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„What they see is what you get“ Unterschiede zwischen Hoch- und Niedrigverordnern von Antibiotika in der Hausarztpraxis Thomas Kühlein KVB-Hygienetag Bayreuth am 21.04.2018

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„What they see is what you get“Unterschiede zwischen Hoch- und Niedrigverordnernvon Antibiotika in der Hausarztpraxis

Thomas Kühlein

KVB-HygienetagBayreuth am 21.04.2018

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„A diagnosis is a provisional formulae designedfor action“ Cohen H. The nature, methods and purpose

of diagnosis. Lancet 1943; Jan 2:23-25

Ogden CK und Richards IA, 1989. The meaning of meaning.

A study of the influence of language upon thought and of the science of symbolism.

(Erstpublikation 1923) Harcort Brace Jovanovich, San Diego

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100%

0%

Therapieschwelle

Diagnostikschwelle

Diagnosesicherheit?

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Howie JGR, Family trends in psychotropic and antibioticprescribing in generalpractice. BMJ 1980:280;836

Vielschichtigkeit

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Wie gut sind HausärztInnen als Diagnostiker?

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Diagnosing pneumonia in patients with acute cough: clinical judgment compared to chest radiography

SF van Vugt, ThJM Verheij, PA de Jong, CC Butler, K Hood, S Coenen, H Goossens,P Little, BDL Broekhuizen, on behalf of the GRACE Project Group

European Respiratory Journal. Published on

January 24, 2013

as doi: 10.1183/09031936.00111012

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Ergebnisse: 140 Patienten hatten im Röntgen einePneumonie (5%), von denen 41 (29%) von den HÄ erkannt wurden.

…Von den Patienten bei denen HÄ eine Pneumoniediagnostiziert hatten, fand sich im Röntgen in 57% der Fälle eine Pneumonie (positiver prädiktiver Wert). Der negative prädiktive Wert, … lag bei 96%..

Patients mit radiologischer Pneumonie, die von den HÄ nicht diagnostiziert worden waren, hatten wenigerschwere Symptome, …

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Vertrauen Sie Ihrem negativen Urteil!

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Wie gut ist der Radiologe?

Kappa war 0.45 (…mäßigeÜbereinstimmung). Die positive Übereinstimmung lag bei 48%, die negative Übereinstimmung bei 97%

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Was ist der Haupterreger der ambulant erworbenen Pneumonie?

Von 2.259 Patienten mit radiologisch gesicherter Pneumonie wurde in 38% ein Erreger gefunden: Ein oder mehr Viren 23%, Bakterien 11%, Bakterien + Viren 3%, Pilze 1%. Die häufigste Erreger waren: Rhinoviren (9%), Influenza-Viren (6%), Pneumokokken (5%)

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Trotzdem: Therapie der ambulant erworbenen Lungenentzündung? 100%Antibiotikum!

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Diskussion: Trotz klarer Evidenz, Leitlinien, qualitätssichernden Maßnahmen, und mehrals 15 Jahren Fortbildungsanstrengungen mitder Botschaft, dass die Verschreibungsratebei Null liegen sollte, lag die Verschreibungs-rate von Antibiotika bei akuter Bronchitis bei71% und stieg im Studienzeitraum sogar an. Die Ärzte verschreiben weiterhin teureBreitspektrumantibiotika.

Akute Bronchitis

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Grippaler Infekt

„gehs‘de zum Arzt dauert‘s zwei Wochen, gehs‘de nicht, dauert‘s 14 Tage“

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Fallbeispiel

76 jährige Patientin, Freitagnachmittag, Hausbesuch

Seit drei Tagen Husten, wenig Schnupfen, Temp.: 37,8

Keine Dyspnoe, leichte Tachypnoe, Auskultation disseminiert grobblasige RG

Komorbidität: Herzinsuffizienz NYHA 2 bei VHF, Diabetes mellitus typ 2, arterielle Hypertonie

Pat. will nicht ins Krankenhaus

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Frage per Summometer:

Wahrscheinlich gripp. Infekt, aber ab welcher Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Pneumonie würden Sie ein Antibiotikum für gerechtfertigt halten?

- 2%- 5%- 10%- 15%- 20%

Was machen Sie jetzt mit Ihrer Diagnose?

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Hintergrund: Für Atemwegsinfekte (AWI) werden zu viele Antibiotika verschrieben

„Verschreibungsrate bei AWI in Deutschland 30%.

Faktoren die AB-Verschreibung begünstigen

- Schlechter Gesundheitszustand- Alter Patienten > 60- Alter der Ärzte (Zeit in Praxis)- Hohe Populationsdichte und Deprivation- Generelle Verschreibungsfreudigkeit

Hohe Varianz zwischen Ärzten

Aus der Literatur:

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Akute Bronchitis und akute Sinusitis fast immer viral bedingt, aber lange Zeit als bakteriell verursacht wahrgenommen

= „als bakteriell wahrgenommen“

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Studienfrage:

Worin unterscheiden sich Hoch- und

Niedrigverscheiber von Antibiotika für AWI?

Diagnostizieren Hochverschreiber häufiger “als

bakteriell wahrgenommene” AWI (Bronchitis,

Sinusitis) als Niedrigverordner?

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Datenbasis

Routinedaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB)

Vier Quartale 2011 + 2012

ICD-10 erlaubt keine sinnvolle Gruppierung, deshalb

Umkodierung in International Classification of Primary Care

(ICPC-2)

Mind. eine Diagnose AWI analog zu folgenden ICPC-Diagnosen

in einem Quartal: R72 (GAS-Pharyngitis), R74 (gripp.Infekt),

R75 (Sinusitis), R76 (Tonsillitis), R77 (Laryngitis/Tracheitis),

R78 (Bronchitis), R80 (Influenza), R81 (Pneumonie)

Und/oder Patienten die ein Antibiotikum (ATC J01) oder

Neuraminidasehemmer (J05 AH) verschrieben bekamen

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Beratungsanlass: R05 (Husten)

0 100 200 300 400 500 600

R 71 Keuchhusten

R 72 Strepto ko kkeninfekt H als

R 74 Infekt io n o bere A temwege A kute

R 75 Sinusit is A kute/ C hro nische

R 76 T o nsillit is A kute

R 77 Laryngit is / T racheit is akute

R 78 A kute B ro nchit is / B ro nchio lit is

R 79 C hro nische B ro nchit is

R 80 Inf luenza

R 81 P neumo nie

R 82 P leuraerguß

R 83 A temwegsinfekt , anderer

R 84 B ö sart ige N eubildung Lunge/ B ro nchus

R 87 F remdkö rper N ase/ Larynx/ B ro nchus

R 90 Schwellung T o nsillen/ P o lypen

R 95 C hro nisch o bstrukt ive Lungenerkrankung

R 96 A sthma

R 97 H euschnupfen

R 99 A temwegserkrankung andere

17.1.2012

Beratungsergebnis: Resultierende Diagnosen

© www.content-info.org, date of issue: 2-May-2007, observation period: 1 OCT 2005 - 31 Mar 2007, N=46.780 patients

Prozess (hier: Verordnung bei akuter Bronchitis)

R05D Antitussiva, exkl. Kombinationen mit Expektoranzien (129)

J01F Makrolide, Lincosamide und Streptogramine (114)

J01A Tetracycline (80)

N02A Opioide (80)

R05C Expektoranzien, exkl. Kombinationen mit Antitussiva (73)

J01C Betalactam-Antibiotika, Penicilline (66)

J01M Chinolone (51)

N02B Andere Analgetika und Antipyretika (30)

……

Pharma-

kologische

Hauptgruppe

gemäß ATC-Code

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Zusätzlich zu Diagnosen:

Arztalter und –geschlecht; Praxislokalisation;

Praxistyp (Einzelpraxis…); Facharztstatus

(Allgemeinmediziner, prakt. Ärzte und hausärztlich

tätige Internisten = Hausärzte); Praxisgröße

(Patienten/Quartal/Praxis)

Bayerischer Index Multipler Deprivation (BIMD)

Verschreibungstiefe

Analyse auf Praxisebene

Medikation kodiert mit ATC-Klassifikation

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Ein- und Ausschlusskriterien

PatientenPatienten mit AWI wie diagnostiziert von ihren Hausärzten

Ausschlusskriterien

Patienten• Nicht plausible Diagnose • <15 Jahre• Gleichz. andere Infektionserkrankung• >1 AWI und/oder >1 Antibiotikum im

Quartal

Hausarztpraxen<200 Patienten und <10 Patienten mit AWI/Quartal

4.045.579 Arzt-Patienten-Kontakte in 6.647 Hausarztpraxen

Einschlusskriterien

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Ergebnisse:Antibiotika Verschreibungsrate

StratifizierungNiedrigverschreiber <25th %tileHochverschreiber >75th %tile

Hochverschreiber verordnen fünfmal so viele Antibiotika wie Niedrigverschreiber

Alle HausarztpraxenM = 24.9 %, SD = 14 %

9%

44%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

low prescribers high prescribers

Pat.

mit

An

tib

ioti

ku

m

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Ergebnisse:Einsatz Schmal- vs. Breitspektrumantibiotika

10%

24%22%

32%

12%10%

18%21%

37%

14%

0%

10%

20%

30%

40%

tetracycline penicilline cephalosporine macrolide quinolone

Niedrigverschreiber verordneten mehr Penicilline

Niedrigverschreiber Hochverschreiber

Hochverschreiber verordneten mehr Breitspektrumantibiotika

Trotz statistischer Signifikanz Unterschied marginal

d = 0.4

d = 0.25

d = 0.1

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Ergebnisse:Diagnosevergabe (diagnostic labelling)

Hochverschreiber diagnostizierten mehr „als bakteriell wahrgenommene“ Infekte

low prescribers high prescribers

52%

25%34%

41%

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Acute respiratory tract infections Acute bronchitis

Pro

p.

on

resp

irato

ry

tract

infe

cti

on

s

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Adjustiertes Modell: stufenweise logistische Regression

In Praxen mit den höchsten Raten „als bakteriell wahrgenommener

Infektionen“ war die Odds der Hochverschreiber 14 mal höher als die

der Praxen mit den niedrigsten Raten

In Praxen mit den höchsten Raten von Patienten mit Komorbidität, war die

Odds der Hochverschreiber 40% niedriger als die der Praxen mit den

niedrigsten Raten

Keine Assoziation bei den Anteilen der Patienten > 65 Jahre

Starke Assoziation der Hochverschreiber mit strukturellen Faktoren

(Landpraxis; hohe Versorgungstiefe; hohe Deprivation)

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Schlussfolgerung:

Im internationalen Vergleich, ist die Gesamtverschreibungs-

rate in Deutschland relativ niedrig

Die ärztliche Diagnosevergabe war der stärkste Prädiktor

für Hochverschreiber

Im adjustierten Modell war ein hoher Anteil von Patienten

mit Komorbidität mit niedrigeren Verschreibungsraten

assoziiert

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit