neue Tabaksteuersätze

EU-Kommissar László Kovács hat am 16. Juli 2008 in Brüsseleinen Bericht42 sowie einen Vorschlag für eine Richtlinie43

zur Änderung der bestehenden EU-Bestimmungen über dieVerbrauchssteuern für Tabakwaren vorgelegt.

Nach der letzten Harmonisierungsstufe aus dem Jahr 2002müssen die auf Zigaretten (der in einem Land am meistenverkauften Preisklasse) erhobenen Verbrauchssteuern min-destens 57 % des Kleinverkaufspreises (KVP) ausmachen und

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mindestens 64 EUR pro 1.000 Zigaretten betragen. Heuteliegt die steuerliche Belastung pro 1.000 Zigaretten in dermeistverkauften Preisklasse im Vereinigten Königreich bei250 EUR, in Litauen nur bei 37 EUR. Der neue Vorschlag legtals Bemessungsgrundlage nunmehr den gewichteten Durch-schnittspreis aller verkauften Zigaretten fest. Die erhobeneTabaksteuer soll in einem ersten Schritt mindestens 57 %dieses Durchschnittspreises betragen, mindestens aber 64EUR je 1.000 Zigaretten. Diese Sätze sollen auf 63 % und ent-sprechend 90 EUR je 1.000 Zigaretten ab dem 1. Januar 2014ansteigen.44

Für Polen, Ungarn und die Slowakische Republik ist eine län-gere Übergangsfrist vorgesehen. Sie müssen die neuen Steuer-sätze erst ab dem 1. Januar 2015 anwenden.45 Länder mitbesonders niedrigen Tabaksteuerbelastungen wie Rumänien,Bulgarien, Litauen, Estland und Lettland erhalten sogar eineÜbergangsfrist bis zum 31. Dezember 2015.46

Die unterschiedliche Besteuerung von Feinschnitt und fabrik-fertigen Zigaretten soll angeglichen werden. So müssen dieMitgliedsstaaten ab dem 1. Januar 2010 eine Verbrauchssteu-er auf Feinschnitt für selbst gedrehte Zigaretten von mindes-tens 38 % des Kleinverkaufspreises einschließlich sämtlicherSteuern und von mindestens 43 EUR je kg erheben. Ab dem1. Januar 2014 steigen diese Mindestsätze auf 42 % des KVPund 60 EUR je kg an.47

E. Bewertung

Das Aktionsprogramm zur Tabakprävention enthält einenweitgehend sinnvollen Mix aus Maßnahmen zur Präventionund zur Regulierung des Produkts und seiner Verwendungsowie Vermarktung. Diese Kombination hat in Deutschlandeindeutig Erfolg gezeigt, wenn man sich die Entwicklung derRaucheranteile vor allem bei jungen Menschen ansieht. Dieletzte Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung zeigt einen historischen Tiefstand in der Präva-lenz des Tabakkonsums bei jungen Menschen. So rauchtenAnfang 2007 nur noch 18 % der Jugendlichen im Alter von12–17 Jahren (1979: 30 %).48 Im gleichen Zeitraum stieg derAnteil der Nie-Raucher von 42 % auf 57 %. Bei den 15-Jäh-rigen ging der Anteil der mindestens wöchentlich rauchen-den Personen von 2002 bis 2005 bei den Mädchen von33,7 %49 auf 22 % zurück, bei den Jungen von 32,2 % auf17 %.50 Der deutlichste Rückgang zeigt sich im Zeitraum von2001 bis 2007. Hier dürften die fünf Tabaksteuererhöhungenvon 2002 bis 2005 eine entscheidende Rolle gespielt haben.51

Positiv ist zu vermerken, dass alle tatsächlich umgesetztenMaßnahmen auch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiertwerden. Kritisch ist zu bemerken, dass die Maßnahmen – mitAusnahme der Tabaksteuererhöhung – häufig eher hinsicht-lich von Einstellungsveränderungen, nicht jedoch von Ver-haltensänderungen bewertet wurden und etablierte Kriterienfür eine Effizienzüberprüfung nicht berücksichtigt wurden.52

Übereinstimmend erklären die Autoren, dass Maßnahmen inder Preisgestaltung, Rauchverbote, Aufklärungskampagnenund andere Präventionsmaßnahmen, größere Warnhinweiseund Angebote zur Entwöhnung den größten Erfolg verspre-chen. Weniger erfolgreich sind Aktivitäten im Bereich derVerfügbarkeit von Tabakerzeugnissen über weitere Regelun-gen bezüglich des Automatenverkaufs. So hat die Weltbankschon 2003 erklärt, dass entsprechende Maßnahmen wieauch Beschränkungen des Verkaufs an Jugendliche „ineffek-tiv“ sind.53

Kritisch ist anzumerken, dass die Forderung nach der Erarbei-tung von Leitlinien und Methoden zur gemeinschaftlichenÜberprüfung und Zulassung von Inhaltsstoffen für Tabaker-zeugnisse unzureichend ist. Die Tabakproduktrichtlinie54 sahschon 2001 vor, dass die Kommission bis spätestens zum 31.Dezember 2004 eine solche Liste vorlegen sollte.55 Dies ist bisheute nicht geschehen. Die beiden Berichte der Kommissionüber die Anwendung der Tabakproduktrichtlinie56 gebenauch keinerlei Hinweis darauf, wann diese im Sinne des Ver-braucherschutzes wichtige Maßnahme auf Gemeinschaftsebe-ne realisiert werden soll. Die Kommission erklärt, dass hierfür„Human- und Finanzressourcen erforderlich [sind], die derzeitnicht zur Verfügung stehen“.57 Zweifel sind erlaubt.

Die zuständige Generaldirektion Gesundheit hat nunmehrfast sieben Jahre Zeit für die Erledigung dieser Aufgabegehabt, ohne dass etwas geschehen ist. Das kann nicht alleinmit finanziellen oder personellen Engpässen erklärt werden.Hier liegt die Annahme eines Vertragsverstoßes nahe. Unver-ständlich ist auch, warum das fachlich für Fragen der Tabak-regulierung in Deutschland zuständige Bundesverbraucher-schutzministerium nicht gegen diese Untätigkeit vorgeht.

Auch in anderen Politikfeldern gibt es Zweifel an der Ernst-haftigkeit der Gemeinschaft, wirksame Maßnahmen zurTabakkontrolle zu ergreifen. Hinsichtlich der beideneffektivsten Maßnahmen zur Tabakkontrolle ist der aktuelleVorschlag zur weiteren Harmonisierung der Tabaksteuer aufEU-Ebene ein Schritt in die richtige Richtung. Der Vorschlagwird zu Recht ausdrücklich mit den gesundheitspolitischenZielen in Art. 152 des EG-Vertrages begründet.58

Dennoch bleiben erhebliche Bedenken bestehen, ob die vor-gesehenen Erhöhungen im Hinblick auf das angestrebtegesundheitspolitische Anliegen und das Ziel, für die Eindäm-mung des Schmuggels innerhalb der EU zu sorgen, ausrei-chend sind. Die im Kommissionsentwurf enthaltenen Fristenbis Ende 2015 sowie die eher moderaten Steuersätze scheinennicht angemessen.

Die Bemühungen um eine Regelung zum Rauchen am Arbeits-platz und in öffentlichen Gebäuden bleiben zögerlich. Dabeiwird im Grünbuch für ein tabakfreies Europa ausdrücklich aufErkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation hingewiesen,

VuR 12/2008 | 475

44 KOM (2008) 459 (s. o. Fn. 43), 14.45 KOM (2008) 459 (s. o. Fn. 43), 15.46 KOM (2008) 459 (s. o. Fn. 43), 15.47 KOM (2008) 459 (s. o. Fn. 43), 16.48 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Förderung des Nichtrau-

chens bei Jugendlichen 2007, 2007, S. 10, 13.49 World Health Organization, Young people’s health in context. Health

Behaviour in School-aged children (HBSC) study, 2004, S. 67.50 World Health Organization, Young people’s health in context. Health

Behaviour in School-aged children (HBSC) study, 2008, S. 121.51 Hanewinkel/Isensee, Five in a row – reactions of smokers to tobacco tax

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52 World Bank, Tobacco Control at a glance, 2003, abrufbar unter:http://www.worldbank.org/tobacco; European Commission (s. o. Fn. 3);Jha/Chaloupka, Curbing the Epidemic, 1999; Gilbert/Hornuz, Which are themost effective and cost-effective interventions for tobacco control?, abruf-bar unter: www.euro.who.int/Document/e82993.pdf; Joossens, EffectiveTobacco Control Policies in 28 European Countries, 2004, abrufbar unter:www.eu.nl/health/ph_overview/health_forum/open_forum_04/ev_20040517_co17.pdf.

53 World Bank (s. o. Fn. 52).54 Richtlinie 2001/37/EG v. 05.06.2001, ABl. L 194 v. 18.07.2001, 26.55 Richtlinie 2001/37/EG (s. o. Fn. 54), 32.56 KOM (2005) 339 endg. v. 27.07.2005; KOM (2007) 754 endg. v.

27.11.2007; Pauling, EuZW 2/2008, 34.57 KOM (2007) 754 endg., 11.58 KOM (2008) 459 (s. o. Fn. 43), 4.

Paul ing, Verbraucherschutz und Tabakkontro l lpo l i t i k | A U F S Ä T Z E

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59 KOM (2007) 27 endg. (s. o. Fn. 18), 7.60 Richtlinie 90/239/EWG, ABl. L 137 vom 30.05.1990, 36 f.61 Richtlinie 2001/37/EG, ABl. L 194 v. 18.07.2001, 26.62 BGBl. II v. 17.05.2002, S. 1072; Art. 15 des Übereinkommens über han-

delsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), BGBl.1994 II, S. 1730; so auch Ehlers-Wegener, Europäische Grundrechte undGrundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 5 Rn. 18.

63 Art. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK. 64 EuGH, Rs. 491/01, British American Tobacco (Investments) Limited und

Imperial Tobacco Limited ./. Secretary of State for Health, Slg. 2002, I-11453.65 Richtlinie 2001/37/EG (s. o. Fn. 54).66 EuGH, Rs. C-376/98, Bundesrepublik Deutschland ./. Europäisches Parla-

ment und Europäischer Rat, Slg. 2000, I-08419; Amtenbrink, VuR 20015/2001, 163; Reich, VuR 2001, 203; EuGH, Rs. C-380/03, BundesrepublikDeutschland ./. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union,Slg. 2006, I-11573. Kritisch Maierhöfer, JZ 9/2007, 463; Stein, EuZW 2/2007,46; Pauling (s. o. Fn. 3); Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007,S. 355; zustimmend Ludwigs, CML Rev 44, 2007, 1159; Gundel, EuR 2/2007,100.

67 EuGH, Rs. C-376/98 (s. o. Fn. 66), Rn. 84.68 EuGH, Rs. C-376/98 (s. o. Fn. 66), Rn. 86.69 EuGH, Rs. C-376/98 (s. o. Fn. 66), Rn. 95.70 EuGH, Rs. C-376/98 (s. o. Fn. 66), Rn. 88.71 EuGH, Rs. C-376/98 (s. o. Fn. 66), Rn. 99.72 EuGH, Rs. C-380/03 (s. o. Fn. 66), Rn. 93.73 EuGH, Rs. C-380/03 (s. o. Fn. 66), Rn. 84.74 EuGH, Rs. C-380/03 (s. o. Fn. 66), Rn. 156. Es gibt allerdings erste Eingrif-

fe in die redaktionelle Berichterstattung, so Fiedler, AfP 4/2006, 320.75 KOM (2008) 330 endg. v. 28.05.2008; Pauling, EuZW 14/2008, 423; Pau-

ling, EWS 8/2008, 328 f.

wonach „die Schaffung rauchfreier öffentlicher Orte die zweit-effektivste Handlungsstrategie (nach der Tabaksteuererhöhung)ist“,59 um den Tabakkonsum wirkungsvoll zu senken.

Die Gemeinschaft ist eine der zentralen Kräfte bei der Diskus-sion um die Tabakrahmenkonvention der Weltgesundheitsor-ganisation. Es überrascht, dass sie nach allen vorliegendenDokumenten keine ernsthaften Anstrengungen unternimmt,existierendes europäisches Recht zum Gegenstand von globa-len Regelungen zu machen. Im Bereich der Produktregulie-rung hat die Gemeinschaft schon 199060 eine Höchstmengefür Teer in Zigaretten von 15 mg ab dem 31. Dezember 1992und 12 mg ab dem 31. Dezember 1997 rechtsverbindlich inden Mitgliedsstaaten vorgeschrieben. Mit der Tabakprodukt-richtlinie61 wurde der höchstzulässige Teergehalt wegen sei-ner karzinogenen Wirkung ab dem 1. Januar 2004 auf 10 mgherabgesetzt, neu für Nikotin ein Höchstwert von 1 mg jeZigarette und für Kohlenmonoxid von 10 mg eingeführt.

Die vorgesehenen Leitlinien der WHO-Tabakrahmenkonven-tion sind zunächst rechtlich unverbindlich. Sie richten sichan die Vertragsparteien als Empfehlung für nationales Han-deln. Hinsichtlich der Frage des „Plain Packaging“ wird hierzu prüfen sein, inwieweit ein so weit reichender Eingriff inEigentumsrechte an Marken, die sowohl in Deutschland alsauch auf Gemeinschaftsebene zweifellos Grundrechtsschutzgenießen, noch verhältnismäßig und durch höherrangigeGrundrechte wie das auf Gesundheit gedeckt ist. Zweifellosfallen Markenrechte unter den Schutz des Eigentums nachArt. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls der Konvention zumSchutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.62 Diesekönnen, wenn das öffentliche Interesse es verlangt, nur unterden durch das Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätzedes Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen eingeschränktoder gar entzogen werden.63 Allerdings dürfte diese Enteig-nung nicht entschädigungslos erfolgen.

Ähnliches gilt für die Größe der Warnhinweise. Eingriffe in denKern des ausgeübten Markenrechts, soweit sie zulässig sind,dürften ebenfalls zu Entschädigungsansprüchen der Inhaberder Markenrechte führen. Wo ein solcher Eingriff beginnt, hatder EuGH im Rahmen seiner Prüfung der Etikettierungsvor-schriften zur Tabakproduktrichtlinie nicht ausgeführt.64

Die neuen Vorschriften hinsichtlich des Verbots des Abdrucksvon maschinell ermittelten Werten für Nikotin, Kondensatund Kohlenmonoxid würden die Gemeinschaft zwingen,ihre diesbezüglichen Regelungen in Art. 5 (1) der Tabakpro-duktrichtlinie65 zu streichen.

In Bezug auf die Werbung sollen, soweit es die EU betrifft,offenbar die Bereiche angesprochen werden, die nach denbeiden Urteilen des EuGH66 zur Tabakwerbung allein in dieZuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen.

Der EuGH hatte in seinem ersten Tabakwerbeurteil deutlichgemacht, dass die Gemeinschaft auf der Rechtsgrundlage vonArt. 95 EGV nur die Bereiche regeln darf, die tatsächlich denZweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und dasFunktionieren des Binnenmarkts zu verbessern.67 Dabei müs-sen die getroffenen Maßnahmen sowohl bereits vorhandeneoder zumindest wahrscheinliche Handelshemmnisse68 als auchspürbare Wettbewerbsverzerrungen69 beseitigen. Trifft dies zu,kann dem Gesundheitsschutz nach Art. 129 I UAbs. 3 (heuteArt. 152 IV lit. c) EGV eine maßgebende Bedeutung beim Erlassdes Rechtsaktes zukommen.70 Der EuGH hat festgestellt, dassfür einen großen Teil der Formen der Tabakwerbung, die durch

die Richtlinie 98/43/EG verboten werden sollten, Art. 95 EGVnicht zur Anwendung kommen kann. Dies gilt für die Werbungauf Plakaten und Sonnenschirmen, Aschenbechern oder sonsti-gen in Hotels, Gaststätten und Cafés verwendeten Gegenstän-den sowie für das Verbot der Tabakwerbung im Kino.71 Daherhat er die Richtlinie für nichtig erklärt.

Die zweite Tabakwerberichtlinie RL 2002/33/EG sah aufgrundder Ausführungen des Gerichtshofs zur ersten Tabakwerbe-richtlinie nur noch Tabakwerbeverbote in gedruckten Veröf-fentlichungen, in den Diensten der Informationsgesellschaftund im Rundfunk vor. Zudem dürfen Rundfunkprogrammenicht von Unternehmen gesponsert werden, deren Haupttä-tigkeit die Herstellung oder der Verkauf von Tabakerzeugnissenist. Verboten ist danach auch das Sponsoring von Veranstal-tungen oder Aktivitäten, an denen mehrere Mitgliedsstaatenbeteiligt sind, die in mehreren Mitgliedsstaaten stattfindenoder eine sonstige grenzüberschreitende Wirkung haben. Diekostenlose Verteilung von Tabakerzeugnissen bei solchen Ver-anstaltungen mit dem Ziel oder der direkten oder indirektenWirkung, den Verkauf dieser Erzeugnisse zu fördern, ist eben-falls verboten. Ein Verbot der Kinowerbung, der Werbung aufPlakaten und Sonnenschirmen, Aschenbechern oder sonstigenin Hotels, Gaststätten und Cafés verwendeten Gegenständenwar nicht mehr Gegenstand der zweiten Tabakwerberichtlinie.In seinem zweiten Tabakwerbeurteil hat der Gerichtshof dieseVorschriften für rechtmäßig erkannt und bestätigt, dass Art. 95III EGV bei Harmonisierungsmaßnahmen ein hohes Gesund-heitsschutzniveau gewährleisten soll.72

Für Tatbestände ohne Binnenmarktrelevanz wie das Plakatoder die Kinowerbung hingegen hat die Gemeinschaft kei-nerlei Regelungskompetenz im Rahmen einer Richtlinie.73

Der Gerichtshof sieht keine Gefahr einer Beeinträchtigungder Freiheit der journalistischen Meinungsäußerung. Redak-tionelle Beiträge von Journalisten über Tabakthemen seiennicht betroffen.74

Die vorgesehenen Empfehlungen der WHO zur Tabakwerbunggreifen daher die Bereiche auf, die eindeutig in die Zuständig-keit der EU-Mitgliedsstaaten fallen. Sie folgen den Vorstellun-gen der Kommission.75 Sie sind aus gesundheitspolitischer

A U F S Ä T Z E | Pau l ing, Verbraucherschutz und Tabakkontro l lpo l i t i k

Sicht konsequent. Denn schon in ihrem Entwurf76 für die2003 verabschiedete Werberichtlinie hatte die Kommissiondarauf hingewiesen, dass „Verbote der Werbung und Absatz-förderung [nur dann] wirksam sind [...], wenn sie umfassendsind und sich auf sämtliche Medien sowie Verwendungszwe-cke von Markennamen und Logos erstrecken“.77 Auch dieAutoren der sogenannten „Weltbank-Studie“78 hatten erklärt,dass „teilweise Verbote wenig oder gar keine Wirkunghaben“.79 Die Umsetzung auf nationaler Ebene wird, fallsernsthaft gewollt, unter verfassungsrechtlichen Aspekten undim Hinblick auf die politische Realisierung zu prüfen sein. DasUrteil des Bundesverfassungsgerichts zu Rauchverboten in derGastronomie80 vermag für den Fall weiterer Eingriffe in dieWerbefreiheit einige Hinweise zu geben. So macht das BVerfGdeutlich, dass das Gemeinwohl und insbesondere der Schutzder Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG überragend wichtigeZiele sind,81 für deren Realisierung dem Gesetzgeber Eingriffein kollidierende Grundrechte wie das der Freiheit der Berufs-ausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG möglich sind. Einen Grund-rechtsschutz für Gastwirte durch die Eigentumsgarantie nachArt. 14 Abs. 1 GG sah das BVerfG nicht als gegeben an.82 Die-ser Eingriff steht unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit; ermuss zur Erreichung des Zieles notwendig, geeignet undzudem nicht übermäßig belastend sein.83 Die Gefahren durchdas Passivrauchen werden danach als erheblich eingeschätzt,aber – verfassungsrechtlich vertretbar – nicht als derart schwer-wiegend bewertet, dass der Gesundheitsschutz in jeder Hin-sicht Vorrang vor einer Berücksichtigung der beruflichen Inte-ressen der Gaststättenbetreiber und der Verhaltensfreiheit derRaucher genießen müsse.84

Übertragen auf die Frage weiterer Werberestriktionen dürftefeststehen, dass Tabakwarenhersteller Inhaber von Marken-rechten sind und über Eigentumsrechte auch an Werbemate-rialien wie z. B. Plakaten verfügen. Hier wäre also neben demEingriff in die Gewerbefreiheit der Hersteller und der Werbe-agenturen auch die Begrenzung an Eigentumsrechten derVerhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Nicht zuletztstellt sich die Frage, ob und falls ja, wieweit kommerzielleKommunikation grundrechtlichen Schutz nach Art. 5 GGgenießt. Das BVerfG hatte bei der Umsetzung der Richtlinieüber die Etikettierung von Tabakerzeugnissen85 im Rahmeneiner Verfassungsbeschwerde deutscher Zigarettenherstellerausgeführt, dass neben der staatlichen Gesundheitsaufklä-rung ein Werbeverbot in Betracht käme, um bedenkenlosenTabakkonsum einzudämmen.86 Für diese Art der Wirtschafts-werbung könne das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5Abs. 1 GG) allenfalls dann in Anspruch genommen werden,wenn die Werbung einen wertenden Inhalt hat oder Angabenenthält, die der Meinungsbildung dienen.87 Scholz hat dieseVoraussetzung bejaht.88 Für jede Form werblicher Aktivität,die gesetzlich geregelt werden soll, muss also zunächst imRahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wissenschaftlicheinwandfrei bewiesen werden, dass sie Menschen verführt,mit dem Rauchen zu beginnen oder den Konsum zu erhöhen,oder dass sie den einzelnen Raucher davon abhält, mit demRauchen aufzuhören. Selbst wenn für bestimmte werblicheAktivitäten zu konstatieren wäre, dass ihr Verbot im Interes-se eines höherrangigen Zieles wie des Schutzes der Gesund-heit oder der Jugend läge, müsste vor einem generellen Ver-bot im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geprüftwerden, ob es nicht mildere Mittel als ein generelles Verbotgibt. Zwar verlangt Art. 13 der Tabakrahmenkonvention vonallen Unterzeichnerstaaten, auch der Bundesrepublik, jedeForm der Tabakwerbung zu verbieten, allerdings nur soweit es

nationale Verfassungsgrundsätze zulassen. Insofern muss dieBundesregierung vor dem Erlass eines entsprechenden Ver-bots diese Prüfung durchführen und die Verfassungskonfor-mität darlegen. Daher halte ich ein Verbot der Plakatwerbungangesichts der Tatsache, dass sie öffentlich ohne ernsthafteBerücksichtigung des Jugendschutzes sichtbar ist, für denk-bar. Bei der Kinowerbung scheint mir eine mildere Form derEinschränkung realisierbar. Durch Beschränkungen auf Filmemit einer bestimmten Altersfreigabe oder erst ab einer festge-legten Uhrzeit der Ausstrahlung könnte dem Anliegen desJugendschutzes hinlänglich Rechnung getragen werden.

Das BVerfG hatte in einer früheren Entscheidung ausgeführt,dass Auflagen für den Vertrieb von Tabakerzeugnissen zu erwä-gen wären, wie z. B. ein Verbot des Automatenvertriebs und desVerkaufs an Jugendliche.89 Das Jugendschutzgesetz verbietetinzwischen den Verkauf von Zigaretten an Personen unter 18Jahren.90 Über Zigarettenautomaten bezogen bis 2006 mehr als50 % der jugendlichen Raucher im Alter von 14–17 Jahren ihreZigaretten.91 Ab 1. Januar 2007 werden Zigaretten an öffentlichzugänglichen Automaten nur noch mit Altersnachweis zugäng-lich gemacht. Dazu wurde ein Chip der zum Erwerb notwendi-gen EC-Karte mit einem Merkmal ausgestattet, mit dem dieBenutzer nachweisen, dass sie mindestens 16 Jahre alt sind,92

ergänzt durch Lesegeräte für EU-Führerscheine.93 Diese techni-sche Lösung setzte das mit dem Jugendschutzgesetz 2003 gere-gelte Abgabeverbot an Personen unter 16 Jahren um. DieseUmstellung führte dazu, dass die Zahl der Automaten von835.000 im Jahr 2002 auf 470.000 Anfang 2007 zurückging.94

Parallel sank der Anteil der über Automaten verkauften Zigaret-ten von etwa 33 %95 auf 14,5 %.96 Das neue Jugendschutzge-setz mit einem Abgabeverbot von Zigaretten an Personen unter18 Jahren tritt am 1. Januar 2009 in Kraft.97

Die alte Generation von Lesegeräten muss bis Ende 2008durch eine völlig neue Generation von Dokumentenlesern

VuR 12/2008 | 477

76 KOM (2001) 283 endg. v. 30.05.2001.77 KOM (2001) 283 endg. (s. o. Fn. 76), 7.78 Jha/Chaloupka (s. o. Fn. 52), S. IV. Die Autoren haben ausdrücklich darauf

hingewiesen, dass sie als Mitarbeiter der Weltbank in dieser Studie nur ihrepersönliche Meinung, nicht die der Weltbank vertreten.

79 Jha/Chaloupka (s. o. Fn. 52), S. 58.80 BVerfG, 1 BvR 3262/07 v. 30.07.2008, abrufbar unter: http://www.bverfg.

de/entscheidungen/rs20080730_1bvr326207.html; Bühring, DeutschesÄrzteblatt 33 v. 15.08.2008, 1485.

81 BVerfG, 1 BvR 3262/07 (s. o. Fn. 80), Absatz Nr. 119.82 BVerfG, 1 BvR 3262/07 (s. o. Fn. 80), Absatz Nr. 91.83 BVerfG, 1 BvR 3262/07 (s. o. Fn. 80), Absatz Nr. 95.84 BVerfG, 1 BvR 3262/07 (s. o. Fn. 80), Absatz Nr. 134.85 Richtlinie 89/622/EWG, ABl. L 359 v. 08.12.1989, 1–4.86 BVerfGE 95, 173 v. 22.01.1997, Absatz Nr. 63.87 BVerfGE 95, 173 (s. o. Fn. 86), Absatz Nr. 47, mit Verweis auf BVerfGE 71,

162 v. 19.11.1985.88 Friauf/Scholz-Scholz, Europarecht und Grundgesetz, 1990, S. 65.89 BVerfGE 95, 173 (s. o. Fn. 86), Absatz Nr. 63.90 BGBl. I 2008, S. 1075, § 10.91 Hanewinkel/Isensee, J. Verbr. Lebensm. 2/2007, 335.92 Pressemeldung des Bundesministeriums für Gesundheit v. 11.05.2006,

Lücke beim Kinder- und Jugendschutz wird geschlossen, abrufbar unter:http://www.bmg.bund.de/cln_110/nn_1169112/sid_BA27BA961E731CDD75284400AAF8EF3C/nsc_true/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/Dro-genbeauftragte/2006/pm-11-5-06.html?__nnn=true.

93 Die Tabak Zeitung v. 30.05.2008, 11.94 Pressemeldung des Bundesministeriums für Gesundheit v. 02.02.2007,

Umrüstung der Zigarettenautomaten ist Erfolg für den Jugendschutz –Anzahl der Automaten und Absatz deutlich zurückgegangen, abrufbarunter: http://www.bmg.bund.de/cln_117/nn_1195886/SharedDocs/Stan-dardartikel/DE/AZ/D/Glossar-Drogenbeauftragte/Moderne-Drogen-und-Suchtpolitik.html.

95 Pressemeldung des Bundesministeriums für Gesundheit (s. o. Fn. 94).96 Die Tabak Zeitung v. 30.05.2008, 11.97 BGBl. I 2008, S. 1075, § 10.

Paul ing, Verbraucherschutz und Tabakkontro l lpo l i t i k | A U F S Ä T Z E

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98 Die Tabak Zeitung v. 30.05.2008, 11.99 World Bank (s. o. Fn. 52).

für Führerscheine und Personalausweise ersetzt werden.98 Einlegaler Erwerb durch Personen unter 18 Jahren ist damitnicht möglich. Daten über einen missbräuchlichen Erwerbvon Personen, die nicht das gesetzlich vorgeschriebene Alterhaben, liegen nicht vor. Insofern dürfte auch in diesemBereich der Versuch weiterer gesetzlicher Einschränkungenauf den Schutz der Grundrechte nach Artt. 12 und 14 GG sto-ßen. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu beachten,dass die Frage der Eignung nach den Ausführungen der Welt-bank99 eher mit Nein zu beantworten sein dürfte. Der neueVerweis in den Empfehlungen zu Art. 13 der Tabakrahmen-konvention, wonach es sich bei Automaten um eine Formder Werbung handele, die zu verbieten sei, und damit derAutomat generell, ergänzt nicht, wie die WHO meint, die

Vorschrift in Art. 16 Abs. 1 lit. d), wonach Zigarettenautoma-ten für Minderjährige nicht zugänglich sein dürfen und nichtfür den Verkauf an Minderjährige werben dürfen, sondernverletzt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Denkbar sindallerdings Vorschriften hinsichtlich der äußeren Gestaltungder Automaten, also z. B. ein Verbot jeder Werbung am Auto-maten.

Insgesamt werden sich bei den in der Diskussion befind-lichen Vorschlägen weite Felder politischer Spielräume undinteressanter rechtlicher und vor allem verfassungsrecht-licher Diskussionen ergeben.

V E R B R A U C H E R R E C H T A K T U E L L

V E R B R A U C H E R R E C H T A K T U E L L

Bundesrat verlangt Abbau der Beratungshilfe

Nachdem der Bundesrat bereits 2006 einschneidendeBeschlüsse gefasst hat, wie das Recht der Prozesskostenhilfeeingeschränkt werden soll (VuR 2006, 265) wird jetzt ein wei-terer Vorstoß unternommen, mit dem jetzt die Möglichkeitender Beratungshilfe abgebaut werden sollen. Dazu hat sich einebreite Koalition aus Ost und West, CDU und SPD gebildet(unter der Federführung von Sachsen-Anhalt und Niedersach-sen), die jetzt einen neuen Vorstoß unternehmen, wie dieRechte der Betroffenen auf Zugang zum gerichtlichen Verfah-ren eingeschränkt werden können. Der Beschluss vom 10.Oktober 2008 beruht auf einer Gemeinschaftsvorlage (BR-Drs.648/08). Die fiskalische Zielrichtung ist deutlich: Die Kostender Beratungshilfe sollen auf ein „angemessenes Maß“ zurück-geführt werden (BR-Drs. 648/08 S. 1). Dazu werden einzelneMaßnahmen vorgeschlagen, die in ihrem Zusammenwirkenauf einen deutlichen Abbau der Beratungshilfe abzielen: – stärkere Verweisung der Betroffenen auf andere Hilfsmög-

lichkeiten;– Konkretisierung des Begriffs der Mutwilligkeit;– Pflicht zur Antragsstellung vor Gewährung von Beratungs-

hilfe;– Einführung eines Erinnerungsrechts der Staatskasse gegen

die Bewilligung von Beratungshilfe sowie– „angemessene Erhöhung der Eigenbeteiligung“ der Recht-

suchenden.

Die Hintergründe der Entwicklung liegen auf der Hand: Diezunehmende Armut einzelner Bevölkerungsgruppen hat dieZahl der Antragsteller vergrößert; gerade im Bereich des SGB IIhat die Zahl der erfolgreichen Anträge deutlich zugenommen,sodass sich daraus auch entsprechende Kosten für die Staatskas-se ergeben haben. Genau dieses Beispiel zeigt aber auch, wo dieUrsachen des fiskalischen Problems liegen: Das SGB II istunstreitig eines der handwerklich schlechtesten Gesetze der letz-ten Jahre; die Erfolgsquote der Rechtsuchenden ist überdurch-schnittlich hoch; wegen der schwierigen Durchschaubarkeit die-ser Gesetze und der defizitären Nutzung vor allem des SGB Xdurch die Arbeitsgemeinschaften/Optionskommunen sind dieRechtsuchenden regelmäßig auf professionelle Beratung ange-wiesen, die in der Mehrzahl der Fälle auch zum Erfolg führt.

In der amtsgerichtlichen Praxis wurden die Rechtsuchendenzunehmend auf die Beratung durch die Arbeitsgemeinschaften

(§ 44 SGB II) verwiesen. Dies ist wenig sinnvoll, da gerade diewenig professionelle Arbeit der Arbeitsgemeinschaften einenTeil der Probleme hervorgerufen hat. Letztlich können die vomBundesrat vorgeschlagenen Maßnahmen dazu führen, dass einTeil der Rechtsuchenden auf dem Weg durch die verschiedenenRegelungen zermürbt werden und die Rechtsverfolgung aufge-ben. Dies ist kein akzeptabler Weg. Auch im Bereich der Ver-braucherinsolvenz ist weiterhin eine sachkundige Beratung imEröffnungsverfahren in einer Reihe von Fällen erforderlich (soBGH VuR 2007, 273 m. Anm. Kohte). Auch hier führt der restrik-tive Vorschlag des Bundesrats, mit dem die von den Betroffenenzu zahlende Beratungshilfegebühr verdoppelt werden soll, indie Sackgasse. Bemerkenswert ist hier vor allem, dass sich durchdiese Verfahren die Verfahrensdauer und die Kosten erhöhen,sodass die Vorlage unter jedem Gesichtspunkt abzulehnen ist.Die Bundesregierung hat bisher erklärt, dass sie diesen Abbauder Beratungshilfe nicht unterstützen wird. Es ist geboten, andieser eindeutigen Position festzuhalten.

Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Halle/Saale

Neue Prozesskostenhilfebekanntmachung

Nach der Prozesskostenhilfebekanntmachung 2008, die am12. Juni 2008 veröffentlicht wurde (PKHB 2008, BGBl. IS. 1025), sind die bisherigen Einkommensfreibeträge für dieProzesskostenhilfe um die beachtliche Summe von zwei bisvier Euro erhöht worden.

Die vom 1. Juli 2008 bis zum 30. Juni 2009 maßgebendenBeträge, die nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchstabe b undNr. 2 der Zivilprozessordnung vom Einkommen der Parteiabzusetzen sind, betragen:

1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielen(§ 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchstabe b der Zivilprozessordnung),176 Euro,

2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren Lebenspartner(§ 115 Abs. 1Satz 3 Nr. 2 Buchstabe a der Zivilprozessordnung),386 Euro,

3. für jede weitere Person, der die Partei auf Grund gesetzlicherUnterhaltspflicht Unterhalt leistet (§ 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2Buchstabe b der Zivilprozessordnung), 270 Euro.

Höhere Rückversicherungsprämien möglich

Auf deutsche Bank- und Versicherungskunden kommenmöglicherweise bald höhere Kosten zu – nämlich dann,wenn die Prämien für Rückversicherungsverträge steigen.Wie der Vorstandsvorsitzende der Münchener Rück, Nikolausvon Bomhard, in einem Interview mit der Frankfurter Allge-meinen Zeitung (FAZ) sagte, könne sein Unternehmen imMarkt derzeit höhere Rückversicherungspämien realisieren.

In Rückversicherungsverträgen versichern sich Banken undVersicherungen gegen geschäftliche Risiken. Wenn diePrämienzahlungen für diese Verträge steigen, steht zuerwarten, dass die Unternehmen ihre Mehrkosten an dieKunden weitergeben werden.

Quelle: www.banktip.de, v. 10.11.2008

Vorsicht Online-Banker: WPA geknackt

Wer sein Konto online führt und dabei ein Funknetzwerk(WLAN) benutzt, sollte auf den aktuellen Verschlüsselungs-standard WPA2 achten. Wie das IT-Magazin Chip im Internetberichtet, kann die bisher als sicher geltende Verschlüsselungmit WPA innerhalb von 15 Minuten geknackt werden. EinemVerschlüsselungsexperten der Technischen Universität Darm-stadt sei das gelungen. Funknetzwerke, die mit WPA2 ver-schlüsselt sind, gelten jedoch weiterhin als sicher.

Quelle: www.banktip.de, v. 07.11.2008

Zypries äußert Bedenken gegen Berufsordnung fürInsolvenzverwalter

In Deutschland wird es wohl auch in Zukunft keine gesetzlichenVorgaben für die Berufsbezeichnung «Insolvenzverwalter» geben.Eine entsprechende Berufsordnung sei mit dem Europarecht ver-mutlich nicht vereinbar, sagte Bundesjustizministerin BrigitteZypries (SPD) am 07.11.2008 in Potsdam.

Zypries war zu Gast bei einer Tagung des Verbands der Insol-venzverwalter Deutschlands (VID). Die Vereinigung befür-wortet gesetzliche Auflagen, die den Kreis der derzeit 18.000Insolvenzverwalter in Deutschland verringern und die Pro-fessionalität der Berufsgruppe steigern sollen. Dazu sagteZypries vor 350 Zuhörern: „Es darf nicht der Eindruck entste-hen, als würden eigene Pfründe gegen unliebsame Konkur-renz abgeschirmt.“ Richter berufen nach aktuellem RechtInsolvenzverwalter, bei denen es sich laut Gesetz um eine

„geeignete Person“ handeln muss. Diese Formulierung istnach Ansicht des VID zu weitläufig und ungenau. Im Gegen-satz zu Anwälten haben Insolvenzverwalter keine Kammern,deren Anforderungen sie erfüllen müssen.

Auch die Auswirkungen der Finanzkrise standen auf demTagungsprogramm. Nach VID-Angaben hat die Zahl derUnternehmenspleiten in den vergangenen Monaten deutlichzugenommen. Zugleich sei der Auftragseingang im verarbei-tenden Gewerbe dramatisch zurückgegangen. Wenn sich dieHoffnungen der Einzelhändler auf das Weihnachtsgeschäftnicht erfüllten, sei auch hier mit einem spürbaren Anstieg derInsolvenzen zu rechnen.

Quelle: Beck-aktuell-Redaktion (dpa), v. 10.11.2008

Weniger Insolvenzen als im Vorjahr

Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Insolvenzen inDeutschland im August 2008 zurückgegangen.

Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) berichtet, ging dieGesamtzahl der Insolvenzen im August 2008 im Vergleichzum August 2007 um 13 Prozent zurück. Wobei die Ver-braucherinsolvenzen um 15 Prozent und die Unter-nehmensinsolvenzen um 8,7 Prozent abnahmen.

Von Januar bis August 2008 wurden insgesamt 65 223 Insol-venzen von Verbrauchern (10,2 Prozent weniger im Vergleichzum Vorjahreszeitraum) und 19743 Insolvenzen vonUnternehmen (6,4 Prozent weniger als 2007) gemeldet. Ins-gesamt registrierten die Gerichte 103786 Insolvenzen, daswaren 9,2 Prozent weniger als im Zeitraum von Januar bisAugust 2007.

Die voraussichtlichen offenen Forderungen der Gläubigerbezifferten die Gerichte für den August 2008 auf 2,2 Milliar-den Euro gegenüber 2,5 Milliarden Euro im Vergleich zumAugust des Vorjahres.

Die Veränderungsraten beziehen sich auf Berechnungenohne Nordrhein-Westfalen, da in Nordrhein-Westfalen dieInsolvenzfälle 2007 nicht periodengerecht gemeldet wurden,heißt es beim Statistischen Bundesamt.

Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre lässt sichaber die Entwicklung für Deutschland insgesamt auchanhand der Ergebnisse der übrigen 15 Bundesländerdarstellen, so das Statistische Bundesamt.

Quelle: www.banktip.de, v. 07.11.2008

VuR 12/2008 | 479

B U C H B E S P R E C H U N G E N

Mewes, Marc LotharÖffentliches Recht und Haftungsrecht in derRisikogesellschaft. Die Defizite desöffentlichen Rechts und die Möglichkeitenund Grenzen der Risikosteuerung durchHaftungsrecht und HaftpflichtversicherungPeter Lang – Europäischer Verlag derWissenschaften, Frankfurt am Main etc. 2006,258 S.

In dieser von Gerhard Struck betreuten Ham-burger Dissertation untersucht der Verfasserdem Untertitel zufolge die Möglichkeiten der Ri-sikosteuerung durch Haftungsrecht und Haft-pflichtversicherung; wahrhaft eine Herkulesar-beit für einen Doktoranden. In Bremen war einmehrjähriges DFG-Graduiertenkolleg diesemThema gewidmet. Auf den zweiten Blick zeigtsich, dass es um die Ergänzung des Bundesim-

missionsschutzgesetzes durch privates Haf-tungsrecht geht.

Wie der Haupttitel deutlich macht, nutzt die Ar-beit geschickt die Sogwirkung von Ulrich Beck’sRisikogesellschaft. In einem Eingangskapitel – ge-nannt Teil 1 – wird dieses Buch von Beck und diesozialwissenschaftliche Kritik daran auf knapps-tem Raum vorgestellt. Ergebnis ist, dass „Inno-

B U C H B E S P R E C H U N G

vationen technisch-wissenschaftlicher Art not-wendig sind“ und moderne Gesellschaften „da-her notwendig Risikogesellschaften“ sind(S. 29).

In Teil 2 werden die Konturen eines Rechts in derRisikogesellschaft vorgestellt und die systemthe-oretische Orientierung des Verfassers deutlich:Ausgehend von der Nicht-Vorhersehbarkeit derZukunft, müsse das Recht vorhandenes Wissenrasch „inkooperieren“ (inkorporieren?) und neu-es Wissen generieren. (Letzteres ist wohl eher dieAufgabe des Systems Wissenschaft.) Wegen derMöglichkeit von Fehlprognosen, müsse dasRecht revisionsoffen ausgestaltet sein. Mit Blickauf das private Haftungsrecht hat Mewes von sei-nem immissionschutzrechtlichen Ausgangs-punkt insbesondere die Normenkomplexe§§ 906, 1004 und § 823 BGB (Verkehrssiche-rungspflichten) im Fokus. Die Funktionen desHaftungsrechtsrechts sieht er dabei in der Aus-gleichs-, Präventiv- und Korrekturfunktion sowiein der Nachsorge.

In Teil 3 wird das Bundesimmissionsschutzrechtals Beispiel öffentlich-rechtlicher Umweltpolitikunter Ungewissheit vorgestellt, und seine Voll-zugsdefizite werden benannt.

In Teil 4 geht es dann um den Stellenwert desHaftungsrechts als möglichen Korrektivs dieserDefizite. Erneut werden die vier Funktionen be-handelt. Im Vordergrund steht die Präventiv-funktion. Mewes setzt sich intensiv mit der The-se Schmidts auseinander, dass aus der Versiche-rungsperspektive (bei Pflicht- wie freiwilligerHaftpflichtversicherung) nur die Rolle des Kos-tenträgers wechsele, eine Präventivwirkung aberweitgehend entfalle (S. 71 ff.). Nun, die literari-schen Auseinandersetzungen um diese Fragefüllen – national und international – mittlerwei-le Bibliotheken. Empirische Befunde sind unver-ändert dünn. Der Verfasser verweist für den Be-reich des Umweltschutzes auf die informieren-de, kontrollierende und tarifierende Rolle derHaftpflichtversicherungen (vgl. dazu insbes.Herbst, Risikoregulierung durch Umwelthaftungund Versicherung, 1996). Ob dies auch für dasMassenphänomen Kfz-Haftpflichtversicherungzutrifft, steht dagegen auf einem anderen Blatt.Mewes kommt jedoch nach nur 20 Seiten zu deruneingeschränkten Aussage, dass „dem Haf-

tungsrecht eine Präventivfunktion zukommt, ander sich auch durch Abschluss von Haftpflicht-versicherungen nichts ändert“ (S. 94). Die Fra-ge nach der effektiven Ausgestaltung des Haf-tungsrechts – Verschuldens- oder Gefährdungs-haftung (das Leib-und-Magen-Thema der öko-nomischen Analyse des Rechts) – wird nur amRande angesprochen. Unter Nachsorge verstehter post marketing-Aktivitäten des Unterneh-mens wie bei der Produktbeobachtungspflicht.Die Korrekturfunktion des Haftungsrechts wirdzutreffend in der situativen post factum-Orien-tierung des Schadensersatzrechts gesehen.Hauptbeispiel: Das Unterlaufen von der gene-rellen staatlichen Gefahrsteuerung dienendenGrenzwerten und in Bezug genommenen tech-nischen Normen (DIN etc.) zur Haftungsbe-gründung im Einzelfall – was demgegenübernoch unter Feinsteuerung zu verstehen ist,bleibt etwas diffus.

Teil 5 ist mit Detailfragen des privat-rechtlichenUmweltschutzes überschrieben. Hier geht es je-doch in erster Linie um die fragwürdige Ge-schichte der Entwicklung einer immobiliar-rechtlichen Gefährdungshaftung aus § 906 II 2und um die leidige Störerhaftung und ihr unge-klärtes Verhältnis zur Delikts- und Gefährdungs-haftung. Letzteres Problem hat sich mittlerweileauch schon ins Internet-Recht „weitergefressen“(Stichwort: Provider-Haftung; vgl. BGH WRP2008, 1104 – Rolex). Der Verfasser verliert sichentgegen seinem aufklärerischen Impetus in denQuisquilien der dogmatischen Diskussion. Wel-ches Maß an Training in Absurdität braucht es,dass selbst ein Senat des BGH ernsthaft in einemUrteil die Frage stellt, „ob derjenige, der mit ei-nem Stein eine Scheibe einwirft, negatorischverpflichtet ist, nur den Stein zu beseitigen oderauch die zerbrochene Scheibe zu ersetzen“(BGH NJW 1996, 845, 846; ernsthaft von Verf.diskutiert auf S. 124). Wohl jede andere Rechts-ordnung der Welt löst jedenfalls diesen Fall de-liktsrechtlich; so eigentlich auch das deutscheRecht: §§ 823 I, 249 I und II 1 BGB (mag er sichnegatorisch darstellen wie auch immer)! Von ei-ner Arbeit zum Haftungsrecht als „Pionier“ derRisikogesellschaft hätte man hier mehr Mut zurEntrümpelung erwarten dürfen. Wieso ist ei-gentlich die richterliche Entwicklung einer Ge-fährdungshaftung bei § 906 II 2 zulässig, wäh-rend jede Analogie zu gefährdungshaftungs-

rechtlichen Einzeltatbeständen tabuisiert ist? DieKupolofen-Entscheidung des BGH, befreit vonder Last des § 906, enthält das Zeug zur Ent-wicklung einer quasi-strikten Umwelt-Unterneh-menshaftung. Auch letzterer Aspekt – Unter-nehmenshaftung – kommt vor lauter Hand-lungs- und Zustandsstörern praktisch gar nichtvor.

Das prozessuale Grundproblem in diesem Teil 5ist der Nachweis der Kausalität. Zu kritisieren istder missverständliche Gebrauch des Begriffs derWahrscheinlichkeitshaftung. Diese hat entgegenMewes mit der Herabsenkung des Beweismaßesauf überwiegende Kausalität nichts zu tun. Siestellt sich erst dann, wenn der naturwissen-schaftliche Beweis – mit welchem Beweismaßauch immer – nicht geführt werden kann. Be-weiserleichterungen bis hin zur Beweislastum-kehr und Beweismaßfragen stehen im Mittel-punkt der Ausführungen. Hier werden auch dieVerkehrssicherungspflichten behandelt, die manvielleicht etwas früher erwartet hätte. Dabeigeht es hier wohl eher um den Verschuldens-nachweis als um den Kausalitätsbeweis.

Den Abschluss dieses Großkapitels 5 bildet eineDarstellung der Haftung nach dem UmweltHG.

Nun, der Eindruck insgesamt ist eher diffus. Hier– wie so oft – wäre weniger mehr gewesen. Zuviel wird angesprochen, das Meiste bleibt an derOberfläche. Neue Einsichten sind Mangelanzei-ge. Die Arbeit verschafft eher einen Überblick.Die zitierte Literatur ist umfangreich. Zu Detail-fragen ist man aber auf Einzeluntersuchungenverwiesen. Nicht unerwähnt bleiben kann auchein unübersehbarer Mangel der Formalien. Je-mand soll Korrektur gelesen haben; dies jeden-falls ohne großen Erfolg. Auch die Angaben inden Fußnoten sind oft unzutreffend oder unzu-reichend. Wer etwa mehr über den spektakulä-ren Amoco Cadiz-Fall (S. 73 Fn. 512) erfahrenmöchte, wird auf eine nicht zugängliche Websi-te und auf einen interessanten Hintergrundauf-satz von Teubner verwiesen, der allerdings aufdiesen Fall nicht eingeht. Eine Fundstelle für dasangesprochene Urteil wird auch nicht angege-ben.

Prof. Dr. Gert Brüggemeier, Bremen

480 | VuR 12/2008

B U C H H I N W E I S

Klaus TonnerPauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte -Zur Reform des gemeinschaftlichen Besitz-standes im VerbraucherschutzSchriftenreihe der Verbraucherzentrale Bundesver-bandes zur Verbraucherpolitik Band 11, BWV Ber-liner Wissenschafts-Verlag, 2008, 127 S., 19,20 C,ISBN 978-3-8305-1536-4.

Die im Berliner Wissenschaftsverlag erschieneneSchrift geht auf ein Gutachten zurück, das derVerfasser der Verbraucherzentrale Bundesver-

band erstattet hat. Es beantwortet die Frage-stellungen, die sich für die Verbraucherpolitikaus der derzeitigen Überarbeitung der verbrau-cherschutzrechtlichen Richtlinien der Euro-päischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der bei-den für den touristischen Sektor einschlägigenRichtlinien, der Pauschalreise-Richtlinie und derTeilzeitnutzungsrechte-Richtlinie, ergeben. DasGutachten beschreibt die Verbraucherproble-me, die durch den geltenden Rechtszustandnicht befriedigend gelöst sind, und unterbreitetVorschläge zur Abhilfe bei der derzeitigen Über-

arbeitung. Als langfristiges Ziel schwebt demVerfasser eine Richtlinie über touristische Dienst-leistungen vor.

Der Teil über die Teilzeitnutzungsrechte-Richtli-nie stammt aus der Feder von Enrico Gaedtke,Mitarbeiter am Lehrstuhl Tonner in Rostock.Größere Auszüge aus diesem Teil wurden bereitsin VuR 2008, 130 (Heft 4) veröffentlicht. Wir be-dauern, dass dort der Hinweis fehlt, dass es sichum Auszüge aus dem Gutachten für den Ver-braucherzentrale Bundesverband handelt.

B U C H H I N W E I S

VuR 12/2008 | V

I N F O R M AT I O N E N

■ In der französischen VerbraucherzeitschriftINC Hebdo Nr. 1491 vom 16.10.2008 fin-det sich ein Artikel über Kredite mit vari-ablen Zinssätzen. Die Kreditinstitute müs-sten Simulationen durchführen, umkünftigen Kunden die Auswirkung einer Zins-änderung zu demonstrieren. Somit sei derKreditnehmer zwar etwas besser informiertund dies könne als Fortschritt bewertet wer-den, sei aber sicherlich keine Revolution, soINC Hebdo. Die Simulation stelle keine Ver-pflichtung für den Darlehensgeber dar. DieKreditinstitute hätten die Kreditnehmerebenfalls jedes Jahr über die Höhe des nochzurückzuzahlenden Betrages in Kenntnis zusetzen. Diese Neuheiten ergäben sich ausden seit dem 1. Oktober dieses Jahres in Kraftgetretenen Bestimmungen des Wettbe-werbsförderungsgesetzes vom 3. Januar2008 zugunsten der Verbraucher.

■ Die Zeitschrift des belgischen Verbraucher-verbandes CRIOC, Du Côté des Consomma-teurs, berichtet am 21.10.2008, Verbraucher-schutzorganisationen begrüßten den Planeiner Fusion von Treueprämie und Wachs-tumsprämie von Sparkonten. Dies hätte derbelgische Finanzminister am Morgen des Er-scheinens des besagten Artikels im staatlichenbelgischen Rundfunk angekündigt. Damit seinun die schon vor Jahren aufgestellte Forde-rung der Verbraucherschutzorganisationennach mehr Transparenz und mehr freiemWettbewerb zwischen den Finanzinstanzenerfüllt. Diese beiden Kriterien seien unerläss-lich, um den Motor wieder in Gang zu set-zen. Natürlich zeigten sich die Verbraucher-verbände erfreut über diese Initiative unddrängten darauf, dass dieser Plan schnellst-möglich in die Tat umgesetzt werde.

■ In einer Pressemitteilung der europäischenVerbraucherschutzorganisation BEUC vom08.10.2008 geht es um Verbraucherrechtebeim Einkaufen. Wie solle der Käufer sich ver-halten, wenn er im Laden etwas kaufe, wasnach zwei Monaten kaputt ginge, er telefo-nisch oder online etwas erwerbe, das erstdrei Monaten später oder gar nie geliefertwerden würde? Die Kommission habe einenVorschlag eingebracht, um vier Verbraucher-richtlinien zusammenzufassen: Verkauf undGewährleistung, unzulässige Vertragsbedin-gungen, Versandhandel und Haustürgeschäf-te. Das Ziel des Vorschlags bestehe darin,mehr Kohärenz zu schaffen und diese Regu-larien auf den neuesten Stand zu bringen,um damit das Vertrauen der Verbraucher ingrenzüberschreitende Kaufgeschäfte und dieWettbewerbsfähigkeit des Handels zu stei-gern. Der Vorschlag würde sich auf den All-tag aller Verbraucher in Europa auswirken. Erstelle einen fundamentalen Wendepunkt indem Bestreben der EU nach verstärkter Ver-braucherpolitik und Gesetzgebung dar, in-dem er das 25 Jahre alte Prinzip der minima-len Harmonisierung aufgebe, das es fürMitgliedsländer unmöglich mache, mehr Ver-braucherschutzmaßnahmen auf den Weg zubringen. Dieses Prinzip werde nun durch dasder vollen Harmonisierung ersetzt. Da derRolle der Mitgliedsstaaten nun engere Gren-zen gesetzt seien, obliege es nunmehr derKommission, für Verbraucher in Europa beimAbschluss von on- und offline-Verträgen fürein hohes Maß an Schutz zu sorgen. BEUCbemängelt, dass eine ganze Reihe wichtigerVerbraucherbelange nicht berührt werdenund führt diese im Einzelnen auf. Abschlie-ßend werden entsprechende Verbesserungs-vorschläge aufgestellt.

■ Die Zeitschrift Informationen zum Verbrau-cherrecht des österreichischen Vereins fürKonsumenteninformation (VKI) berichtetüber Intransparenz bei Lebensversiche-rungen. Hier fehle es in vielen Fällen anTransparenz bei Abschlusskosten, Perfor-mance und Gewinnermittlung. In den letz-ten Jahren seien in Österreich viele Millio-nen Lebensversicherungen abgeschlossenworden. Erst nach dem Abschluss stellte sichoft heraus, dass die Versicherung in einigenPunkten undurchsichtig sei. So könne, werseine Lebensversicherung vorzeitig auflöse,eine böse Überraschung erleben. Denn er be-komme oft nur einen Bruchteil des einbe-zahlten Geldes rückerstattet. Der Grund hier-für sei, dass am Beginn hohe Abschlusskostenverrechnet worden seien. Hinzu kämen imRückkaufsfall unter Umständen weitere Stor-noabschläge. In älteren Versicherungsbedin-gungen würde dieses Risiko einer vorzeiti-gen Auflösung oft nur mangelhaft erklärtwerden. Der VKI habe daher – im Auftragdes BMSK – zahlreiche Klagen gegen Le-bensversicherungen eingebracht. Die Klagensollten bewirken, dass in Zukunft besser in-formiert und für die Vergangenheit Geld zu-rückbezahlt werde. Der Oberste Gerichtshofhabe dem VKI Recht gegeben. Außerdemorganisiere der VKI im Auftrag des BMSK fürGeschädigte auch eine Sammelintervention.

Übersetzungen: Doris Luik, Hamburg

V E R B R A U C H E R Z E I T S C H R I F T E N I M A U S L A N D

Die entsprechenden Links auf dieaktuellen Zeitschriften finden Sie imInternet unter www.vur-online.deunter der Rubrik „Verbraucherzeitschrif-ten im Ausland“.

Grundlagen und Grenzen der Geschäftsleiterhaftung in Deutschland und EnglandVon Dr. Jörg Hanke, MLE2008, 430 S., brosch., 78,– €, ISBN 978-3-8329-3662-4(Nomos Universitätsschriften – Recht, Bd. 572)

Der Autor vergleicht die Haftung der AG-Vorstände und GmbH-Geschäftsführer mit derdes directors englischer limited companies. Auf Grundlage der gewonnenen Ergebnisse entwickelt er ein Modell, wie die Haftung von AG-Vorständen de lege ferenda begrenztwerden kann, ohne zugleich die Haftung als solche ad absurdum zu führen.

Bitte bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de

VI | VuR 12/2008

Neues VVG und aktuelle Rechtsprechungim Versicherungsrecht 24. Januar 2009, Heusenstamm, DAI-Ausbil-dungscenter Rhein/Main

Ab dem 1. Januar 2009 gilt das neue VVGauch für alle „alten“ Versicherungsverträge.Die Veranstaltung richtet sich an Rechtsan-wälte, die Erfahrung im bisherigen Versiche-rungsvertragsrecht besitzen und ohne Über-gangsschwierigkeiten die Qualität ihrerBeratung auch nach dem neuen VVG beibe-halten möchten. Ziel ist es daher, ausgehendvon dem vertrauten Normkomplex, eine si-chere Beherrschung der Neuregelungen ein-schließlich erster praktischer Erfahrungen mitdem novellierten Recht zu vermitteln.

Weitere Information: www.anwaltsinstitut.de Fax: 0234 - 70 35 07 E-Mail: [email protected]

Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie Das neue Verbraucherdarlehensrecht 28. Januar 2009, Eschborn/Frankfurt a. M.,Mercure Eschborn Ost

Seit 17. Juni 2008 liegt der Referentenent-wurf für ein „Gesetz zur Umsetzung der Ver-braucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichenTeils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie zurNeuordnung der Vorschriften über das Wider-rufs- und Rückgaberecht“ vor. Nach derzeiti-gen Planungen soll der Entwurf im Oktober2009 vom Bundeskabinett verabschiedet undin das parlamentarische Verfahren einge-bracht werden.

Mit dem Umsetzungsgesetz sollen ab 31. Ok-tober 2009 u. a. die Vorgaben der Verbrau-cherkreditrichtlinie (Richtlinie 2008/48/EG v.23.4.2008) in ihrem zivilrechtlichen Teil imBGB im Bereich der Vorschriften über den Dar-lehensvertrag (§§ 488 ff. BGB) in Kraft treten.Lediglich die ordnungsrechtlichen Vorschrif-ten zu Werbung, Beaufsichtigung, Bonitäts-prüfung, Zugang zu Datenbanken und Be-rechnung des effektiven Jahreszinses sollen indie Spezialgesetze integriert werden, die fürdiese Materien bereits bestehen (Kreditwe-sengesetz [KWG], Bundesdatenschutzgesetz[BDSG], Preisangabenverordnung [PAngV]).Um die im Zusammenhang mit den Muster-belehrungen zum Widerrufs- und Rückgabe-recht (Anlagen 2 und 3 zur Verordnung überInformations- und Nachweispflichten nachbürgerlichem Recht – BGB-InfoV) nach wievor bestehende Rechtsunsicherheit durch ei-ne formellgesetzliche Regelung zu beseiti-gen, sollen die Regelungen der §§ 312 ff. BGBvereinfacht werden, indem die darin enthal-

tenen Informationspflichten teilweise in dasEGBGB ausgelagert werden. Die Musterbe-lehrungen erhalten als Anlagen 1 und 2 zumEGBGB den Rang eines formellen Gesetzes.

Es ist damit zu rechnen, dass dieser Entwurf imweiteren Normgebungsverfahren weitge-hend unverändert bleibt. Damit gilt es be-reits jetzt, sich auf das ab November 2009 gel-tende Recht einzustellen.

Hier greift das Seminar ein. Es werden dieGrundstruktur und die für das tägliche Bank-geschäft besonders relevanten Inhalte desVerbrauchkreditrichtlinieumsetzungsgesetzesanhand von Beispielen erläutert.

Programm: Einführung ins neue Verbraucherdarlehens-recht: ● Rückblick auf die Entwicklung der Ver-

braucherkreditrichtlinie ● Erwägungsgründe und Harmonisierungs-

ansatz ● Übersicht über die wesentlichen Rege-

lungsinhalte ● Nennung der wichtigsten Änderungen im

Vergleich zu §§ 491ff BGB ● Stand des Gesetzgebungsverfahrens sowie

Zeitplan

Gesetzestechnik: ● Sachlicher und persönlicher Anwendungs-

bereich: – erfasste und nicht erfasste Kreditarten,

insbesondere ÜZ-Kredite und Hypo-thekarkredite

– Verbraucherbegriff und Schutzzweckder Richtlinie

– Sonstige Begrifflichkeiten ● Harmonisierung und nationale Gestal-

tungsspielräume ● Bedeutung der Datenbanken ● Aufsichtsrechtliche Vorschriften

Erweiterter Pflichtenkanon des Kreditgebersund Kreditvermittlers: ● Standardinformationen in der Werbung

(Art 247 § 18 EG-BGB) – Umfang der Regelung – Zusammenhang mit der Richtlinie über

missbräuchliche Geschäftspraktiken(2005/29/EG)

– Auswirkungen auf die PAngV ● Vorvertragliche Informations- und Erläute-

rungspflichten – Präsenzgeschäft – Fernabsatz – Kreditvermittlung

● Förderung verantwortungsvoller Verfah-rung in allen Phasen der Kreditvergabe – Vorstellungen der RiLi – Umsetzung durch den deutschen Ge-

setzgeber – Rolle und Verantwortungsbereich des

Kreditgebers

– Praktische Umsetzung des Grundsat-zes

– Haftung und Sanktion – Mitwirkungspflichten des Kreditneh-

mers ● Zwingende Angaben im Kreditvertrag

– Umfang der Angabepflicht – Praktische Umsetzung – Sanktionen bei Verstoß

● Informationspflichten während der Kre-ditlaufzeit

Stellungnahme zu den Anforderungen an dieKreditinstitute: ● Erwartung an den Gesetzgeber bei der

Umsetzung ● Informations- und Erläuterungspflichten

und Transparenz

Abschluss und Widerruf: ● Formvorschriften und Sanktionen bei Ver-

stoß ● Widerrufsrecht des Kreditnehmers

– Mögliche Ausnahmen vom Widerrufs-recht

– Formulierung der Widerrufsbelehrung – Ausübung des Widerrufsrechts und

Rechtsfolgen

Zinsen: ● Definitionen des Sollzinssatzes ● Berechnungsfaktoren ● Fiktive Angaben ● Änderung des Zinssatzes, insbesondere

beim variablen Sollzinssatz

Beendigung des Kreditvertrages: ● Allgemeine Grundsätze zur Beendigung ei-

nes Kreditvertrages ● Recht des Verbrauchers zur vorzeitigen Be-

endigung ● Anspruch des Kreditgebers auf Vorfällig-

keitsentschädigung

Forderungsabtretung und Ausplatzierung: ● Neuregelung der Forderungsabtretung ● Umsetzung von Art 16 RiLi durch § 493

Abs. 3 BGB ● Auswirkungen auf ABS-Transaktionen

Das neue Verbraucherdarlehensrecht aus demBlickwinkel des Verbrauchers: ● Verbraucherschutz in Europa und Deutsch-

land ● Transparenz und Vergleichbarkeit ● Schutz vor Überschuldung

Weitere Information: www.wm-seminare.com Stephan Mänecke Tel. 069 /2 732-567 E-Mail: [email protected]

V E R A N S TA LT U N G S H I N W E I S E

I N F O R M AT I O N E N

VuR 12/2008 | VII

I N F O R M AT I O N E N

Umgang mit notleidenden geschlossenenFonds 11. Februar 2009, Eschborn/Franfurt a. M.,Mercure Frankfurt-Eschborn Helfmann-Park

Die Zahl notleidender geschlossener Immo-bilienfonds ist angesichts der sich mittlerwei-le auch in Deutschland eintrübenden Kon-junktur wieder im Steigen begriffen. BeiMedienfonds werden in nächster Zeit die ers-ten Fälle beim BGH entschieden. Dies hat Aus-wirkungen auf daran beteiligte Kapitalanleger,aber auch Kreditinstitute, die solche Fondsbzw. die Beteiligungen solcher Kapitalanle-ger finanziert haben.

Statt Krisenmanagement zu betreiben, wer-den Gerichte bemüht. Kapitalanleger versu-chen, sich von ihrem Investment zu trennen,Kreditinstitute versuchen, eigene Forderun-gen und Sicherheiten durchzusetzen. Bei steu-erorientierten Fonds stellt die Finanzverwal-tung mitunter ursprünglich anerkannteSteuervorteile rückwirkend in Frage.

Inzwischen liegt eine Fülle veröffentlichterEntscheidungen von EuGH, BGH, OLGs, LGs,BFH, FGs vor. Dennoch stellen sich zahlreicheFragen: Haben die Entwicklungen zumSonderrecht der Publikums-Personengesell-schaften Auswirkungen auf notleidende ge-schlossene Fonds? Wie wirkt sich diese Recht-sprechung auf die Rechtsbeziehungen vonKapitalanlegern und finanzierenden Kreditins-tituten aus? Inwieweit haftet der Fiskus fürdie steuerliche Konstruktion? Welche Risikengibt es bei Medienfonds und wie können siebegrenzt werden? Was sollten Anwälte vonAnlegern, Fonds und Kreditinstituten bei Be-ratung und Prozessführung beachten?

Programm: Aktuelle Rechtsprechung zu notleidendenFonds: ● Geschlossene Immobilienfonds ● Medienfonds

Widerruf der Fondsbeteiligung bzw. des Dar-lehensvertrages

Voraussetzungen und Rechtsfolgen des ver-bundenen Geschäfts

Medienfonds: ● Typische Merkmale von (notleidenden)

Medienfonds ● Risiken und Risikobegrenzung ● Haftungsfragen (inkl. aktuelle Entwicklun-

gen)

Entwicklungen zum Sonderrecht der Publi-kums-Personengesellschaften - Auswirkungenauf notleidende geschlossene Fonds

Fragwürdigkeit der steuerlichen Argumenta-tion bei Medienfonds: Haftet der Fiskus?

Weitere Information: www.wm-seminare.com Stephan Mänecke Tel. 069 /2 732-567 E-Mail: [email protected]

Der Fernabsatz von FinanzdienstleistungenUmsetzung der Richtlinie 2002/65/EG im Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei FinanzdienstleistungenVon RA u Stb Dr. Christoph Imschweiler2008, 361 S., brosch., 88,– €, ISBN 978-3-8329-3853-6(Studien zum Bank- und Kapitalmarktrecht, Bd. 5)

Der Autor überprüft umfassend die Umsetzung der Richtlinie zumFernabsatz von Finanzdienstleistungen 2002/65/EG. Die Anfor-derungen, denen Anbieter von Finanzdienstleistungen und Ver-sicherungen im Direktvertrieb gerecht werden müssen, und die weitreichenden Verbraucherrechte untersucht er hinsichtlich ihrerpraktischen Anwendung und Rechtsfolgen. Die Frage nach einer richt-linienkonformen Auslegung der deutschen Umsetzungsnormen – §§ 312b ff. BGB und §§ 48a ff. VVG – ist dabei ein zentraler Bestand-teil der Arbeit. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Defizite der Umsetzungsnormen im Wege einer richtlinienkon-formen Auslegung ausgeräumt werden können, so dass die Umset-zung im Wesentlichen ordnungsgemäß erfolgt ist.

Aktuelle Neuerscheinung.

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