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[Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

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Page 1: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

Verwandte Texte

sect 45 Attische Skolien

Zum Abschluss sollen einige ausgewaumlhlte Texte auf Gemeinsamkeiten mit den Theognidea untersucht werden Dabei geht es nicht um umfassende Vergleiche sondern um den gezielten Versuch aus Beobachtungen in der griechischen und anderen alten Literaturen im Wege der Analogie Ruumlck-schluumlsse auf die Entstehung des Corpus zu ziehen Besonders nahe liegt in diesem Zusammenhang die Gegenuumlberstellung mit den sogenannten Atti-schen Skolien

Im letzten Buch des Gelehrtenmahls laumlsst Athenaios seine Figuren auf diese besondere Art von Gedichten zu sprechen kommen

bdquoDie meistenldquo erzaumlhlt er bdquoerwaumlhnten auch die bekannten Attischen Skolien denn auch diese sollte man kennen wegen des Alters und der schlichten Ausdrucksweise ihrer Verfasser Fuumlr diese Art der Dichtung sind Alkaios und Anakreon beruumlhmt wie Aristophanes in den Tischgenossen bezeugt sbquoSing mir vor und nimm ein Skoli-on von Alkaios und Anakreonlsquo Sie heiszligen Skolien weil wie Artemon von Kassandreia im 2 Buch seiner Benutzung von Buumlchern sagt was bei den Gelagen gesungen wurde zu drei Gattungen gehoumlrte Erstens das was alle zusammen sin-gen mussten zweitens das was alle sangen jedoch der Reihe nach einer nach dem anderen drittens das woran nicht mehr alle teilnahmen sondern nur die die als die groumlszligten Koumlnner galten und zwar von dem Platz aus an dem sie sich zufaumlllig befanden Weil es daher als einziges im Gegensatz zu den anderen Unordnung an sich hatte wurde dasjenige das weder gleichzeitig noch der Reihe nach stattfand sondern wie man zufaumlllig lag Skolion [bdquoKrummesldquo] genannt Dieses wurde gesun-gen wenn die gemeinsamen verpflichtenden Gesaumlnge zuende waren Dann naumlm-lich schaumltzten sie es wenn jeder Weise ein schoumlnes Lied vortrug fuumlr schoumln aber hielten sie eines das irgendeine Ermahnung und Lehre enthielt die fuumlr das Leben nuumltzlich schien Von den Deipnosophisten nun sagte einer dieses ein anderer jenes Skolion auf alle zusammen aber lauteten sie wie folgtldquo1

_____________

1 Ath 1549 = 693f-694c micromicroνηντο δ᾿ οV πολλο1 κα1 τν ᾿Aττικν κε13νων σκολ13ων περ κα1 ατ ξιν στ13 σοι ποmicroνηmicroονεσαι δι τε τ(ν ρχαιτητα κα1 φλειαν τν ποιησντων [κα1 τν] παινουmicroνων π1 τd δ[ τα2τ τltς ποιητικltς ᾿Aλκα13ου τε κα1 ᾿Aνακροντος Dς ᾿Aριστοφνης παρ13στησιν ν ∆αιταλεσιν λγων οmτως macrσον δ9 microοι

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sect 45 Attische Skolien

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Hier schlieszligt sich eine Kette von 25 Gedichten an von denen sieben auch bei anderen Autoren uumlberliefert sind

Die Anlage des Gelehrtenmahls laumlsst keinen Zweifel daran dass Athe-naios auch an dieser Stelle aus einer schriftlichen Vorlage abschreibt Die Lieder selbst muumlssen jedenfalls zum Teil deutlich aumllter sein als Aristopha-nes der sie bereits als altertuumlmliche Weisen einfuumlhrt stammen also spaumlte-stens aus der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts v Chr2 Andererseits muumlssen diejenigen Skolien die auf den athenischen Tyrannenmord anspie-len nach 514 v Chr gedichtet sein3 Ihre bei Athenaios uumlberlieferte Zu-sammenstellung duumlrfte wenn es sich um ein zum praktischen Gebrauch bestimmtes Gesangbuch handelt schon im fuumlnften oder vierten Jahrhun-dert abgeschlossen gewesen sein da das klassische Symposion danach ausstarb spaumltestens aber im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende da die Sammlung in der heutigen Reihenfolge von Dion Chrysostomos (Or 262 f) benutzt wurde

Schon ganz am Anfang fallen Gemeinsamkeiten zu unserem Corpus ins Auge Ebenso wie zu Beginn der Theognidea Apoll (v 1-4 und 5-10) Artemis (v 11-14) sowie Musen und Grazien (v 15-18) angerufen werden wenden sich die ersten vier Skolien an Athene (1) Demeter und Perse-phone (2) Leto Apoll und Artemis (3) sowie Pan (4) der am Ende dieses Abschnitts darum gebeten wird sich bdquoan diesen meinen frohen Gesaumlngenldquo

_____________ σκλιν τι λαβIν ᾿Aλκα13ου κνακροντος 9 σκλια δ καλονται $τι τριν γενν oντων ς φησιν ᾿Aρτmicroων Q Kασανδρε`ς ν δευτρL Bιβλ13ων Xρ9σεως ν οhς τ περ1 τς συνουσ13ας Wν tδmicroενα ν τ microν πρτον Wν e δ( πντας shyδειν νmicroος Wν τ δ δε2τερον e δ( πντες microν δον ο micro(ν λλ γε κατ τινα περ13οδον ξ ποδοχltς ltτgt τρ13τον δ οk microετε5χον οκτι πντες λλ᾿ οV συνετο1 δοκοντες εXναι microνοι κα1 κατ τπον τιν ε τ2χοιεν oντες διπερ Dς ταξ13αν τιν microνον παρ τλλα )χον τ micro9θ᾿ microα micro9θ᾿ Uξltς γινmicroενον [λλ᾿ $που )τυχεν εXναι] σκλιον κλ9θη τ δ τοιοτον centδετο Qπτε τ κοιν κα1 πEσιν ναγκα5α τλος λβοι νταθα γρ δη τν σοφν Cκαστον pδ9ν τινα καλ(ν ες microσον yξ13ουν προφρειν καλ(ν δ τα2την νmicroιζον τ(ν παρα13νεσ13ν τ τινα κα1 γνmicroην )χειν δοκοσαν χρησ13microην [τε] ες τν β13ον τν οnν δειπνοσοφιστν e microν τις )λεγε τν σκολ13ων τδε e δ τις τδε πντα δ᾿ Wν τ λεχθντα τατα

2 Ar Lys 1237-1239 V 1225 fr 444 Kassel-Austin (aus den Pelargoi) 3 Carm conv 10-13 nach Bowra [1936] 419 eher um 500 als um 476 v Chr (so v

Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 319) Nach Bowra [1936] stammen carm conv 1-7 aus der Zeit des Miltiades (um 490 v Chr) 10-13 aus der Bluumltezeit der Alkmaioniden (um 500 v Chr) 14-22 aus der Zeit der Peisistratiden (561-514 v Chr) dagegen Fabbro [1995] xxvi Anm 65 die die Gedichte ohne naumlhere Be-stimmung dem Zeitraum Ende 6 bis 5 Jh zuweist (im Gefolge von v Wilamo-witz-Moellendorff [1893] II 322)

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zu erfreuen so wie auch Theognis sogleich nach den Goumltteranrufen sich auf sein eigenes Gedicht auf bdquodiese Verseldquo zuruumlck bezieht In beiden Sammlungen sind es vier Stuumlcke an die Goumltter von denen jedes mit Aus-nahme von v 5-10 vier Verse umfasst Besonders aumlhnlich sind sich das dritte Skolion und v 5-10 Beide beschreiben wie Leto auf Delos ihren Sohn Apoll gebar und schlieszligen ohne Bitte Auch die Anordnung der uumlbrigen Skolien erinnert an die Theognidea Ohne einem umfassenden Gesetz zu gehorchen stehen doch Gruppen aumlhnlicher Gedichte beieinan-der Die Stuumlcke 1-4 wenden sich an Goumltter 10-13 besingen die Tyrannen-moumlrder Harmodios und Aristogeiton 15-16 und 17-18 antworten jeweils in Inhalt und Form aufeinander 21 und 22 haben ein Stichwort (βλανος βαλανε2ς) gemeinsam zugleich stehen erstens 1-7 und 10-13 zweitens 15-18 und drittens 14 19-22 und 25 jeweils im selben Versmaszlig Weil 23 und 24 im Versmaszlig aus der Reihe fallen und beide im Aristotelischen Staat der Athener zitiert sind geht man davon aus dass sie nachtraumlglich in die Abfolge eingefuumlgt wurden4 Wie bei den Theognidea sind die Gedicht-grenzen nicht stets eindeutig zu ziehen (z B Stuumlcke 10-13)

Verwandt sind die beiden Sammlungen auch in Inhalt und Ausdruck Sie enthalten Lehren uumlber Freundschaft insbesondere die Warnung vor Betrug weiterhin uumlber die houmlchsten Guumlter im Leben und uumlber den Staat vor allem die Gefahr der Tyrannis5 Auch die Skolien gebrauchen die Um-schreibung bdquodiese Stadtldquo und die adelsstolzen Standesbezeichnungen bdquoGu-teldquo und bdquoSchlechteldquo sowie zahlreiche andere aus den Theognidea vertraute Ausdruumlcke6 Es finden sich Sprichwoumlrter und Witze sogar ein Wortspiel

_____________

4 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] I 37 Bowra [1936] 404 (ldquoinserted either by an interpolator into Athenaeusrsquo text or by Athenaeus himself into the song-book from the text of Aristotlerdquo) Fabbro [1995] xxvi anders Reitzenstein [1893] 13 (Aristoteles schoumlpft aus Skoliensammlung nicht umgekehrt)

5 Freundschaft carm conv 6 9 25 Betrug carm conv 6 14 (vgl v 121-124) Das Beste carm conv 7 (vgl v 255 f) Tyrannis carm conv 10-13 (vgl insbesondere v 1181 f ferner v 10-13 v 39 f 823 f 847-850 1203-1206)

6 jHδε πλις in carm conv 12 24 γαθο13 δειλο13 in 14 23 Vgl ferner 12 (oρθο-υ) und v 760 13 (τερ λγων κα1 στασων) und v 51 1121 44 (τα5σδ᾿ οιδα5ς) und v 20 94 (micro( σκλια φρονε5ν) und v 535-538 141 f (microαθν γνο2ς mit Imperativ) und v 37 670 753 1305 1322 141 f (το`ς γαθο`ς φ13λει τν δειλν δ᾿ πχου) und v 31-38 61-72 142 (δειλο5ς ^λ13γη χρις) und v 105-108 854 182 (καθαρν θεmicroνη νον) und v 89 191 (π5νε συν9βα) und v 877 879 989 192 (σ2ν microοι microαινοmicroνL microα13νεο σ`ν σφρονι σωφρνει) und v 313 f 212 (τν microν )χει τν δ᾿ )ραται λαβε5ν) und v 489 f 231 ()γχει) und v 487 231 (δικονε) und v 829 241 (αα5) und v 351 891 1341 251 ($στις νδρα φ13λον micro( προδ13δωσιν) und v 529 252 (κατ᾿ microν νον) und v 519 540 1037 f Zum einheitlichen Themenschatz sympotischer Lyrik Vetta [1980] xxvi

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sect 45 Attische Skolien

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mit dem Gattungsnamen bdquoSkolionldquo ganz wie in v 11477 Gegenstand und Geist der einzelnen Gedichte unterscheiden sich auch innerhalb der Skoli-en so stark dass sie schwerlich alle vom selben Verfasser stammen koumlnnen Einige von ihnen gehoumlrten ebenso wie manche Stuumlcke der Theognidea als Volkslieder Jahrhunderte lang zur Grundbildung breiter Bevoumllkerungs-schichten Der Dialekt der Skolien ist so wenig regional festzulegen wie der Theognideische allerdings staumlrker dorisch und attisch gefaumlrbt8 Auch die Erscheinung der Dubletten und vor allem der mit leichten Aumlnderungen auch fuumlr andere Dichter bezeugten Verse fehlt nicht ndash darunter die bdquozer-sungeneldquo Version eines bekannten Alkaios-Gedichts9

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch deutliche Unter-schiede Vor allem sind die Theognidea um ein Vielfaches laumlnger als die bei Athenaios bewahrte Sammlung Weiterhin sind die Skolien nicht in elegi-schen Distichen verfasst sondern in verschiedenen lyrischen Versmaszligen Alle Stuumlcke sind Zwei- oder Vierzeiler laumlngere Lieder wie in den Theo-gnidea gibt es nicht Die Skolien enthalten ferner keine wiederkehrenden Anreden wie die des Kyrnos Inhaltlich fallen die sehr konkreten histori-schen Anspielungen (Stuumlcke 5 10-13 24) auf an denen es den Theognidea fast voumlllig mangelt

Um eine vom Verfasser zusammengestellte Sammlung eigener Gedich-te kann es sich nicht handeln Von den 25 Skolien sind die einen fuumlr diesen Dichter belegt die anderen fuumlr jenen einige gleichzeitig fuumlr mehrere10 die meisten aber fuumlr gar keinen11 Einen Dichter der alle diese Stuumlcke verfasst

_____________ 7 Sprichwort carm conv 20 Witz carm conv 22 Wortspiel σκλιον carm conv

94 8 Vgl hierzu Fabbro [1995] l-lv Wechsel von α impurum und η im selben Gedicht

ist ldquosituazione originaria di ibridismordquo (lii) wie in attischen Inschriften des 5 Jh 9 Dubletten carm conv 101-2 = 121-2 104 = 134 (v Wilamowitz-Moellendorff

[1900] 37 bdquomehrere Fassungen desselben Versesldquo) moumlglicherweise aber nur Re-frain Fuumlr andere bezeugte Verse carm conv 7 (Epicharm Simonides Sklerias) 8 (= Alkaios 2496-9 V) 10-13 (Kallistratos) 14 (Praxilla)

10 Zu den fuumlr verschiedene Verfasser bezeugten Gedichten Bowra [1936] 418 Ferrari [1989] 6 (ldquobanalizzazione atticizzanterdquo des Alkaios-Gedichts aumlhnlich wie in Ar V 1234 f) Fabbro [1995] xxiv (ldquouna spia dei fluidi e proteiformi contatti tra anonima ri-creazione individuale e poesia lsquodrsquoautorersquo che affidata allrsquoininterrotto riuso sim-posiale conosceva talora significative rielaborazioni del tessuto lessicale e sintattico noncheacute dellrsquoorientamento di significatordquo) Roumlsler [2004a] 41 (Skolien allgemein bdquoe-her Rezeptionsprodukte als Gedichte in ihrer originalen Gestaltldquo)

11 Die Skolien enthalten einige der bekanntesten griechischen Volkslieder so die Lieder ᾿Aδmicro9του Aρmicroοδ13ου Tελαmicroνος Vgl auch Reitzenstein [1893] 21 (bdquo Nachhall beruumlhmter Dichtungen oder beim Gelage beliebter Erzaumlhlungen kurze Ausfuumlhrungen eines altbekannten Sprichworts oder einer Gnome urspruumlnglich

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hat kann es schon wegen der scharfen politischen Gegensaumltze etwa zwi-schen 10-13 einerseits und 14 23 und 24 andererseits nicht geben Doch auch eine Zusammensetzung aus mehreren Vorgaumlnger-Sammlungen wie sie verschiedene Gelehrte erschlieszligen12 ist bei der Kuumlrze des gesamten Corpusculum kaum glaubhaft Die Einleitung mit den vier Gedichten an die Goumltter duumlrfte jedenfalls vom Sammler stammen der ndash aus welchen Quellen auch immer ndash eine uumlbersichtliche Zahl beliebter Lieder zusam-mengestellt und sie teils nach Themen teils nach Melodien geordnet haumltte Dies spricht dafuumlr dass die aumlhnliche Anordnung der Theognidea ebenfalls von einem Sammler nicht dem Dichter selbst herruumlhrt auch dass wir wie bei den Stuumlcken 23 und 24 mit nachtraumlglichen Einschuumlben rechnen muumls-sen Zu bemerken ist daruumlber hinaus dass die Skolien zwar einen deutli-chen Anfangsteil aber kein als solches ausgezeichnetes Schlussgedicht haben

Nach der ganz uumlberwiegenden Auffassung handelt es sich um ein bdquoKommersbuchldquo das den Benutzer mit Vortragsstuumlcken fuumlrs Symposion ausruumlsten sollte13 Die Gegenmeinung nimmt an dass die Skolien aus anti-quarischem Interesse gesammelt wurden um sie als dichterische Zeugnisse der Vorzeit zu erhalten14 Fuumlr diese Vermutung spricht dass Athenaios seine Ausfuumlhrungen zum Ursprung des Wortes bdquoSkolionldquo aus einem Wer-ke Artemons von Kassandreia schoumlpft aus dem er auch die anschlieszligenden Gedichte entnommen haben koumlnnte Freilich kann man sich nicht recht vorstellen wie in einem bibliographischen Werk Uumlber die Benutzung von Buumlchern eine Kette von Skolien untergebracht gewesen sein sollte Grund-saumltzlich ist immerhin bekannt dass die Peripatetische Schule sich mit alter Literatur und auch mit Skolien beschaumlftigte15 Dagegen hat man zugunsten eines sympotischen Zwecks der Zusammenstellung darauf hingewiesen

_____________ sicher Improvisationen gehen sie auf keinen bestimmten Verfasser zuruumlck es sind sbquoVolksliederlsquoldquo)

12 Bowra [1936] Fabbro [1995] xxviii (ldquoalla formazione del repertorio abbiano con-corso i canzonieri di diversi clan aristocraticirdquo unterteilt 1-7 + 10-13 15-18 14 + 19-22 + 25 23-24)

13 So Reitzenstein [1893] 13 v Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 322 (bdquoein atti-sches Kommersbuch bestimmt fuumlr solche Teilnehmer die sichrsquos nicht zutrauten einen Vers zu machenldquo) Bowra [1936] 403 Roumlsler [1980a] 100 und [2004] 52 (bdquoei-ne urspruumlngliche Privatsammlung in der ein Symposiast zum eigenen Gebrauch seine Lieblingsstuumlcke zusammengestellt hatteldquo) Patzer [1981] 206 (bdquoGebrauchs-sammlungen aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) Fabbro [1995] xxv

14 So Aly [1927] 564 15 Vgl die Zitate bei Arist Ath und die Testimonien bei Fabbro [1995] (Dikaiarch

Aristoxenos)

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

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63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

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74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

347

dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 2: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 45 Attische Skolien

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Hier schlieszligt sich eine Kette von 25 Gedichten an von denen sieben auch bei anderen Autoren uumlberliefert sind

Die Anlage des Gelehrtenmahls laumlsst keinen Zweifel daran dass Athe-naios auch an dieser Stelle aus einer schriftlichen Vorlage abschreibt Die Lieder selbst muumlssen jedenfalls zum Teil deutlich aumllter sein als Aristopha-nes der sie bereits als altertuumlmliche Weisen einfuumlhrt stammen also spaumlte-stens aus der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts v Chr2 Andererseits muumlssen diejenigen Skolien die auf den athenischen Tyrannenmord anspie-len nach 514 v Chr gedichtet sein3 Ihre bei Athenaios uumlberlieferte Zu-sammenstellung duumlrfte wenn es sich um ein zum praktischen Gebrauch bestimmtes Gesangbuch handelt schon im fuumlnften oder vierten Jahrhun-dert abgeschlossen gewesen sein da das klassische Symposion danach ausstarb spaumltestens aber im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende da die Sammlung in der heutigen Reihenfolge von Dion Chrysostomos (Or 262 f) benutzt wurde

Schon ganz am Anfang fallen Gemeinsamkeiten zu unserem Corpus ins Auge Ebenso wie zu Beginn der Theognidea Apoll (v 1-4 und 5-10) Artemis (v 11-14) sowie Musen und Grazien (v 15-18) angerufen werden wenden sich die ersten vier Skolien an Athene (1) Demeter und Perse-phone (2) Leto Apoll und Artemis (3) sowie Pan (4) der am Ende dieses Abschnitts darum gebeten wird sich bdquoan diesen meinen frohen Gesaumlngenldquo

_____________ σκλιν τι λαβIν ᾿Aλκα13ου κνακροντος 9 σκλια δ καλονται $τι τριν γενν oντων ς φησιν ᾿Aρτmicroων Q Kασανδρε`ς ν δευτρL Bιβλ13ων Xρ9σεως ν οhς τ περ1 τς συνουσ13ας Wν tδmicroενα ν τ microν πρτον Wν e δ( πντας shyδειν νmicroος Wν τ δ δε2τερον e δ( πντες microν δον ο micro(ν λλ γε κατ τινα περ13οδον ξ ποδοχltς ltτgt τρ13τον δ οk microετε5χον οκτι πντες λλ᾿ οV συνετο1 δοκοντες εXναι microνοι κα1 κατ τπον τιν ε τ2χοιεν oντες διπερ Dς ταξ13αν τιν microνον παρ τλλα )χον τ micro9θ᾿ microα micro9θ᾿ Uξltς γινmicroενον [λλ᾿ $που )τυχεν εXναι] σκλιον κλ9θη τ δ τοιοτον centδετο Qπτε τ κοιν κα1 πEσιν ναγκα5α τλος λβοι νταθα γρ δη τν σοφν Cκαστον pδ9ν τινα καλ(ν ες microσον yξ13ουν προφρειν καλ(ν δ τα2την νmicroιζον τ(ν παρα13νεσ13ν τ τινα κα1 γνmicroην )χειν δοκοσαν χρησ13microην [τε] ες τν β13ον τν οnν δειπνοσοφιστν e microν τις )λεγε τν σκολ13ων τδε e δ τις τδε πντα δ᾿ Wν τ λεχθντα τατα

2 Ar Lys 1237-1239 V 1225 fr 444 Kassel-Austin (aus den Pelargoi) 3 Carm conv 10-13 nach Bowra [1936] 419 eher um 500 als um 476 v Chr (so v

Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 319) Nach Bowra [1936] stammen carm conv 1-7 aus der Zeit des Miltiades (um 490 v Chr) 10-13 aus der Bluumltezeit der Alkmaioniden (um 500 v Chr) 14-22 aus der Zeit der Peisistratiden (561-514 v Chr) dagegen Fabbro [1995] xxvi Anm 65 die die Gedichte ohne naumlhere Be-stimmung dem Zeitraum Ende 6 bis 5 Jh zuweist (im Gefolge von v Wilamo-witz-Moellendorff [1893] II 322)

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VI Umfeld

324

zu erfreuen so wie auch Theognis sogleich nach den Goumltteranrufen sich auf sein eigenes Gedicht auf bdquodiese Verseldquo zuruumlck bezieht In beiden Sammlungen sind es vier Stuumlcke an die Goumltter von denen jedes mit Aus-nahme von v 5-10 vier Verse umfasst Besonders aumlhnlich sind sich das dritte Skolion und v 5-10 Beide beschreiben wie Leto auf Delos ihren Sohn Apoll gebar und schlieszligen ohne Bitte Auch die Anordnung der uumlbrigen Skolien erinnert an die Theognidea Ohne einem umfassenden Gesetz zu gehorchen stehen doch Gruppen aumlhnlicher Gedichte beieinan-der Die Stuumlcke 1-4 wenden sich an Goumltter 10-13 besingen die Tyrannen-moumlrder Harmodios und Aristogeiton 15-16 und 17-18 antworten jeweils in Inhalt und Form aufeinander 21 und 22 haben ein Stichwort (βλανος βαλανε2ς) gemeinsam zugleich stehen erstens 1-7 und 10-13 zweitens 15-18 und drittens 14 19-22 und 25 jeweils im selben Versmaszlig Weil 23 und 24 im Versmaszlig aus der Reihe fallen und beide im Aristotelischen Staat der Athener zitiert sind geht man davon aus dass sie nachtraumlglich in die Abfolge eingefuumlgt wurden4 Wie bei den Theognidea sind die Gedicht-grenzen nicht stets eindeutig zu ziehen (z B Stuumlcke 10-13)

Verwandt sind die beiden Sammlungen auch in Inhalt und Ausdruck Sie enthalten Lehren uumlber Freundschaft insbesondere die Warnung vor Betrug weiterhin uumlber die houmlchsten Guumlter im Leben und uumlber den Staat vor allem die Gefahr der Tyrannis5 Auch die Skolien gebrauchen die Um-schreibung bdquodiese Stadtldquo und die adelsstolzen Standesbezeichnungen bdquoGu-teldquo und bdquoSchlechteldquo sowie zahlreiche andere aus den Theognidea vertraute Ausdruumlcke6 Es finden sich Sprichwoumlrter und Witze sogar ein Wortspiel

_____________

4 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] I 37 Bowra [1936] 404 (ldquoinserted either by an interpolator into Athenaeusrsquo text or by Athenaeus himself into the song-book from the text of Aristotlerdquo) Fabbro [1995] xxvi anders Reitzenstein [1893] 13 (Aristoteles schoumlpft aus Skoliensammlung nicht umgekehrt)

5 Freundschaft carm conv 6 9 25 Betrug carm conv 6 14 (vgl v 121-124) Das Beste carm conv 7 (vgl v 255 f) Tyrannis carm conv 10-13 (vgl insbesondere v 1181 f ferner v 10-13 v 39 f 823 f 847-850 1203-1206)

6 jHδε πλις in carm conv 12 24 γαθο13 δειλο13 in 14 23 Vgl ferner 12 (oρθο-υ) und v 760 13 (τερ λγων κα1 στασων) und v 51 1121 44 (τα5σδ᾿ οιδα5ς) und v 20 94 (micro( σκλια φρονε5ν) und v 535-538 141 f (microαθν γνο2ς mit Imperativ) und v 37 670 753 1305 1322 141 f (το`ς γαθο`ς φ13λει τν δειλν δ᾿ πχου) und v 31-38 61-72 142 (δειλο5ς ^λ13γη χρις) und v 105-108 854 182 (καθαρν θεmicroνη νον) und v 89 191 (π5νε συν9βα) und v 877 879 989 192 (σ2ν microοι microαινοmicroνL microα13νεο σ`ν σφρονι σωφρνει) und v 313 f 212 (τν microν )χει τν δ᾿ )ραται λαβε5ν) und v 489 f 231 ()γχει) und v 487 231 (δικονε) und v 829 241 (αα5) und v 351 891 1341 251 ($στις νδρα φ13λον micro( προδ13δωσιν) und v 529 252 (κατ᾿ microν νον) und v 519 540 1037 f Zum einheitlichen Themenschatz sympotischer Lyrik Vetta [1980] xxvi

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sect 45 Attische Skolien

325

mit dem Gattungsnamen bdquoSkolionldquo ganz wie in v 11477 Gegenstand und Geist der einzelnen Gedichte unterscheiden sich auch innerhalb der Skoli-en so stark dass sie schwerlich alle vom selben Verfasser stammen koumlnnen Einige von ihnen gehoumlrten ebenso wie manche Stuumlcke der Theognidea als Volkslieder Jahrhunderte lang zur Grundbildung breiter Bevoumllkerungs-schichten Der Dialekt der Skolien ist so wenig regional festzulegen wie der Theognideische allerdings staumlrker dorisch und attisch gefaumlrbt8 Auch die Erscheinung der Dubletten und vor allem der mit leichten Aumlnderungen auch fuumlr andere Dichter bezeugten Verse fehlt nicht ndash darunter die bdquozer-sungeneldquo Version eines bekannten Alkaios-Gedichts9

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch deutliche Unter-schiede Vor allem sind die Theognidea um ein Vielfaches laumlnger als die bei Athenaios bewahrte Sammlung Weiterhin sind die Skolien nicht in elegi-schen Distichen verfasst sondern in verschiedenen lyrischen Versmaszligen Alle Stuumlcke sind Zwei- oder Vierzeiler laumlngere Lieder wie in den Theo-gnidea gibt es nicht Die Skolien enthalten ferner keine wiederkehrenden Anreden wie die des Kyrnos Inhaltlich fallen die sehr konkreten histori-schen Anspielungen (Stuumlcke 5 10-13 24) auf an denen es den Theognidea fast voumlllig mangelt

Um eine vom Verfasser zusammengestellte Sammlung eigener Gedich-te kann es sich nicht handeln Von den 25 Skolien sind die einen fuumlr diesen Dichter belegt die anderen fuumlr jenen einige gleichzeitig fuumlr mehrere10 die meisten aber fuumlr gar keinen11 Einen Dichter der alle diese Stuumlcke verfasst

_____________ 7 Sprichwort carm conv 20 Witz carm conv 22 Wortspiel σκλιον carm conv

94 8 Vgl hierzu Fabbro [1995] l-lv Wechsel von α impurum und η im selben Gedicht

ist ldquosituazione originaria di ibridismordquo (lii) wie in attischen Inschriften des 5 Jh 9 Dubletten carm conv 101-2 = 121-2 104 = 134 (v Wilamowitz-Moellendorff

[1900] 37 bdquomehrere Fassungen desselben Versesldquo) moumlglicherweise aber nur Re-frain Fuumlr andere bezeugte Verse carm conv 7 (Epicharm Simonides Sklerias) 8 (= Alkaios 2496-9 V) 10-13 (Kallistratos) 14 (Praxilla)

10 Zu den fuumlr verschiedene Verfasser bezeugten Gedichten Bowra [1936] 418 Ferrari [1989] 6 (ldquobanalizzazione atticizzanterdquo des Alkaios-Gedichts aumlhnlich wie in Ar V 1234 f) Fabbro [1995] xxiv (ldquouna spia dei fluidi e proteiformi contatti tra anonima ri-creazione individuale e poesia lsquodrsquoautorersquo che affidata allrsquoininterrotto riuso sim-posiale conosceva talora significative rielaborazioni del tessuto lessicale e sintattico noncheacute dellrsquoorientamento di significatordquo) Roumlsler [2004a] 41 (Skolien allgemein bdquoe-her Rezeptionsprodukte als Gedichte in ihrer originalen Gestaltldquo)

11 Die Skolien enthalten einige der bekanntesten griechischen Volkslieder so die Lieder ᾿Aδmicro9του Aρmicroοδ13ου Tελαmicroνος Vgl auch Reitzenstein [1893] 21 (bdquo Nachhall beruumlhmter Dichtungen oder beim Gelage beliebter Erzaumlhlungen kurze Ausfuumlhrungen eines altbekannten Sprichworts oder einer Gnome urspruumlnglich

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VI Umfeld

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hat kann es schon wegen der scharfen politischen Gegensaumltze etwa zwi-schen 10-13 einerseits und 14 23 und 24 andererseits nicht geben Doch auch eine Zusammensetzung aus mehreren Vorgaumlnger-Sammlungen wie sie verschiedene Gelehrte erschlieszligen12 ist bei der Kuumlrze des gesamten Corpusculum kaum glaubhaft Die Einleitung mit den vier Gedichten an die Goumltter duumlrfte jedenfalls vom Sammler stammen der ndash aus welchen Quellen auch immer ndash eine uumlbersichtliche Zahl beliebter Lieder zusam-mengestellt und sie teils nach Themen teils nach Melodien geordnet haumltte Dies spricht dafuumlr dass die aumlhnliche Anordnung der Theognidea ebenfalls von einem Sammler nicht dem Dichter selbst herruumlhrt auch dass wir wie bei den Stuumlcken 23 und 24 mit nachtraumlglichen Einschuumlben rechnen muumls-sen Zu bemerken ist daruumlber hinaus dass die Skolien zwar einen deutli-chen Anfangsteil aber kein als solches ausgezeichnetes Schlussgedicht haben

Nach der ganz uumlberwiegenden Auffassung handelt es sich um ein bdquoKommersbuchldquo das den Benutzer mit Vortragsstuumlcken fuumlrs Symposion ausruumlsten sollte13 Die Gegenmeinung nimmt an dass die Skolien aus anti-quarischem Interesse gesammelt wurden um sie als dichterische Zeugnisse der Vorzeit zu erhalten14 Fuumlr diese Vermutung spricht dass Athenaios seine Ausfuumlhrungen zum Ursprung des Wortes bdquoSkolionldquo aus einem Wer-ke Artemons von Kassandreia schoumlpft aus dem er auch die anschlieszligenden Gedichte entnommen haben koumlnnte Freilich kann man sich nicht recht vorstellen wie in einem bibliographischen Werk Uumlber die Benutzung von Buumlchern eine Kette von Skolien untergebracht gewesen sein sollte Grund-saumltzlich ist immerhin bekannt dass die Peripatetische Schule sich mit alter Literatur und auch mit Skolien beschaumlftigte15 Dagegen hat man zugunsten eines sympotischen Zwecks der Zusammenstellung darauf hingewiesen

_____________ sicher Improvisationen gehen sie auf keinen bestimmten Verfasser zuruumlck es sind sbquoVolksliederlsquoldquo)

12 Bowra [1936] Fabbro [1995] xxviii (ldquoalla formazione del repertorio abbiano con-corso i canzonieri di diversi clan aristocraticirdquo unterteilt 1-7 + 10-13 15-18 14 + 19-22 + 25 23-24)

13 So Reitzenstein [1893] 13 v Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 322 (bdquoein atti-sches Kommersbuch bestimmt fuumlr solche Teilnehmer die sichrsquos nicht zutrauten einen Vers zu machenldquo) Bowra [1936] 403 Roumlsler [1980a] 100 und [2004] 52 (bdquoei-ne urspruumlngliche Privatsammlung in der ein Symposiast zum eigenen Gebrauch seine Lieblingsstuumlcke zusammengestellt hatteldquo) Patzer [1981] 206 (bdquoGebrauchs-sammlungen aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) Fabbro [1995] xxv

14 So Aly [1927] 564 15 Vgl die Zitate bei Arist Ath und die Testimonien bei Fabbro [1995] (Dikaiarch

Aristoxenos)

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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VI Umfeld

328

abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

330

dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

332

Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

333

bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

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63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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VI Umfeld

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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VI Umfeld

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zu erfreuen so wie auch Theognis sogleich nach den Goumltteranrufen sich auf sein eigenes Gedicht auf bdquodiese Verseldquo zuruumlck bezieht In beiden Sammlungen sind es vier Stuumlcke an die Goumltter von denen jedes mit Aus-nahme von v 5-10 vier Verse umfasst Besonders aumlhnlich sind sich das dritte Skolion und v 5-10 Beide beschreiben wie Leto auf Delos ihren Sohn Apoll gebar und schlieszligen ohne Bitte Auch die Anordnung der uumlbrigen Skolien erinnert an die Theognidea Ohne einem umfassenden Gesetz zu gehorchen stehen doch Gruppen aumlhnlicher Gedichte beieinan-der Die Stuumlcke 1-4 wenden sich an Goumltter 10-13 besingen die Tyrannen-moumlrder Harmodios und Aristogeiton 15-16 und 17-18 antworten jeweils in Inhalt und Form aufeinander 21 und 22 haben ein Stichwort (βλανος βαλανε2ς) gemeinsam zugleich stehen erstens 1-7 und 10-13 zweitens 15-18 und drittens 14 19-22 und 25 jeweils im selben Versmaszlig Weil 23 und 24 im Versmaszlig aus der Reihe fallen und beide im Aristotelischen Staat der Athener zitiert sind geht man davon aus dass sie nachtraumlglich in die Abfolge eingefuumlgt wurden4 Wie bei den Theognidea sind die Gedicht-grenzen nicht stets eindeutig zu ziehen (z B Stuumlcke 10-13)

Verwandt sind die beiden Sammlungen auch in Inhalt und Ausdruck Sie enthalten Lehren uumlber Freundschaft insbesondere die Warnung vor Betrug weiterhin uumlber die houmlchsten Guumlter im Leben und uumlber den Staat vor allem die Gefahr der Tyrannis5 Auch die Skolien gebrauchen die Um-schreibung bdquodiese Stadtldquo und die adelsstolzen Standesbezeichnungen bdquoGu-teldquo und bdquoSchlechteldquo sowie zahlreiche andere aus den Theognidea vertraute Ausdruumlcke6 Es finden sich Sprichwoumlrter und Witze sogar ein Wortspiel

_____________

4 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] I 37 Bowra [1936] 404 (ldquoinserted either by an interpolator into Athenaeusrsquo text or by Athenaeus himself into the song-book from the text of Aristotlerdquo) Fabbro [1995] xxvi anders Reitzenstein [1893] 13 (Aristoteles schoumlpft aus Skoliensammlung nicht umgekehrt)

5 Freundschaft carm conv 6 9 25 Betrug carm conv 6 14 (vgl v 121-124) Das Beste carm conv 7 (vgl v 255 f) Tyrannis carm conv 10-13 (vgl insbesondere v 1181 f ferner v 10-13 v 39 f 823 f 847-850 1203-1206)

6 jHδε πλις in carm conv 12 24 γαθο13 δειλο13 in 14 23 Vgl ferner 12 (oρθο-υ) und v 760 13 (τερ λγων κα1 στασων) und v 51 1121 44 (τα5σδ᾿ οιδα5ς) und v 20 94 (micro( σκλια φρονε5ν) und v 535-538 141 f (microαθν γνο2ς mit Imperativ) und v 37 670 753 1305 1322 141 f (το`ς γαθο`ς φ13λει τν δειλν δ᾿ πχου) und v 31-38 61-72 142 (δειλο5ς ^λ13γη χρις) und v 105-108 854 182 (καθαρν θεmicroνη νον) und v 89 191 (π5νε συν9βα) und v 877 879 989 192 (σ2ν microοι microαινοmicroνL microα13νεο σ`ν σφρονι σωφρνει) und v 313 f 212 (τν microν )χει τν δ᾿ )ραται λαβε5ν) und v 489 f 231 ()γχει) und v 487 231 (δικονε) und v 829 241 (αα5) und v 351 891 1341 251 ($στις νδρα φ13λον micro( προδ13δωσιν) und v 529 252 (κατ᾿ microν νον) und v 519 540 1037 f Zum einheitlichen Themenschatz sympotischer Lyrik Vetta [1980] xxvi

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sect 45 Attische Skolien

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mit dem Gattungsnamen bdquoSkolionldquo ganz wie in v 11477 Gegenstand und Geist der einzelnen Gedichte unterscheiden sich auch innerhalb der Skoli-en so stark dass sie schwerlich alle vom selben Verfasser stammen koumlnnen Einige von ihnen gehoumlrten ebenso wie manche Stuumlcke der Theognidea als Volkslieder Jahrhunderte lang zur Grundbildung breiter Bevoumllkerungs-schichten Der Dialekt der Skolien ist so wenig regional festzulegen wie der Theognideische allerdings staumlrker dorisch und attisch gefaumlrbt8 Auch die Erscheinung der Dubletten und vor allem der mit leichten Aumlnderungen auch fuumlr andere Dichter bezeugten Verse fehlt nicht ndash darunter die bdquozer-sungeneldquo Version eines bekannten Alkaios-Gedichts9

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch deutliche Unter-schiede Vor allem sind die Theognidea um ein Vielfaches laumlnger als die bei Athenaios bewahrte Sammlung Weiterhin sind die Skolien nicht in elegi-schen Distichen verfasst sondern in verschiedenen lyrischen Versmaszligen Alle Stuumlcke sind Zwei- oder Vierzeiler laumlngere Lieder wie in den Theo-gnidea gibt es nicht Die Skolien enthalten ferner keine wiederkehrenden Anreden wie die des Kyrnos Inhaltlich fallen die sehr konkreten histori-schen Anspielungen (Stuumlcke 5 10-13 24) auf an denen es den Theognidea fast voumlllig mangelt

Um eine vom Verfasser zusammengestellte Sammlung eigener Gedich-te kann es sich nicht handeln Von den 25 Skolien sind die einen fuumlr diesen Dichter belegt die anderen fuumlr jenen einige gleichzeitig fuumlr mehrere10 die meisten aber fuumlr gar keinen11 Einen Dichter der alle diese Stuumlcke verfasst

_____________ 7 Sprichwort carm conv 20 Witz carm conv 22 Wortspiel σκλιον carm conv

94 8 Vgl hierzu Fabbro [1995] l-lv Wechsel von α impurum und η im selben Gedicht

ist ldquosituazione originaria di ibridismordquo (lii) wie in attischen Inschriften des 5 Jh 9 Dubletten carm conv 101-2 = 121-2 104 = 134 (v Wilamowitz-Moellendorff

[1900] 37 bdquomehrere Fassungen desselben Versesldquo) moumlglicherweise aber nur Re-frain Fuumlr andere bezeugte Verse carm conv 7 (Epicharm Simonides Sklerias) 8 (= Alkaios 2496-9 V) 10-13 (Kallistratos) 14 (Praxilla)

10 Zu den fuumlr verschiedene Verfasser bezeugten Gedichten Bowra [1936] 418 Ferrari [1989] 6 (ldquobanalizzazione atticizzanterdquo des Alkaios-Gedichts aumlhnlich wie in Ar V 1234 f) Fabbro [1995] xxiv (ldquouna spia dei fluidi e proteiformi contatti tra anonima ri-creazione individuale e poesia lsquodrsquoautorersquo che affidata allrsquoininterrotto riuso sim-posiale conosceva talora significative rielaborazioni del tessuto lessicale e sintattico noncheacute dellrsquoorientamento di significatordquo) Roumlsler [2004a] 41 (Skolien allgemein bdquoe-her Rezeptionsprodukte als Gedichte in ihrer originalen Gestaltldquo)

11 Die Skolien enthalten einige der bekanntesten griechischen Volkslieder so die Lieder ᾿Aδmicro9του Aρmicroοδ13ου Tελαmicroνος Vgl auch Reitzenstein [1893] 21 (bdquo Nachhall beruumlhmter Dichtungen oder beim Gelage beliebter Erzaumlhlungen kurze Ausfuumlhrungen eines altbekannten Sprichworts oder einer Gnome urspruumlnglich

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VI Umfeld

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hat kann es schon wegen der scharfen politischen Gegensaumltze etwa zwi-schen 10-13 einerseits und 14 23 und 24 andererseits nicht geben Doch auch eine Zusammensetzung aus mehreren Vorgaumlnger-Sammlungen wie sie verschiedene Gelehrte erschlieszligen12 ist bei der Kuumlrze des gesamten Corpusculum kaum glaubhaft Die Einleitung mit den vier Gedichten an die Goumltter duumlrfte jedenfalls vom Sammler stammen der ndash aus welchen Quellen auch immer ndash eine uumlbersichtliche Zahl beliebter Lieder zusam-mengestellt und sie teils nach Themen teils nach Melodien geordnet haumltte Dies spricht dafuumlr dass die aumlhnliche Anordnung der Theognidea ebenfalls von einem Sammler nicht dem Dichter selbst herruumlhrt auch dass wir wie bei den Stuumlcken 23 und 24 mit nachtraumlglichen Einschuumlben rechnen muumls-sen Zu bemerken ist daruumlber hinaus dass die Skolien zwar einen deutli-chen Anfangsteil aber kein als solches ausgezeichnetes Schlussgedicht haben

Nach der ganz uumlberwiegenden Auffassung handelt es sich um ein bdquoKommersbuchldquo das den Benutzer mit Vortragsstuumlcken fuumlrs Symposion ausruumlsten sollte13 Die Gegenmeinung nimmt an dass die Skolien aus anti-quarischem Interesse gesammelt wurden um sie als dichterische Zeugnisse der Vorzeit zu erhalten14 Fuumlr diese Vermutung spricht dass Athenaios seine Ausfuumlhrungen zum Ursprung des Wortes bdquoSkolionldquo aus einem Wer-ke Artemons von Kassandreia schoumlpft aus dem er auch die anschlieszligenden Gedichte entnommen haben koumlnnte Freilich kann man sich nicht recht vorstellen wie in einem bibliographischen Werk Uumlber die Benutzung von Buumlchern eine Kette von Skolien untergebracht gewesen sein sollte Grund-saumltzlich ist immerhin bekannt dass die Peripatetische Schule sich mit alter Literatur und auch mit Skolien beschaumlftigte15 Dagegen hat man zugunsten eines sympotischen Zwecks der Zusammenstellung darauf hingewiesen

_____________ sicher Improvisationen gehen sie auf keinen bestimmten Verfasser zuruumlck es sind sbquoVolksliederlsquoldquo)

12 Bowra [1936] Fabbro [1995] xxviii (ldquoalla formazione del repertorio abbiano con-corso i canzonieri di diversi clan aristocraticirdquo unterteilt 1-7 + 10-13 15-18 14 + 19-22 + 25 23-24)

13 So Reitzenstein [1893] 13 v Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 322 (bdquoein atti-sches Kommersbuch bestimmt fuumlr solche Teilnehmer die sichrsquos nicht zutrauten einen Vers zu machenldquo) Bowra [1936] 403 Roumlsler [1980a] 100 und [2004] 52 (bdquoei-ne urspruumlngliche Privatsammlung in der ein Symposiast zum eigenen Gebrauch seine Lieblingsstuumlcke zusammengestellt hatteldquo) Patzer [1981] 206 (bdquoGebrauchs-sammlungen aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) Fabbro [1995] xxv

14 So Aly [1927] 564 15 Vgl die Zitate bei Arist Ath und die Testimonien bei Fabbro [1995] (Dikaiarch

Aristoxenos)

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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VI Umfeld

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abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

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151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

364

im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 4: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 45 Attische Skolien

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mit dem Gattungsnamen bdquoSkolionldquo ganz wie in v 11477 Gegenstand und Geist der einzelnen Gedichte unterscheiden sich auch innerhalb der Skoli-en so stark dass sie schwerlich alle vom selben Verfasser stammen koumlnnen Einige von ihnen gehoumlrten ebenso wie manche Stuumlcke der Theognidea als Volkslieder Jahrhunderte lang zur Grundbildung breiter Bevoumllkerungs-schichten Der Dialekt der Skolien ist so wenig regional festzulegen wie der Theognideische allerdings staumlrker dorisch und attisch gefaumlrbt8 Auch die Erscheinung der Dubletten und vor allem der mit leichten Aumlnderungen auch fuumlr andere Dichter bezeugten Verse fehlt nicht ndash darunter die bdquozer-sungeneldquo Version eines bekannten Alkaios-Gedichts9

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch deutliche Unter-schiede Vor allem sind die Theognidea um ein Vielfaches laumlnger als die bei Athenaios bewahrte Sammlung Weiterhin sind die Skolien nicht in elegi-schen Distichen verfasst sondern in verschiedenen lyrischen Versmaszligen Alle Stuumlcke sind Zwei- oder Vierzeiler laumlngere Lieder wie in den Theo-gnidea gibt es nicht Die Skolien enthalten ferner keine wiederkehrenden Anreden wie die des Kyrnos Inhaltlich fallen die sehr konkreten histori-schen Anspielungen (Stuumlcke 5 10-13 24) auf an denen es den Theognidea fast voumlllig mangelt

Um eine vom Verfasser zusammengestellte Sammlung eigener Gedich-te kann es sich nicht handeln Von den 25 Skolien sind die einen fuumlr diesen Dichter belegt die anderen fuumlr jenen einige gleichzeitig fuumlr mehrere10 die meisten aber fuumlr gar keinen11 Einen Dichter der alle diese Stuumlcke verfasst

_____________ 7 Sprichwort carm conv 20 Witz carm conv 22 Wortspiel σκλιον carm conv

94 8 Vgl hierzu Fabbro [1995] l-lv Wechsel von α impurum und η im selben Gedicht

ist ldquosituazione originaria di ibridismordquo (lii) wie in attischen Inschriften des 5 Jh 9 Dubletten carm conv 101-2 = 121-2 104 = 134 (v Wilamowitz-Moellendorff

[1900] 37 bdquomehrere Fassungen desselben Versesldquo) moumlglicherweise aber nur Re-frain Fuumlr andere bezeugte Verse carm conv 7 (Epicharm Simonides Sklerias) 8 (= Alkaios 2496-9 V) 10-13 (Kallistratos) 14 (Praxilla)

10 Zu den fuumlr verschiedene Verfasser bezeugten Gedichten Bowra [1936] 418 Ferrari [1989] 6 (ldquobanalizzazione atticizzanterdquo des Alkaios-Gedichts aumlhnlich wie in Ar V 1234 f) Fabbro [1995] xxiv (ldquouna spia dei fluidi e proteiformi contatti tra anonima ri-creazione individuale e poesia lsquodrsquoautorersquo che affidata allrsquoininterrotto riuso sim-posiale conosceva talora significative rielaborazioni del tessuto lessicale e sintattico noncheacute dellrsquoorientamento di significatordquo) Roumlsler [2004a] 41 (Skolien allgemein bdquoe-her Rezeptionsprodukte als Gedichte in ihrer originalen Gestaltldquo)

11 Die Skolien enthalten einige der bekanntesten griechischen Volkslieder so die Lieder ᾿Aδmicro9του Aρmicroοδ13ου Tελαmicroνος Vgl auch Reitzenstein [1893] 21 (bdquo Nachhall beruumlhmter Dichtungen oder beim Gelage beliebter Erzaumlhlungen kurze Ausfuumlhrungen eines altbekannten Sprichworts oder einer Gnome urspruumlnglich

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VI Umfeld

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hat kann es schon wegen der scharfen politischen Gegensaumltze etwa zwi-schen 10-13 einerseits und 14 23 und 24 andererseits nicht geben Doch auch eine Zusammensetzung aus mehreren Vorgaumlnger-Sammlungen wie sie verschiedene Gelehrte erschlieszligen12 ist bei der Kuumlrze des gesamten Corpusculum kaum glaubhaft Die Einleitung mit den vier Gedichten an die Goumltter duumlrfte jedenfalls vom Sammler stammen der ndash aus welchen Quellen auch immer ndash eine uumlbersichtliche Zahl beliebter Lieder zusam-mengestellt und sie teils nach Themen teils nach Melodien geordnet haumltte Dies spricht dafuumlr dass die aumlhnliche Anordnung der Theognidea ebenfalls von einem Sammler nicht dem Dichter selbst herruumlhrt auch dass wir wie bei den Stuumlcken 23 und 24 mit nachtraumlglichen Einschuumlben rechnen muumls-sen Zu bemerken ist daruumlber hinaus dass die Skolien zwar einen deutli-chen Anfangsteil aber kein als solches ausgezeichnetes Schlussgedicht haben

Nach der ganz uumlberwiegenden Auffassung handelt es sich um ein bdquoKommersbuchldquo das den Benutzer mit Vortragsstuumlcken fuumlrs Symposion ausruumlsten sollte13 Die Gegenmeinung nimmt an dass die Skolien aus anti-quarischem Interesse gesammelt wurden um sie als dichterische Zeugnisse der Vorzeit zu erhalten14 Fuumlr diese Vermutung spricht dass Athenaios seine Ausfuumlhrungen zum Ursprung des Wortes bdquoSkolionldquo aus einem Wer-ke Artemons von Kassandreia schoumlpft aus dem er auch die anschlieszligenden Gedichte entnommen haben koumlnnte Freilich kann man sich nicht recht vorstellen wie in einem bibliographischen Werk Uumlber die Benutzung von Buumlchern eine Kette von Skolien untergebracht gewesen sein sollte Grund-saumltzlich ist immerhin bekannt dass die Peripatetische Schule sich mit alter Literatur und auch mit Skolien beschaumlftigte15 Dagegen hat man zugunsten eines sympotischen Zwecks der Zusammenstellung darauf hingewiesen

_____________ sicher Improvisationen gehen sie auf keinen bestimmten Verfasser zuruumlck es sind sbquoVolksliederlsquoldquo)

12 Bowra [1936] Fabbro [1995] xxviii (ldquoalla formazione del repertorio abbiano con-corso i canzonieri di diversi clan aristocraticirdquo unterteilt 1-7 + 10-13 15-18 14 + 19-22 + 25 23-24)

13 So Reitzenstein [1893] 13 v Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 322 (bdquoein atti-sches Kommersbuch bestimmt fuumlr solche Teilnehmer die sichrsquos nicht zutrauten einen Vers zu machenldquo) Bowra [1936] 403 Roumlsler [1980a] 100 und [2004] 52 (bdquoei-ne urspruumlngliche Privatsammlung in der ein Symposiast zum eigenen Gebrauch seine Lieblingsstuumlcke zusammengestellt hatteldquo) Patzer [1981] 206 (bdquoGebrauchs-sammlungen aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) Fabbro [1995] xxv

14 So Aly [1927] 564 15 Vgl die Zitate bei Arist Ath und die Testimonien bei Fabbro [1995] (Dikaiarch

Aristoxenos)

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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VI Umfeld

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abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

334

Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 5: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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hat kann es schon wegen der scharfen politischen Gegensaumltze etwa zwi-schen 10-13 einerseits und 14 23 und 24 andererseits nicht geben Doch auch eine Zusammensetzung aus mehreren Vorgaumlnger-Sammlungen wie sie verschiedene Gelehrte erschlieszligen12 ist bei der Kuumlrze des gesamten Corpusculum kaum glaubhaft Die Einleitung mit den vier Gedichten an die Goumltter duumlrfte jedenfalls vom Sammler stammen der ndash aus welchen Quellen auch immer ndash eine uumlbersichtliche Zahl beliebter Lieder zusam-mengestellt und sie teils nach Themen teils nach Melodien geordnet haumltte Dies spricht dafuumlr dass die aumlhnliche Anordnung der Theognidea ebenfalls von einem Sammler nicht dem Dichter selbst herruumlhrt auch dass wir wie bei den Stuumlcken 23 und 24 mit nachtraumlglichen Einschuumlben rechnen muumls-sen Zu bemerken ist daruumlber hinaus dass die Skolien zwar einen deutli-chen Anfangsteil aber kein als solches ausgezeichnetes Schlussgedicht haben

Nach der ganz uumlberwiegenden Auffassung handelt es sich um ein bdquoKommersbuchldquo das den Benutzer mit Vortragsstuumlcken fuumlrs Symposion ausruumlsten sollte13 Die Gegenmeinung nimmt an dass die Skolien aus anti-quarischem Interesse gesammelt wurden um sie als dichterische Zeugnisse der Vorzeit zu erhalten14 Fuumlr diese Vermutung spricht dass Athenaios seine Ausfuumlhrungen zum Ursprung des Wortes bdquoSkolionldquo aus einem Wer-ke Artemons von Kassandreia schoumlpft aus dem er auch die anschlieszligenden Gedichte entnommen haben koumlnnte Freilich kann man sich nicht recht vorstellen wie in einem bibliographischen Werk Uumlber die Benutzung von Buumlchern eine Kette von Skolien untergebracht gewesen sein sollte Grund-saumltzlich ist immerhin bekannt dass die Peripatetische Schule sich mit alter Literatur und auch mit Skolien beschaumlftigte15 Dagegen hat man zugunsten eines sympotischen Zwecks der Zusammenstellung darauf hingewiesen

_____________ sicher Improvisationen gehen sie auf keinen bestimmten Verfasser zuruumlck es sind sbquoVolksliederlsquoldquo)

12 Bowra [1936] Fabbro [1995] xxviii (ldquoalla formazione del repertorio abbiano con-corso i canzonieri di diversi clan aristocraticirdquo unterteilt 1-7 + 10-13 15-18 14 + 19-22 + 25 23-24)

13 So Reitzenstein [1893] 13 v Wilamowitz-Moellendorff [1893] II 322 (bdquoein atti-sches Kommersbuch bestimmt fuumlr solche Teilnehmer die sichrsquos nicht zutrauten einen Vers zu machenldquo) Bowra [1936] 403 Roumlsler [1980a] 100 und [2004] 52 (bdquoei-ne urspruumlngliche Privatsammlung in der ein Symposiast zum eigenen Gebrauch seine Lieblingsstuumlcke zusammengestellt hatteldquo) Patzer [1981] 206 (bdquoGebrauchs-sammlungen aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) Fabbro [1995] xxv

14 So Aly [1927] 564 15 Vgl die Zitate bei Arist Ath und die Testimonien bei Fabbro [1995] (Dikaiarch

Aristoxenos)

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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VI Umfeld

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abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

332

Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

333

bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

_____________

123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 46 Homerische Hymnen

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dass die Stellung der Gebete am Anfang sowie die aufeinander antworten-den Gedichte den tatsaumlchlichen Ablauf des Symposions widerspiegeln16 Es liegt naumlher hinter dieser Reihenfolge praktische Gruumlnde zu vermuten als eine literarische Nachahmung von Gelagesitten Uumlber die Attischen Skolien und die Theognidea hinaus wissen wir von einigen weiteren kur-zen voralexandrinischen Gedichtsammlungen17 Allerdings ist nirgends bezeugt dass solche Texte tatsaumlchlich als Hilfsmittel fuumlr den Gesang beim Symposion eingesetzt wurden Wenn sie wie Athenaios die Papyri und letztlich auch das Theognideische Corpus belegen bis in die Kaiserzeit hinein abgeschrieben wurden als man das Symposion nur noch als ge-schichtliches Kuriosum kannte dann muss es fuumlr sie neben der prakti-schen Verwendung als bdquoKommersbuchldquo noch andere Zwecke ndash literari-sche schulische oder ethische ndash gegeben haben Es ist nicht zu erkennen warum diese erst spaumlter hinzugetreten sein und nicht schon von Anfang an zur Entstehung der Sammlung beigetragen haben sollen

Die Kuumlrze und Schlichtheit der Skolien die schon Athenaios heraus-streicht weisen ebenso wie ihr unbefangener Gebrauch von Namen und Anspielungen auf groumlszligere Naumlhe zur alten Dichtung hin die fuumlr besondere Umstaumlnde und Zuhoumlrer verfasst wurde Die Theognidea sind im Vergleich viel glatter statt vielfaumlltiger Versmaszlige herrscht die Elegie mit ihrem uner-muumldlich wiedergekaumluten Vorrat von Motiven und Formeln Das laumlsst die Skolien aumllter wirken Sie sind auch nicht gemeingriechisch wie das Corpus sondern bekennen sich zu ihrem attischen Ursprung wenn sie als erstes Athene anrufen und den Ruhm der athenischen Tyrannenmoumlrder singen

sect 46 Homerische Hymnen

Auch die unter Homers Namen uumlberlieferten Hymnen sind eine Samm-lung von Einzelstuumlcken deren Grenzen von vereinzelten Unsicherheiten

_____________

16 Zu Gebeten Fabbro [1995] xxii (ldquoegrave forse possibile riconoscere nei quattro carmi ες θεο2ς un breve specimen di peani simposiali confluiti per affinitagrave di linee melodi-che in un repertorio di scolicirc ove hanno trovato conformemente alla loro occasione esecutiva opportuna disposizione in incipitrdquo) Zur Responsion Reitzenstein [1893] 24

17 Insbesondere die bei Fabian [1991] 187-269 herausgegebenen Skolien der Sieben Weisen (bei Diogenes Laertios zitiert wohl aus Lobon von Argos) 4 Skolien (auf einem Papyrus um 300 v Chr) nach dem Anfangsbuchstaben geordnete Skolien (auf einem Papyrus des 3 Jh n Chr) ferner die Homerischen Hymnen sowie die vermutlichen Vorlagen der alexandrinischen Lyrikerausgaben (so Fabbro [1995] xx ldquobrevi raccolte di interventi poetici (ποmicroν9microατα) non dissimili da quei reper-toricirc a disposizione degli Alessandrini per le loro edizioni di Anacreonte e Alceordquo)

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VI Umfeld

328

abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

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63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

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74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

347

dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 7: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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abgesehen deutlich zu erkennen sind Die gestalterischen und inhaltlichen Gegensaumltze lassen keinen Zweifel daran dass wir es mit Schoumlpfungen einer Vielzahl von Dichtern zu tun haben verfasst zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und mit unterschiedlicher Kunst Ihre Entstehung wird mit Ausnahme des anscheinend spaumlter eingedrungenen Ares-Hymnos VIII auf das siebte bis fuumlnfte Jahrhundert datiert wenn auch in keinem Fall mit Gewissheit gesammelt wurden sie in alexandrinischer Zeit wohl zwischen dem vierten und zweiten Jahrhundert vor Christus18

In Gehalt und Form stehen die 33 Hymnen den Homerischen Epen oder Hesiod naumlher als den Theognidea Anklaumlnge gibt es erwartungsge-maumlszlig vor allem zu den Goumltteranrufungen am Anfang des Corpus19 Was den Vergleich zwischen diesen zwei Texten dennoch lohnend macht ist ihre Verwandtschaft als Sammlungen Zunaumlchst schoumlpfen sie beide aus Gattungen die zeit ihres Bestehens ndash auch noch nach der Verbreitung der Schrift ndash vorwiegend in der muumlndlichen Schoumlpfung und Darbietung leb-ten20 Nicht nur bedienen die Hymnen sich einer Fuumllle feststehender For-meln sondern vor allem bieten sowohl die Handschriften selbst als auch antike Zitate und innerhalb der Sammlung wiederholte Stellen Textvarian-ten die sich nicht durch Abschreibfehler sondern nur durch muumlndliche Uumlberlieferung und Uumlberarbeitung erklaumlren lassen21 Auch die Wiederver-_____________ 18 Zur Datierung skeptisch Cagravessola [1975] liv (ldquoun amalgama di fatti linguistici ora

arcaici ora evoluti noncheacute di formule e de vocaboli usati ora in senso proprio ora ad orecchiordquo) der auch eine Entstehung vor den homerischen Gedichten nicht aus-schlieszligt zuversichtlicher Janko [1982] Burkert [1979] hat den zweiteiligen Apol-lonhymnus III auf 522 v Chr datiert

19 Vgl vor allem den Aufbau der Hymnen desweiteren h Hom 314 f 3158 f (Zusammenstellung Apoll Artemis Leto) und v 1-14 815-17 159 2612 f (Bitten) und v 4 13 765-768 781 f 118 (shyδοmicroεν ρχmicroενοι λ9γοντς τε) 214 (πρτον τε κα1 mστατον αXεν ε13δει) und v 1-4 317 f (κεκλιmicroνη γχοττω φο13νικος) 3117 f und v 6 f 213 f (κζ᾿ διστ᾿ ^δmicro9 γα5α δ πEσ᾿ γλασσε κα1 λmicroυρν οXδmicroα θαλσσης) 3118 und v 9 f 2715 (Mουσν κα1 Xαρ13των καλν χρον) und v 15-18 allgemein zu den Parallelen vgl Kroll [1936] 1-4 10 Anklaumlnge auszligerhalb der Goumlttergedichte z B h Hom 2149 (τατα δ τοι σαφως ποθ9σοmicroαι yδ᾿ ^νοmicro9νω) und v 27 1007 1049 3544 (σ` δ φρεσ1 σdσι νο9σας) 5289 (σ` δ φρεσ1 σdσι φ2λαξαι obwohl an mehrere gerichtet) und v 1049 f 4565 (σ(ν ατο φρνα τρπε) und v 795 320 f (πντ γρ τοι Φο5βε νοmicroς βεβλ9αται pδltς | ymicroν ν᾿ πειρον πορτιτρφον yδ᾿ ν ν9σους) und v 237 f 247 f 133 (τ9νδε πλιν) und v 781 f uouml 173 334 (π Tαϋγτου κορυφdς) und v 879 f

20 Tatsaumlchliche muumlndliche Entstehung der Hymnen haumllt Cagravessola [1975] lvii fuumlr moumlg-lich

21 Insbesondere die Version von h Hom 3146-150 bei Th 3104 sowie die Dublette h Hom 41-9 ~ 181-9 Vgl hierzu Janko [1982] 2 ldquothese variants are just what we might expect to find in a recasting of a song by an oral singer or reciterrdquo Ferner

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sect 46 Homerische Hymnen

329

wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

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dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

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63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

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74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 8: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 46 Homerische Hymnen

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wendung von Textbausteinen aus anderen Hymnen oder etwa aus Hesi-ods Theogonie deutet auf die Bedenkenlosigkeit muumlndlicher Dichtung im Umgang mit literarischem Eigentum hin22 Die schriftliche Niederlegung und Weitergabe der Hymnen war ndash aumlhnlich wie eine fotografische Auf-nahme ndash ein Vorgang der fuumlr das Leben der Gattung weder notwendig war noch auch nur wesentlichen Einfluss darauf hatte

Beide Sammlungen bilden eine Reihe aus einzelnen Gedichten die einander nicht brauchen und jedes fuumlr sich vollstaumlndig sind Obwohl vom Dionysos-Hymnos I durch einen Zufall der Uumlberlieferung nur Anfang und Ende erhalten sind ndash dieses in der Handschrift jener als Zitat ndash sind die Hymnen ebensowenig wie die Theognidea Fragmente23 Es sind vielmehr kleine in sich abgeschlossene Werke die nichts miteinander zu tun haben auszliger dass sie zur selben Gattung gehoumlren und ihnen damit Versmaszlig Thema Aufbau und Verwendung gemein sind Sie stammen unzweifelhaft von verschiedenen Verfassern24 deren Namen aber nicht an den Gedichten hafteten denn sonst waumlre es kaum zur Zuschreibung an Homer den sagenhaften Vater der epischen Gattung gekommen Ob dabei die Selbstvorstellung des Sprechers im letzten Teil des Apollon-Hymnos III als bdquoblinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chiosldquo womit wohl Homer gemeint ist eine Rolle spielte ist schwer zu sagen25 dass

_____________ bietet in vielen Faumlllen dieselbe Handschrift mehrere Textvarianten die als schon in der Urfassung notierte Alternativen fuumlr den Vortrag gedeutet worden sind (so Cagravessola [1975] lxiii Janko [1982] 3 f) Doch ist ein solches Verfahren nirgends be-zeugt eher duumlrfte es sich daher um beim Handschriftenvergleich am Rand ver-merkte Textvarianten oder Glossen handeln

22 H Hom 41-9 + 4579 f ~ 181-11 21 f + 2490-495 ~ 131-3 174-5 ~ 332 + 334 f + 3317 252-5 ~ Hes Th 94-97 In allen vier Faumlllen bildet das Material an der einen Stelle jeweils einen ganzen Hymnos an der anderen einen Teil Dies versteht man wohl richtiger nicht als Collage eines Kurzhymnos aus Truumlmmern eines laumln-geren sondern als gleichberechtigte erweiterte und verkuumlrzte Fassungen desselben Hymnos

23 Cagravessola [1975] xvii haumllt alle kuumlrzeren Hymnen fuumlr Fragmente da die formelhafte Ankuumlndigung des ersten Verses die Gottheit zu bdquobesingenldquo in ihnen nicht ein-gehalten werde Eine so technische Bedeutung fuumlr ε13δω microνω usw ist jedoch nicht nachzuweisen vielmehr lieszlig sich das Aufbaumuster der Vorspruumlche allem Anschein nach beliebig auf ein Mindestmaszlig verkuumlrzen (so wohl in der Regel) oder zu einem Paradestuumlck ausbauen

24 Der Dichter des Apollon-Hymnos III (zumindest des Delischen Teils) stammt aus Chios der Demeter-Hymnos II ist in Eleusis der Aphrodite-Hymnos V wohl in der Troas gedichtet Waumlhrend die letzten beiden durchaus zur Zeit der homeri-schen Epen entstanden sein koumlnnten gehoumlren etwa die Hymnen an Helios und Se-lene XXXI und XXXII sehr wahrscheinlich in die alexandrinische Zeit

25 Im Einzelnen zur Selbstvorstellung s unten sect 52

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VI Umfeld

330

dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

332

Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

333

bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

334

Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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VI Umfeld

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

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74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 9: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

330

dieses Gedicht in unserer besten Handschrift erst an die dritte Stelle ge-setzt ist spricht eher dagegen Die Anspielung duumlrfte eher auf eine schon aumlltere Uumlbung der Rhapsoden oder jedenfalls bestimmter Schulen hindeu-ten ihr gesamtes Repertoire einschlieszliglich der Hymnen auf Homer zu-ruumlckzufuumlhren Ebenso koumlnnen auch die Theognidea eine Auswahl aus einer sonst weitgehend verlorenen Gattung sein die von zahllosen Unbe-kannten zu verschiedener Zeit ohne den Anspruch literarischen Eigentums gepflegt landlaumlufig unter dem Namen ihres beruumlhmtesten Dichters Theo-gnis umlief halb um sie mit einem bequemen Schlagwort zuzuordnen halb um sie an der Anziehungskraft des weisen Megarers teilhaben zu lassen

Wie das Corpus sind auch die Hymnen zwar nach keinem einheitli-chen Grundsatz angeordnet aber auch wiederum nicht willkuumlrlich In der Reihenfolge die die beste Handschrift bietet stehen am Anfang die fuumlnf laumlngeren Hymnen denn der Dionysos-Hymnos I war vor seiner Ver-stuumlmmelung wohl kaum von geringerem Umfang als die folgenden Abge-sehen von dieser Zweiteilung sind die Gedichte jedoch nicht nach abneh-mender Laumlnge geordnet sie duumlrfte sich folglich eher durch die Vereinigung einer Sammlung von langen Kunsthymnen mit einer zweiten von gewoumlhnlichen Vorspruumlchen ergeben haben Auch eine alphabetische Abfolge ist nicht erkennbar allenfalls ein voruumlbergehender Anklang in den vier Gedichten auf mit Alpha beginnende Gottheiten VIII-XI Einige kurze Gruppen sind auch sonst sinnvoll zusammengestellt zwei Hymnen auf Aphrodite V-VI Hermes XVIII und wie der erste Vers des folgenden Gedichts XIX sagt bdquoder liebe Spross des Hermesldquo Pan die Verkoumlrperun-gen der Erde der Sonne und des Mondes XXX-XXXII Auffaumlllig ist auch dass Dionysos Artemis Athene und die Dioskuren in VII-XVII und XXVI-XXXIII jeweils in derselben Reihenfolge angesprochen werden Herausgehobene Anfangs- oder Schlussgedichte sind dagegen nicht zu entdecken Insgesamt ergibt sich wie bei den Theognidea der Eindruck dass mehrere kleine Sammlungen zusammengefuumlgt wurden die jeweils ohne strengen Ordnungswillen aber mit Sinn fuumlr gelegentliche Bezuumlge benachbarter Gedichte gestaltet waren

Erhalten sind die Hymnen nur durch gluumlcklichen Zufall in wenigen Handschriften die wohl auf ein einziges byzantinisches Muster zuruumlckge-hen auch Papyri und antike Zitate sind ausgesprochen selten Gleichzeitig belegen die Zitate aber eine Uumlberlieferung einzelner Stuumlcke auszligerhalb der Sammlung die sich im Text zum Teil betraumlchtlich unterscheiden Beides zeigt dass die Hymnen nicht zum alexandrinischen Kanon gehoumlrten son-dern die klassische Zeit nur dank volkstuumlmlicher Beliebtheit oder antiqua-rischen Interesses uumlberlebten spaumlter dann unter dem Schutz von Samm-

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

331

lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

332

Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

333

bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

334

Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

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58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 10: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

331

lungen Kallimacheischer oder orphischer Hymnen denen sie der Voll-staumlndigkeit halber beigefuumlgt wurden

Uumlber die urspruumlngliche Verwendung der Stuumlcke zur Einleitung rhap-sodischer Vortraumlge sind wir ungefaumlhr unterrichtet welchem Zweck aber diente ihre Vereinigung in einem Buch Es liegt nahe diesen Zweck aus dem der Hymnen abzuleiten Die Sammlung waumlre dann ein Hilfsmittel fuumlr Rhapsoden gewesen26 Als Vorlage zum Ablesen koumlnnen sie indes kaum gedient haben ndash Rhapsoden die vom Blatt rezitierten haumltten ihre Kunst aufgegeben die in der auswendigen Beherrschung der Texte und erst in zweiter Linie im Vortrag bestand27 So kann die Sammlung nur bei der Speicherung und Weitergabe der Hymnen geholfen haben Daran aber hatten nicht nur berufsmaumlszligige Rhapsoden Interesse Wie die Zitate bewei-sen waren einige Hymnen aumlhnlich volkstuumlmlich wie der uumlbrige Homeri-sche Kanon so dass jeder Gebildete Grund haben konnte eine solche Sammlung anzulegen zu schulischen wissenschaftlichen und literarischen Zwecken28 Auch weil sie ihre heutige Gestalt (ohne den Ares-Hymnos) wohl erst in alexandrinischer Zeit erhalten hat duumlrfte sie eher die Frucht antiquarischen Interesses sein

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

Der Vergleich zwischen Theognis und dem weisen juumldischen Koumlnig lag schon fuumlr Julian den Abtruumlnnigen auf der Hand29 Unter Salomos Namen ist neben dem Hohenlied dem Buch des Predigers (Kohelet Ecclesiastes) und dem apokryphen Buch der Weisheit im Kanon des Alten Testaments ein Buch der Sprichwoumlrter oder Spruumlche (Liber proverbiorum) uumlberliefert das gemeinsam mit den genannten sowie Hiob und dem ebenfalls apo-kryphen Jesus Sirach (Ecclesiasticus) zu den Weisheitsschriften gerechnet wird Der Titel bdquoSprichwoumlrter Salomosldquo ist im ersten Vers enthalten Die ersten neun und die letzten zwei der 31 Kapitel setzen sich aus laumlngeren

_____________

26 So v Wilamowitz-Moellendorff [1893] 322 (bdquoHilfsbuch fuumlr einen Rhapsodenldquo) Bowra [1935] 141 (ldquosong bookrdquo) Cagravessola [1975] xiv (ldquoun repertorio di proemi de-stinati alle recitazioni rapsodicherdquo) wegen in Handschriften bewahrten alternati-ven Varianten und weil zu sproumlde (Cagravessola [1975] lx ldquoegrave molto difficile che questi avulsi da un contesto narrativo potessero interessare il lettore coltordquo)

27 Vgl Pl Ion Schon der Stab als Requisit des Rhapsoden haumltte das Halten einer Rolle beim Vortrag im Stehen unmoumlglich gemacht

28 Dagegen nach dem Vorgang Gilbert Murrays Cagravessola [1975] xlvii (ldquoil possesso di testi omerici da parte di privati egrave unrsquoeccezione da parte dei rapsodi egrave la regolardquo) unter Berufung auf X Mem 4210

29 S T109 vgl T113

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VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

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151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

364

im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 11: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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Stuumlcken zusammen waumlhrend der Hauptteil des Buches fast ausschlieszliglich aus unverbundenen Spruumlchen im Umfang einer Doppelzeile besteht An-ders als bei den Theognideischen Zweizeilern allerdings hat bei diesen kurzen Sprichwoumlrtern niemand vermutet es koumlnne sich um aus laumlngeren Gedichten herausgetrennte Bruchstuumlcke handeln dazu macht ihre zuwei-len bis ins Raumltselhafte verknappte Kuumlrze zu offensichtlich gerade ihre Kunst aus Sie sind stets in zwei Teilverse mit je drei oder vier Hebungen unterteilt die ndash ohne sonst durch Versmaszlig oder Assonanz gebunden zu sein ndash sich gegenseitig ergaumlnzen (parallelismus membrorum) und zwar fast immer so dass sie gewissermaszligen in der Mitte gespiegelt sind indem der zweite Teil das Gegenteil des ersten Teils verneint bdquoEin weiser Sohn ist seines Vaters Freude aber ein toumlrichter Sohn ist seiner Mutter Grauml-menldquo30 Zuweilen liefert der zweite Teil auch den Grund der Mahnung bdquoGehe von dem Narren denn du lernest nichts von ihmldquo31 Insbesondere dieser Aufbau erinnert an das Theognideische Distichon das sich gleich-falls oft aus einem zu- oder abratenden Hexameter und einem begruumlnden-den Pentameter zusammensetzt32

In einigen Abschnitten des Buches haumluft sich die Anrede bdquomein Sohnldquo viermal auch bdquoo Soumlhneldquo33 Die auffaumlllige Wiederholung von bdquoKyrnosldquo im Corpus ist also nicht einzigartig Sofern man allerdings κ2ρνος nicht mit Welcker als Ausdruck fuumlr bdquoKnabeldquo deutet ist die Anrede in den Sprich-woumlrtern unpersoumlnlicher als im Corpus34 Beiden Werken gemeinsam ist weiterhin die herausragende Rolle die bdquoGerechteldquo und bdquoUumlbeltaumlterldquo in einem Groszligteil der Ratschlaumlge spielen bdquoDurch den Segen der Frommen wird eine Stadt erhaben aber durch den Mund der Gottlosen wird sie zerbrochenldquo35 Diese Teilung der Welt in Gute und Boumlse in Weise und Toren Fromme und Suumlnder draumlngt den Houmlrer sich fest auf die Seite einer Gruppe zu stellen und dadurch unempfindlich zu werden gegen andere Verhaltensmaszligstaumlbe Dabei ist es nebensaumlchlich dass bei Theognis die

_____________ 30 Spr 101 תוגת אמו ובן כסיל אב-ישמח בן חכם 31 Spr 147 דעת-שפתי ידעת-ובל לאיש כסיל לך מנגד Vgl hierzu Ploumlger [1984] xx 32 S oben S 133-137 Spr 18 10 15 21 31 11 21 410 20 51 61 3 20 71 2315 19 26 2413 בני 33

Dieselbe Anrede auch in Sir 21 38 usw 832 724 57 41 בנים 3121 21(τκνον) 31 (τκνα)

34 Zu K2ρνε vgl oben S 173 f 277-279 Zur haumlufigen Wiederholung s auch oben S 307

35 Spr 1111 תהרס רשעיםובפי תרום קרת בברכת ישרים Vgl v 43 f Andere ver-wendete Begriffe bdquoGuteldquo ריםיש צדיקים 418 335 חכמים 332 bdquoBoumlseldquo 17 אוילים 414 רעים 332 נלוז 222 בוגדים 222 רשעים 132 כסילים 132 פתים 110 חטאים13Aumlhnliche Terminologie auch in Ps Hi Jes Hos Weish Zu γαθο 85 פתאים und κακο13 bei Th s oben S 265

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

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68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 12: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

333

bdquoVornehmenldquo (γαθο13 σθλο13) und die bdquoGemeinenldquo (κακο13 δειλο13) oft einen staumlndischen Unterton haben waumlhrend die Beschreibungen in den Sprichwoumlrtern religioumls gefaumlrbt sind Die Aufgabe dieser Zweiteilung fuumlr die Sittenlehre ist dieselbe

In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Weisheit (hokmāh) Sie ist Gehalt und Ziel der Sprichwoumlrter ja sie wird sogar selbst als Rednerin eingefuumlhrt36 Urheber der Ratschlaumlge sind Weise ihre Empfaumlnger wollen weise werden Bis in Feinheiten der Bedeutung (hokmāh bezeichnet auch die Fertigkeit von Handwerkern oder Seeleuten) und Verwendung aumlhnelt der Begriff der griechischen σοφ13α die Theognis in seiner Dichtung ver-mittelt37 Der Aumlltere belehrt den Juumlngeren im Musterfall seinen Sohn bdquoHoumlret meine Kinder die Zucht eures Vaters merkt auf daszlig ihr lernet und klug werdet Denn ich war meines Vaters Sohn und er lehrete mich und sprach Lass dein Herz meine Worte aufnehmen halte meine Gebote so wirst du lebenldquo38 Nur wenige der laumlngeren Stuumlcke kommen ohne den Aufruf zu Aufmerksamkeit Einpraumlgen und Befolgen der Lehren aus wie man ihn aus den Hesiodeischen Erga aber auch aus den Theogni-dea kennt39 Auch inhaltlich uumlberschneiden sich die Sprichwoumlrter in vielem mit den Mahnungen des Corpus40 Hingewiesen worden ist besonders auf gemeinsame Gleichnisse zum Laumlutern und Pruumlfen von Gold41

_____________

36 So Spr 12 22 313 47 2217 usw personifiziert Spr 120-33 81-918 141 13Fertigkeitldquo Ex 3535 Ez 278 vgl auch Whybray [1995] 22 Zur σοφbdquo חכמה 37α bei

Th s oben sect 41 38 Spr 41 3 f ויאמר --וירני הייתי לאבי בן-כי לדעת בינה והקש יבו מוסר אב מעו בניםש

חיהתי ו שמר מצו דברי לבך-יתמך לי Vgl v 27-30 Anrede an Jugend auch Spr 14 uouml von Eltern 18 Mutter an Sohn 311-9

39 Vgl etwa Spr 123 31 41 f 10 20 51 7 20 ff 71 ff 24 832 2217 Zu Hesiod und Th s unten sect 48

40 Gerechtigkeit als Hauptziel Spr 13 156 vgl v 131 f 147 f 465 f 753 Gesell-schaft von Weisen oder Suumlndern 110 1320 147 f vgl v 31 f 69-72 Weg als Metapher Spr 411 ff uouml vgl v 71 f 219 f 331 f 382 911 f 945 f Weise schweigen 1014 19 1112 1223 133 143 1727 vgl v 421-424 Der Mensch denkt Gott lenkt 1022 1128 161 1921 271 vgl v 133-142 159 f Hochmut kommt vor dem Fall 112 1618 1812 vgl v 151-154 Besser arm und redlich 1516 168 171 vgl v 145 f 1155 f Armut nicht verspotten 175 vgl v 155-158 Eltern achten 1926 2020 2322 2824 3017 vgl v 131 f 271-278 Auf nieman-den ist Verlass 206 9 vgl v 415-418 615 f Kein Freikaufen vom Tod Spr 1921 vgl v 133-142 Kranz der Dummheit Spr 1424 vgl v 1260

41 Weisheit besser als Silber und Gold Spr 314 810 819 1616 vgl v 449-452 417 f = 1105 f Herzen wie Gold pruumlfen Spr 173 vgl 119-124 499 f (vgl auch Sach 139 Hi 2310) Brown [1981] 169 schlieszligt aus der verwandten Metaphorik ldquoThe spread of a gold economy in Israel and Hellas may then be associated with the

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VI Umfeld

334

Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

335

tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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VI Umfeld

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

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151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

364

im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 13: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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Die Uumlbereinstimmungen der Spruumlche und der Theognidea in Form und Inhalt gehen uumlber das hinaus was aufgrund aumlhnlicher aumluszligerer Bedin-gungen und anthropologischer Konstanten zu erwarten ist Eine unmittel-bare Beziehung zwischen beiden Werken ist jedoch zur damaligen Zeit schon wegen der Sprachgrenze auszuschlieszligen Mittelbare gemeinsame Quellen sind am ehesten in der Spruchweisheit des Morgenlandes zu su-chen das Juden und Griechen gleichermaszligen als Heimat der Wissenschaft und Lebensklugheit galt Insbesondere die Anklaumlnge der bdquoWorte von Wei-senldquo (Spr 2217-2311) an das um 1000 v Chr in Aumlgypten entstandene Weisheitsbuch des ı mn-m-ı pt (Amenemope) sind haumlufig untersucht wor-den42 Allerdings ist mit einer unbestimmbaren Zahl weiterer mittelbarer babylonischer aumlgyptischer oder aramaumlischer Einfluumlsse zu rechnen zu denen auch die zugrunde liegende Vorstellung von weisen Maumlnnern ge-houmlrt die kurze bildhafte Ermahnungen erteilen43

Im Vergleich mit der morgenlaumlndischen Weisheitsliteratur tritt aber auch die griechische Praumlgung der Theognidea hervor Sie bleiben trotz aller Bemuumlhung um geschichtliche Unbestimmtheit viel persoumlnlicher Wo die Sprichwoumlrter als Teil der Heiligen Schrift jedes individuelle Anliegen ihrer Verfasser abgestreift haben und nur allgemeine sittliche Regeln ge-ben fuumlhrt etwa der Sprecher von v 341-350 Klage uumlber den Verlust seines privaten Vermoumlgens die erst der Houmlrer verallgemeinern und zu einer fuumlr ihn brauchbaren Lehre verarbeiten kann Da die hebraumlische Weisheit nicht beim Gelage vorgetragen wurde fehlen natuumlrlich auch Trink- und Liebes-lieder44 Auf das Gemeinwesen blickt sie aus der Sicht des Untertanen dessen Koumlnig unangezweifelte Macht ausuumlbt waumlhrend die Sprecher der Theognidea an der Staatsverwaltung teilnehmen oder zumindest teilneh-men wollen45 Ebenso ist auch die goumlttliche Gerechtigkeit ndash eine der Hauptfragen des Corpus ndash in den Sprichwoumlrtern noch ganz unproblema-

_____________ goldsmith-banker class (in large part likely Phoenician) which we can descry be-hind the proverb-booksrdquo

42 S Ploumlger [1984] xxiii-xxix Whybray [1995] 6-18 mit weiteren Nachweisen 43 Zur orientalischen Weisheit s unten S 345 f 44 Vielmehr warnen die Sprichwoumlrter vielfach vor Alkohol (201 2117 2320 f

2330-35 314-7) und Ehebruch (53 ff 216 ff 624 ff usw)ndash Weitere Unter-schiede Luumlgen auch gegen Feinde nicht erlaubt (vgl Spr 332 424 1219 2017 2521 f und v 63 f 215-218 363 f) Regeln zur Heirat (Spr 2524 3110-31 v 457-460 1225 f sind Ausnahmen) zur Kindererziehung (Spr 226 usw) Aufforde-rung zum Arbeiten (Spr 2430 ff usw) Zahlenspruumlche (Spr 616-19 3015-33) all-gemein die staumlrkere Rolle von Gott und Religion

45 S z B Spr 1612-15

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

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tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 47 Sprichwoumlrter Salomos

335

tisch Der Frevler wird bestraft der Fromme belohnt46 Insgesamt ist die Aumlhnlichkeit zwischen den kurzen Spruumlchen in beiden Werken groumlszliger als zwischen den laumlngeren Stuumlcken

In welchem Umfeld die Sprichwoumlrter entstanden sind ist umstritten Fuumlr den Hof sprechen die Koumlnigssentenzen der Kapitel 10-29 und der Verweis auf Hiskia (251) fuumlr die Schreiberkaste die aumlgyptischen Paralle-len fuumlr die Schule die einfache einpraumlgsame Gestalt der Spruumlche47 Nach einer Ansicht handelt es sich um bdquovor-literarische ja vor-urbane muumlndli-che Lehre in einer Stammesgesellschaft mit der Autoritaumlt patriarchalischer Vaumlter oder Stammesoberhaumlupter weitergegeben auf der Grundlage ange-haumlufter Erfahrung der Vergangenheit und mit einer Art Gesetzeskraftldquo48 Dagegen streitet allerdings der starke Formwille gerade der kurzen Spruuml-che der sie von der uumlblichen Art populaumlrer Sprichwoumlrter abhebt Dies deutet eher darauf hin dass selbst solche schlichten Einzelverse wie sie auch das Corpus bietet literarisch abgefasst sein koumlnnen

Die Anordnung der Stuumlcke zeigt zunaumlchst eine Unterteilung in mehre-re Abschnitte deren Abfolge noch in der Septuaginta eine andere war laumlngere Mahnreden vom ersten zum neunten Kapitel einzeilige Sentenzen in 101-2216 sowie 25-29 und mehrzeilige Sentenzen zwischen 2217 und 2422 Innerhalb dieser Abschnitte ist mit Ausnahme des alphabetischen Gedichtes 3110-31 kein durchgehender roter Faden zu erkennen Viele Themen kehren weit voneinander entfernt wieder49 darunter sind auch woumlrtliche Dubletten zum Teil geringfuumlgig abgewandelt50 Allerdings gibt es wie in den Theognidea immer wieder Gruppen aus mehreren thema-tisch verwandten oder durch ein gemeinsames Stichwort verbundenen Sprichwoumlrtern51 Durch diese Ketten und den starren Aufbau der Saumltze

_____________

46 Vgl z B Spr 1414 2416 uouml mit v 373-392 731-752 Auch die Lehre zu bdquoFreun-den in der Notldquo stimmt nur aumluszligerlich uumlberein Waumlhrend Spr 1015 1420 1823 194 197 227 die Lage des Armen kuumlhl fast zustimmend beschreiben uumlben v 115 f 173-182 267-270 621 f 697 f 1157 f usw mit derselben Aussage bittere teilweise ironische Kritik am Verhalten der Menschen (anders Brown [1981] 171)

47 Forschungsstand bei Whybray [1995] 18-32 48 Whybray [1995] 26 der Audets Ansicht paraphrasiert ldquopre-literary and even pre-

urban oral instruction promulgated in a tribal society with the authority of patriar-chal fathers or tribal heads based on the accumulated experience of the past and having something of the force of lawrdquo

49 Vgl z B Spr 111 2010 2023 1715 185 1618 1812 2010 2023 50 Z B Spr 216 = 75 610 f = 2433 f 1211 = 2819 1314 = 1427 1412 = 1625

188 = 2622 195 = 199 1924 = 2615 2016 = 2713 219 = 2524 2213 = 2613 51 Thematischer Zusammenhang z B in Spr 1516 f 31-33 1612-15 1727 f 1810

f 17-19 Stichwoumlrter z B in Spr 1018-21 ( שפתי לשון ) 1031 f ( פי שפתי ) 158 f Responsion z B in Spr 264 f (לב) f 13 (תועבת)

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VI Umfeld

336

entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 15: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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entsteht eher der Eindruck von ohne uumlbergeordneten Plan aber nachein-ander abgefassten einige Dutzend Spruumlche enthaltenden Reihen als von Sammlungen verstreuter Einzelverse

Das Buch selbst zeigt durch mehrere Zwischenuumlberschriften an dass es nicht aus einem Guss ist bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo (11) bdquoDies sind die Spruumlche Salomosldquo (101) bdquoWorte der Weisenldquo (2217) bdquoDies kommt auch von den Weisenldquo (2423) bdquoDies sind auch Spruumlche Salomos die hinzugesellt haben die Maumlnner Hiskias des Koumlnigs Judasldquo (251) bdquoDies sind die Worte Agurs des Sohns Jakesldquo (301) bdquoDies sind die Worte des Koumlnigs [oder an den Koumlnig] La-mueumll die Lehre die ihn seine Mutter lehreteldquo (311)52 Wenn man die un-terschiedliche Laumlnge und Aussage der einzelnen Stuumlcke hinzunimmt las-sen sich die Sprichwoumlrter unschwer in ihre Bestandteile zerlegen zwei Kernsammlungen von bdquoSpruumlchen Salomosldquo (II 101-2216 III 25-29) jeweils mit kleineren Anhaumlngen ndash zwei Sammlungen von bdquoWorten von Weisenldquo an der ersten (IIa 2217-2422 IIb 2423-2434) drei Sammlun-gen an der zweiten (IIIa bdquoWorte Agursldquo 301-3014 IIIb Zahlenspruumlche 3015-3033 IIIc bdquoWorte an Lamueumllldquo 311-319) ndash eingerahmt von einer groszligen Sammlung laumlngerer Gedichte am Anfang (I 1-9) und einem alpha-betischen Lied auf die tuumlchtige Frau am Ende (IV 3110-3131)53 Die Ab-schnitte II und III duumlrften zwar noch vorexilisch sein jedoch in ihren wesentlichen Teilen schwerlich bis in die Salomonische Zeit (Mitte des zehnten Jahrhunderts v Chr) zuruumlckreichen der Abschnitt I wird ge-woumlhnlich auf das fuumlnfte Jahrhundert datiert54 Das Ganze ist also uumlber Jahrhunderte aus mehreren zum Teil nicht mehr als ein Papyrusblatt fuumll-lenden Kleinsammlungen zusammengewachsen

Jeder unvorbereitete Leser wird den Prolog (Spr 11-7) auf das gesam-te Buch beziehen bdquoDies sind die Spruumlche Salomos des Koumlnigs Israels Davids Sohnsldquo Gleichzeitig ergibt sich schon aus den Zwischenuumlber-schriften dass zumindest groumlszligere Teile der Sprichwoumlrter nicht von Salomo stammen auch die sich an den Titel gleich anschlieszligenden Kapitel sind unzweifelhaft juumlnger Es handelt sich also um ein Pseudepigraphon das dem beruumlhmtesten Weisen des alten Israels dem man unter anderem eine

_____________ 52 Spr 11 ישראל מלך דוד-שלמה בן משלי שלמה משלי 101 דברי הט אזנך ושמע 2217

אלה לחכמים-גם 2423 חכמים -נשי חזקיה מלךא משלי שלמה אשר העתיקו אלה-גם 251 יקה-דברי אגור בן 301 יהודה יסרתו אמו-אשר משא-דברי למואל מלך 311 Die Bedeutung des Hifil von עתק in Spr 251 ist nicht eindeutig Die Einheitsuumlbersetzung bietet bdquosammeltenldquo nach der Grundbedeutung bdquoversetzenldquo ist aber auch bdquouumlberliefertenldquo oder bdquoabschriebenldquo moumlglich

53 So Ploumlger [1984] xiii f DeisslerVoumlgtle [1985] 861 54 S Ploumlger [1984] xv f Koumlnig Hiskia (Spr 251) war ein Zeitgenosse Jesajas (um 700

v Chr) Agur und Lamueumll sind unbekannt

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sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 16: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 48 Andere Texte

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bedeutende literarische Hinterlassenschaft nachsagte (1 Koumln 59-14) zuge-schrieben wurde um seinen Wert und seine Glaubwuumlrdigkeit zu erhoumlhen Auch die Erklaumlrung bdquoSohn Davids Koumlnig Israelsldquo die der juumldische Leser als solche nicht brauchte weist den Prolog als Werbebotschaft aus Diese Entstehungsgeschichte erinnert an die Theognidea auszliger dass dort die Verfasserangabe (v 22 f) und weitere Teile mit groszliger Wahrscheinlichkeit von Theognis selbst herruumlhren Die Buumlcher der Weisheit des Predigers und besonders das Hohelied veranschaulichen daruumlber hinaus wie selbst viel juumlngere Werke und sogar eine Sammlung von Liebesliedern zum Na-men des uralten Priesterkoumlnigs kommen konnten ndash so wie vielleicht das Zweite Buch zu dem des megarischen Moralisten

sect 48 Andere Texte

Vergleichbare Texte ndash wenn auch oft nur in einzelnen Merkmalen des Inhalts oder des Rahmens als Sammlung ndash gibt es in der raumlumlichen und zeitlichen Nachbarschaft der Theognideischen Gedichte und auch in ande-ren Literaturen weit mehr als die drei besprochenen Von der zeitgenoumlssi-schen elegischen Dichtung an die man hierbei zunaumlchst denkt ist der groumlszligte Teil verloren Die wenigen Reste gleichen den Theognidea nicht nur im Versmaszlig sondern auch in ihrer ionischen Kunstsprache ihrem Formelschatz und ihren Themen55 Sie scheinen ebenso beim Symposion zum Aulos vorgetragen worden zu sein56 Besonders an Solon und Kalli-nos klingen die Theognidea oft an57 Der bedeutendste Unterschied liegt in der Ausdehnung mancher Elegien die die laumlngsten Stuumlcke des Corpus um

_____________ 55 Zur Sprache s oben sect 23 56 Zur Auffuumlhrung beim Symposion z B Xenoph 1 vgl Bowie [1997] 970 Gerber

[1997] 92 f Zum αλς Adesp eleg 19 West Ps-Plu De mus 710 = 1133d-1134e Str 14128 anders allerdings Campbell [1964] Rosenmeyer [1968] Zu den Theognidea vgl oben sect 41

57 Vgl z B Callin 12 ( νοι microφιπερικτ13ονας) und v 1160a 1058 112 (ο γρ κως θνατν γε φυγε5ν εVmicroαρmicroνον στ13ν) und v 381 f 116 (λλ᾿ Q microν τν δ᾿) und v 205 207 120 (π2ργος) und v 233 3 (Magnesia) und v 603 1103 Sol 5 und v 331 f 96 (πντα νοε5ν) und v 946 14 und v 441f 16 und 1075 f Ion 2612 (οXνος )δειξε φ2σιν) und v 500 Mimn 14-6 und v 723 f 215 f und v 636 f 11 und v 701-716 Simon 201 (νθος πολυ9ρατον βης) und v 206 (κουφν θυmicroν πολλ᾿ τλεστα νοε5) v 498 580 422 1290 2011 (λλα σ` τατα microαθν) und v 37 Tyrt 72 (microο5ρα κ13χοι θαντου) und v 340 1015 1110 ( νοι) und v 1160a 112 (αχνα λοξν )χει) und v 536 Zu Solon vgl auch Nagy [1985] Zu den Uumlberschneidungen mit den Theognidea s oben sect 33

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VI Umfeld

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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VI Umfeld

340

keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 17: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

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ein Mehrfaches uumlbertreffen58 Uumlber die Textgeschichte der Elegiker wissen wir wenig Unzweifelhaft ist dass sie ebensowenig wie die Theognidea von den Alexandrinern bearbeitet wurden59 Wie wir uns die damals verlo-renen Buumlcher vorzustellen haben ist dagegen unklar Von Mimnermos sind ein Gedichtbuch unter dem Namen Nanno sowie ein langes Gedicht Smyrneis bezeugt Von Tyrtaios hat es ndash neben einer laumlngeren politischen Elegie Eunomia ndash moumlglicherweise eine Sammlung gegeben die auch fremdes Material enthielt das unter den Namen des beruumlhmten Dichters gestellt worden war60 Zu welcher Verwendung diese Buumlcher von wem geschaffen waren laumlsst sich nur mutmaszligen

Phokylides und Hipparch unterscheiden sich von den genannten Ele-gikern darin dass von ihnen nur ein- oder zweizeilige Stuumlcke uumlberliefert sind Dies erinnert ebenso wie die wiederholte Nennung des Autornamens besonders an die Theognidea61 Auch hier findet sich aumlhnliche Lebens-weisheit zu Freundschaft Gerechtigkeit zum Verhalten beim Symposi-on62 Dem Phokylides zugeschrieben wurde ferner ein nachweislich juumlnge-res Lehrgedicht von 230 Hexametern das trotz einer oberflaumlchlichen Ordnung voll inhaltlicher Spruumlnge ist wohl auch aufgrund spaumlterer Ein-schuumlbe wie unterschiedlich lange Fassungen vermuten lassen Schon die scheinbare Selbstvorstellung im zweiten Vers (bdquoPhokylides der weiseste

_____________

58 Z B Mimn 12 (Smyrneis mit Prooumlm) Simon 11 (uumlber 45 Verse) Sol 1 (Salamis angeblich 100 Verse) Sol 13 (76 Verse) Tyrt 12 (44 Verse) Xenoph A1 (Gruumln-dung Kolophons angeblich 2000 Verse) hierzu West [1974] 2 Bowie [1997] 64 Das wahrscheinlich laumlngste Stuumlck der Theognidea ist v 903-930 (28 Verse) Zur Frage ob die Theognidea Fragmente sind s oben sect 25

59 Das zeigt sich schon am voumllligen Verlust der Texte und am Fehlen von Zitaten nach Buchzahlen Vgl v Wilamowitz-Moellendorff [1900]

60 So Reitzenstein [1893] 46 (bdquoAuch fuumlr die sbquoSkolienlsquo der Spartiaten gab es also ein offizielles Textbuch welchem in historischer Zeit die einzelnen Lieder entnommen werden mussten τ Tυρτα13ου Es war nicht das Werk e i n e s Mannes der zu-gewanderte Berufssaumlnger und der Spartiat welcher im Kampf gegen Messenien selbst ein Heer gefuumlhrt hatte haben zu ihm beigetragen und neben Fragmenten voll individueller Zuumlge und Beziehungen stehen Lieder welche fuumlr jede Stadt gleichmaumlszligig passen wuumlrden und alle Kunstmittel einer ausgebildeten Dichtungsart eines schulmaumlszligigen Gesanges entfaltenldquo) v Wilamowitz-Moellendorff [1900] 115 (bdquoDas Buch Tyrtaios das Platon und Lykurg gelesen haben verhielt sich zu dem wirklichen Tyrtaios wie unser Th zu dem wirklichenldquo) Bowie [1997] 64

61 Zur Ausdehnung der Stuumlcke s oben S 153 f Zum Autornamen s unten sect 52 62 Vgl Phoc 28 (φ13λ᾿ Uτα5ρε) und K2ρνε 12 (πολλ microσοισιν ριστα) und v 219

f 331 f 335 f 14 (Symposion κωτ13λλω) und v 467-496 untheognideisch 2 zu Frauen Phoc 3 ist nicht antiaristokratischer als Th selbst (vgl Phoc 17 sowie v 39 f 305-308) anders Bielohlawek [1940] 10 (bdquokein Schoumlszligling adliger Kulturldquo)

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sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

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74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 18: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 48 Andere Texte

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der Maumlnnerldquo) verraumlt den Missbrauch des beruumlhmten Namens63 Von Hip-parch andererseits wird berichtet er habe sein Wissen in Spruumlche gefasst und auf die Hermen schreiben lassen um auch die Landbevoumllkerung die er nicht muumlndlich erreichen konnte zu erziehen64

Die im fruumlhen siebten Jahrhundert v Chr entstandenen Werke und Tage Hesiods sind verschiedentlich auch deswegen mit den Theognidea verglichen worden weil in ihnen dieselbe fuumlr Weisheitsdichtung angeb-lich typische Zwischenform zwischen Verbindung und Selbstaumlndigkeit der Bestandteile zu erkennen sei65 Zwar sind einige der Theognideischen Ge-dichte so zusammengestellt dass ein gewisser Zusammenhang erkennbar wird und das Hesiodeische Werk enthaumllt andererseits einzelne Abschnit-te die aus Ketten in sich abgeschlossener Spruumlche zu bestehen scheinen66 doch es bildet eben einen einzigen fortlaufenden Text und keine mehr oder minder willkuumlrliche Aneinanderreihung kurzer selbstaumlndiger Stuumlcke wie die Theognidea die sich auch mit viel Vorstellungskraft nicht zu ei-nem einheitlichen Gedankengang fuumlgen

Wie das Corpus beginnen die Erga mit einem Hymnus und leiten dar-auf unmittelbar zu demjenigen uumlber fuumlr den das Gedicht vorgibt bestimmt zu sein bdquoErhoumlre mich sehend und aufmerkend und durch Gerechtigkeit mache du die Urteile gerade ich aber duumlrfte dem Perses wohl Wahrheit verkuumlndenldquo67 Das Werk ist jedoch von vornherein fuumlr ein groumlszligeres Publi-kum gemacht Die Gestalt des Perses wird darin jeweils so vorausgesetzt wie es fuumlr die gerade anzuwendende Moral passt Andererseits laumlsst sich weder der ungewoumlhnliche Name Perses noch die Anrede eines Bruders statt z B eines Sohnes uumlberzeugend mit dichterischen Zwecken begruumln-den die einfachste Erklaumlrung ist dass der Gestalt eine wahre Persoumlnlich-

_____________

63 Vgl Bergk [1883] 301 (bdquoEs ist nicht eigentlich ein literarischer Betrug sondern der Verfasser benutzt nur einen beruumlhmten Namen um unter dessen Schutze diese Lehren vorzutragenldquo)

64 Ps-Pl Hipparch 228c-e πιβουλε2ων αn το`ς ν το5ς γρο5ς παιδεσαι )στησεν ατο5ς EρmicroEς κατ τς Qδο`ς ν microσL το στεος κα1 τν δ9microων Uκστων κπειτα τltς σοφ13ας τltς ατο ν τ᾿ )microαθεν κα1 ν ατς ξηρεν κλεξmicroενος s γε5το σοφτατα εXναι τατα ατς ντε13νας ες λεγε5ον ατο ποι9microατα κα1 πιδε13γmicroατα τltς σοφ13ας πγραψεν

65 So Thiersch bei Welcker [1826] cxxii (Cod Vindobon der Erga unterscheide Gnomen mit Initialen) Graumlfenhan [1827] 35 (bdquotalem nexum ibi non esse quae-rendum idque pro natura poeseos praecipientis et quidem sententiosaeldquo) Friedlaumln-der [1913] (ποθltκαι) Verdenius [1960] (Assoziation) dagegen Glockner [1960] 15 (fuumlr die Theognidea bdquogibt es schlechterdings keine Analogie aus der Antikeldquo)

66 Zu den Theognidea s oben sectsect 25 26 In den Erga vgl z B Op 303-382 67 Op 9 f κλθι δIν 13ων τε δ13κ δ᾿ _θυνε θmicroιστας | τ2νη γI δ κε Πρσ

τ9τυmicroα microυθησα13microην

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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sect 48 Andere Texte

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

_____________

130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 19: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

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keit zugrundeliegt68 Perses wird insgesamt zehnmal angeredet meist am Anfang eines neuen Abschnitts zweimal wendet sich der Sprecher an unbenannte bdquoKoumlnigeldquo Wie die Theognidea bestehen auch die Erga zum groumlszligten Teil aus Belehrung Ratschlaumlgen und Forderungen Diese Uumlber-einstimmung der Gespraumlchsumstaumlnde spiegelt sich in den Formeln der Mahnung bdquoDir will ich wohlmeinend raten Kyrnosldquo beginnt Theognis ndash und fast genauso druumlckt sich Hesiod aus bdquoZu dir will ich gut gesonnen sprechen sehr dummer Persesldquo69 Die zahlreichen Verbote sind in beiden Werken auf aumlhnliche Weise eingeleitet vielleicht gehen sie damit auf ein uraltes Muster von Tabukatalogen zuruumlck die wie die Zehn Gebote zum Einpraumlgen bestimmt waren70

Ableger einer solchen Tradition sind auch die kurzen Gnomen in Ver-sen oder Prosa wie sie einzeln oder ndash etwa in den verlorenen pseudohe-siodeischen Lehren des Chiron an Achill ndash verbunden in weitem Umlauf waren71 Am bekanntesten waren die Spruumlche der bdquoSieben Weisenldquo auf wenige Woumlrter verknappte Lebensregeln die im Aufruf zum Maszlighalten zum rechten Umgang zum Schweigen oft an die Theognidea anklingen ja fuumlr einige der Gedichte unmittelbar das Motiv vorgegeben haben72 Zuge-schrieben werden die Lehren einer in ihrer Zusammensetzung schwan-kenden Gruppe von Maumlnnern die um 600 v Chr wirkten nicht immer ist klar welchem Weisen ein Spruch gehoumlrt73 Die Siebenzahl weist auf das Morgenland moumlglicherweise laumlsst sich dieser zuerst bei Platon erwaumlhnte Kanon als griechische Antwort auf die in der orientalisierenden Zeit be-liebte Weisheit des Ostens verstehen An der Herausbildung der Tradition scheint das Delphische Orakel beteiligt gewesen zu sein wobei an Corpus

_____________

68 Vgl West [1978a] 33-40 Perses als ldquobuttrdquo 69 Op 286 (σο1 δ᾿ γI σθλ νοων ρω microγα ν9πιε Πρση) und v 27 f (σο1 δ᾿

γI εn φρονων ποθ9σοmicroαι K2ρν᾿) 1049 f Vgl auch Op 27 (σ` δ τατα τεg νικτθεο θυmicrog) 107 (σ` δ᾿ ν1 φρεσ1 βλλεο σdσιν) 274 (σ` δ τατα microετ φρεσ1 βλλεο σdσι) 491 (ν θυmicrog δ᾿ εn πντα φυλσσεο) 687 f (λλ σ᾿ νωγα φρζεσθαι τδε πντα microετ φρεσ1ν Dς γορε2ω) und v 99 f 1049 f 1321 f sowie Op 263 (τατα φυλασσmicroενοι) 298 (microετρης microεmicroνηmicroνος αν φετmicroltς) und v 37 f 681 f 755 f 1305 1321 f

70 Vgl z B Op 695-794 mit den Einleitungen microηδ oder micro9 τοι und v 29 f oder 159 f

71 Ausfuumlhrlicher s Hornav Fritz [1935] Zum Vergleich mit den Theognidea s Carriegravere [1948a] 187

72 Vgl z B microτρον ριστον und v 335 614 micro( κακο5ς Qmicro13λει und v 31 θυmicroο κρτει und v 384 444 631 γλσσης κρατε5ν microλιστα ν συmicroποσ13L und v 295-298 microηδν γαν und v 219 335 401 657 v 425-428

73 Z B Clem Al 11460

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und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

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111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 20: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 48 Andere Texte

341

und Biographie jahrhundertelang weitergesponnen wurde74 Bezeichnend ist die Legende vom Symposion der Sieben Weisen die die Gnomen in den fuumlr solche Themen typischen Rahmen setzt

Auch auszligerhalb des Kreises der Sieben Weisen ist die fruumlhe Philoso-phie nicht von der Weisheitsliteratur zu trennen Heraklit ahmt sie in der Kuumlrze seiner Spruumlche nach Empedokles wendet sich in seinem Lehrge-dicht an seinen Schuumller Pausanias ndash so wie Theognis und andere vor und nach ihm vor allem aber begruumlnden etwa Pythagoras oder Hippokrates Corpora die als Bezugstexte einer Schule echte Hinterlassenschaften bald untrennbar mit fremden Zuwaumlchsen verbanden Wie spaumltere Schoumlpfungen so in die Gruumlnderzeit zuruumlckdatiert wurden um ihnen Autoritaumlt zu ver-schaffen zeigt sich unverkennbar beim Orphischen Corpus oder bei der Zuschreibung spartanischer Einrichtungen verschiedener Zeiten an den einen Lykurg75

Was sich an Gnomensammlungen in der Uumlberlieferung oder auf Papy-ri erhalten hat besteht fast immer aus Exzerpten die als praumlgnante und moralisch wertvolle Aussagen aus laumlngeren Werken herausgeloumlst und zu-sammengestellt worden sind Dies gilt etwa fuumlr die den Komikern Epi-charm und Menander zugeschriebenen ndash zum Teil allerdings gefaumllschten76 ndash einzeiligen Gnomen auch Euripides wurde auf diese Weise ausgebeu-tet bdquoAndere behauptenldquo heiszligt es zustimmend bei Platon bdquoman muumlsse aus allen [sc Dichtern] Stellen und sogar vollstaumlndige dramatische Reden aus-suchen zu einem Ganzen zusammenstellen und sie auswendig lernen und sich ins Gedaumlchtnis praumlgen wenn man aufgrund umfassender Erfahrung und Gelehrsamkeit gut und weise werden willldquo77 Man sammelte aber solche moralischen Sentenzen nicht nur um die Jugend zu erziehen son-dern auch um die Beschaffung unterstuumltzender Zitate fuumlr Reden und Phi-losophie zu erleichtern78 Aus diesem praktischen Grund sind die Gnomen

_____________

74 Vgl Roumlsler [1991] 357 (bdquoProdukte und Reflexe der durch die Jahrhunderte betrie-benen Weiterarbeit an einer Tradition deren Kernbestand an Altuumlberliefertem im Laufe der Zeit durch immer neue Fiktionen uumlberwuchert wurdeldquo) zu Delphi S 361 f Gesammelt wohl entgegen X Mem 1614 (το`ς θησαυρο`ς τν πλαι σοφν νδρν ος κε5νοι κατλιπον ν βιβλ13οις γρψαντες) erst von Peripa-tetikern wie Demetrios von Phaleron (Stob 31172 f)

75 Nagy [1984] vergleicht Th und Lykurg als mythische Gesetzgeber 76 So fuumlr die Epicharmea Ath 1459 = 648d wofuumlr auch das sonst unnoumltige Akrosti-

chon (vgl D L 83) spricht vgl auch Kerkhof [2001] 77 Pl Lg 811a οV δ κ πντων κεφλαια κλξαντες κα13 τινας $λας f9σεις ες

τατν συναγαγντες κmicroανθνειν φασ1 δε5ν ες microν9microην τιθεmicroνους ε microλλει τις γαθς micro5ν κα1 σοφς κ πολυπειρ13ας κα1 πολυmicroαθ13ας γενσθαι Vgl auch Aeschin Ctesiph 134 ff Isoc Ad Demon 51 f Quint 1135 f 19

78 Zu Gnomologien als Repertorien fuumlr microαρτ2ρια vgl Barns [195051]

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VI Umfeld

342

auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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VI Umfeld

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

345

gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

346

Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

349

gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

350

dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

_____________

123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 21: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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auch haumlufig nach Themen oder alphabetisch geordnet Wie die Papyri zeigen war gerade in hellenistischer Zeit die Nachfrage nach solcher po-pulaumlren Spruchweisheit groszlig Wenn Auszuumlge aus verschiedenen Autoren enthalten sind ist die Quelle oft aber nicht immer vor jedem Stuumlck ange-geben

Ihre Fortsetzung fand diese Tradition in den byzantinischen Gnomo-logien die sich zum groszligen Teil aus den antiken Vorlaumlufern speisten aber im Unterschied zu ihnen nur noch zur Erbauung dienten79 Die bekannte-ste und umfangreichste von ihnen das Anthologion des Johannes Stobaios ist eine Anhaumlufung von moralischen Exzerpten aus Dichtern und Philoso-phen bdquodie er seinem Sohn zum Einpraumlgen des Gelesenen schickte um dessen ziemlich schwachen Charakter zu korrigieren und zu bessernldquo80 Die Stuumlcke sind mit Quellenangaben versehen und nach Themen geordnet Dubletten waren bei einer solchen kaum uumlberschaubaren Sammlung von Sammlungen unvermeidlich81 Peretti hat insbesondere in den Anord-nungsgrundsaumltzen ein Merkmal der gesamten gnomologischen Tradition seit Chrysipp gesehen das auch die Herkunft der Theognidea aus dieser Tradition beweise82 Obwohl diese Gemeinsamkeiten auf verwandte Ent-stehungsbedingungen hindeuten zeigt bereits die inhaltliche Vielfalt unse-res Corpus dass es als Ganzes keine Gnomologie sein kann sondern nur Quelle und vielleicht auch umgekehrt Auffangbecken von Gnomologien war

Als Sammlung vergleichbar ist die Griechische Anthologie (Anthologia Palatina) die fuumlr unsere Kenntnis des hellenistischen Epigramms aumlhnliche Bedeutung hat wie das Theognideische Corpus fuumlr die elegische Dichtung der archaischen und klassischen Zeit Wie sich aus den Uumlberschriften der 15 Buumlcher und den im vierten Buch zusammengestellten Prologen der Anthologien Meleagers Philipps und des Agathias ergibt hat der unbe-

_____________ 79 Vgl Barns [195051] Peretti [1953] mit weiteren Nachweisen Viele dieser Florile-

gien sind an schwer zugaumlnglicher Stelle oder noch gar nicht herausgegeben 80 Phot Bibl 167112a Προσφωνε5 δ τατα δι᾿ eν κα1 τ(ν συνθροισιν φιλο-

πονltσαι λγει Σεπτιmicro13L δ13L υVg H δ συναγωγ( ατg )κ τε ποιητν κα1 fητρων κα1 τν κατ τς πολιτε13ας λαmicroπρς βεβιωκτων γνετο ν (Dς κα1 ατς φησι) τν microν τς κλογς τν δ τ ποφθγmicroατα κα13 τινων ποθ9κας συλλεξmicroενος π1 τg fυθmicro13σαι κα1 βελτισαι τg παιδ1 τ(ν φ2σιν microαυρτερον )χουσαν πρς τ(ν τν ναγνωσmicroτων microν9microην στε13λειεν

81 ZB Stob 31a11 = 31b39 31a25 = 31b36 31a29 = 31b41 43237 = 4486 82 Peretti [1953] 133-136 kritisch Dover [1955] Rahn [1956] Kirkwood [1957] 42

(ldquoit seems much more likely that a collection of poems ascribed to a single author would be made at that time [43 Jh v Chr] when similar collections were made from Euripides and Menanderrdquo) eingehender s oben S 164

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sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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VI Umfeld

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 22: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 48 Andere Texte

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kannte Redaktor um 980 n Chr eine Vielzahl von zum Teil schon lange vorher miteinander verschmolzenen kuumlrzeren Sammlungen zu einem Mammutwerk mit uumlber 3700 Epigrammen vereinigt das allein von der Klammer der gemeinsamen Gattung zusammengehalten wurde ndash andere Versmaszlige als das elegische kommen zum Beispiel durchaus vor Das me-chanisch eingefuumlgte zwoumllfte Buch das auf die ndash wahrscheinlich um Zu-saumltze erweiterte ndash Knabenmuse (Mοσα παιδικ9) Stratons zuruumlckgeht steht wie das Zweite Buch der Theognidea unter dem Thema der Knaben-liebe obschon es einige Gedichte uumlber Frauen enthaumllt und in der uumlbrigen Anthologie viele weitere paumlderastische Stuumlcke anzutreffen sind Auch die sehr unterschiedliche Laumlnge der Buumlcher ndash das neunte umfasst 827 Epi-gramme das dritte ganze 19 ndash erinnert an die zwei ungleichen Haumllften des Corpus Dies deutet darauf hin dass dessen Zweites Buch ebenfalls eine urspruumlnglich selbstaumlndige Sammlung war83

Die Grenzen der Buumlcher richten sich im ersten bis dritten Buch nach ihrer Herkunft das vierte bis siebte neunte bis elfte und das vierzehnte Buch enthalten Untergattungen meist nach dem Thema unterschieden Prooumlmien Liebes- Weih- und Grabgedichte Kunstepigramme Mahn- Wein- Spott- Raumltsel- und Zahlengedichte Im Inneren sind die einzelnen Buumlcher teils streng nach Themen geordnet teils sind aumlhnliche Gedichte nur ab und zu oder gar nicht zusammengeruumlckt vielfach duumlrften auch Reihen ndash einige davon nach dem Alphabet sortiert ndash ohne Umstellung aus den Vorlagen heruumlbergenommen worden sein Einen Prolog und Epi-log hat nur die Knabenmuse (121 und 12258) in lediglich zwei weiteren Buumlchern ist das erste Gedicht mit Bedacht an seine Stelle gesetzt (51 und 131) Bei aller Regelmaumlszligigkeit herrscht doch nirgends in der Anthologie eine Ordnung die jedem Stuumlck einen einzigen festen Platz zuwiese dies versuchte erst gegen Ende des 13 Jahrhunderts Planudes in seiner erwei-terten und uumlberarbeiteten Ausgabe84 Wie bei einem so riesigen Werk nicht anders zu erwarten finden sich auch in der Anthologie zuweilen Dublet-ten85 Ein wichtiger Unterschied zu den Theognidea sind die Verfasseran-

_____________ 83 Aumlhnlich Nietzsche [1867] 180 Kein Gegenbeleg ist Planudes der zwar anstoumlszligige

insbesondere paumlderastische Gedichte aus der Anthologie tilgte (Vorwort zu Buch VII ν τgδε τg UβδmicroL τmicro9microατι περιχεται Uταιρικ τινα ποφθγmicroατα $σα micro( πρς τ σεmicroντερον κα1 ασχρτερον ποκλ13νεται τ γρ τοιατα πολλ ν τg ντιγρφL oντα παρελ13ποmicroεν) sie aber gerade nicht in einer besonderen Sammlung bdquonur fuumlr Erwachseneldquo aufhob

84 Hierzu Planudes selbst (fol 2r) στον Dς ν το5ς )χουσι κεφλαια τmicro9microασι κατ᾿ λφβητον τατα κτθειται microν πρς τοτο φιλοπονησντων χ2δην γρ Wσαν κα1 f[δ13α ντεθεν τg ζητοντι το2των εmρεσις

85 ZB 5161 = 119a (in den Ausgaben sind die Dubletten nicht abgedruckt) 6144 = 6213a 6106 = 6255a 6146 = 6274a 6161 = 6344a 6208 = 9365a 6241 =

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VI Umfeld

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 23: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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gaben bei fast allen Gedichten die davon kuumlnden dass es sich um Werke verschiedener und auszligerdem bekannter Dichter handelt

Fuumlr die Schule war eine so riesige Sammlung die zudem viel sittlich Bedenkliches barg nicht gemacht aber auch nicht fuumlr die wissenschaftli-che Philologie Dazu ist der Anthologie zu wenig an den Dichtern gelegen nach denen sich nur selten die Anordnung richtet deren Namen oft leicht-fertig uumlber die Gedichte gesetzt sind und aus denen dafuumlr auch zu willkuumlr-lich ausgewaumlhlt worden ist Die Sammlung kann zu keinem anderen Zweck entworfen sein als die zahlreichen Vorlaumlufer aus denen sie schoumlpft allen voran der von Meleager von Gadara um 70 oder 60 v Chr zusam-mengestellte Kranz in dessen Prooumlm es heiszligt bdquoMeinen Freunden zwar bringe ich diese Gabe doch aller Eingeweihten Gemeinbesitz ist der suumlszlig toumlnende Kranz der Musenldquo86 Diese Werke waren zuvoumlrderst dazu be-stimmt Liebhabern literarischen Genuss zu verschaffen und wohl man-chem von ihnen auch Muster fuumlr eigene Epigramme zu liefern Nichts verbietet es sich fuumlr das Theognideische Corpus eine aumlhnliche Verwen-dung vorzustellen87 Freilich hat es keine Quellenangaben vor jedem Stuumlck und am Anfang (v 19 ff) stellt sich nicht wie bei Meleager (AP 413) der Redaktor sondern der Dichter vor Das heiszligt aber nur dass es nicht bewusst als Auszug aus bekannten Dichtern angefertigt wurde nicht jedoch dass es im Ergebnis keine Sammlung beliebter Gedichte verschie-dener oder unbekannter Herkunft zur Ergoumltzung der Leser ndash gewisser-maszligen eine Fruumlhform der Anthologie ndash gewesen sein kann

Auszligerhalb Griechenlands stoumlszligt man auf Sammlungen wie die Theo-gnidea zunaumlchst im alten Israel Durch inhaltliche Anklaumlnge88 und vor allem in ihrer Anlage erinnern manche Buumlcher des Alten Testaments stark an das Corpus So laumlsst sich die Entstehung des Psalters an den erhaltenen Lemmata und der abweichenden Form des Gottesnamens in Ps 42-83 nachvollziehen Uumlber ein Dutzend kurzer sicherlich zum rituellen Ge-brauch geschaffener Liederbuumlcher wurden zunaumlchst zu drei Teilsammlun-

_____________ 9754a 6291 = 9164a 6334 = 9328a 7683 f = 11282ab 7686 f = 11282cd 951 = 11441e 9121 f = 9339ab 9123 = 9353a 9127 = 11441a 9175 = 9481a 9255 = 11441b 9424 = 9429a 94377-18 = 9432a 9487 = 11316b 9501 = 11316a 9518 = 9520a 9519 = 1112a 9629 = 9680a 9748 = 11441f 1030 = 11441c 11118 = 11332b 11119 = 11332a 11195 = 11361a 11294 = 11441d

86 AP 4157 f λλ φ13λοις microν microο5σι φρω χριν )στι δ micro2σταις | κοινς Q τν Mουσων δυεπ(ς στφανος

87 So Bowie [1997] 65 Zweck der Anthologie wie des Corpus war ldquoto offer for circu-lation as a book-text a selection from much more voluminous texts drawn from the same genre but by different authorsrdquo

88 Hierzu West [1997] 519 So erinnern z B die Anklagen Hi 12 20 21 30 an v 373-392 731-752

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 48 Andere Texte

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gen von denen die mittlere sich durch den Gebrauch von elohīm statt Yahweh absetzt und schlieszliglich zum Psalter zusammengefuumlgt89 Auch hier sind Dubletten zuruumlckgeblieben90 Die zwei ersten und der letzte Psalm sind als Auftakt und Ausklang geeignet ansonsten ist keine gezielte Anordnung zu erkennen nur gelegentliche Gruppierung zusammengehouml-riger Lieder91 Anders als in den Theognidea ist den meisten Stuumlcken ein Lemma mit Angaben zu Melodie Begleitung Entstehungsanlass oder Dichter ndash oft der legendaumlre Koumlnig David ndash vorangestellt92 Ein weiterer offensichtlich uumlber mehrere Jahrhunderte entstandener Text ist das Buch Jesaja das aus mindestens drei Sammlungen zusammengesetzt ist die allerdings stark miteinander verwachsen sind93 Der Inhalt solcher Buumlcher ist doppelt autorisiert Zunaumlchst durch die wiederholte Bekraumlftigung bdquoSo spricht der Herrldquo bdquoWort des Herrnldquo und sodann durch die Zuschreibung der Weissagungen an den Propheten im Falle Jeremias der das Buch dem Baruch diktiert haben soll der es uumlberliefert (Jer 36) sogar dreifach Ein geachteter Name wird sichtlich etwa in den Buumlchern der Weisheit Hiob oder im Hohenlied als Autoritaumlt verwendet der Prediger (Kohelet) schluumlpft sogar biographisch hinter die Maske Salomos94

Weisheitsliteratur war nirgends so beliebt wie im alten Aumlgypten und im Zweistromland95 In diesen Schriften wendet sich in der Regel ein Vater mit Vorwuumlrfen Geboten und Verboten an seinen Sohn der darum als fehlgeleitet dargestellt werden muss Haumlufig ist die uumlberlegene Stellung des

_____________

89 Vgl BartonMuddiman [2001] 359-362 Mehrere Sammlungen davidischer Psal-men (3-41 51-70 ndash mit Kolophon in Ps 7220 ndash 138-145) Asaf-Psalmen (73-83) zwei Sammlungen der Psalmen der Rotte Korah (42-49 84-88) Wallfahrtslieder (120-134) zwei Hallel-Sammlungen (113-118 146-150) Yahwistischer Psalter 1-41 und 84-150 elohistischer Psalter 42-83

90 Naumlmlich Ps 14 = 53 4013-17 = 70 108 = 577-11 + 605-12 91 Z B Morgen- und Abendgebet (34) Stichwoumlrter (אמוט-בל 155 לא ימוט 168)

Themen (5051 12-14) Hallelujah-Psalmen (111-113 146-150) Vgl Craigie [1983] 30

92 116 der 150 Psalmen haben Uumlberschriften 73 beziehen sich auf David 12 auf Asaf 11 auf die Rotte Korah einzelne auf Heman Etan Mose Salomo Die Bedeutung des ל (bdquofuumlrldquo bdquovonldquo) ist umstritten vgl Craigie [1983] 33-35 Dass es sich um die echten Verfasser handelt wird allgemein bezweifelt vgl DeisslerVoumlgtle [1985] 765 f

93 Protojesaja 1-39 (87 Jh v Chr) Deuterojesaja 40-55 (ab 538 v Chr) Tritojesaja (520-515 v Chr) wobei nach Beuken [2003] 28 heute klar ist bdquodass nicht nur jeder Teil fuumlr sich einen komplizierten Entwicklungsprozess mitgemacht hat sondern dass man zudem mit einem nicht weniger bedeutsamen Redaktionsprozess rechnen muss der die Teile aufeinander abstimmteldquo

94 Koh 11 112 zur Vorstellung von der Entstehung vgl auch 129-11 95 Uumlbersichten bei West [1978a] 3-25 Ploumlger [1984] xxiii-xxviii

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VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 25: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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Vaters als eines beruumlhmten Weisen Koumlnigs oder gar als Gottheit noch verstaumlrkt Wenn der Anlass genannt ist so ist es oft die bevorstehende Trennung durch eine Reise des Sohnes oder den nahen Tod des Vaters also eine typische Initiationssituation in der der Jugendliche durch den Erwerb des Wissens der Erwachsenen in deren Gemeinschaft aufgenom-men wird In fast allen Weisheitsbuumlchern wird der Name des Autors von dessen Rang der Wert des Rates abhaumlngt ausdruumlcklich genannt so etwa in der wiederholten Einleitung bdquoŠuruppak gab seinem Sohne Lehrenldquo in einem sumerischen Werk dessen Urspruumlnge ins 25 Jahrhundert v Chr zuruumlckreichen koumlnnen96 Inhaltlich geht es um das Verhalten gegenuumlber Goumlttern und Menschen auch beim gemeinsamen Trinken97 In Aumlgypten dienten solche Weisheitsschriften vor allem als Schulbuumlcher der Schreiber und beziehen sich nicht selten auf die besondere Stellung dieser Kaste Obwohl sich die Theognidea sowohl im Rahmen als auch in den Ratschlauml-gen wiederholt mit der morgenlaumlndischen Weisheit beruumlhren wird man daraus kaum eine unmittelbare Abhaumlngigkeit ableiten koumlnnen sondern eher eine unbestimmtere Mode die aus dem Nahen Osten nach Griechen-land uumlbergriff98

Auch die indische Literatur kennt Sammlungen ethischer Einzelspruuml-che so etwa eine dem Staatsmann Cānakya zugeschriebene99 Kennzeich-nend ist die Anonymitaumlt solcher Werke die durch die Berufung auf einen mythischen Autor verdeckt wird So gibt sich das Gesetzbuch Mānava-Dharmaśāstra in der Einleitung als Rede des Urvaters der Menschheit Manu an eine Gruppe weiser Seher aus100 die Purāna genannten Lehrge-

_____________ 96 Vgl West [1978a] 3 f Aumlhnlich in einer akkadischen Schrift ldquoHear the instructions

of Šubecirc-awīlumrdquo (West [1978a] 6) 97 Z B in der Geschichte des Ahikar syr 29-12 (ldquoit is better to remove stones with a

wise man than to drink wine with a foolrdquo) arm 2103 (ldquoand four things are there which improve a manrsquos banquet at all times to converse well not to give answer to every word to be humble to talk littlerdquo)

98 Zu inhaltlichen Anklaumlngen Luzzatto [1992] 42-57 West [1997] 512-524 vgl z B die phoumlnizisch-luwische Inschrift von Karatepe von 760 v Chr (West [1997] 515 ldquomay the name of Azitiwada be for ever like the name of the sun and the moonrdquo) und v 251 f Luzzatto [1992] 9 folgert ua aus Aumlhnlichkeiten zwischen den Theo-gnidea und der Geschichte des Ahikar ldquola possibilitagrave che il simposio fosse per le eacuteli-tes greche in Grecia e fuori della Grecia luogo privilegiato di incontro e confronto con usi costumi e schemi mentali di culture vicinerdquo

99 Mylius [1983] 197 bdquoSie ist zweifellos nur dadurch zustande gekommen dass Cānakya als Muster politischer Schlaumlue und diplomatischen Geschicks galt als Verfasser also zu dieser Sammlung ganz gut gepasst haumltteldquo Vgl neben den subhās ita-Sammlungen auch die ethischen Einschuumlbe in Mahābhārata 625-42 (Bhagavadgītā) und 12-13

100 Zu Manu s Lanman [1906] 340 Nagy [1984] vergleicht ihn mit Th

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

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151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

364

im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 48 Andere Texte

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dichte gelten als Werk des Vyāsa einer Gestalt aus dem Mahābhārata die daneben das Epos selbst verfasst sowie die Veden geordnet haben soll101 Als Personen fassbare Dichter beginnen uumlberhaupt erst nach der Zeiten-wende aufzutreten waumlhrend die eigentlichen Hersteller und Eigentuumlmer von Literatur Schulen oder Clans waren102 Zum Verstaumlndnis des Theo-gnideischen Corpus kann wegen ihrer oft vergleichbaren Entstehung auch die vedische Literatur beitragen Die vier groszligen Sammlungen ritueller Texte um die sich spaumlter schichtenweise Kommentare in Versen und Pro-sa und vom Kerntext zunehmend unabhaumlngige Werke legten waren selbst aus kuumlrzeren Sammlungen zusammengefuumlgt und wurden von verschiede-nen Schulen in verschiedenen nur zum Teil uumlberlappenden Rezensionen uumlberliefert von denen jeweils eine letztlich den Sieg davontrug103

Auch das letzte groumlszligere Corpus alter Literatur das chinesische be-steht bis zum ersten Jahrhundert v Chr fast ganz aus namenlosen Texten denen erst in der philologischen Tradition Autornamen beigelegt wer-den104 Die wirklichen Dichter verstanden sich als austauschbare Zuarbei-ter eines fortlaufenden Prozesses die bdquouumlberliefern aber nicht schaffenldquo105 waumlhrend das Bild der angenommenen Urheber nach dem Muster des von den Herrschenden missachteten durch den Verfall der Sitten betruumlbten Weisen und Edlen gezeichnet wurde106 Das vollendete Beispiel hierfuumlr ist Konfuzius dem neben den Analekten auch die Fruumlhlings- und Herbstan-nalen sowie die Redaktion der Oden und Dokumente zugeschrieben wur-den Tatsaumlchlich sind etwa die Oden eine Sammlung von 305 Liedern aus der Zeit zwischen 1000 und 600 v Chr deren Kanon sich erst gegen Ende

_____________ 101 Vgl Visnu-Purāna 36 Vyāsa teilt die Texte seinem Schuumller dem Barden Loma-

harsana mit der sie redigiert 102 Vgl Mylius [1983] 8 f 103 Lanman [1906] 353 ldquoFrom the stock of Mantras of one class ndash for example the

yaacutejus ndash a certain collection with definite arrangement became established by popular usage in a certain community and thus arose a Veda for example a Ya-jurveda ndash not a certain definite book but some one of many possible and prob-able collections of Mantras of a certain definite class From the same stock of the same class another collection was formed in another community and thus arose another Veda for example another Yajurvedardquo

104 So etwa die Oden (詩經 shī jīng) die Dokumente (書經 shū jīng) die Wandlungen (易經 yigrave jīng) die Anekdotensammlung des Zhuāngzĭ (庄子) die Gesaumlnge aus Chu (楚辭 chŭ ciacute)

105 Konfuzius Analekten 71 述而不作 Vgl Emmerich [2004] 20 (Dichter als bdquoMedi-um eines objektivierbaren Prozessesldquo)

106 Vgl neben den Analekten z B die Klage (離騷 liacute săo) des Qū Yuacutean (屈原) und das Geschichtsbuch des Sīmă Qiān (司馬遷)

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VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 27: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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des vierten Jahrhunderts v Chr stabilisierte107 Erst viel spaumlter wurde ein kaiserliches Musikamt (yuegrave fŭ) zur systematischen Sammlung und Instru-mentierung von Volksliedern eingerichtet dessen Erzeugnisse sich zu den alten Sammlungen aumlhnlich verhalten wie die alexandrinischen Ausgaben zu den Theognidea

Viele weitere vergleichbare Texte lassen sich finden auch im deut-schen Sprachraum etwa die Bescheidenheit Freidanks oder die Manessi-sche Liederhandschrift108 Insbesondere die vor allem in der Romantik gesammelten bdquoVolksliederldquo die sich in vielen Faumlllen als bdquozersungeneldquo Kunstlieder erweisen lassen bilden sowohl mit ihren durch muumlndliche Weitergabe entstandenen Varianten als auch mit den Gruumlnden ihrer Sammlung eine fruchtbare Parallele zu den Theognidea109

sect 49 Ergebnisse

Auch wenn die meisten Beispiele neben Aumlhnlichkeiten zum Corpus durchaus bedeutende Unterschiede aufweisen zeigen sie doch dass die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt mit all ihren Besonderheiten keine einzigartige Erscheinung sind110 sondern im Gegenteil ein Text wie er fuumlr viele aumlltere Literaturen typisch ist Dadurch kommen wir auch den Umstaumlnden seiner Entstehung und Entwicklung naumlher

Der fiktive Rahmen einer Rede des Aumllteren an einen Juumlngeren meist des Vaters an den Sohn ist in allen Arten belehrender Literatur anzutref-fen Er wird durch wiederkehrende Anreden (bdquomein Sohnldquo) und Ermah-nungsformeln (bdquohoumlreldquo bdquomerke dirldquo usw) angezeigt Auch dies zeigt dass die Anrede des Kyrnos keine Eigenwilligkeit ist die sich nur als bdquoSphra-_____________ 107 Zu den Oden vgl Emmerich [2004] 18 (bdquodas Gedaumlchtnis einer Epoche die sich

selbst als vom Altertum abgefallen begriff und umso entschiedener versuchte ihre eigene humane Ordnung durch rituelle rhythmisch wiederkehrende mdash und in rhythmischer Sprache vollzogene mdash Akte formalen Erinnerns zu sichernldquo)

108 Zu Freidank Eschenburg bei Graumlfenhan [1827] 36 bdquoMan hielt damals auf keinen Spruch etwas den nicht Freidank gedichtet Auszliger der Verschiedenheit der Zahl der Verse in den verschiedenen Exemplaren ist auch die Ordnung verschieden und es bestaumltigt sich mehr und mehr die Vermutung dass das Ganze urspruumlnglich nichts anderes sei als ein Cento zerstreuter und in willkuumlrlicher Ordnung gestell-ter vielleicht auch schon von ihrem Urheber ohne Plan und bei zufaumllliger Gele-genheit nacheinander aufgezeichneter Spruumlcheldquo

109 Zum bdquoZersingenldquo im Corpus s oben S 200 f Nestle [1938] 132 weist freilich darauf hin dass die Theognidea keine Lieder des Volkes sondern der Oberschicht waren Zum bdquoZersingenldquo im deutschen Volkslied vgl Meier [1906]

110 So aber z B Glockner [1960] 122 bdquoEs gibt keine Spruchsammlung auf der Welt die aussieht wie die des Thldquo

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sect 49 Ergebnisse

349

gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

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113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 49 Ergebnisse

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gisldquo erklaumlren laumlsst111 Um die Lehren zu rechtfertigen muss ihr Empfaumlnger als sittenlos und ungehorsam dargestellt werden waumlhrend der Ratgeber oft als von den Maumlchtigen missachteter Weiser erscheint Dass zuweilen eine bevorstehende Trennung durch Reise oder Tod zum Anlass der Be-lehrung dient weist auf die Initiation als Ausgangspunkt dieser literari-schen Tradition hin So beginnt ein Lied das junge Angehoumlrige des suumld-afrikanischen Basotho-Stammes als Teil dieses Ritus sangen aumlhnlich wie v 27 f bdquoMeine jungen Freunde houmlrt ihr mich nicht Ich lehre euch die Leh-ren des Gesetzes Lehren die ich selbst von meinen Vorfahren erhalten habeldquo112

Kern der Mitteilung in solchen Texten sind zunaumlchst Verbote ferner positive Verhaltensempfehlungen und begruumlndende Erklaumlrungen oft bis hin zur Raumltselhaftigkeit zugespitzt um einpraumlgsam zu sein Es geht vor allem um den Umgang mit anderen im Freundeskreis und im Gemeinwe-sen Oft ist das Ziel erkennbar die Identifikation mit einer Gruppe ndash den bdquoGutenldquo ndash zu staumlrken die gegenuumlber den bdquoSchlechtenldquo in der Minderheit sind Damit einher geht die Klage uumlber den schlechten Zustand einer Ge-sellschaft in der die andere Gruppe die Oberhand hat

Viele der betrachteten Werke weisen in der Uumlberlieferung starke Text-schwankungen auf bis hin zur Herausbildung unterschiedlicher Versio-nen Schuld daran kann sowohl muumlndliche Weitergabe sein die Genauig-keit erschwert als auch mangelnde Zugehoumlrigkeit zur houmlheren Literatur die Genauigkeit unnoumltig erscheinen laumlsst Bei Texten die nicht von einem individuellen Kuumlnstler bewusst gestaltet und durch einen Kanon geschuumltzt sind halten sich die Benutzer fuumlr berechtigt nach Belieben Aumlnderungen Auslassungen und Zusaumltze anzubringen

Wenn es Sammlungen unabhaumlngiger Einzelstuumlcke sind liegt die sie zusammenhaltende Gemeinsamkeit meist in ihrer Verwendung Sie sind fast nie durchgehend geordnet sondern es sind bei insgesamt willkuumlrlicher Abfolge einige Bestandteile zu Paaren oder Gruppen zusammengestellt Bewusst an die erste Stelle gesetzte Anfangsgedichte zum Beispiel Goumltter-anrufe kommen in einer Minderheit der Faumllle vor Schlussgedichte fast gar nicht Wenn Dubletten zuruumlckgeblieben sind handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen In diesen Faumlllen sind die Vorlaumlufersammlun-gen haumlufig noch abgrenzbar Oft sind durch nachtraumlgliche Ergaumlnzung

_____________

111 Hierzu s oben sect 42 Zur haumlufigen Wiederkehr der Anrede vgl neben bdquomein Sohnldquo in den Sprichwoumlrtern auch die altnordische Spruchpoesie (hierzu Jaeger [1934] (בני)253) bdquomein Koumlnigldquo (mit Variationen) in Tausendundeiner Nacht oder auch πα5 im Zweiten Buch der Theognidea selbst

112 Bei West [1978a] 21 f ldquoMy young friends donrsquot you hear me | I teach you the lessons of the law | Lessons which I have myself received | From my elders rdquo

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

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115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 29: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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dieser Teile oder der gesamten Sammlung an ihrem Ende Appendices ent-standen

Eine Mehrheit der untersuchten Texte sind unter dem Namen eines beruumlhmten Mannes uumlberliefert obwohl sich nachweisen laumlsst dass sie uumlber mehrere Jahrhunderte entstanden sind und daher von mehr als einem Au-tor stammen Wo sich sowohl eine institutionalisierte Schriftkultur die Nachpruumlfung erlaubt als auch die Vorstellung vom geistigen Eigentum noch im Werden befinden sind namenlose Amalgame nichts Sonderbares sondern im Gegenteil das wahrscheinlichste Ergebnis Auch zu voumlllig literarischen Zeiten kann dies weiterhin fuumlr einzelne nicht zur houmlheren Dichtung gerechnete praktisch verwendete Textarten wie Lehrbuumlcher Liedersammlungen Enzyklopaumldien oder Spruchweisheit gelten bei denen es mehr auf den Nutzen als auf den individuellen Beitrag der tatsaumlchlichen Verfasser ankam Dass solche Werke an denen viele vergessene Autoren mitgewirkt hatten unter den Namen einer anerkannten Autoritaumlt gerieten liegt einerseits am Beduumlrfnis nach einem einheitlichen fassbaren Schoumlpfer andererseits am Streben nach Beglaubigung und Aufwertung des Inhalts Daraus folgt jedoch nicht dass sie in Wirklichkeit muumlndlich bdquoim Volkeldquo entstanden sind vielmehr zeigen gerade die sogenannten Volkslieder oder auch die Salomo zugeschriebenen Sprichwoumlrter dass es sich in der Regel um bewusst kuumlnstlerisch gestaltete Beitraumlge einzelner Dichter handelt deren Namen nur verloren sind

Waumlhrend man uumlber die erste Veroumlffentlichung der einzelnen Bestand-teile bei kaum einer alten Sammlung etwas sagen kann so ist jedenfalls ihre Zusammenstellung zu einem Buch in allen Faumlllen wo es Anhalts-punkte gibt nicht das Werk des Autors selbst Eine mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene Sammlung ist aus vorhellenistischer Zeit uumlber-haupt nicht bekannt sofern dieser Nachweis nicht bei den Theognidea gelingt113 Als Sammler betaumltigen sich wo es bei den besprochenen griechi-schen und nichtgriechischen Texten erkennbar ist spaumltere Dichter zuwei-len auch Institutionen wie Saumlngerfamilien oder philosophische Schulen

Die Zwecke und Benutzer solcher Sammlungen waren vielfaumlltig Moumlg-lich waumlre eine Unterscheidung zwischen bdquoWeisheitsbuumlchernldquo und bdquoLie-derbuumlchernldquo114 Erstere waumlren zur Belehrung und Erbauung zusammenge-stellt um einen moumlglichst umfangreichen Fundus zu schaffen der das Uumlberleben des darin enthaltenen Wissens und die Verfuumlgung des Besitzers daruumlber sichert Die daraus folgende Verwendung im Unterricht oder als

_____________

113 Das erste mit Sicherheit vom Dichter herausgegebene bdquoGedichtbuchldquo sind wohl die Iamben des Kallimachos s Rossi [1992] 103

114 Dies scheint hier passender als die literaturwissenschaftlichen Termini ldquoliterature of informationrdquo und ldquoliterature of imaginationrdquo

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sect 49 Ergebnisse

351

Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

352

auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

_____________

118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

_____________

123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

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147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 30: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 49 Ergebnisse

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Fundgrube fuumlr rhetorischen Schmuck tritt zu diesem urspruumlnglichen Zweck nur hinzu wenn sich die Schule auch schlieszliglich zu dem Ort ent-wickelte an dem bdquoWeisheitssammlungenldquo am haumlufigsten eingesetzt wur-den115 Dagegen waumlren bdquoLiederbuumlcherldquo nicht zur Aufbewahrung von Wis-sen sondern zur Unterhaltung angelegt zuweilen mit philologischem Anspruch Ob die Verwendung der einzelnen Stuumlcke immer unmittelbar die Verwendung ihrer schriftlichen Sammlung widerspiegelt ist nicht klar Bei den Psalmen beispielsweise laumlsst sich kaum bezweifeln dass ihre Zu-sammenfassung in Buchform den rituellen Gebrauch unterstuumltzte Bei den Attischen Skolien oder den Homerischen Hymnen dagegen ist nicht er-kennbar ob die Sammlungen wie heutige Gesang- oder Kommersbuumlcher beim oder vor dem Vortrag zum Einsatz kamen oder eher den Textausga-ben von Dramen vergleichbar als Lektuumlre einen abgeleiteten Zweck er-fuumlllten

Waumlren die Theognidea in ihrer uumlberlieferten Gestalt eher den bdquoWeis-heits-ldquo oder den bdquoLiederbuumlchernldquo zuzurechnen Mit der Zuordnung des Corpus zu einer Gattung wie Skolion Elegie oder Gnomologie laumlsst sich diese Frage nicht entscheiden116 Fuumlr ein bdquoWeisheitsbuchldquo sprechen die Kuumlrze der meisten Stuumlcke ihr uumlberwiegend ethischer und allgemeiner uumlberindividueller Inhalt sowie ihre meist schlichte kuumlnstlerische Gestal-tung Dagegen streiten jedoch die nicht seltenen fuumlr die Schule ungeeigne-ten Liebes- und Weingedichte sowie die an mehreren Stellen angedeutete Auffuumlhrung beim Symposion zur Begleitung des Aulos117 Anachroni-stisch ausgedruumlckt sind die Theognidea also eine Mischung aus Belletri-stik und Sachliteratur Wenn man indes fragt welcher Zweck den gesam-ten Inhalt des Corpus in seinem heutigen Umfang erklaumlren kann dann ist es nur die Verwendung als bdquoLiederbuchldquo im beschriebenen Sinne ndash ob-gleich nicht notwendigerweise als Kommersbuch beim Symposion Ohne Zweifel wurden die Theognidea zwar teilweise und zu bestimmten Zeiten

_____________

115 Vgl hierzu oben S 49 f 341 Sitzler [1880] 12 haumllt die Unordnung und Textver-derbnis bei den Theognidea ebenso wie bei Hesiods Erga Publilius Syrus den Sentenzen des Seneca fuumlr Folgen der Schulverwendung

116 Zur problematischen Definition der Elegie s Rosenmeyer [1968] West [1974] 2-16 Bowie [1997] Nicht zur Elegie rechnen die Theognidea etwa Jacoby [1931] 146 (bdquoSolon ist a potiori politischer Th ethischer Dichter jener ndash denn die gewaumlhlte Form haumlngt damit zusammen ndash Elegiker und Iambiker dieser Gnomikerldquo) Gen-tiliPrato [1979-85] Zur antiken Einordnung der Theognidea vgl oben sect 10

117 Mangelnde Eignung fuumlr die Schule fuumlhren auch Nietzsche [1867] 178 Reitzenstein [1893] 73 ins Feld dagegen Sitzler [1880] 37 (bdquoNeque carmina amatoria et conviva-lia repugnant quippe quae paucae sint et sero locum in hac collectione obtinuisse videantur Praeterea scimus antiquos haud ita diligenter eas res in scholis fugisseldquo)

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

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135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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VI Umfeld

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auch als bdquoWeisheitssammlungldquo eingesetzt Dies kann jedoch nicht der ur-spruumlngliche Zweck ihrer Zusammenstellung gewesen sein118

Die Attischen Skolien sind in der ersten Haumllfte des fuumlnften Jahrhun-derts v Chr entstanden die letzten Elegien alten Stils stammen aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts Ihre endguumlltige Gestalt als Samm-lung nahmen die Attischen Skolien spaumltestens im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Homerischen Hymnen wohl zwischen dem vierten und zweiten vorchristlichen an Wenn man die Parallele dieser beiden Samm-lungen zugrundelegt ergibt sich ein Indiz fuumlr die Entstehung der im Cor-pus enthaltenen Gedichte vor dem vierten und ihre Zusammenstellung in Buchform zwischen dem fuumlnften und zweiten Jahrhundert v Chr119 Dies stuumlnde auch im Einklang mit der aus den Papyri und aus Sprache und Metrum abgeleiteten Datierung120

Entstehungsumstaumlnde

sect 50 Gelagekultur

Seit Reitzensteins Studie zu bdquoEpigramm und Skolionldquo hat sich nach und nach die Erkenntnis Bahn gebrochen dass die elegische Dichtung und uumlberhaupt alle monodische Lyrik der archaischen Zeit in erster Linie fuumlr den Vortrag beim Symposion bestimmt war121 Dass Elegien auch unter anderen Umstaumlnden erklangen ndash bei oumlffentlichen Festen zum Beispiel ndash ist wahrscheinlich doch waren dies auszligergewoumlhnliche oder abgeleitete Verwendungen122 Der wesentliche Ort der Auffuumlhrung und Entwicklung von Literatur im siebten und sechsten Jahrhundert war das Symposion Daher ergibt sich schon aus einer ganz ungefaumlhren Datierung der Gedich-

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118 Anders Carriegravere [1948a] 150 (Rat an Kyrnos als Ziel des Th) Peretti [1953] (Gno-mologie)

119 Aumlhnlich z B Aly [1934] 1981 (vorkritischer Wissenschaftsbetrieb des fruumlhen Peripatos vgl auch die Fachwerke des Didymos zum Symposion) ganz anders wegen der Einordnung als Gnomologie z B Peretti [1953] 379

120 Hierzu s sectsect 20 23 24 121 Vgl Reitzenstein [1893] 45-52 Vetta [1983] xiii Roumlsler [1990] 230 (ldquothe sympo-

sion not merely as one among many possibilities but as the central place for the creation and performance of poetryrdquo)

122 So Tedeschi [1982] Vetta [1992] 191 mit der einzigen Ausnahme von fuumlr den Agon bestimmten langen Elegien Bowie [1986] acht moumlgliche Anlaumlsse nennt dage-gen West [1974] 10-14

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sect 50 Gelagekultur

353

te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

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123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 32: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 50 Gelagekultur

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te was ihr Inhalt bestaumltigt123 Die Theognidea waren urspruumlnglich Gelage-dichtung

Uumlber den Ablauf des Symposions sind wir vor allem aufgrund der Forschung der letzten Jahrzehnte recht gut unterrichtet Es war eine rein maumlnnliche urspruumlnglich auch rein adlige Veranstaltung bei der die Teil-nehmer jeweils zu zweit auf hufeisenfoumlrmig aufgestellten Liegen lagen Wenn Frauen zugegen waren dann nicht als Teilnehmerinnen sondern als Hetaumlren die Floumlte spielten tanzten oder bedienten Das Symposion fand abends im Anschluss an die Mahlzeit statt war aber von dieser deutlich abgesetzt Die Tische wurden hinausgetragen die Haumlnde gewaschen die Gaumlste bekraumlnzten sich und salbten sich mit aromatischen Oumllen dann wur-de reihum dem γαθς δα13microων durch Ausgieszligen von etwas Wein geop-fert ein Paumlan im Chor gesungen und ein Symposiarch gewaumlhlt der den Vorsitz fuumlhrte und uumlber das Mischungsverhaumlltnis des Weines wachte Man trank reihum oder prostete sich zu Die Unterhaltung konnte geregelt verlaufen ndash im Wetteifern beim Vortrag von Liedern oder philosophi-schen Reden ndash aber auch in freies Gespraumlch Raumltselraten und Gesell-schaftsspiele uumlbergehen Haumlufig endete das Symposion in einem naumlchtli-chen Umzug der verbliebenen Zecher durch die Straszligen (κmicroος)

Der Inhalt der Theognideischen Dichtung wird nur durch die gesell-schaftliche Bedeutung dieser Einrichtung verstaumlndlich Es wird nicht zu weit gehen wenn man sagt dass das gesamte Leben der griechischen Ari-stokratie jener Zeit um das Symposion kreiste in dessen Rahmen sich damit auch die politische und kulturelle Entwicklung vollzog Es bildete durch die Intimitaumlt des geschlossenen Raumes in dem die Gaumlste so verteilt waren dass jeder jedem in die Augen sehen konnte durch die vom Alltag abgrenzenden Riten wie etwa die Kraumlnze und nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rausch einen eigenen Mikrokosmos der die Auszligenwelt zugleich in einer idealen Gestalt abbilden sollte124 Es war keine bdquowildeldquo Feier um sich von den Zwaumlngen des Tages zu erholen sondern im Gegen-teil ein besonders stark geregeltes Modell menschlichen Zusammenlebens bei dem es wesentlich darum ging gutes Benehmen und Bildung vorzu-fuumlhren Nicht nur die Theognidea enthalten Mahnungen ohne Zank und

_____________

123 Zu Hinweisen aufs Symposion in den Theognidea s oben sect 41 zu ihrem Wert fuumlr die Datierung S 244 f

124 So Vetta [1992] 191 (ldquoLa serenitagrave la lsquosospensione del temporsquo che egrave richiesto dallrsquoincontro fa riflettere sul suo contrario Il senso della fine egrave nello spirito della festa il rituale che incomincia dagli dei fa percepire la differenza fra condizione umana e privilegio divinordquo) Fabbro [1995] viii mit anderem Akzent Murray [1983c] 198 (ldquorefuge from the real world an escape into entertainment and luxury for its own sakerdquo)

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VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

355

sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

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130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 33: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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Gehaumlssigkeit ruhige heitere Gespraumlche zu fuumlhren und maumlszligig zu trinken125 Daher eignete sich das Symposion auch zur Erziehung Heranwachsender durch die Erwachsenen die untrennbar mit der gerade dort gepflegten Knabenliebe verwoben war126 Seine wichtigste gesellschaftliche Aufgabe aber lag darin die Eigenheit und den Zusammenhalt der Gruppe zu staumlr-ken und sie am anschaulichsten im gemeinsamen Ausbruch beim κmicroος nach auszligen abzugrenzen127 Welche verbindende Eigenschaft der unterein-ander gleichrangigen Teilnehmer dabei betont wurde ndash als Adlige Maumln-ner Griechen Buumlrger einer bestimmten Stadt oder Angehoumlrige einer be-stimmten Hetairie ndash duumlrfte sich nicht nur von einem Gelage zum anderen sondern von einem Redebeitrag zum naumlchsten unterschieden haben Unausweichlich wurde das Symposion dadurch auch zu einem Werkzeug politischer Macht

Nicht den Zweck aber doch den Kern dieser Veranstaltung bildete der Vortrag von Dichtung in dem sich zugleich die Bildung des Saumlngers und die gemeinsamen Werte der Gruppe ausdruumlckten Wie schon im Zu-sammenhang mit den Attischen Skolien angesprochen standen am Anfang des Symposions gemeinsame Gebetslieder Im Anschluss wurde ein Lor-beer- oder Myrtenzweig von einem Teilnehmer zum naumlchsten gegeben wer ihn erhielt musste ein Stuumlck singen128 Wenn es eine Elegie war muss-te ein zweiter den Saumlnger auf dem Aulos begleiten zu anderen Versmaszligen begleitete dieser sich selbst auf der Lyra Es konnte ein kurzer anonymer Spruch von zwei Versen sein oder ein laumlngeres erzaumlhlendes Lied eines beruumlhmten Dichters ndash irgendetwas musste jeder beisteuern koumlnnen und wenn es so abgenutzte Weisen wie die nach Admetos oder Harmodios benannten waren129 Die Lieder lernte man im Unterricht oder im Sympo-_____________ 125 Vgl vor allem Xenoph 1 v 209 f 213-218 295-298 309-312 413 f 467-496 531-

534 563-566 843 f 989 f 1351 f Vetta [1992] 178 nennt das Symposion ldquoprescri-zione di ethosrdquo

126 Nach Murray [1983c] Bremmer [1990] 163 laumlsst sich in der didaktischen Poesie eine Nachwirkung der Aufgabe der Kriegergemeinschaft als einer ldquofunctional grouprdquo sehen die Initiationsriten zu beaufsichtigen

127 Vgl Murray [1983c] 195 (Organ ldquoof social control through which the aristocra-cy could manipulate the other orders of societyrdquo) Roumlsler [1990] 233 (ldquothe natural place in which to define the position of the group not least by looking back to the pastrdquo) Vetta [1992] 179 (ldquoun rituale di appartenenza funzione e creazione di una uguaglianza verifica la continuitagrave del legame e sancisce lrsquoadesione dellrsquoospite e di chi egrave arrivato allrsquoetagrave adultardquo) Fabbro [1995] x (ldquocelebrazione della propria separa-tezza e identitagraverdquo)

128 S Plu Quaest conv 115 = 615a-c Σ Pl Grg 451e (p 134 Greene) s auch oben sect45

129 Dass auch kurze Spruumlche taugten zeigt z B Pl Grg 451e wo das Distichon v 255 f als beim Symposion gesungenes Skolion bezeichnet wird

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sect 50 Gelagekultur

355

sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

_____________

130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 34: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 50 Gelagekultur

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sion selbst Dass geeignete Texte zur Vorbereitung abgeschrieben und einstudiert wurden ist belegt130 Keinen Hinweis gibt es dagegen dafuumlr dass beim Vortrag selbst abgelesen wurde was bei der antiken Schreibung ohne Wort- und Versgrenzen und zumal beim gleichzeitigen Spiel der Lyra auch beschwerlich gewesen waumlre Daher laumlsst sich das Corpus auch nicht mit einem Kommersbuch vergleichen das zum Singen aufgeschlagen wird sondern kann sofern es zum Gebrauch im Symposion angefertigt wurde nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk gedient haben131

Die Kunst der Symposionsdichtung lag jedoch nicht nur im Vortrag bekannter Lieder sondern mehr noch in der Improvisation Dies war gerade im elegischen Versmaszlig bei der Fuumllle bereits gepraumlgter Formeln und Motive weniger schwierig als es den Anschein haben mag Man konnte bestehende Stuumlcke abwandeln oder parodieren oder aus dem Stegreif gaumlnz-lich neue schaffen132 Diese sorglose Benutzung vorhandener Texte als Steinbruch ist auch der Hintergrund vor dem die Fuumllle der Textvarianten in den Theognidea und die wiederverwendeten Stuumlcke aus anderen Dich-tern verstaumlndlich werden133 Beim Improvisieren versuchte man beim Vorredner anzuknuumlpfen so dass der Eindruck eines musikalischen Wort-wechsels entstand134

Es ist eigenartig dass in den sonst nicht unergiebigen Quellen zum Symposion eines im Dunkeln bleibt naumlmlich welchen Platz diejenigen Dichter darin einnahmen deren Werke namentlich uumlberliefert sind Waren sie einfache Angehoumlrige eines Symposionskreises deren Schoumlpfungen sich

_____________

130 Etwa Ar Ra 152f 151 κε | τ(ν πυρρ13χην τις )microαθε τ(ν Kινησ13ου | w Mορσ13microου τις fltσιν ξεγρψατο rotfigurige Schale Beazley ARV 32693 One-simos ca 480 und rot-figurige Schale Douris ca 480 Beazley ARV 43148 (s Lis-sarrague [1987] 136 f) mit Schulszenen (Jugendliche lernen Texte mit Lyra bzw Aulos)

131 So bereits Patzer [1981] 205 f (bdquoDer fleiszligige Symposionbesucher wird sich bei | den verschiedenen Geselligkeiten natuumlrlich wiederholt haben und dabei aus einem selbst angelegten Repertoire geschoumlpft haben auch fuumlr unscheinbare also reine Gebrauchsgedichte Aber natuumlrlich wird auch das Publikum viel Vorgetrage-nes aufgenommen haben um es wieder bei anderer Gelegenheit selbst zum besten zu geben So versteht sich ganz und gar wie es zu reinen Gebrauchssammlungen kam aus denen man sich fuumlr die dauernden Vortragsverpflichtungen versorgen konnteldquo) S auch oben sect 45

132 Vgl Ar V 1222-1248 Lys 1237-1239 Nu 1353-1372 Antiphanes Diplas fr 85 Kock (= Kassel-Austin 2356) Hyp 43

133 S hierzu oben sectsect 31 33 134 Sog δχεσθαι vgl Ath 1086 = 457e τg πρτL )πος ltwgt αmicroβε5ον επντι τ

χmicroενον Cκαστον λγειν κα1 τg κεφλαιον επντι ντειπε5ν τ Uτρου ποιητο τινος lt$τιgt ες τ(ν ατ(ν εXπε γνmicroην Zum moumlglichen Einfluss auf die Anordnung des Corpus s oben sect 28

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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VI Umfeld

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erhalten haben weil sie den anderen besonders gefielen Oder waren sie Kuumlnstler die in verschiedenen Gesellschaften und Orten auftraten fuumlr die das Dichten ihre Hauptbeschaumlftigung vielleicht sogar Erwerbsquelle war Homers Saumlnger sind als Fachleute am Hofe eines Fuumlrsten engagiert ob-schon auch der private Gesang Achills beschrieben wird Auch die Tyran-nis des spaumlteren sechsten Jahrhunderts brachte berufsmaumlszligige Dichter wie Anakreon oder Ibykos hervor von denen jedenfalls Anakreon zweifellos fuumlrs Symposion dichtete Andererseits zeigt besonders die aumlolische Lyrik den Dichter als gleichberechtigtes Mitglied einer ganz bestimmten sympo-tischen Gruppe135

Hier kann vielleicht eine anthropologische Parallele zu einer besseren Vorstellung verhelfen die jemenitische Kat (qāt)-Sitzung Im Jemen wie auch an der gegenuumlberliegenden afrikanischen Kuumlste treffen sich nachmit-tags nach der Mahlzeit Gruppen von Maumlnnern in einem besonderen im obersten Geschoss jedes Hauses vorhandenen Raum (mafrağ) um die anregenden Blaumltter des Kat-Strauches zu kauen Die Gaumlste sitzen auf Pol-stern entlang der Waumlnde der Scheich oder Ehrengast meist am Kopfende Frauen sind nicht zugelassen die Bedienung der Teilnehmer obliegt den Soumlhnen des Hausherrn die selbst nicht am Gespraumlch teilnehmen sofern die Gaumlste nicht eigene Diener mitbringen Es sind meist gleichbleibende Gruppen von durchschnittlich einem Dutzend Freunden Kollegen Stammes- oder Familienangehoumlrigen die sich versammeln die Kat-Sitzung ist jedoch auch der Ort um Fremde zu bewirten Die urspruumlng-lich dem Adel vorbehaltene Sitte erfasst inzwischen alle Gesellschafts-schichten bis hin zu den groszligen Sitzungen der Scheichs und des Staatsprauml-sidenten bei denen Rechtsstreitigkeiten und politische Fragen entschieden werden Waumlhrend die Gaumlste eintreffen laumlsst der Gastgeber Weihrauch und Parfuumlm herumgehen Der Hauptteil eingerahmt von zwanglosen Gesprauml-chen reicht meist vom spaumlten Nachmittag bis zum Abendgebet bei Son-nenuntergang Er besteht entweder aus nach Moumlglichkeit kunstvollen Diskussionsbeitraumlgen zu einem vorgegebenen Thema aus Politik Philoso-phie oder Kunst ndash oder aus Liedern Im letzteren Fall laumlsst der Gastgeber seine Laute (lsquoūd) holen und uumlberreicht sie einem als kundig bekannten Teilnehmer der in der Regel mehrere Lieder singt bis ein anderer Gast seine Rolle uumlbernimmt Meist sind es alte Lieder oft ohne viel Nachden-ken einem beruumlhmten Dichter zugeschrieben bei denen alle Gaumlste in den Refrain einstimmen Es ist uumlblich dass der Saumlnger den Text mit Ausrufen ergaumlnzt oder leicht abwandelt nicht selten findet sich auch jemand der ein Lied auf den Anlass improvisieren kann Besonders faumlhige Musiker oder Dichter werden bei jeder Kat-Sitzung um einen Vortrag gebeten haumlufig

_____________

135 Vgl hierzu Roumlsler [1980a] 37-45 und 54 Anm 67

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 36: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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auch in andere Kreise eingeladen und koumlnnen schlieszliglich davon leben dass sie zu Hochzeiten und anderen Anlaumlssen bestellt werden um gegen Geld die Unterhaltung beim Kat zu uumlbernehmen

Nicht wesentlich anders duumlrfte die Entwicklung beim griechischen Symposion verlaufen sein Erfolgreiche Lieder wurden immer wieder verlangt dann von anderen uumlbernommen und uumlberliefert136 Jeder Teil-nehmer schulte sich also zunaumlchst am Vortrag fremder Werke Wer be-sonders begabt war wurde dadurch angeregt selbst nach diesem Muster zu improvisieren und sich Verse auch schon vorher zurechtzulegen Dies war die dritte bei Athenaios erwaumlhnte Art der Symposionsdichtung an der sich nur noch bdquodie groumlszligten Koumlnnerldquo beteiligten Mehr jedoch muss grund-saumltzlich nicht noumltig gewesen sein um sich als Dichter einen Namen zu machen der zusammen mit den Werken uumlberliefert wurde weder musste er dafuumlr auszligerhalb seiner Heimatstadt auftreten noch die Kunst zu seiner Hauptbeschaumlftigung oder gar zum bezahlten Beruf gemacht haben So duumlrfte sich auch der Ruhm des Theognis erhalten haben

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

Der Zeitraum in dem wir die Entstehung der Theognidea vermuten war aumlhnlich wie das fuumlnfzehnte Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks oder das unsrige mit der Schaffung des Internets gepraumlgt von einer media-len Revolution Gegen Anfang des achten Jahrhunderts v Chr uumlbernah-men die Griechen mit gewissen Anpassungen die Alphabetschrift ihrer phoumlnizischen Handelspartner Eine unlaumlngst in Gabii entdeckte kurze Inschrift kann nicht juumlnger sein als ca 770 v Chr die auf 740 v Chr datierte athenische Dipylon-Kanne wird damit zum zweitaumlltesten Zeugnis des griechischen Alphabets137 Danach waumlchst die Zahl der Belege rasch an Seit Beginn des siebten Jahrhunderts begegnen zahlreiche private Auf-schriften insbesondere Kuumlnstlersignaturen und Bildlegenden auf Vasen Die fruumlhesten erhaltenen oumlffentlichen Inschriften sind die kretischen Ge-setze von Dreros aus der zweiten Haumllfte des siebten und von Gortyn aus dem sechsten Jahrhundert die Liste der olympischen Sieger reicht bis 776 v Chr die der spartanischen Ephoren bis 756 v Chr zuruumlck Aus der _____________ 136 So bereits Vetta [1983] xxix Bowie [1986] 14 (ldquoa singer may expect a successful

song to be demanded from himself on another occasion or to be sung by an hetai-ros when he is absent or deadrdquo)

137 Zum Datum der Uumlbernahme s Roumlsler [2004b] ii Einige Semitisten nehmen aus palaumlographischen Gruumlnden eine Uumlbernahme schon im 11-9 Jh an (vgl Goody [1987] 61) Eine nennenswerte Verbreitung ist in jedem Fall erst gegen Ende des 8 oder Anfang des 7 Jh erreicht

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VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 37: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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zweiten Haumllfte des sechsten Jahrhunderts stammen die ohne Schrift nicht denkbaren Prosawerke der Vorsokratiker Auffaumlllig ist dass die ersten Zeugnisse eine wenig praktische sozusagen luxurioumlse private Verwendung zeigen nicht nur staatliche sondern auch wirtschaftliche Zwecke lassen sich ndash vielleicht aufgrund der vergaumlnglichen Beschreibstoffe ndash erst spaumlter nachweisen138 Bis zum organisierten Buchhandel des ausgehenden fuumlnften Jahrhunderts breitete sich die Schrift im griechischen Sprachraum mit einer Dynamik aus die sich nur durch ihre Wechselwirkung mit dem Aufkommen der Demokratie der Geldwirtschaft und der Philosophie zur selben Zeit erklaumlren laumlsst

Seit wann wurde dieses neue Werkzeug auch fuumlr Dichtung eingesetzt Wohl spaumltestens seit dem Ende des siebten Jahrhunderts Die langen sprachlich und melodisch veraumlstelten Chorlieder Alkmans und des Stesi-choros koumlnnen kaum ohne Schrift entworfen und einstudiert worden sein schon vorher zu Beginn des Jahrhunderts lassen zum Beispiel der Aufbau und die geringe Formularitaumlt der Erga Schriftverwendung vermuten Be-deutsam ist dass die literarische Uumlberlieferung mit Werken des siebten Jahrhunderts einsetzt also nur wenige Jahrzehnte nach der Uumlbernahme des Alphabets139 Allerdings kann dieses Bild sich auch bei einer verzoumlger-ten Aufzeichnung ergeben die auf das kulturelle Gedaumlchtnis mehrerer Generationen zuruumlckgreift Ob die Verbreitung des Alphabets sofort auch zur Verschriftlichung der Dichtung fuumlhrte oder ob zwischen beiden Ent-wicklungen eine laumlngere Uumlbergangszeit anzusetzen ist haumlngt von zwei grundsaumltzlichen Fragen ab Ist muumlndliche Uumlberlieferung feststehender Texte uumlber laumlngere Zeit moumlglich und kann eine rein muumlndliche Tradition auch in einer Umgebung die mit der Schrift vertraut ist fortbestehen

Das bekannteste Beispiel woumlrtlicher Weitergabe sind die Veden deren Kern ins zweite Jahrtausend v Chr zuruumlckreicht waumlhrend die fruumlhesten Belege indischer Schrift die Aśoka-Edikte erst aus dem dritten Jahrhun-dert v Chr stammen140 Zwar zeigen sowohl die Vollkommenheit des Brāhmī-Alphabetes als auch die umfangreiche Prosaliteratur aus jener Zeit dass die Schrift aumllter sein muss als diese ndash wegen des unguumlnstigen Klimas seltenen ndash materiellen Zeugnisse Doch gibt es angesichts des noch heute bestehenden Brauchs der Brahmanen sich die vom Lehrer vorgesungenen Hymnen ohne Schrift einzupraumlgen keine Ursache grund-_____________ 138 Zur Frage des Gebrauchs in Handel und Gewerbe vgl Roumlsler [1994] 513 mit wei-

teren Nachweisen Zu den ersten Urkunden aus diesem Bereich gehoumlren die Schatzlisten der Tempel zu Athen und Ephesos aus der Mitte des 6 Jh

139 So Roumlsler [2004b] 140 Die bisher unentzifferten Siegel der Industal-Kultur (2500-1600 v Chr) duumlrften

keine zur Aufzeichung literarischer Werke geeignete Schrift darstellen Zur Uumlber-lieferung der Veden s Mylius [1983] 9 21 f anders Goody [1987] 117

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 38: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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saumltzlich an einer langjaumlhrigen muumlndlichen Uumlberlieferung von Teilen der Veden innerhalb priesterlicher Schulen zu zweifeln Dass kuumlrzere Stuumlcke wie es auch die Theognidea sind uumlber Jahrhunderte weitgehend unver-sehrt von Mund zu Mund wandern koumlnnen laumlsst sich ja bereits am tradi-tionellen Liedgut schriftloser Kulturen wie zum Beispiel der arabischen Beduinen zeigen

Gehen solche muumlndlichen Traditionen zugrunde sobald ihre Traumlger schreiben lernen Wenn die Erfindung der Schrift so ansteckend ist dass sie innerhalb kurzer Zeit auf saumlmtliche Bereiche des Lebens uumlbergreift dann muss alle griechische Dichtung seit dem achten Jahrhundert schrift-lich entworfen sein Nun bringt es gerade die Bedeutung der Schrift fuumlr geschichtliche Uumlberlieferung mit sich dass der Uumlbergang zur Schriftlich-keit in keiner Kultur ausfuumlhrlich beschrieben ist Doch selbst in einer in-zwischen fast flaumlchendeckend alphabetisierten Welt uumlberleben vereinzelte muumlndliche Traditionen so etwa in der Sahelzone oder bis im letzten Jahr-hundert auf dem Balkan trotz weiter Verbreitung der Schrift auch dort141 Auch wenn der Uumlbergang zur schriftlichen Dichtung fruumlher oder spaumlter unausweichlich ist koumlnnen die Gewohnheiten der Saumlnger und ihrer Houmlrer doch stark genug sein um ihn betraumlchtlich zu verzoumlgern Denn so nahe der Gedanke heute liegt so ist doch die langwierige und wegen des Be-schreibstoffs auch teure Niederlegung von Gedichten in einem einzigen Exemplar ohne Buchhandel der ja erst als Folge der Verschriftlichung entstehen kann zur Veroumlffentlichung ungeeignet Der einzige Antrieb fuumlr den Wechsel zur Schrift kann in dieser Lage die groumlszligere Bestaumlndigkeit des Geschaffenen gewesen sein142 ndash fuumlr einen berufsmaumlszligigen Saumlnger der ge-rade davon lebt seine Kunst immer wieder neu vorfuumlhren zu muumlssen kein selbstverstaumlndlicher Wunsch Auswirkungen auf die Dichtung hat die Bekanntschaft mit der Schrift aber bereits bevor sie selbst zum Einsatz

_____________ 141 Zu Afrika vgl Glinga [1989] 89 (bdquoIn einer dominant oralen Gesellschaft kann

Schriftlichkeit jahrhundertelang praumlsent sein ohne jemals von ihrer sekundaumlren Rolle zur primaumlren uumlberzuwechselnldquo arabische Schrift auf diplomatische Bezie-hungen und islamische Theologie beschraumlnkt) Zur gegen 1200 v Chr ausgestor-benen Linear B vgl Roumlsler [1994] 511 (bdquoDass es ihr nicht gelang sich weitergehen-de Funktionen zu erschlieszligen ist darin begruumlndet dass sie eine Wiedergabe der griechischen Sprache nur aumluszligerst mangelhaft gestattetldquo) Allgemein Hornberger [1994] 424 (ldquoliteracy neither stands in a dichotomous relationship to orality nor carries with it necessary consequencesrdquo)

142 S hierzu Cavallo [1977] XIV f Roumlsler [1980a] 52-55 (im fruumlhen 6 Jh dient der schriftliche Text nur der Produktion und Thesaurierung epischer Texte bei rhaps-odischen Zuumlnften) Nach Havelock [1973] 119 122 war das Motiv die alte Dich-tung als ldquotribal encyclopaeligdiasrdquo zu erhalten

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VI Umfeld

360

kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

362

Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 39: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

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kommt143 Das Lied als Geschichte wandelt sich in der Vorstellung zu einem aus festgelegten Woumlrtern bestehenden Text die Schwankungen von einem Vortrag zum naumlchsten nehmen ab Diese bdquogeistige Verschriftli-chungldquo setzt sich auch nach dem Uumlbergang zur Schrift fort Von Buumlchern voller Varianten und umschreibenden Zitaten bis zur modernen Gewohn-heit beim Zitieren selbst die Anpassung veralteter Rechtschreibung oder die Umwandlung von Groszlig- in Kleinbuchstaben im Satz zu vermeiden

Es ist daher nicht genau zu bestimmen wie lange in Griechenland die Uumlbergangszeit zwischen der Uumlbernahme des Alphabets und seiner An-wendung auf Dichtung waumlhrte144 In jedem Fall wird schriftliche Entste-hung bei einem Gedicht vom Ende des sechsten Jahrhunderts wahrschein-licher sein als bei einem aus der Mitte des siebten Dies wuumlrde aufgrund der bisher gewonnenen Daten eine schriftliche Abfassung der Theognidea nahelegen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung dieser Wahr-scheinlichkeit im Falle des Corpus ist daneben jedoch der Anreiz zum Gebrauch der Schrift fuumlr diese besondere Gattung Wenn es bei der Auf-zeichnung fruumlher Dichtung allgemein vor allem um den Schutz vor dem Vergessen ging dann musste der Drang zur Schriftlichkeit bei laumlngeren Werke wie den Homerischen Epen die wertvoller und zugleich vergaumlngli-cher waren staumlrker sein als bei kurzen inhaltlich und sprachlich oft an-spruchslosen Liedern Allerspaumltestens muumlssen die Theognideischen Ge-dichte jedenfalls zu Anfang des vierten Jahrhunderts v Chr aufgezeichnet worden sein da es nach dem Verschwinden des Symposionsgesangs keine breite muumlndliche Tradition dieser Gattung mehr geben konnte145

Schlieszliglich ist es aber auch keineswegs unmoumlglich dass dasselbe Werk zur gleichen Zeit sowohl muumlndlich als auch schriftlich uumlberliefert wurde So stehen von der Geschichte des Ahikar schriftliche Versionen in ver-schiedenen Sprachen neben einer durchgehenden muumlndlichen Tradition146 Auch die chinesischen Oden wurden grundsaumltzlich muumlndlich weitergege-ben und nur gelegentlich und unabhaumlngig von anderen schriftlichen Fas-

_____________ 143 Vgl hierzu Rossi [1992] 78 144 Aumlhnlich Havelock [1973] 146 (ldquoThe usage of the old and the usage of the new in

the three following centuries continued to overlaprdquo) Cagravessola [1975] xlvi (ldquoSia per il costo dei volumi sia anche semplicemente per lrsquoinflusso dellrsquoabitudine e dellrsquoeducazione ricevuta i greci continuarono ad ascoltare testi che in teoria avreb-bero potuto leggere e impararono a memoria le opere di poesia invece di comprar-lerdquo) fuumlr eine kuumlrzere Uumlbergangsphase von etwa 100 Jahren Roumlsler [1994] 513 und [2004b] ii

145 Zu Schluumlssen aus der Formelhaftigkeit der Theognidea auf muumlndliche oder schrift-liche Abfassung s oben S 133-137 aus Dubletten s oben S 202 f aus inhaltlichen Hinweisen s oben S 318-320 zu Szenarien s unten sect 55

146 Vgl Luzzatto [1992] 63 (ldquocompresenza di piugrave modalitagrave di trasmissionerdquo)

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

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den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 40: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

361

sungen niedergeschrieben147 So koumlnnte auch die Uumlberlieferung der Theo-gnidea in erster Linie auf dem lebendigen Gebrauch des Symposions be-ruht haben und durch schriftliche Aufzeichnung die die muumlndliche Tradi-tion nicht beeintraumlchtigte nur ergaumlnzt worden sein148

Trotz aller Forschung die dem Verhaumlltnis von Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit seit Parry gewidmet wurde bleibt die Frage wie die Uumlber-nahme der Schrift fuumlr die griechische Dichtung praktisch ablief noch im-mer zum groszligen Teil der Vorstellungskraft uumlberlassen Bediente sich der Dichter der neuen Kunst schon bei der Abfassung oder wurde das im Geist fertiggestellte Werk erst im nachhinein aufgeschrieben Zeugnisse aus dem alten Orient sprechen fuumlr die zweite Moumlglichkeit gerade bei kur-zen Gedichten gab es auch wenig Grund von der Gewohnheit des muumlnd-lichen Improvisierens abzugehen149 Wieviel Zeit lag dann zwischen der Schoumlpfung und der Aufzeichnung des Gedichts und schrieb es der Dich-ter selbst nieder oder ein anderer Grundsaumltzlich duumlrften die Houmlrer ein groumlszligeres Interesse an der Aufbewahrung der Weisheit des Dichters gehabt haben als er selbst dem sie jederzeit zu Gebote stand und dessen gesell-schaftliche Stellung gerade auf dieser Verfuumlgungsmacht die er durch Ver-oumlffentlichung aufgab beruhte150 Wenn man andere Gesellschaften im Uumlbergang vergleicht ist das Schreiben zunaumlchst ein besonderes Handwerk

_____________

147 Vgl Emmerich [2004] 18 (bdquoSchlieszliglich duumlrfte die in den Handschriften erkennbare groszlige Zahl graphischer Textvarianten ein individuelles Lesen der Oden ohne wei-tere Anleitung unmoumlglich gemacht haben ndash man musste den Text bereits kennen um ihn lesen zu koumlnnenldquo bdquo grundsaumltzlich muumlndliche Uumlberlieferungspraxis worin die Oden zu jeweils konkreten Anlaumlssen mdash als Grabbeigaben vielleicht auch als aide-meacutemoire im Lehrer-Schuumller-Dialog mdash in lokaler Kalligraphie und unab-haumlngig von anderen parallel existierenden schriftlichen Versionen niedergelegt wurdenldquo)

148 So bereits Fabbro [1995] x (Theognidea im 6 Jh muumlndlich tradiert ldquoconoscono - grazie anche a una privata ed episodica trasmissione scrittoria - una continua e in-controllata esistenza di riusordquo)

149 Der aumllteste Beleg fuumlr schriftliche Abfassung ist wahrscheinlich Batrachomyomachie 11-3 Zum Orient vgl West [1997] 598 mit weiteren Nachweisen (ldquoThe Sumerian poet apparently did not use writing during the composition process but first meditated a poem and then taught it to a professional singer for performance or to a scribe for writing downrdquo) Jer 36

150 Vgl z B X Mem 428-10 Isoc 244 Procl in Pl Ti I p 90 (Πλτων τ ᾿Aντιmicroχου προτ13microησε κα1 ατν )πεισε τν Hρακλε13δην ες Kολοφνα λθντα τ ποι9microατα συλλξαι το νδρς) Aly [1934] 1981 vergleicht die Homerischen Hymnen die Aristotelischen Verfassungen und aumlhnliche Sammlun-gen jener Zeit (bdquoMan wuumlrde es verstehen koumlnnen wenn im fruumlhen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erloumlschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgefuumlhrt wurde das noch Erreichbare zusammenzuraffenldquo)

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VI Umfeld

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Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

364

im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

365

Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

366

spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

369

einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

370

erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

371

dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 41: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

VI Umfeld

362

Einzelner das nur ausnahmsweise mit dem Handwerk des Dichters zu-sammentrifft Andererseits muss auch das Interesse des Kuumlnstlers an blei-bendem Ruhm wie ihn muumlndliches Wirken kaum verschaffen konnte sowie an einer Gedaumlchtnisstuumltze fuumlr sich selbst in Rechnung gestellt wer-den151 Diente die Aufzeichnung wiederum eher der Aufbewahrung der Verbreitung oder der Unterstuumltzung des Vortrags Groumlszligere Verbreitung lieszlig sich wie schon angesprochen durch die Schrift erst nach dem Auf-kommen des Buchhandels erreichen Auch Aufbewahrung wurde erst dann vom Luxus zur Notwendigkeit als die muumlndliche Uumlberlieferung des Symposions nicht mehr fuumlr den Fortbestand der Gedichte sorgte Fuumlr die fruumlhe Zeit ist der Gebrauch als Merkhilfe fuumlr den Vortrag wohl das wahr-scheinlichste Ziel der Aufzeichnung Ungewiss ist schlieszliglich auch ob Gedichte zuerst einzeln oder gleich zusammen als Buch aufgeschrieben wurden Bei sehr kurzen Gedichten wie den meisten Theognidea die leicht zu merken waren ist ndash anders als etwa bei langen Chorliedern ndash eine getrennte Niederschrift nur schwer vorstellbar

Wie Schrift in der Dichtung vor dem Aufkommen eines Buchhandels im groszligen Stil eingesetzt wurde ist auch im Hinblick auf die bereits eroumlr-terten nichtbildlichen Erklaumlrungen des Siegelgedichts (v 19 ff) bedeut-sam152 Der Gebrauch eines echten Siegels fuumlr Schriftstuumlcke ist bei literari-schen Werken nicht belegt153 Die wenigen Beispiele die angefuumlhrt werden sind allesamt zweifelhaft Vitruv berichtet Demokrit habe in einer seiner Schriften ein Wachssiegel bdquoverwendetldquo ndash wie und wozu bleibt im Dunkeln154 Horaz wiederum spricht von bdquoversiegelten Baumlndenldquo seiner Werke die dem Augustus uumlberbracht werden sollen ndash ein Paket vor dem Versand zu versiegeln war jedoch uumlblich und hat nichts damit zu tun dass es gerade Gedichte enthielt155 In der Papyrus-Handschrift der Perser des Timotheos schlieszliglich ist ein stilisierter Vogel ungefaumlhr dort an

_____________

151 So Friis Johansen [1993] 28 uumlber die Prosaschriftsteller (ldquoThe close connection between such authorial self-assertion and the care shown by the authors for the preservation of their authentic words is demonstrated by the very fact that they had their knowledge written downrdquo)

152 S hierzu sect 42 153 So bereits Woodbury [1952] 20 kein echtes Siegel denn ldquoseals so far as is known

were used to certify or to safeguard property rather than to attach the name of a craftsman to a product of his craftrdquo

154 Vitr 9114 admiror etiam Democriti commentarium quod inscribitur Xειροκmicro9των in quo etiam utebatur anulo ut signaret cera molli quae esset exper-tus Der Text ab ut ist verdorben und durch Konjektur hergestellt Die genannte Schrift wird noch von Plin N H 24160 unter dem Namen Demokrits von Co-lum 7517 und Clem Al Strom 11569 unter dem des Bolos erwaumlhnt

155 Hor Ep 132 Augusto reddes signata volumina

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sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

367

Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 42: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

sect 51 Muumlndlichkeit und Schriftlichkeit

363

den Rand gezeichnet wo der Text den Namen des Verfassers nennt ndash er ist aber weder ein Siegelabdruck noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf dass es sich um die Nachbildung eines solchen Abdrucks handeln koumlnn-te156

Anders steht es um die Hinterlegung literarischer Werke in Tempeln Hierfuumlr gibt es in der Tat Vorbilder die ja auch den Anstoszlig zu dieser Deutung des Theognideischen Gedichtes gegeben haben So erzaumlhlt Dio-genes Laertios dass Heraklit sein philosophisches Werk dem Ephesischen Artemistempel gestiftet und dass der Platon-Kommentator Krantor seine versiegelten Gedichte im Athenetempel zu Soloi hinterlegt habe157 Andere Werke wurden im Auftrag von Bewunderern auf steinerne metallene oder houmllzerne Stelen geschrieben und in einem Heiligtum aufgestellt158 Im letzteren Fall ging es offensichtlich darum den Verfasser zu ehren und sein Meisterwerk vor dem Vergessen zu bewahren Zu welchem Zweck dagegen Heraklit und Krantor ihre Schriften einem Tempel uumlbergaben verschweigt ihr Biograph falls sie nicht einfach als Weihgeschenk gedacht waren ndash worauf bei Heraklit die Wortwahl hindeutet ndash mochte die Furcht vor Verlust oder Veraumlnderung den Anstoszlig gegeben haben ndash mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht die Furcht vor Plagiat159 Hinterlegung _____________

156 Als bdquoWappenbild loco sigillildquo gedeutet von Immisch [1933] 300 Dagegen Kroll [1936] 65 (Vogel als fruumlhe Form der Koronis)

157 D L 96 νθηκε δ᾿ ατ ες τ τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερν ders 425 λγεται δ κα1 ποι9microατα γρψαι κα1 ν τd πατρ13δι π1 τg τltς ᾿AθηνEς Vερg σφραγισmicroενος ατ θε5ναι

158 So der Homerische Apollonhymnus laut Certamen 318 (fηθντος δ το mmicroνου οV microν aIωνες πολ13την ατν κοινν ποι9σαντο ∆9λιοι δ γρψαντες τ )πη ες λε2κωmicroα νθηκαν ν τg τltς ᾿Aρτmicroιδος Vερg) Hesiods Erga laut Paus 9314 (κα13 microοι microλυβδον δε13κνυσαν [sc die Boumlotier] )νθα πηγ9 [die Hippokrene auf dem Helikon an der sich zu Pausaniasrsquo Zeit eine Kultstaumltte be-fand] τ πολλ π το χρνου λελυmicroασmicroνον γγγραπται δ ατg τ aEργα) Pindars siebte Olympie laut Σ Pi O 7 (Tα2την τ(ν pδ9ν φασιν νακε5σθαι χρυσο5ς γρmicromicroασιν ν τg τltς Λινα13ας ᾿AθηνEς Vερg νθεσαν δ w Π13νδαρον τιmicroντες w ∆ιαγραν) ein Pindarhymnus laut Paus 9161 (ππεmicroψε δ Q Π13νδαρος κα1 Λιβ2ης ς ᾿Amicromicroων13ους τg aAmicromicroωνι mmicroνον οkτος κα1 ς micro Wν Q mmicroνος ν τριγνL στ9λ παρ τν βωmicroν eν Πτολεmicroα5ος Q Λγου τg aAmicromicroωνι νθηκε) eine Schrift der Aristomache laut Plu Quaest conv 52 = 675b (κε5 το13νυν ερ9σετε γεγραmicromicroνον Dς ν τg Σικυων13ων θησαυρg χρυσον νκειτο βιβλ13ον ᾿Aριστοmicroχης νθηmicroα τltς ᾿Eρυθρα13ας πικg ποι9microατι δ1ς aIσθmicroια νενικηκυ13ας)

159 Erstens gibt es keinen Hinweis dass einer der beiden an Plagiatsschutz interessiert gewesen waumlre zweitens waumlre die Hinterlegung im Tempel hierfuumlr ein voumlllig un-taugliches Mittel Es ist im uumlbrigen in beiden Faumlllen zu fragen ob nicht die Wid-mung durch die Verfasser selbst eine bloszlige Legende war die den ndash von anderen uumlbergebenen ndash Exemplaren in den Tempeln groumlszligeres Ansehen verschaffte

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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VI Umfeld

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im Tempel kam also vor aber nicht aus dem Grund den Theognis fuumlr sein Siegel zu nennen scheint Fuumlr eine nichtbildliche Auslegung des Siegels fehlt es folglich an echten Parallelen

sect 52 Geistiges Eigentum

Wie die Schrift scheint auch der Begriff des geistigen Eigentums heute eine selbstverstaumlndliche ja unverzichtbare Voraussetzung fuumlr Dichtung zu sein obwohl er erst spaumlter allmaumlhlich aufgekommen ist Das gilt nicht nur fuumlr den rechtlichen Gedanken dass uumlber Gestalt und Nutzung eines Kunst-werkes ausschlieszliglich sein Schoumlpfer bestimmen darf sondern schon fuumlr die allgemeine Vorstellung dass es mit dem Kuumlnstler und seinem Namen untrennbar verbunden ist und auch von anderen nicht mehr veraumlndert werden kann weil sein Wert gerade darin liegt die Aumluszligerung der Gestal-tungskraft eines bestimmten Menschen zu sein Wie bereits zur Sprache kam faumlllt in verschiedenen Literaturen auf dass fruumlhe Werke haumlufig na-menlos uumlberliefert sind oder ndash wohl aus eben diesem Grund ndash nachtraumlg-lich einem beruumlhmten Namen zugeschrieben wurden160 Weder in der Vorstellung des Saumlngers noch in der seiner Houmlrer so scheint es entstand hier beim Dichten etwas Neues Eigenes

Der erste griechische Dichter der diese Vorstellung ausdruumlcklich durchbricht ist im fruumlhen siebten Jahrhundert Hesiod der am Anfang der Theogonie die Anrufung der Musen mit der Nennung des eigenen Na-mens verbindet

bdquoBei den Musen vom Helikon will ich mit dem Lied anfangen die den Berg Heli-kon zueigen haben den groszligen und heiligen Sie haben einst Hesiod den schouml-nen Gesang gelehrt der Schafe huumltete am heiligen Helikonldquo161

Alkman wohl ungefaumlhr sein Zeitgenosse dichtet bdquoDiese Verse und Musik hat Alkman erfunden indem er die gezwitscherte Stimme der Perlhuumlhner komponierteldquo162 Im sechsten Jahrhundert flechten Sappho Alkaios und

_____________ 160 Hierzu s oben S 350 Stemplinger [1912] 185 vergleicht die Praxis jener Zeit

anonyme Kunstwerke nachtraumlglich mit Inschriften zu versehen 161 Hes Th 1 f 22 f Mουσων Eλικωνιδων ρχmicroεθ᾿ ε13δειν | αq θ᾿ Eλικνος

)χουσιν oρος microγα τε ζθεν τε | αq ν2 ποθ᾿ Hσ13οδον καλ(ν δ13δαξαν οιδ9ν | ρνας ποιmicroα13νονθ᾿ Eλικνος mπο ζαθοιο

162 Alcm fr 39 (Page) )πη τδε κα1 microλος ᾿Aλκmicroν | εkρε γεγλωσσαmicroναν | κακκαβ13δων oπα συνθmicroενος

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hipponax die eigenen Namen in ihre Werke ein163 In den Persern des Timotheos heiszligt es

bdquoDenn der wohlgeborene langlebige groszlige Herrscher Spartas strotzend an Ju-gendbluumlte das Volk erschuumlttert entzuumlndet und treibt mich mit brennendem Ta-del weil ich die aumlltere Dichtung mit neuen Gesaumlngen entehre Nun aber laumlsst Timotheos mit elfschlaumlgigem Versmaszlig und Takt die Kithara huumlpfen und oumlffnet den von Liedern vollen Brautschatz der Musen Milet ist die Stadt die ihn herangezo-gen hat die mit zwoumllf Mauern die des ersten Volkes unter den Achivernldquo164

Wie Theognis (v 19 ff) begegnet Timotheos dem Tadel der Bevoumllkerung selbstbewusst mit dem Preis der eigenen Dichtkunst und der Nennung von Namen und Vaterstadt

Im Homerischen Apollonhymnos stellt der Dichter sich ndash oder viel-mehr seine Rolle als Homer165 ndash vor ohne jedoch dabei seinen Namen zu nennen

bdquoAn mich aber erinnert euch auch spaumlter wenn einer von den irdischen Menschen fragt der hierher als leidgepruumlfter Fremder gekommen ist sbquoIhr Maumldchen welcher Mann ist euch der liebste von den Saumlngern die hier einkehren und an wem erfreut ihr euch am meistenlsquo Ihr alle aber antwortet fein in meinem Namen sbquoEin blinder Mann er wohnt auf dem felsigen Chios Seine Gesaumlnge bleiben alle in der Zukunft die bestenlsquo Ich aber will euren Ruhm so weit verbreiten wie ich auf der Erde durch die bevoumllkerten Staumldte der Menschen wandere und sie werden mir glauben denn es ist ja wahrldquo166

Hier findet sich nicht nur den Kunstgriff wieder dass die im Gedicht ent-haltene Prophezeiung ewigen Ruhmes durch den Vortrag selbst erfuumlllt wird ndash eine transzendentale Erfahrung fuumlr das Publikum das gemeinsam _____________

163 Sapph S2591 S2607 S2751 S276(1)col220 S276(2)col344 S2771 Page Alc S2804 S28023 S2829 S2837 Page Hippon fr 324 362 371 799 1174 148b3

164 Timoth Pers 215-225 241-248 Q γρ micro᾿ εγεντας microακρα13ων Σπρτας microγας γεmicroν βρ2ων νθεσιν βας | δονε5 λας πιφλγων λl τ᾿ α_θοπι micromicroL | $τι παλαιοτραν νοις mmicroνοις microοσαν τιmicro | νν δ Tιmicroθεος microτροις fυθmicroο5ς τ᾿ Uνδεκακρουmicroτοις κ13θαριν ξανατλλει | θησαυρν πολ2υmicroνον ο_ξας MουσEν θαλαmicroευτν | M13λητος δ πλις νιν θρψασ᾿ δυωδεκατειχος λαο πρωτος ξ ᾿Aχαιν

165 Hierzu s Burkert [1979] 166 H Hom 3165-176 microε5ο δ κα1 microετπισθε | microν9σασθ᾿ Qππτε κν τις

πιχθον13ων νθρπων | νθδ᾿ νε13ρηται ξε5νος ταλαπε13ριος λθν | κοραι τ13ς δ᾿ micromicroιν ν(ρ διστος οιδν | νθδε πωλε5ται κα1 τL τρπεσθε microλιστα | microε5ς δ᾿ εn microλα πEσαι ποκρ13νασθ᾿ microφ᾿ microων | τυφλς ν9ρ οκε5 δ X13L )νι παιπαλοσσ | το πEσαι microετπισθεν ριστε2ουσιν οιδα13 | microε5ς δ᾿ microτερον κλος ο_σοmicroεν $σσον π᾿ αXαν| νθρπων στρεφmicroεσθα πλεις εn ναιετασας | οV δ᾿ π1 δ( πε13σονται πε1 κα1 τ9τυmicroν στιν Vergleichbar Bacch Ep 397 f κα1 microελιγλσσου τις microν9σει χριν Kηcopyας ηδνος

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VI Umfeld

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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Page 45: [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte] Theognis and the Theognidea Volume 95 ||

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spuumlrt dass der Dichter den gegenwaumlrtigen Augenblick vorausgeahnt hat167 Man trifft auch wie bei Theognis auf die Anpreisung der eigenen Werke als bdquodie bestenldquo und auf die Zusage im Gegenzug das Andenken der be-sungenen Maumldchen lebendig zu halten168 Die Selbstvorstellung des Dich-ters wird schlieszliglich zum Topos der antiken Dichtung169 ein Beispiel das eine direkte Anspielung auf das Siegelgedicht sein koumlnnte ist das Prooumlm eines mathematischen Lehrgedichtes des Eratosthenes

bdquoPtolemaios wie ein gluumlckseliger Vater der mit seinem Sohn spielt schenktest du allein alles was Musen und Koumlnigen lieb ist in der Zukunft aber o Zeus nehme er aus deiner Hand auch das Zepter entgegen Dies gehe also in Erfuumlllung und wer diese Widmung sieht moumlge sagen sbquoEs ist von Eratosthenes aus Kyrenelsquoldquo170

Eine besondere Form dieser Selbstvorstellung begegnet in einigen be-reits angesprochenen Versen die Phokylides Demodokos und Hipparch zugeschrieben werden Hier wird die jeweils einen halben Vers umfassen-de Verfasserangabe fuumlr Gedichte eingesetzt die nur aus einem Zweizeiler oder sogar Einzeiler bestehen bdquoAuch dies ist von Demodokos sbquoDie Lerier sind schlecht Nicht einige und andere nicht ndash alle auszliger Prokles Und auch Prokles ist ein Lerierlsquoldquo171 oder bdquoDies ist ein Denkspruch Hipparchs sbquoGehe mit gerechtem Sinnlsquoldquo172 Aus diesen Spruumlchen haben viele ein zu-saumltzliches Argument fuumlr die Erklaumlrung des Siegels von v 19 als Kyrnos-Anrede abgeleitet Da das Werk des Theognis nicht wie das des Timotheos oder Hesiods ein zusammenhaumlngendes Ganzes war haumltte er ndash so die Uumlberlegung ndash ebenso wie Phokylides Demodokos und Hipparch jedes einzelne Gedicht mit seiner Verfassermarke versehen muumlssen173 Dieses auf den ersten Blick verfuumlhrerische Argument verliert jedoch bei naumlherem _____________ 167 Vgl z B Il 4176 6459 6479 786-91 12315 Mt 2613 E Alc 1000 Theoc

1044 168 Vgl v 21 25 369 f und 237-254 169 Z B Nic Th 957 f und Al 629 f Tib 1355 1983 Prop 2817 224b35

23493 etc Cat 61 710 81 etc Hor carm 4644 ep 1145 Mart 111 f (Toto notus in orbe Martialis)

170 Eratosth fr 3513-18 Eα13ων Πτολεmicroα5ε πατ(ρ $τι παιδ1 συνηβν | πνθ᾿ $σα κα1 Mο2σαις κα1 βασιλεσι φ13λα | ατς δωρ9σω τ δ᾿ ς mστερον ορνιε Zε | κα1 σκ9πτρων κ σltς ντισειε χερς | κα1 τ microν poundς τελοιτο λγοι δ τις νθεmicroα λε2σσων | Tο Kυρηνα13ου τοτ᾿ ᾿Eρατοσθνεος Vgl v 1049 und 22 f

171 Demodoc fr 2 West Kα1 τδε ∆ηmicroοδκου Λριοι κακο13 οχ e microν eς δ᾿ ο | πντες πλ(ν Προκλους κα1 Προκλης Λριος

172 Hipparch fr 1 Diehl Mνltmicroα τδ᾿ Iππρχου στε5χε δ13καια φρονν 173 So Hudson-Williams [1910] 2 Jacoby [1931] 120 f Carriegravere [1948a] 114 Dagegen

Reitzenstein [1893] 266 (Wiederholung wie bei Phokylides haumltte in Buchform bdquoab-scheulichldquo gewirkt) Jaeger [1934] 256 (bdquoDas hatte Th nicht noumltig denn seine Spruumlche bildeten wie gesagt ein Ganzes das als solches uumlberliefert werden sollteldquo)

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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VI Umfeld

368

des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 52 Geistiges Eigentum

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Hinsehen seinen Reiz Von Demodokos beispielsweise sind nur fuumlnf elegi-sche Fragmente uumlberliefert die alle Variationen des zitierten Witzes uumlber die Einwohner der Insel Leros sind nur eines davon enthaumllt die Selbstvor-stellung Sonst weiszlig man nichts uumlber Demodokos Der Name ist bekannt-lich der des beruumlhmten Saumlngers aus der Odyssee dass er aus Leros stamm-te wie Diogenes Laertios angibt scheint aus dem zitierten Gedicht erschlossen Eher als an einen Dichter Demodokos zu glauben der seinen Namen in jedes Werk einfuumlgte moumlchte man annehmen dass ein unbe-kannter Witzbold sein Spottepigramm auf die Lerier mit einem bei Pho-kylides abgeschauten Halbvers versah der dem homerischen Saumlnger De-modokos die Verfasserschaft zuschob174 und dass dieses Gedicht dann erfolgreich genug war um mehrfach abgewandelt und nachgeahmt zu werden Von dem Peisistratiden Hipparch als Tyrann bekannter denn als Dichter sind sogar nur zwei Pentameter uumlberliefert Aus einem Gesamt-werk von zwei Zeilen aber laumlsst sich wenig Honig saugen Unter dem Namen des Phokylides schlieszliglich sind insgesamt 17 kurze Stuumlcke und ein laumlngeres ndash im Grunde ebenfalls aus vielen unverbundenen Spruumlchen zu-sammengesetztes ndash Gedicht erhalten Nur fuumlnf der 17 kurzen Gedichte enthalten den Halbvers bdquoAuch dies ist von Phokylidesldquo175 das laumlngere erwiesenermaszligen unechte Werk beginnt bdquoDiese Ratschluumlsse Gottes fuumlr fromme Urteile offenbart Phokylides der weiseste der Maumlnner ndash reiche Gabenldquo176 Dieser Befund spricht nicht dafuumlr dass Phokylides tatsaumlchlich jedes seiner Gedichte mit einer Selbstvorstellung einleitete Im Gegenteil koumlnnte es sich gerade hierbei um ein Mittel handeln das erfunden und nachgeahmt wurde um Sprichwoumlrtern die Autoritaumlt des beruumlhmten Wei-sen Phokylides zu verleihen177 Die Formulierung bdquoAuch dies ist von Pho-kylidesldquo scheint geradezu auf eine solche nachtraumlgliche Zuschreibung hinzuweisen In Wirklichkeit ist also kein einziges Beispiel eines Dichters bekannt der eine groumlszligere Anzahl von Gedichten jeweils mit derselben Signatur versah so wie man es Theognis unterstellt wenn man die Anrede

_____________ 174 West [1978b] 165 sieht in Demodokos eine Parodie des Phokylides 175 Z B Phoc fr 5 Diehl Kα1 τδε Φωκυλ13δου χρ9 τοι τν Uτα5ρον Uτα13ρL |

φροντ13ζειν σσ᾿ ν περιγογγ2ζωσι πολ5ταιndash Die Sekundaumlrliteratur (etwa Bergk [1883] 297 Kroll [1950] 503) fasst Phokylides dennoch summarisch unter die Autoren die ihren Namen in jedem Gedicht nennen und zwar schon seit Dio Chrys or 3611 f (προστ13θησι τ oνοmicroα ατο καθ᾿ Cκαστον διανηmicroα τε σπουδα5ον κα1 πολλο ξιον γο2microενος)

176 Ps-Phoc Sent 1 f Tατα δ13κσ᾿ Qσ13σι θεο βουλε2microατα φα13νει | Φωκυλ13δης νδρν Q σοφτατος oλβια δρα

177 Im Ergebnis aumlhnlich Edmunds [1997] 41 Anders West [1978b] 165 (Autornennung ldquoserved simply to mark new items or sections in a single gnomic poemrdquo) Vgl auch Roumlsler [1980a] 85 Anm 133

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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des Kyrnos als Siegel deutet nicht zu reden davon dass die Spruumlche des Demodokos des Phokylides und Hipparchs eben den Namen des Verfas-sers nicht eines Dritten wiederholen

Nicht nur in der Dichtung wird es gegen Ende der archaischen Zeit uumlblich dass der Schoumlpfer eines Werkes seinen Namen mit dem Ruhm seiner Schoumlpfung verknuumlpft Das erste bedeutende griechische Ge-schichtswerk beginnt mit den stolzen Worten bdquoHekataios von Milet spricht Dies schreibe ich wie es mir wahr zu sein duumlnkt Denn die Erzaumlh-lungen der Griechen sind zahlreich und lachhaft wie mir scheintldquo178 Eine aumlhnliche Entwicklung laumlsst sich ab dem siebten Jahrhundert v Chr in der bildenden Kunst beobachten Gefaumlszlige tragen immer haumlufiger den Namen dessen der sie bemalt hat auch Skulpturen oder Gemmen werden zuneh-mend vom Kuumlnstler signiert Der Beweggrund fuumlr solche Inschriften mag auch ein geschaumlftlicher gewesen sein ndash Vasen beruumlhmter Maler verkauften sich besser ndash aber nicht alle signierten Werke waren zum Verkauf be-stimmt Die eigentliche Triebkraft war wohl eher jenes Streben nach Uumlberlegenheit im Wettkampf und Ruhm das als Merkmal der griechi-schen Gesellschaft hervorsticht

An Parallelen fuumlr die Selbstvorstellung des Theognis in v 19 ff herrscht mithin kein Mangel179 Allerdings ist sie erst bei Theognis aus-druumlcklich mit der Furcht vor Plagiat verbunden Freilich liegt auf der Hand dass der Kunstgriff der dichterischen Selbstvorstellung sich auch dazu anbot von Faumllschern eingesetzt zu werden ndash so dass die Namens-nennung nicht nur Beleg der Echtheit sondern sogar im Gegenteil Indiz der Unechtheit sein kann180 Auch im Hinblick darauf wird die dichteri-sche Namensnennung nicht anders als in der bildenden Kunst eher mit dem Stolz auf die eigene Schoumlpfung und dem Streben nach Bekanntheit und Bewunderung zu erklaumlren sein Dies wuumlrde die Vermutung bestaumlrken dass die Beziehung zwischen dem in v 19 erwaumlhnten Siegel und der Selbstvorstellung des Theognis in v 22 f keine unmittelbare zwischen Metapher und Gemeintem ist sondern in der Verknuumlpfung zweier unter-schiedlicher Gedanken ndash der bereits gebraumluchlichen Namensnennung

_____________

178 Hecat FGH 1 F 1a Eκατα5ος Mιλ9σιος δε microυθε5ται τδε γρφω ς microοι δοκε5 ληθα εXναι οV γρ Eλλ9νων λγοι πολλο13 τε κα1 γελο5οι Dς microο1 φα13νονται εσ13ν

179 S hierzu oben sect 42 180 Vgl etwa Ps-Epicharm fr 113 DielsKranz τατα δ( ᾿γIν εσακο2σας

συντ13θηmicroι τν τχναν | τνδ᾿ $πως ε_πηι τιltςgt ᾿Eπ13χαρmicroος σοφς τις γνετο | ltπλλ᾿ eς εXgtπ᾿ στε5α κα1 παντο5α καθ᾿ plusmnν lt)ποςgt λγων | ltπε5ρανgt αταυτο διδο2ς Dς κα1 βltραχα λγειν )χειgt κτλ oder Spr 11

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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VI Umfeld

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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sect 53 Ergebnisse

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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sect 52 Geistiges Eigentum

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einerseits und des neuen Begriffs vom geistigen Eigentum andererseits ndash besteht181

Die Herausbildung der Zugehoumlrigkeit dichterischer Texte zu einem bestimmten Verfasser zeichnet sich nicht nur in der Ausbreitung der Kuumlnstlersignatur sondern auch in der Einstellung zur Verwendung nicht selbst gedichteter Texte ab Was urspruumlnglich Weiterarbeit an einer na-menlosen im Allgemeinbesitz stehenden dichterischen Tradition war entwickelte sich in der neuen Vorstellung zu Zitat und Plagiat Noch im Hellenismus zitierte man nicht selten ganz ohne die Quelle zu nennen oder den Ausschnitt auch nur als fremde Leistung zu kennzeichnen182 Fuumlr den Begriff des Plagiats stammt der wohl aumllteste Beleg ndash abgesehen vom Theognideischen Siegelgedicht ndash aus der spaumltestens 421 v Chr entstan-denen Neubearbeitung der Wolken des Aristophanes183

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch wie manche Uumlberein-stimmungen in den Texten fruumlherer Dichter zu verstehen sind So ist bei Diogenes Laertios zu lesen

bdquoNachdem Mimnermos geschrieben hatte sbquoMoumlge doch ohne Krankheiten und schwere Sorgen | den Sechzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquo soll Solon ihn zurecht-gewiesen haben mit den Worten sbquoWenn du jetzt noch auf mich houmlrst so nimm dies zuruumlck | zuumlrne nicht weil ich es besser als du ausgedacht habe | aumlndere es Li-gyastades und singe so | den Achzigjaumlhrigen das Todeslos ereilenlsquoldquo184

Aumlhnlich berichtet Clemens (T83) Theognis habe einen Solonvers gering-fuumlgig verbessert Plutarch erzaumlhlt von stoischen Umdichtungen beruumlhmter Dichterzitate185 Zeigt sich hier schon vor dem fuumlnften Jahrhundert ein Brauch bewusster Uumlbernahmen und Anspielungen die vom Publikum

_____________ 181 Hierzu s oben S 310 f 182 Vgl hierzu Stemplinger [1912] 177-185 183 Ar Nu 553 f (Eπολις microν τν MαρικEν πρτιστον παρε13λκυσεν |

κστρψας το`ς microετρους Iππας κακς κακς) der Marikas des Eupolis wurde zu den Lenaumlen 421 aufgefuumlhrt Vgl ferner Vita Homeri Her (διενο9θη [sc Θεστορ13δης] κ τltς Φωκα13ης παλλσσεσθαι τ(ν πο13ησιν θλων το Omicro9ρου ξιδισασθαι κα1 τ )πεα πιδεικν2microενος Dς Uωυτο ντα )παινν τε πολλν εXχε κα1 Fφελε5το) und aus spaumlterer Zeit z B Mart 129 38 53 72 Vitr 7 prooem 7 D L 140 Porphyr apud Eus PE 103 p 464 Gal Scrip-ta min II p 91 Muumlller Σ Pi N 21c et e Suda s v Diagoras Zu v 20 s oben S 298 f

184 D L 160 φασ1 δ᾿ ατν κα1 Mιmicroνρmicroου γρψαντος jαsup2 γρ τερ νο2σων τε κα1 ργαλων microελεδωνων | Uξηκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουa πιτιmicroντα ατg επε5ν jλλ᾿ ε_ microοι κν νν )τι πε13σεαι )ξελε τοτο | microηδ microγαιρ᾿ $τι σε λgον πεφρασmicroην | κα1 microεταπο13ησον Λιγυαστδη δε δ᾿ ειδε | ^γδωκοντατη microο5ρα κ13χοι θαντουrdquo aumlhnlich Plu Publ 245

185 Plu De aud poet 12 = 33c-d

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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erkannt werden sollten186 Es faumlllt ins Auge dass man von solchem Einge-hen des einen Dichters auf den anderen nur aus Schriftstellern erfaumlhrt die fast tausend Jahre spaumlter lebten Schon die Unwahrscheinlichkeit dass hier gerade die wenigen Dichter aufeinander Bezug nehmen die sich zufaumlllig aus der alten Zeit erhalten haben sollte zeigen dass es sich um frei erfun-dene Geschichten handelt Solon duumlrfte ebenso wenig an Mimnermos geschrieben haben wie Paulus an Seneca Gezielte Parodien finden sich am Anfang nur in Umgebungen die ihren Zweck unverkennbar machen wie zum Beispiel in der stoischen Lehre nicht aber als bloszlige Uumlbernahme von Textteilen durch einen anderen Dichter Daher lassen sich die fuumlr mehrere Verfasser bezeugten Stuumlcke der Theognidea auch nicht als Aneignung fremder Verse durch Theognis deuten187 Eine Kultur der Anspielung konnte erst entstehen als im Text gefestigte und vor allem einem be-stimmten Dichter zugeschriebene klassische Lieder allgemein bekannt waren

Das Corpus spiegelt eine Zeit wider in der der Begriff des geistigen Eigentums schon vorhanden aber noch nicht fertig ausgebildet war Letz-teres zeigt sich an den fuumlr verschiedene Dichter bezeugten Stuumlcken und anderen Hinweisen auf die Zuschreibung urspruumlnglich namenloser Ge-dichte an Theognis188 Andererseits gehoumlren v 19 ff mit der Selbstvorstel-lung und vor allem mit ihrem Bezug auf literarischen Diebstahl schon zu einem neuen Denken dass die naumlchste Erwaumlhnung des Plagiats erst aus der zweiten Haumllfte des fuumlnften Jahrhunderts stammt legt eine spaumlte Datierung des Siegelgedichts und damit auch des Theognis nahe189

sect 53 Ergebnisse

Die urspruumlngliche Rolle der Theognideischen Gedichte im Symposion kann sowohl viele ihrer inhaltlichen Besonderheiten erklaumlren als auch das Vorkommen von Varianten und von verschiedenen Verfassern zuge-schriebenen Stuumlcken Dabei war der Dichter ein gleichberechtigter Gelage-teilnehmer der sich beim Houmlren und Vortragen fremder und eigener Ge-_____________

186 So Harrison [1902] 114 Allen [1905] Highbarger [1929] 342 Allen [1934] 77 f (Dichter des 6 Jh ldquoquoted and criticised one | anotherrdquo) Burn [1960] 247 (ldquoIt was customary and good manners to quote adapt and paraphrase other menrsquos linesrdquo) mit zahlreichen Beispielen Young [1964] 313 Legon [1981] 107 dagegen Carriegravere [1948b] 44 Anm 3

187 Hierzu s oben sect 33 188 S oben sect 33 und sect 49 189 Zu Ruumlckschluumlssen aus dem Bewusstsein geistigen Eigentums auf die Rolle der

Schrift bei der Entstehung der Theognidea s oben S 318-320

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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dichte geschult und durch Geschick bei der Improvisation einen Namen gemacht hatte so dass er immer wieder seine alten und neue Werke singen musste Weder war Dichten notwendig seine Hauptbeschaumlftigung noch musste er hierfuumlr uumlber die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus reisen We-niger begabte Teilnehmer verwendeten auch Liederbuumlcher allerdings nicht wie ein Kommersbuch zum Ablesen waumlhrend des Symposions son-dern als Hilfe beim Auswendiglernen der Texte

Ob die Theognidea noch in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Entstehung schriftlich niedergelegt oder zunaumlchst uumlber laumlngere Zeit muumlnd-lich uumlberliefert wurden ist je nach ihrer Datierung unterschiedlich wahr-scheinlich Seit der ersten Haumllfte des achten Jahrhunderts v Chr breitete sich die Schrift in Griechenland aus und wurde spaumltestens seit Ende des siebten Jahrhunderts auch fuumlr Dichtung verwendet wobei allerdings die kurzen leicht einpraumlgbaren Elegien hiervon vergleichsweise spaumlt erfasst worden sein duumlrften Auch ein Nebeneinander von tragender muumlndlicher Uumlberlieferung und gelegentlicher Aufzeichnung ist moumlglich Spaumltestens mit dem Aussterben der Symposionsdichtung zu Beginn des vierten Jahr-hunderts muumlssen die Theognidea jedoch schriftlich vorgelegen haben Fuumlr die Umstaumlnde der Aufzeichnung reicht das Vergleichsmaterial nicht aus am leichtesten waumlre es jedoch mit den vorhandenen Parallelen zu verein-baren wenn nicht der Dichter selbst sondern ein anderer die Gedichte einige Zeit nach ihrer Abfassung gesammelt als Merkhilfe fuumlr den Vortrag aufgeschrieben haumltte

Fuumlr eine Deutung des Siegels in v 19 als Selbstvorstellung des Dich-ters lassen sich zahlreiche Parallelen beibringen kaum dagegen fuumlr die Erklaumlrung als Anrede des Kyrnos als echtes Siegel oder als Hinterlegung des Buches im Tempel Auch die Ansicht die die verschiedenen Verfas-sern zugeschriebenen Gedichte im Corpus als bewusste Zitate oder Ab-wandlungen durch Theognis versteht ist nicht mit zeitgenoumlssischen Bei-spielen zu belegen Das Corpus stammt aus einer Zeit in der der Begriff des geistigen Eigentums schon verbreitet aber noch nicht gefestigt war Dabei deutet die bahnbrechende Erwaumlhnung des Plagiats in v 19 ff auf ein vergleichsweise spaumltes Datum dieses Gedichts und seines Dichters

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