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C. ERGEBNISSE Zentrales Thema des Sophokleischen Philoktet ist die Deutung des Helenos- Orakels, und zwar einerseits im Spannungsfeld zwischen den Auslegungen des Wortlauts und der Suche nach dem Sinn, und andererseits im Spannungsfeld zwi- schen menschlichem Anstand gegenüber dem Individuum und der Effektivität im Interesse der Gemeinschaft. Auf diese Problemkreise lenkt Sophokles den Blick des Zuschauers von An- fang an sehr geschickt: So teilt er ihm in der ersten Phase der Tragödie, als Mann und Bogen noch eine Einheit bilden, zunächst den genauen Wortlaut des Orakels nicht mit, sondern läßt ihn nur hinter den Reden und Handlungsweisen der Perso- nen durchscheinen, d.h. konkret im Odysseus-Plan. Dieser Plan wird im Prolog noch vage formuliert, wobei Sophokles all die Motive um Mann und Bogen an- schlägt, die später relevant sein werden. Im Verlauf der Ereignisse stellt sich dann aber zunehmend heraus, daß alle drei mit dem Odysseus-Plan befaßten Personen, nämlich Odysseus, Neoptolemos und der Chor, den Plan so verstehen, als gelte es, Philoktet (mit seinem Bogen) auf das Schiff nach Troia zu locken. Der Plan, den Odysseus entwickelt hat, um dem Kampf der Griechen vor Troia durch die Eroberung einen Sinn zu geben, ist sehr klug und trägt den Gegeben- heiten in besonderem Maße Rechnung, aber er ist zugleich auch - was Philoktets Belange betrifft - moralisch fragwürdig, und zwar beides aus demselben Grund: weil er darauf zielt, den freien Willen des Mannes auszuschalten. Ambivalent ist auch die Entscheidung für Neoptolemos als Helfer; dies ist einerseits äußerst ge- schickt, andererseits riskant, und auch das wieder letztlich aus demselben Grund: Neoptolemos' Physis, die der Philoktets verwandt ist, erleichtert ihm den Zugang zu Philoktet und damit das Durchführen des Sophismas; dieselbe grundständige Anständigkeit stellt aber auch von Anfang an eine latente Gefahr fur das Sophisma dar. In der Emporos-Szene erfährt schließlich auch der Zuschauer den genauen Wortlaut des Helenos-Orakels. Hierbei stellt sich heraus, daß der Odysseus-Plan eigentlich in einen anderen Kontext gestellt werden muß: Dieser zielt nämlich Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 93.180.53.211 Download Date | 11/5/13 4:41 PM

Untersuchungen zum Sophokleischen Philoktet (Das auslösende Ereignis in der Stückgestaltung) || C. ERGEBNISSE

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C. ERGEBNISSE

Zentrales Thema des Sophokleischen Philoktet ist die Deutung des Helenos-Orakels, und zwar einerseits im Spannungsfeld zwischen den Auslegungen des Wortlauts und der Suche nach dem Sinn, und andererseits im Spannungsfeld zwi-schen menschlichem Anstand gegenüber dem Individuum und der Effektivität im Interesse der Gemeinschaft.

Auf diese Problemkreise lenkt Sophokles den Blick des Zuschauers von An-fang an sehr geschickt: So teilt er ihm in der ersten Phase der Tragödie, als Mann und Bogen noch eine Einheit bilden, zunächst den genauen Wortlaut des Orakels nicht mit, sondern läßt ihn nur hinter den Reden und Handlungsweisen der Perso-nen durchscheinen, d.h. konkret im Odysseus-Plan. Dieser Plan wird im Prolog noch vage formuliert, wobei Sophokles all die Motive um Mann und Bogen an-schlägt, die später relevant sein werden. Im Verlauf der Ereignisse stellt sich dann aber zunehmend heraus, daß alle drei mit dem Odysseus-Plan befaßten Personen, nämlich Odysseus, Neoptolemos und der Chor, den Plan so verstehen, als gelte es, Philoktet (mit seinem Bogen) auf das Schiff nach Troia zu locken.

Der Plan, den Odysseus entwickelt hat, um dem Kampf der Griechen vor Troia durch die Eroberung einen Sinn zu geben, ist sehr klug und trägt den Gegeben-heiten in besonderem Maße Rechnung, aber er ist zugleich auch - was Philoktets Belange betrifft - moralisch fragwürdig, und zwar beides aus demselben Grund: weil er darauf zielt, den freien Willen des Mannes auszuschalten. Ambivalent ist auch die Entscheidung für Neoptolemos als Helfer; dies ist einerseits äußerst ge-schickt, andererseits riskant, und auch das wieder letztlich aus demselben Grund: Neoptolemos' Physis, die der Philoktets verwandt ist, erleichtert ihm den Zugang zu Philoktet und damit das Durchführen des Sophismas; dieselbe grundständige Anständigkeit stellt aber auch von Anfang an eine latente Gefahr fur das Sophisma dar.

In der Emporos-Szene erfährt schließlich auch der Zuschauer den genauen Wortlaut des Helenos-Orakels. Hierbei stellt sich heraus, daß der Odysseus-Plan eigentlich in einen anderen Kontext gestellt werden muß: Dieser zielt nämlich

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266 Untersuchungen zum Sophokleischen 'Philoktet'

nicht nur - wie es bisher schien - darauf, Philoktet auf das Schiff nach Troia zu locken, weil Philoktet (mit seinem Bogen) für die Eroberung Troias nötig ist, son-dern er ist im ganzen eine Interpretation einer Orakel-Klausel, nämlich der πεί-θει v-Klausel.

Daraus ergibt sich folgende neue Perspektive für ein bereits bekanntes Pro-blem: Bisher erschien der Odysseus-Plan ambivalent, weil er klug und moralisch fragwürdig zugleich ist, jetzt wird diese Ambivalenz neu definiert. Odysseus' Auslegung der πείθειν-Klausel im Sinne von άκων ist eine äußerst kluge Inter-pretation des Wortlauts πείσαντες λόγφ, d.h. sein Plan muß jetzt - nachdem die Klausel bekannt ist - eigentlich als noch scharfsinniger eingestuft werden, weil die zugrundeliegenden Gedankengänge um vieles intrikater sind, als es bisher schien. Es erhebt sich dabei aber zugleich die Frage, ob Odysseus damit auch dem Sinn des Orakels gerecht wird; denn, wenn die Sophokleischen Götter die Eroberung Troias gerade davon abhängig gemacht haben, daß der von den Griechen vor zehn Jahren ausgesetzte und vergessene Philoktet durch πείθειν zur neuerlichen Ko-operation mit seinen Todfeinden bewogen werden soll, dann haben sie damit si-cher etwas bezweckt (vorausgesetzt natürlich, daß die Sophokleischen Götter 'mo-ralisch' sind) - , und das war dann gewiß nicht eine erneute Übertölpelung Phi-loktets. Ging es also vor der Emporos-Szene bei der Bewertung des Odysseus-Plans ausschließlich um die Zwiespältigkeit zwischen Moral und Effektivität, so tut sich jetzt hinter dem Odysseus-Plan ein in gewissem Sinne höherrangiger Ge-gensatz auf, nämlich der von Orakel-Wortlaut und Orakel-Sinn.

In der zweiten Phase, in der durch einen Zufall die Einheit von Mann und Bo-gen auseinanderfällt, haben dann plötzlich Odysseus, Neoptolemos und der Chor eine je andere Auffassung vom konkreten Orakel-Ziel. Verantwortlich dafür ist, daß Sophokles seine Figuren von Anfang an mit verschiedenen Haltungen gegen-über Orakel und Orakel-Objekt ausgestattet hat. Diese unterschiedlichen Haltun-gen bilden sich dann in der Krisis deutlicher aus und führen zu unterschiedlichen Auffassungen im grundsätzlichen Bereich.

Odysseus glaubt kühl und intellektuell, das Rätsel des Orakels lösen zu können, indem er dessen Wortlaut Rechnung trägt. So erdenkt er zunächst das Sophisma, und wendet Hann unter den neuen Bedingungen der zweiten Phase Erpressung und Bluff an, zwei andere Realisierungen seiner Auslegung des Orakel-Wortlauts πεί-σαντες λόγφ (im Sinne von άκων). Neoptolemos baut durch den Verlauf der Er-eignisse eine emotionale Bindung zu Philoktet, d.h. zum Objekt des Orakels, auf, die ihn einerseits befähigt, den Sinn der πείθειν-Klausel zu erspüren bzw. dann auch intellektuell zu erkennen - daß nämlich Philoktet auf anständige Weise wie-der in den Kreis der Troia-Helden eingeführt und rehabilitiert werden soll - , die

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ihn dann aber auch dazu zwingt, sich immer mehr von der Auslegung und dem Plan des Odysseus zu entfernen, bis er schließlich Philoktet die Wahrheit sagt und damit das ganze Sophisma zerstört.

Der Chor steht mit seiner Haltung gegenüber Orakel und Philoktet zwischen Odysseus und Neoptolemos: Er empfindet Mitleid mit Philoktet und spürt so et-was von dem außergewöhnlichen Leid des Mannes, aber er 'leistet' sich dieses Mitleid nur dort, wo es ihm keine Konsequenzen abnötigt; sonst verfolgt er per-sönlich ungerührt, bisweilen auch kalt und skrupellos das Ziel, das Orakel im In-teresse der Griechen zu erfüllen. In der Krisis des Stückes entscheidet er sich dann so auch klar - aufgrund einer hintersinnigen Ausdeutung des Orakel-Zieles - für den nächstliegenden Weg der Orakelerfüllung, d.h. für eine Abfahrt mit dem Bo-gen.

In der zweiten Phase gehen Odysseus und der Chor mit ihrer Haltung zum Ora-kel und zu Philoktet bis zum Äußersten: Der Chor erreicht das Höchstmaß an Skrupellosigkeit, als er den Tod Philoktets in Kauf nimmt, und auch Odysseus kann - nach dem Bluff - die Auslegung der πείθειν-Klausel (auch im Sinne von άκων) nicht mehr steigern; denn die nächste Stufe wäre Gewalt, und die verstieße ganz sicher gegen die Klausel. Wenn Sophokles Odysseus dann in der dritten Pha-se Philoktet doch noch mit Gewalt drohen läßt, dann zeigt diese letzte Verzweif-lungstat gerade, daß Odysseus jetzt keine Möglichkeiten mehr hat, daß sein klu-ger, aber auch moralisch fragwürdiger Weg gescheitert ist - gescheitert an Neop-tolemos' Anständigkeit.

In der dritten Phase geht schließlich auch Neoptolemos den Weg zu Ende, den er eingeschlagen hat: Er gibt Philoktet den Bogen zurück und legt damit die Er-oberung Troias in seine Hände. Von dieser Basis aus unternimmt er den ersten anständigen Überredungsversuch und erfüllt damit - auch wenn dies nicht sein Movens ist - zum erstenmal die πείθειν-Klausel. Doch Philoktet verschließt sich, und so muß Neoptolemos - wenn er sich jetzt wirklich konsequent anständig be-nehmen will - die Konsequenzen seines gesamten bisherigen Verhaltens auf sich nehmen und Philoktet die Heimfahrt zusagen; das bedeutet aber auch: er muß die Erfüllung des Orakels für die Griechen, d.h. die Eroberung Troias, vereiteln.

Auch Philoktet selbst ist nicht nur Objekt des Orakels, er reagiert durchaus auch selbst als Handelnder darauf. Philoktets Haltung ist dabei bestimmt von sei-nem Haß auf die Atriden und Odysseus, ihnen zu schaden steht für ihn über allem - j a er nähme dafür sogar die Bestrafung durch die Götter auf sich; und so will er weder wahrhaben, daß das Orakel ja gerade seiner Rehabilitierung dient, also auch ihm Vorteile bringt, noch, daß er als Besitzer des Herakles-Bogens auch eine Ver-pflichtung hat.

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268 Untersuchungen zum Sophokleischen 'Philoktet'

Damit hat Sophokles vier grundsätzlich verschiedene (falsche) Haltungen ge-genüber dem Phänomen 'Orakel' auf die Bühne des Dionysos-Theaters gebracht: Odysseus betrachtet das Orakel als eine Art Rätsel, an dem er seinen Intellekt be-weisen kann, der Chor schaut nur auf Effektivität, und Philoktet versucht, das Orakel fur seine Privatrache zu funktionalisieren. Auf dem richtigen Weg ist allein Neoptolemos, weil er über den Sinn des Orakels nachdenkt, aber er ist am Ende ein Gefangener seiner früheren Lügen und muß Philoktet - gegen das Orakel - die Heimfahrt versprechen. In dieser Situation erscheint Herakles, bestätigt kraft sei-ner Autorität als Gott und Freund Neoptolemos' Deutung des Orakel-Sinns und bricht damit Philoktets Widerstand.

Das Helenos-Orakel des Sophokleischen Philoktet ist also eine Herausforde-rung an all die Menschen, die damit konfrontiert werden, im Stück selbst an Odys-seus, Neoptolemos, den Chor und nicht zuletzt auch an Philoktet, dann aber auch an den die Tragödie betrachtenden Zuschauer; denn es evoziert auch für diesen die Frage nach dem Sinn eines Orakels.

Nur eine solche Deutung des Sophokleischen Helenos-Orakels in der Spannung zwischen der Auslegung des Wortlauts und der Frage nach dem Sinn trägt den Widersprüchen Rechnung, die sich im Text finden, und verbindet diese zu einer logischen Gesamtkonzeption mit einer bestimmten publikumsorientierten Absicht.

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