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1 Geistestraining, Kurs V DAS GEISTESTRAINING DES BODHISATTVA SAMANTABHADRAVON DJOWO ATISHA Unterweisungen von Lama Sönam Lhündrup im Buddhistischen Zentrum der Karma Kagyü Linie Stadtstraße 7, Freiburg 27.12. 2008 bis 1.1.2009 Dies ist eine wortgetreue Abschrift der mündlichen Unterweisungen. Herzlichen Dank an Andrea Dürkopp für das Überarbeiten des Manuskriptes! Sabine Boffin, 2009 Möge der Text viel Nutzen bringen!

Unterweisungen von Lama Sönam Lhündrup · uns Kummer bereitet, was uns manchmal unzufrieden sein lässt. Auch all die Traumata der Vergan-4 genheit und der Kindheit, ... Und Guru

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Geistestraining, Kurs V

„DAS GEISTESTRAINING

DES BODHISATTVA SAMANTABHADRA“

VON DJOWO ATISHA

Unterweisungen von

Lama Sönam Lhündrup

im Buddhistischen Zentrum der Karma Kagyü Linie

Stadtstraße 7, Freiburg

27.12. 2008 bis 1.1.2009

Dies ist eine wortgetreue Abschrift der mündlichen Unterweisungen. Herzlichen Dank an Andrea Dürkopp für das Überarbeiten des Manuskriptes!

Sabine Boffin, 2009

Möge der Text viel Nutzen bringen!

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Herzlich Willkommen! Bevor wir mit den Unterweisungen beginnen, lasst uns den Geist auf das ausrichten, was uns beson-ders wichtig ist: jetzt, in diesem Leben und auch über dieses Leben hinaus. Welche Richtung möchten wir unserem Geistesstrom geben? Buddhisten benutzen dafür immer das Wort Zuflucht – das bedeutet eigentlich: eine sichere Richtung einschlagen. Wo ist eigentlich meine Richtung im Leben? Was ist meine sichere Richtung, da wo ich Vertrauen habe, nicht in die Irre zu gehen; das, worauf ich meine Kräfte ausrichten möchte. Das ist Zuflucht. Das, worauf ich meine Kräfte im Leben ausrichte. Und vielleicht nicht nur für dieses Leben, vielleicht auch über den Tod hinaus in zukünftigen Leben. --- Kontemplation --- Da gibt es oberflächlichere Impulse, und dann gibt es tiefer liegende Impulse. Jetzt im Moment geht es um diese tiefer liegenden. --- kurze Kontemplation --- Wie hängen diese tiefer liegenden Impulse mit dem zusammen, was für mich im Leben wichtig ist? Ist es genau das, was mir wichtig ist – oder würde ich das vielleicht anders nennen? Was ist mir wichtig im Leben? --- kurze Kontemplation --- Welche Qualitäten sind es, die vielleicht durch die Begegnungen in der nächsten Woche genährt wer-den? Was wünsche ich mir für diese mir sehr wichtigen Qualitäten? --- kurze Kontemplation --- Wenn ich mir vorstelle, mich daran erinnere, dass ich eines Tages mal sterbe, was wünsche ich mir im Hinblick auf diese Qualitäten? Gibt es da ein inneres Bild, mit dem ich mich verbinden kann, wie das sich anfühlen würde, ausschauen würde, diese Qualitäten freigesetzt zu haben? --- kurze Kontemplati-on --- Sind es auch diese Qualitäten, von denen ich mir wünsche, dass sie mich durch den Tod hindurch be-gleiten? Oder wird da etwas anderes noch wichtiger? --- kurze Kontemplation --- Das innere Gefühl, die Ahnung, ja das Bild von dem, was mir da im Hinblick auf das ganze Leben und auf den Tod am wichtigsten ist, das nennt man die eigene Zuflucht – oder den Sinn des Lebens, das, worauf ich meine Energie ausrichten möchte. --- Habe ich das Gefühl, dass ich bereit bin, etwas zu geben für die Verwirklichung dieses Lebenszieles? Bin ich bereit, mich dafür einzusetzen, das zu verwirklichen? An mir zu arbeiten? Mich anderen zu öffnen und vielleicht mit ihnen zusammen unsere Energie in diese Richtung zu lenken? --- Ist dies das Wichtigste in meinem Leben oder gibt es irgendetwas, das mir noch wichtiger ist? Etwas, was die erste Priorität wäre - oder kann ich sagen: Das ist mir das Allerwichtigste. Das ist meine erste Priorität im Leben. --- Jetzt lasst uns diese kleine Kontemplation beenden mit dem Wunsch, dass die kommenden Tage dazu beitragen mögen, diesen Lebenssinn zu verwirklichen, beizutragen, dass auch alle anderen im Raum ihren Lebenssinn verwirklichen können. Und alle anderen, die mit uns verbunden sind. In aller Welt. --- Ganz herzlichen Dank für die Kontemplation. Wenn wir in buddhistischer Praxis Zuflucht nehmen, dann lautet das etwa so: Möge ich bis zum Ver-wirklichen der Buddhaschaft – oder: Bis zum Verwirklichen des Großen Erwachens nehme ich Zu-flucht zu Buddha, Dharma und Sangha. Das sagt man so schnell. Das geht so ruckzuck. Und ist bei vielen von uns auch schon zur Routine geworden. Genau diese Routine möchte ich gerne etwas aufrüt-teln. Es ist viel wichtiger, dass wir uns jeden Tag auf das besinnen, was uns am Wichtigsten im Leben ist. Denn das ist die eigentliche Zuflucht.

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Wenn wir den Tag damit beginnen könnten und abschließen könnten, uns diese selben Fragen zu stel-len, und die immer weiter zu vertiefen – also ganz tief innerlich Kontakt damit aufzunehmen, was mein roter Faden ist, was meine Lebensschnur ist, wo es für mich langgeht, was meine Richtschnur ist - dann hat das ungeheure Auswirkungen auf das, was wir am Tag tun. Es wird auf diese Weise im Unterbewusstsein weiter wirken, den ganzen Tag über. Und auch in der Nacht, in den Träumen, wirkt diese innere Ausrichtung weiter. Das nennt man Zuflucht nehmen. Und wenn man das übersetzt, wo hinein wir da eigentlich Zuflucht nehmen: Buddha ist der Erwachte und steht eigentlich für das Erwachen selbst, für bodhi. Aber, eben, was das Erwachen ist, das muss jeder für sich selbst definieren und herausfinden. Und dann umsetzen. Dharma bedeutet die Wahrheit. Aber was dann die Wahrheit ist, die Wahrheit, die befreit, auch das müssen wir herausfinden. Dazu gibt es dann Erklärungen, es gibt Texte, es gibt inspirierenden Aus-tausch – aber letzten Endes muss die Wahrheit von innen her erfahren werden. Dann erst wird sie zur richtigen Zuflucht. Vorher ist es mehr eine äußere Zuflucht. Was wir die Sangha nennen, das ist die Gemeinschaft. Das sind all diejenigen, die uns helfen auf dem Weg – und im Grunde genommen ist das mitfühlendes Handeln. Dass wir alle, denen wir begegnen, unterstützen, und uns unterstützen lassen von anderen, die den Weg tatsächlich auch besser kennen als wir selbst. Das ist Buddha – Dharma – Sangha. Zu Beginn dieses Kurses finde ich es durchaus ausreichend, nicht nur ausreichend, ich finde es viel tiefer, dass jeder sich jetzt innerlich da so verbunden hat, als dass wir eine Formel sprechen. Die For-mel könnte man zusätzlich noch sprechen, aber sie bringt nichts Zusätzliches. Sie erinnert uns nur daran, was wir in solchen inneren Meditationen viel direkter erfahren können. Der zweite Teil dessen, was wir in der Zufluchtsformel unserer Linie sagen, heißt übersetzt: Durch die Praxis der Qualitäten von Freigebigkeit und dergleichen, damit sind die anderen befreienden Qualitä-ten gemeint, möge ich Buddhaschaft, das große Erwachen, verwirklichen. Das ist eine Verpflichtung. Es erscheint mir sehr wichtig, dass wir in unserem Geist diese Verpflichtung für unseren eigenen Le-benssinn verankern. Wenn unser Lebenssinn nur ein Ideal bleibt, etwas, woran wir uns in Sternstunden erinnern, aber nicht konkret umsetzen, dann hat es natürlich nicht diese transformierende Wirkung. Deswegen folgt immer auf das Nehmen der Zuflucht das Entwickeln einer Geisteshaltung, wo wir uns drauf einlassen. Das war die Frage, als ich euch fragte in dem Moment, was bin ich bereit, dafür zu geben? Bin ich bereit, mich darauf einzulassen? Denn – irgendwo muss ich ja anderes loslassen, wenn ich mich um eine erste Priorität kümmern möchte, dann muss ich ja nachgeordnete Prioritäten zurückstellen. Da finden Entscheidungen statt! Und ich muss mir klar werden über diese Entscheidungen, sie werden mir helfen, mein Leben klar zu kriegen. Wenn die Entscheidungen nicht klar getroffen sind, dann bleibt das Leben unklar. Es bleibt so ein Navigieren, mal so, mal so, und man kriegt keine klare Linie rein. Also zwei Dinge sind wichtig: sich klar zu werden darüber, was mir tatsächlich wichtig ist, und, was ich bereit bin, dafür zu tun, dass es Wirklichkeit wird. Das sind die beiden wesentlichen Dinge im Leben. Was ich jetzt nicht machen werde, ich werde Euch jetzt nicht fragen, was Ihr Euch vorgestellt habt. Obwohl wir wahrscheinlich ganz nahe beieinander liegen – aber das ist Privatsache. Eigentlich ist es für jeden – es ist das Allerzentralste im Leben, herauszufinden, was ist mein Lebenssinn. Und es ist auch wichtig, dass jeder das auf seine Art und Weise formuliert und im Innersten trägt und manchmal, wenn die Situation richtig erscheint, dies auch anderen mitteilt. Das sind so die tiefsten inneren An-triebe. Und diese Antriebe sind stärker als alles andere, was uns in Verwirrung hineinführt oder was uns Kummer bereitet, was uns manchmal unzufrieden sein lässt. Auch all die Traumata der Vergan-

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genheit und der Kindheit, all das kann durch das Finden dieses inneren Motors überwunden werden. All das kann aufgelöst werden, wenn wir diesen inneren Motor schön aktiv halten. Daraus entwickelt sich sehr viel an Kraft und Freude – und damit wären wir auch schon beim Thema dessen, was vor uns liegt. In den buddhistischen Texten heißt es, Menschen, die sich ihrer Zuflucht nicht bewusst sind, werden vom Wind des Karmas herumgetrieben wie Blätter im Sturm. Wir brauchen eine Verankerung, einen Anker; das ist jetzt kein Rückwärts-Anker, sondern ein Vorwärts-Anker. Was wir beim Zufluchtneh-men machen ist Folgendes: wir versuchen, durch die innere Ahnung, durch das innere Bild, was ent-steht, unsere Ausrichtung in das Reinste und Inspirierendste zu nehmen, was uns möglich ist, was wir uns vorstellen können, und uns immer wieder darauf zu besinnen. Das ist ein Vorwärts-Anker, wo wir uns im Laufe des Lebens immer näher in diese Richtung begeben, bis wir merken, dass die Zuflucht eigentlich bereits in uns ist, dass wir uns nirgends hinbegeben müssen, sondern sie nur in uns freizule-gen haben. Das gibt einem Leben große Stabilität, selbst wenn da die Situationen um uns herum ganz schwierig werden – wer diesen inneren Anker hat, diese innere Ausrichtung, der kann da durchsteuern, während alle anderen unglaublich ins Schleudern kommen. Ich glaube, wir sind jetzt im – bitte sagt es mir – fünften oder sechsten Jahr des Lodjong, weiß es je-mand? Fünftes Jahr in Folge, dass wir zum Thema Geistestraining uns treffen, Lodjong auf tibetisch. Im Geistestraining geht es darum, mit dem eigenen Geist zu üben, so dass wir unseren Lebenssinn verwirklichen. Das ist Geistestraining. Dieser Lebenssinn wird mal für alle beschrieben mit „Erwachen“, bodhi auf Sanskrit. Das muss ich doch noch mal fragen: Kann jeder in dem Begriff „Erwachen“ seinen Lebenssinn wieder finden? Oder gibt es da etwas, das nicht beinhaltet ist. Wir haben vielleicht an Qualitäten gedacht wie Liebe, wie Vertrauen, wie Mitgefühl, wie Freundschaft, Gerechtigkeit ... In meinem inneren Erleben umfasst der Begriff Erwachen all das. Ganz wach zu werden, ganz frei zu werden im Herzen, wie ein Buddha – aber wir haben Buddha ja nicht getroffen, vermutlich, wir wissen nicht genau, wie sich das anfühlt. Geistestraining ist, den eigenen Geist darin zu üben, die Quellen des Leidens loszulassen, aufzulösen, und die Ursachen von Glück, Freude, Erwachen zu kultivieren, frei zu setzen. Das ist Geistestraining. Und das machen wir alle schon! So gut wir können. Das machen wir zumindest seit dem Zeitpunkt, wo wir uns spirituell auf die Suche gemacht haben bzw. von dem Moment an, wo wir vielleicht schon im Kindesalter gemerkt haben: Das ist mir wichtig, daran möchte ich arbeiten, wo wir gemerkt haben: Ich werd ja so leicht zornig, ich möchte etwas mehr Geduld entwickeln, ich möchte mich mehr ande-ren gegenüber öffnen, ich möchte mehr Liebe erfahren und geben können – damit beginnt schon das Geistestraining. Das Geistestraining im Mahayana Buddhismus, also im Buddhismus des Großen Fahrzeugs, auch nördlicher Buddhismus genannt, diese Form des Geistestrainings ist das Geistestraining der Bodhisatt-vas, derer, die sich darauf einlassen, über das eigene Erwachen hinaus auch für das Erwachen aller Wesen, aller fühlenden Wesen, zu arbeiten. Diese Geisteshaltung findet sich auch im südlichen Bud-dhismus, wird dort aber etwas weniger betont. Im nördlichen Buddhismus nennt man das die Praxis der Bodhisattvas. Ein Bodhisattva ist jemand, der bereit ist, sogar immer wieder zu kommen, ein Le-ben ums andere wieder zu kommen, obwohl es mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, und sich für andere einzusetzen. Jetzt haben wir hier vor uns einen Text liegen, der heißt: „Das Geistestraining des Bodhisattvas Sa-mantabhadra“. Das ist nicht etwa ein ganz neues Geistestraining, das Ihr noch nicht kennt aus den letzten Jahren, sondern noch mal ein anderer Blickwinkel. Er eröffnet uns eine neue Schau des Geis-testrainings, mit dem wir uns in den letzten Jahren befasst haben. Samantabhadra ist einer von den acht ganz großen Bodhisattvas, auf die häufig Bezug genommen wird, und hier wird auf ihn Bezug genommen, weil seine Wünsche oder das, was man seinen Lebens-

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sinn nennen könnte, so gewaltig und so umfassend ist, dass wir alle davon lernen können. So wie er seine innere Ausrichtung formuliert hat und offenbar auch gelebt hat oder noch lebt, das kann uns eine tiefe Stimulation sein. Dieser Text beginnt mit: „GURU MAITRI NAMO“. Namo heißt: Ich verbeuge mich. Oder Verehrung. Maitri heißt Liebe. Und Guru kennt ihr, das heißt der Meister. Ich verbeuge mich vor dem Meister, der Liebe. Ich verbeuge mich vor der Liebe als Guru, als Meister. Damit wird die zentrale Qualität des Weges zum Erwachen direkt als Guru, als Meister angerufen. Es ist die Liebe, die eine Einheit bildet mit Weisheit. Es ist die Liebe der Erwachten oder des Erwachens. Das ist nicht ganz so von ungefähr, dass diese Anrufung da steht, weil sie hat nicht nur diesen tiefen, unsere Herzen berührenden Sinn, sondern hat auch den Sinn, den „Guru Maitri Yogin“ anzurufen, einen der drei großen Lehrer von Atisha. Atisha, der Begründer des Lodjong, so wie wir das heute kennen, hatte drei wichtige Lehrer, und einer von ihnen war der „Yogin der Liebe“, Maitri Yogin. Dieser Text, dem wir uns jetzt öffnen, geht zurück auf Atisha. Atisha hat diesen Text bzw. die mündli-chen Erklärungen von Maitri Yogin bekommen, und von dem geht die Linie zurück bis zu Shantideva. Von dem habt Ihr sicherlich auch schon mal gehört: der dieses berühmte Werk Bodhicaryavatara ge-schrieben hat, Eintritt in den Pfad der Bodhisattvas oder der Erwachten. Und von ihm zurück bis auf Nagarjuna, von dem Ihr vielleicht auch schon gehört habt: im zweiten Jahrhundert nach Christus ein ganz großer Meister, der sehr entscheidend war für die Entstehung dessen, was wir heute Großes Fahr-zeug nennen. Und von ihm geht die Lehre zurück auf Manjushri, den Bodhisattva Manjushri. Von dort heißt es, Manjushri hätte das von Buddha Shakyamuni erhalten. Also wenn wir Guru Maitri Namo sagen, dann ist das die Anrufung der Liebe, die all diese Meister beseelt hat, aber eben auch eine Anrufung von einem der drei Meister, von denen Atisha viele mündli-che Erklärungen bekommen hat. Der Text geht weiter mit: „Der Meister sagte: „Alle Phänomene sind der eigene Geist. Damit sind sie völlig erfasst und so sollte man sie praktizieren.“ Wir wissen nicht, von welchem Meister da die Rede ist, denn aufgeschrieben wurde dieser Text im 14. Jahrhundert. Atisha hat im 10./11.Jahrhundet gelebt, und vermutlich ist damit gemeint, dass die Über-tragungslinie dieser Meister die Dinge immer so erklärt hat. Und zwar ist das, was hier jetzt als erster Satz steht, die Zusammenfassung eines Ansatzes im Geistestraining, der der „Ansatz der tiefgründigen Sichtweise“ genannt wird. Es gibt zwei Ansätze: es gibt außerdem noch den „Ansatz des weiten oder umfassenden Verhaltens“. Hier folgen wir dem Ansatz der tiefgründigen Sichtweise. Es sind zwei Übertragungsströme mündli-cher Unterweisungen, die zu uns gekommen sind, in denen die Vorgehensweise leicht unterschiedlich ist. Bisher habe ich Euch meistens aus dem Ansatz des weiten Verhaltens unterrichtet, des umfassenden Verhaltens. In diesem Ansatz des weiten Verhaltens ist das Entwickeln der erwachten Geisteshaltung verbunden mit Kontemplationen, die davon ausgehen, zunächst einmal das Leid im eigenen Geist zu betrachten, dann das Leid aller Wesen drum herum zu betrachten; sich dann klar zu werden, dass es unzählige Lebewesen gibt; dass es Lebewesen gibt überall, wo es Raum gibt, dass also aller Raum von Lebewesen gefüllt ist; all diese Lebewesen ähnliches Leid erfahren wie ich selbst, dass sie dieses Leid erfahren aufgrund von ihrem Denken, ihrem Verhalten, aufgrund von Karma, das nennen wir so, auf-grund ihres Wirkens – das ist die Übersetzung von Karma – und dass sie genau wie ich selbst nach Glück streben, genauso wie ich selbst Leid vermeiden möchten; dass wir zudem eine innige Bezie-hung haben: nicht nur zutiefst gleich sind in unserem Streben nach Glück und Vermeiden wollen von Leid, sondern dass wir mit ihnen verbunden sind so als wären sie unsere eigenen Eltern; dass wir unse-re Wege eigentlich gar nicht voneinander trennen können, weil das Glück und Leid des einen Auswir-kungen auf das Glück und Leid des anderen hat. Wir haben schon viele Leben gelebt. Wir wissen gar

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nicht genau, wer da alles schon unser Vater, unsere Mutter war. Und wir gehen den Weg der Kon-templation so weit, bis wir dank des Kontemplierens über das Leid der eigenen Mutter, des eigenen Vaters, von uns selbst, dies dann ausdehnen können auf die unzähligen fühlenden Wesen. Und für jedes dieser Wesen setzen wir uns ein. So gut wir können. Immer gerade natürlich mit dem, dem wir begegnen. Die, die uns begegnen, mit denen wir einen direkten Kontakt haben, darum kümmern wir uns als erstes – und dehnen das zugleich immer aus auf alle anderen. Das wird der „Ansatz des weiten Verhaltens“ genannt, des umfassenden Verhaltens. Die, die schon an anderen Kursen teilgenommen haben: ihr habt wahrscheinlich einige der Gedanken-gänge erkannt, die wir uns in den letzten Jahren angeschaut haben. Der „Ansatz der tiefgründigen Sichtweise“, der dieses Jahr im Vordergrund stehen wird, geht einen anderen Weg. Kommt zum selben Ziel, auch dem Entwickeln von Bodhicitta, dem Geist des Erwa-chens, dieser starken Energie, sich für alle Lebewesen ohne Unterschied einzusetzen, beginnt aber statt über das Mitgefühl mit Weisheit. Beginnt damit, sich klar zu machen, dass alles, was geschieht, im eigenen Geist geschieht. Alles, was wir jetzt erfahren, alles, was ich bis jetzt gesagt habe, alles habt ihr aufgenommen durch den Geist. Ob euch das gefällt oder nicht gefällt: alle Gefühle, die jetzt in der Zwischenzeit stattgefunden haben, finden im eigenen Geist statt, ob Leid, ob Glück – alles findet im eigenen Geist statt. Das ist gemeint hier: Alle Phänomene, alle Erfahrungen sind der eigene Geist. Wenn man da genauer hineinschaut, in diese Erfahrungen, wird einem klar, dass sie keine Substanz haben, dass sie nichts Festes haben, keinen Wesenskern, dass eine Erfahrung immer so bleiben müsste. Eine angenehme Erfahrung löst sich wieder auf – und es kommt eine neue Erfahrung. Entweder wie-der eine angenehme oder eine unangenehme, es ist nichts, was diese Erfahrung bleibend machen wür-de. Eine unangenehme Erfahrung, so stark wie sie sein mag, hat ebenfalls nichts Substantielles. Wenn wir hineinschauen, egal in was für eine Erfahrung, wenn wir es schaffen, in den einzelnen Gedanken hinein zu schauen, entdecken wir immer wieder nur die große Offenheit. Wir entdecken, dass es da nichts zu greifen gibt, nichts zu entdecken gibt. Das nennt man die Leerheit, die Abwesenheit eines Wesenskerns, eines individuellen Wesenskerns der einzelnen Gedanken, kein Wesenskern einer Person, kein Wesenskern in den einzelnen Objekten, die uns umgeben – alles ist im Wandel. Schneller oder langsamer. Nichts bleibt ewig so wie es ist, schon gar nicht ein Mensch. Und schon gar nicht der Geist eines Menschen. Da sind grundlegende Muster, aber diese Muster sind auch nichts Stabiles, die sind Muster einer Bewegung. Wir sind in Bewegung. Wir nennen das einen Geistesstrom. In diesem Geistesstrom kommt es ständig zu Verfestigungen. Ständig kommt es dazu, dass wir verge-genständlichen, und die Form des Vergegenständlichens, die uns am meisten Leid verursacht, ist zu sagen: ICH! Ich, der ich getrennt bin von Dir. Ich und die Welt. Ich will. Und: Ich will nicht. Dieses starke Betonen eines Ichs und zu meinen, es wäre wirklich; nicht damit in Kontakt zu bleiben, dass das, was ich ein ICH nenne, ein Wesensstrom ist, und zu meinen, das wäre etwas Solides: daraus ent-steht eine große Spannung. Wir geraten in Spannung mit der Welt, weil wir nicht mehr im Fluss sind. Wir sagen: Lhündrup. Wenn ich hier jetzt als Lhündrup angegriffen werde, ja, dann habe ich diesen Lhündrup zu verteidigen. Wieso eigentlich? Wo ist er denn? Wo sonst ist er denn als nur in meinen Vorstellungen? Ich verteidige Vorstellungen. Und genauso, wenn da jemand diesen Lhündrup liebt, wen liebt er da eigentlich? Vermutlich doch eher seine eigenen Vorstellungen. Wenn ich es schaffe, dieses vermeintliche Ich, in Fluss zu kommen und in Fluss zu bleiben, und der andere es ebenfalls schafft, in Fluss zu kommen, haben wir eine Chance, uns zu finden. Das ist, was mit Erwachen gemeint ist: in Fluss zu sein, in Fluss zu kommen, und nicht so zu verge-genständlichen, weil daraus entsteht jede Menge Spannung. Dies zu verstehen, dass alles Leid, alle Spannung aus dem Nicht-Erkennen stammt, aus dem Nicht-Gewahrsein dessen was ist, was wir dann

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die Leerheit nennen und die Abwesenheit des Wesenskerns – das ist der Startpunkt des Ansatzes der tiefgründigen Sichtweise. Damit beginnt alles. Also ein Einstieg von der letztendlichen Wirklichkeit her. Wir nehmen den Einstieg über ein ganz tiefes Verständnis, wo uns dann klar wird: Tatsächlich, diesen Fehler, den ich bei mir in meinem Geist entdecken kann, Nicht-Gegenständliches zu vergegenständlichen, das machen alle! Deswegen gibt es so viel Leid auf der Welt! Und deswegen sind wir nicht erwacht! Dann komme ich folgerichtig dazu zu sagen: Dann lasst uns doch daran arbeiten aufzuwachen, allen zu helfen, dieses Missverständnis zu beseitigen und damit auszusteigen aus dem Hamsterrad, immer dieselben leidbringenden Tendenzen zu pflegen. Das ist die folgerichtige Kette tiefen Kontemplierens für die, die den Einstieg von der letztendlichen Seite nehmen. Wenn man von der relativen Seite, man kann auch sagen vom Mitgefühl her, den Einstieg machen möchte, dann kontempliert man direkt alles Leid, das erfahrbar ist: in mir selbst, in anderen, dass so-wohl ich wie auch andere uns eigentlich etwas anderes gewünscht hätten in diesem Leben; dass wir auch für andere das wünschen, dass wir ein enges Band miteinander haben, und alle gleichermaßen glücklich sein wollen. Und dann analysieren wir tiefer: Was ist denn das, was wäre denn eigentlich frei sein von Leid, was wäre denn eigentlich Glück? Dann kommen wir über das Einstiegstor des Mit-gefühls zu einem tieferen und tieferen Verständnis, was eigentlich glücklich macht – bis wir auch bei der Erkenntnis anlangen, dass das, was wirklich glücklich macht, ist, wenn wir frei von Ichbezogen-heit sind. So gehen wir den Weg über das Mitgefühl und gelangen zur Weisheit – und bei dem anderen Ansatz gehen wir den Weg über die Weisheit und gelangen zum Mitgefühl. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Konnten alle folgen – oder gibt’s dazu Nachfragen, bevor ich weitergehe? Okay, diese Woche wollen wir uns mit einem Text befassen, der diesem Ansatz der tiefgründigen Sichtweise folgt. Ihr könnt jetzt, glaube ich, auch verstehen, warum diese beiden Ansätze etwas ge-trennt gehalten werden. Denn – während man dabei ist, das eine zu erklären, kann man nicht einfach rüberspringen und quasi Thema wechseln und das andere erklären. Man muss eine gewisse Konse-quenz beibehalten. Entweder beginnen wir mit Mitgefühl und entwickeln daraus unsere spirituelle Praxis, oder wir ma-chen den Einstieg über tiefes Seinsverständnis und entwickeln unsere spirituelle Praxis von dort aus. Wenn ihr euch nachher vielleicht mal unterhaltet, dann könntet ihr vielleicht feststellen, dass es hier im Raum einige gibt, die den zweiten Ansatz vorziehen, der spricht sie tiefer an, und andere spricht der erste Ansatz tiefer an. Veranlagungen spielen da auch eine Rolle, wem man was wie erklärt. Des-wegen gibt es auch immer verschiedene Ansätze, weil es bestimmten Leuten halt einfach besser geht, wenn sie die Dinge so angehen. Deswegen möchte ich euch auch den anderen Ansatz vorstellen. Nochmal zurück zu dem ersten Satz hier: „Alle Phänomene sind der eigene Geist. Damit sind sie völlig erfasst und so sollte man sie prakti-zieren.“ Wenn es heißt: „Damit sind sie völlig erfasst“, dann ist damit gemeint: darüber hinaus gibt es eigent-lich gar nichts zu sagen. Du sagst mir: Du bist nicht zufrieden? – es ist der eigene Geist. Du sagst mir: Du bist glücklich? – Es ist der eigene Geist. Du sagst mir: Du willst Erwachen erlangen? – Es ist der eigene Geist! Wo hat der Buddha seine Buddhaschaft verwirklicht? – Im eigenen Geist! Wo sind die Höllenbereiche? – Im eigenen Geist!

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Das ist damit gemeint. In diesem einen Satz – dieser Satz bedeutet: Du hast keine Ausrede. Wie du dich auch wendest und drehst, du kannst nicht behaupten, dass Leid und Glück von außerhalb kämen, von außerhalb des eigenen Geistes. Das war uns vielleicht nicht so klar, als wir den Satz so gelesen haben, dass das eigentlich ein Trompetenstoß ist, der dir sagt: Herzlich willkommen, die Türen sind geschlossen – also hinter dir, du kannst nicht mehr raus! Wenn du jetzt dich noch beklagst, sei dir bewusst, es ist der eigene Geist. Herzlich willkommen im Geistestraining. Denn nur das wird dir hel-fen. Gehe besser um mit deinem eigenen Geist. Nur das ist die Lösung, um glücklicher zu werden und weniger Leid zu erfahren. Deswegen der dritte Teil dieser Aussage „und so sollte man sie praktizieren“: bedeutet, wenn ich heute Abend nach Hause komme und mir passt irgendwas nicht: aha, der eigene Geist. Mein Freund, meine Freundin, meine Familie nervt mich: Hmm, ja, es ist der eigene Geist. Jemand ist ganz lieb zu mir, ich schwebe auf rosa Wolken, nicht zu denken, es käme von außerhalb: der eigene Geist. Ja? Also, alles nach Hause holen, da wo es hin gehört. Nicht zu meinen, es käme von außen, sondern bei sich zu schauen. Da darf man dann ruhig auch mal hinterfragen: Wo findet die Finanzkrise eigentlich statt? Ihr habt noch gar keine gemerkt? Eben, alle reden drüber, und bei einigen kommt sie schon an. Im eigenen Geist. Ja? Zeitungen sind keine Faktenzusammenstellungen, sondern Berichte darüber, was im Geist von Leuten stattfindet. Was wir dann lesen in der Zeitung, findet in unserem eigenen Geist statt. Das ist eine etwas verrückte Sichtweise der Welt. Ja, es ist ein bisschen anders als das, was wir so gewohnt sind, aber dieser Ansatz ermöglicht uns, mit allem zu arbeiten. Denn das, von dem wir an-nehmen können, es wäre vielleicht nicht im eigenen Geist, damit können wir sowieso nicht arbeiten. Wir können immer nur im eigenen Geist mit den Dingen umgehen. Nirgendwo sonst. Macht das Sinn? Gibt es hier jemanden, der jetzt hier zum Beispiel mir gerne einen Widerspruch sagen würde? Ja? Frage: Was ist jetzt der eigene Geist? Lhündrup: Das ist eine gute Frage! Was ist der eigene Geist, hat sie gefragt. Frage: Also, der ist ja eigentlich auch nur eine Zusammensetzung all dessen, was stattfindet. Lhündrup: Sehr gut. Vielleicht sollten wir von jetzt ab einfach sagen, das eigene Erleben, die eigene Wahrnehmung – denn was Geist ist, lässt sich auch nicht erfassen! Der Geist lässt sich nicht greifen! Das ist dir wahrscheinlich aufgefallen – denn der Geist als solches ist auch nur ein Konzept. Frage: Vor allem eines, was ich eigentlich, in dem Moment, wo ich’s sage, definiere ich was, was gar nicht-, was noch gar keine – was sich nicht aus sich selbst definieren kann. Lhündrup: Muss ich das wiederholen oder konntet ihr alle verstehen? Frage: Also für mich wäre es so, dass der Geist – ich sage Geist, aber es ist ja etwas, was sich aus sich selbst definieren müsste, und das funktioniert ja nicht, also – wo ist da die Grenze? Lhündrup: Genau, man kann den Geist ja nicht aus sich selbst heraus definieren. Also irgendwie ist es sehr schwer, irgendetwas über den Geist zu sagen, weil es ja der Geist selbst ist, der etwas sagt. Wir haben mit diesem Phänomen, was wir da Geist nennen – was haben wir da eigentlich an der Hand? Wir haben Wahrnehmungen: das beinhaltet Empfindungen, das sind Gedanken, alles was man Erfah-rung nennt, Geistesmomente hier und da, auftauchende Regungen... jede Menge Zeug. Bewusstsein... Es gibt nichts im Leben, das nicht dazu gehört. All das, an was wir uns erinnern können, wo hat das stattgefunden? In diesem ominösen Geist, den niemand finden kann.

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Die Mahamudra Meister, wie zum Beispiel der 3. Karmapa, Rangjung Dordje, sagen: Man kann vom Geist nicht behaupten, er existiere nicht, denn er ist die Basis von Samsara und Nirwana, das heißt: sowohl von leidgeprägter Erfahrung als auch von völliger Freiheit und Frieden ist der Geist die Grund-lage, das, worin es stattfindet. Aber – das Zitat geht weiter – man kann auch nicht behaupten, der Geist existiere, denn selbst die Buddhas haben ihn noch nie gesehen. Das ist dann so eine typische asiatische Logik, wenn selbst die Buddhas den Geist nicht sehen können, wo soll er dann sein? Was gemeint ist damit ist, das niemand den Geist je als ein Etwas gesehen hätte. Er lässt sich nicht zeigen, man kann nicht auf ihn deuten, wo soll ich denn hin deuten? Er ist nicht fassbar, und doch wissen wir genau, dass alles, was zwischen uns stattfindet, Ausdruck diese Geistes ist. Mit diesem subtilen Verständnis, was du uns jetzt noch ermöglicht hast, können wir dann sagen: Alle Phänomene sind der eigene Geist, wobei wir wissen, dass das kein Ding ist. Sondern es sind eigene Wahrnehmungen, sind Erfahrungen, sind Bewusstsein, sind was auch immer das am besten beschreibt. Wir sprechen von acht Arten von Geist, von Bewusstsein – all das ist gemeint damit. Dieser Satz ist der Fanfarenton, mit dem der Text beginnt. Dieser Text war zunächst, wie ich sagte, eine nur mündliche Unterweisung. Sie wurde im kleinen Kreis weiter gegeben und erst im 14. Jahr-hundert aufgeschrieben. Bis dahin wurden diese Unterweisungen sozusagen geheim gehalten. „Die Linie mündlicher Übertragung ist der Weg der (Hingabe zum) Meister. Sei dir deshalb bewusst, dass alle Verehrungswürdigen in den drei Zeiten in ihrer wahren Natur das illusorische Spiel des Meisters sind, und übe Geistestraining, indem du den Meistern Verbeugungen sowie äußere, innere und geheime Opferungen darbringst und Gebete sprichst. Gib dich den Meistern in die Hand und praktiziere (alle ihre Unterweisungen) angefangen von der Vergänglichkeit bis hin zur letztendlichen Wirklichkeit.“ Hier in diesem Absatz wird sehr viel kondensiert zusammengefasst, eine ganze Serie von Instruktio-nen, die jetzt nur kurz erwähnt werden, ohne ausgeführt zu werden. Die Linie mündlicher Übertragun-gen im tibetischen Text heißt Kagyü. Es ist aber nicht die Kagyü-Linie, die jetzt hier zum Beispiel in diesem Haus lebt und deren Oberhaupt der Karmapa ist, sondern es ist die „gyü“ Linie der „ka“, der direkten Unterweisungen des Buddhas, und war ein anderer Name für die Erneuerungsbewegung, die Atisha in Tibet im 10. /11. Jahrhundert ausgelöst hat, zurück zu den ursprünglichen Lehren Buddhas oder zu den ursprünglichen Lehren der authentischen Meister. Ka war die authentische Unterweisung eines Buddhas. Und gyü bedeutet Übertragung. Wenn man diesen Weg authentischer Übertragung geht, dann ist das der Weg des Gurus, der Weg des Meisters. Wobei damit gemeint ist, dass man die eigenen persönlichen Interpretationen zurückstellt und ganz sauber hinhört, was einem tatsächlich von den erwachten Meistern erklärt wird. Das ist mit Hingabe gemeint, sich ganz öffnen zu können, so als würde Buddha Shakyamuni oder ein ähnlicher erwachter Meister oder eine Meisterin vor uns sitzen. Deswegen geht es auch im nächsten Satz gleich so weiter: Alle Verehrungswürdigen in den drei Zei-ten, damit sind die erwachten Meister in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeint, sind in ihrer wahren Natur – wenn man mal die äußere Erscheinung weglässt – was sind sie eigentlich wirklich? Sind das illusorische Spiel des Meisters. Mit Meister wurde oben schon Maitri benannt, die Liebe. Alle Erwachten sind die verschiedenen Ma-nifestationen des Spiels der Liebe, die von Weisheit durchdrungen ist. Das ist der eigentliche letztend-liche Guru. Das ist der eigentliche Meister. Wie die dann heißen, äußerlich, welche Namen die haben, welche Aktivitäten die haben, durch welche Form das jetzt zu uns kommt, ist nicht so erheblich. Es ist aber sehr wichtig für uns als Praktizierende, weil wir ja nur diesen Zugang haben. Jetzt gerade heute zum Beispiel sitze ich hier und erkläre euch den Dharma. Ein paar Wochen später wird es jemand anders sein. Ihr könnt auch woanders hingehen,

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da gibt es andere. Aber immer ist es so: diejenigen, die in einer solchen Übertragungslinie stehen, die können uns diese Übertragungslinie weitergeben und sind im Moment für uns so, als würden die er-wachten Meister selbst vor uns sitzen. Das ist damit gemeint, dass wir uns daran erinnern sollten, dass all das Ausdruck dieses Stromes von Liebe und Weisheit ist, der zu uns kommt. In illusorischen Manifestationen – weil was auch immer wir zum Beispiel im Karmapa an äußerer Erscheinung wahrnehmen, es ist doch nur das Zusammen-kommen von Elementen, also ein paar menschliche Zellen, die eine gewisse Farbe haben und eine gewisse Ausstrahlung – aber das, was das Erwachen selbst ist, lässt sich nicht fassen. Das nennt man illusorisches Spiel, weil es sich ständig verändert, wie ein Traum. Aber diese Meister sind unglaublich wichtig, weil sie den Strom der Übertragung aufrechterhalten. Wenn es der Fall wäre, dass dieses Wissen nicht von Generation zu Generation weitergegeben würde, also wenn die Heiligen, die Erwachten wie Sternschnuppen verblassen und nichts hinterlassen können, keine weiteren Generationen haben, die das weitertragen, dann ist dieser Schatz erst mal für uns verlo-ren. Das nennt man eine Linie, wenn Lehrer es schaffen, dass es Schüler gibt, die das vollkommen ver-wirklicht haben, was der Meister verwirklicht hatte. Wenn es so wie von einer Kanne in die nächste, von einer Vase in die nächste weiter geschüttet wird, ohne dass ein Tropfen verloren geht, das ist eine Übertragungslinie. Jeder Schüler wird wieder zum Meister, hat wieder Schüler, und gibt das so weiter. So kann ein Strom durch die Zeit gehen und auch immer reichhaltiger werden, immer umfassender. Dann heißt es, dass wir Geistestraining praktizieren. Wir werden aufgefordert, das Geistestraining zu üben, indem wir den Meistern Verbeugungen sowie äußere, innere und geheime Opferungen darbrin-gen und Gebete sprechen. Damit ist gemeint, dass wir uns ihrer Bedeutung klar werden und wissen, dass wir tiefe spirituelle Nahrung erhalten, indem wir uns ihnen öffnen und den eigentlichen Meister darin erkennen, die Einheit von Liebe, Mitgefühl und Weisheit. Dass wir äußere Opferungen darbringen bedeutet, dass wir alle unsere äußeren Objekte, unseren Be-sitz, einbringen, um dieses Lebensziel zu verwirklichen. Die Meister brauchen die Opferungen nicht, darum geht es nicht. Es geht darum, diese in den Dienst des Erwachens zu stellen, alles was wir äußer-lich besitzen. Die innere Opfergabe ist der eigene Körper. Es sind die Sinneserfahrungen, die wir durch den eigenen Körper machen. Diese in den Weg des Erwachens zu stellen, nennt man die innere Opfergabe. Die geheime Opfergabe ist es, die Freude und den eigenen Geist in den Dienst des Erwachens zu stel-len. Denn das, was uns wirklich wichtig ist, ist nicht die schöne Uhr und das Anfassen können der Uhr und das Ticken und wie schön sie die Zeit anzeigt; es ist die Freude, die sie auslöst in unserem eigenen Geist! Genauso auch beim Essen: wenn uns eine Mahlzeit gut schmeckt, vordergründig ist es das gut gekochte Essen, innerlich ist es die Sinneserfahrung, über die verschiedenen Geschmacksknospen, hmm, und auf der geheimen Ebene ist es die Freude, die sich im Geist zeigt, solche Erfahrungen ma-chen zu können. All das stellen wir in den Dienst des Erwachens. Das bedeutet äußere, innere und geheime Opferungen darzubringen; alles, unser gesamtes Erfahren, in den Dienst des Erwachens zu stellen. Und da wir es so gewohnt sind, auf dualistische Weise zu funktionieren, ist es sehr hilfreich, wenn wir einen Teil des Weges mit einem äußeren Gegenüber gehen können, einem erwachten Meister oder zumindest mit der Vorstellung eines erwachten Meisters in unserem Geist. Wenn wir Gebete sprechen, dann können das Gebete sein, in denen wir uns an diese Meister und Meisterinnen wenden. Wir können uns auch in die letztendliche Dimension hinein ausrichten, wir können auch einfach Gebete sprechen zum Wohle aller, ohne ein Gegenüber zu haben für das Gebet. Es gibt die Möglichkeit zu beten, ohne ein Gegenüber zu haben. Aber das bleibt jedem selbst überlas-sen heraus zu finden, ob das geht. Auf jeden Fall geht es.

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Die meisten von uns haben das Beten gelernt, indem wir uns vorstellen, es gäbe da einen Gott. Wir haben dann zu Gott gebetet, aber mit dem heutigen Verständnis können wir vielleicht sagen, das was wir uns als einen personifizierten Gott vorgestellt haben, das ist vielleicht einfach diese kreative Di-mension des erwachten Geistes. Da wenden wir uns hin, und eigentlich ist das kein Gegenüber im Sinne einer dualistischen Projektion. Dieser erwachte Geist ist ja auch zugleich im Geist des Betenden, es ist nicht getrennt von demjenigen, der betet. Beten entwickelt sich auf dem Weg des Betens. Beten selbst ist eine ganze Praxis! Eine vollgültige Praxis. Beten zu lernen ist ein Weg des sich innerlich Entwickelns. Und kann gelernt werden – ich musste das erst lernen. Ich weiß nicht, wie es euch geht. Also mir war das nicht gegeben, so einfach leicht zu beten, als wäre das ganz natürlich. Ich hatte große Bedenken und auch eine gewisse Abnei-gung dagegen und habe das erst allmählich gelernt, bis ich dann gemerkt habe, welche Kraft im Beten liegt. Es war mir viel leichter, Opferungen zu machen, also zu geben, Energie einzusetzen, all das herzuge-ben; aber das innerlich zu formulieren und in die Herzensöffnung zu finden, das war eine weitere Fort-setzung der Freigebigkeit in einen tiefinneren Bereich hinein. Eigentlich ist Beten eine tiefe Meditati-on. Beten ist eine tiefe Einkehr mit sich selbst und mit der erwachten Dimension. Wenn wir einen ganz authentischen Meister gefunden haben, dann können wir uns dieser Meisterin oder diesem Meister in die Hand geben. Unten in der Fußnote habe ich euch ja aufgeschrieben: der tibetische Ausdruck ist sna thag, der Nasenring – wisst ihr aus den Filmen? Bei uns mit den Bullen ist es ja immer noch genauso, die haben einen Nasenring. Und die Yaks in Tibet hatten einen Nasenring. Daran führte man sie durchs Gebirge. Den Nasenring hältst du besser in der eigenen Hand, den gibst du nicht so leicht jemandem anderen in die Hand. Wenn du die Nasenleine, die am Nasenring befestigt ist, jemandem in die Hand gibst, schaust du dir besser genau vorher an, wer das ist. So einem authentischen Meister kann man die Na-senleine in die Hand geben – dann werden wir nicht an der Nase herumgeführt, sondern direkt ins Erwachen. Aber sonst geben wir die Nasenleine nicht aus der Hand! Wir geben uns in die Hand, ist wahrscheinlich der Ausdruck, der dem am nächsten kommt, was mit dem tibetischen Bild gemeint ist. Das heißt, um die Ichbezogenheit aufzulösen, lernen wir es, freigebig zu sein, wir lernen es, zu beten, und wir lernen es, uns führen zu lassen. Ganz wichtig! Wer sich von jemandem, der den Weg viel besser kennt, nicht führen lässt, ist dumm. Ist es nicht so? Manchmal sind wir ganz schön dumm. Wenn ich in eine Stadt komme und meine, ich finde mein Ziel schon selbst, und neben mir sitzt jemand, der den Weg kennt, aber ich will mir nicht sagen lassen, ob es rechts oder links geht – das wäre ziemlich dumm. Auf dem Weg zum Erwachen sich nicht führen lassen und alles selbst herausfinden zu wollen, nach dem Motto des Kindes: Selber machen! Selber machen! – ja, man kann es ja versuchen. Der Grund, warum ich jetzt auch so viel spreche und das immer alle Neujahr wieder mache, ist, um uns Zeit zu sparen. Denn ich selbst habe dann irgendwann auch gelernt, mich führen zu lassen, und sich mit der Weisheit der alten großen Meister zu verbinden. Es erspart uns eine Menge Umwege. Auch nur hier zu sitzen und gar niemandem die Nasenleine in die Hand zu geben, aber sich doch zu öffnen dafür, bedeutet, dass wir uns ein bisschen führen lassen. Damit gewinnen wir etwas Zeit. Denn wenn wir nach Hause kommen, können wir über all das, was wir gehört haben, nochmals kontemplie-ren, können das mitnehmen und sind bereichert auf unserem Weg, wir sind genährt. Wenn wir uns diese Nahrung nicht zukommen lassen würden, wäre unser Weg vielleicht etwas ärmer, etwas dursti-ger, etwas beschwerlicher, länger.

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Gute Bücher zu lesen ist auch so eine Nahrung. Jedes Mal wenn wir ein Buch lesen, lassen wir uns führen. Dann heißt es: „Gib dich den Meistern in die Hand und praktiziere (all ihre Unterweisungen) angefangen von der Vergänglichkeit bis hin zur letztendlichen Wirklichkeit.“ Für die, die sich mit buddhistischen Unterweisungen schon besser auskennen: Ihr wisst, dass die erste Unterweisung, die einem gewöhnlich gegeben wird, die Unterweisung der Vergänglichkeit ist, des Wandels aller Phänomene. Alle Erscheinungen wandeln sich, alles ist im Fluss, nichts ist beständig, die Illusion der Beständigkeit muss sich auflösen, damit wir in Kontakt mit der Wirklichkeit kommen. Da machen wir ganz viel Kontemplation über die Vergänglichkeit des eigenen Körpers, Vergänglich-keit des Lebens der Menschen, die uns umgeben, die Vergänglichkeit der Objekte, die Vergänglichkeit der Welt als Ganzes... Und die „höchsten“ Unterweisungen in Anführungsstrichen – weil es gibt da eigentlich keinen Unterschied zwischen hoch und tief - die die später gegeben werden, sind Unterwei-sungen über die wahre Natur des Geistes und das, was allgemein Leerheit genannt wird, also die Ab-wesenheit eines festen Selbst. Die Ermutigung hier ist, alle Unterweisungen, die wir erhalten, auszuprobieren und zu testen. Das ist das, was Buddha Shakyamuni uns vorschlägt: dass wir die Weisheit besitzen zuzuhören, wenn jemand spricht, der Erfahrung zu haben scheint, und das austesten, was er uns vorschlägt, um dann zu Schluss-folgerungen zu kommen, aufgrund der eigenen Erfahrungen dann weiter zu machen. Hier möchte ich die Einleitung von heute schon beenden, um noch etwas Zeit zu haben, mit euch zu praktizieren – und vielleicht gibt es vorher auch noch ein paar Fragen jetzt zu den letzten Erklärungen? Möchte jemand etwas ansprechen? Frage: Ich wollte fragen, wie das mit dem Gebet funktioniert? Lhündrup: Am leichtesten wäre es für mich zu antworten, wenn ich dir eine Rückfrage stellen darf: Worum geht’s dir genau? Wo hakt es? Wie betest du jetzt und Frage: Also ich bin christlich erzogen und das Vater Unser ist mir ganz vertraut. Lhündrup: Ja? Das kannst du immer beten. Dann kennst du schon eine Form des Gebetes. Das Vater-unser ist ein sehr tiefes Gebet und lässt sich auf vielen Ebenen verstehen. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt sei.... Was das alles bedeutet! Diese Art von Gebet sollte mit einer Kontemplation verbunden werden. Also, jedes Wort in dem Gebet hat eine ganz tiefe Bedeutung. Vater – warum Vater? Was ist damit gemeint? Was ist mit Himmel gemeint? Was ist mit geheiligt gemeint? Was ist mit Name gemeint? Und dann: Gib uns unser täglich Brot – wenn es dann weitergeht, was bedeutet, was ist unser täglich Brot? - Also wirklich tief zu kontemplieren. Jedes Wort hat einen ganz tiefen Sinn. Jetzt ist es nicht an mir, den Sinn zu erklären, sondern eher an denen, die – also, erstmal Christen sollten das erklären, das wäre sicherlich hilfreich. Ich habe mir auf dem Umweg über die buddhistische Lehre jetzt auch ein Verständnis erarbeitet von diesem Gebet. Aber dir geht’s ja mehr um das Prinzip. Dieses Gebet, was du jetzt ansprichst, ist ein tief kontemplatives Gebet. Das heißt, es muss von innen her mit Sinn gefüllt werden. Frage: Sie haben eben angesprochen, dass das ja entfällt, diese Figur, an die man sich wendet. Da dachte ich: Wie bete ich dann? Wie könnte man dann beten, wenn diese Figur entfällt, weil man da ja auch Vorstellungen mit verbindet... Lhündrup: Ja, also wenn ich jetzt zum Beispiel dieses Gebet benutzen würde, dann würde ich bei dem Wort Vater an die schöpferische Geistesdimension denken. Und mich dafür öffnen, für die Kräfte, die diese Welt gestalten. Und wenn diese Welt sich aus dem erwachten Bewusstsein heraus gestaltet, sind das Kräfte von Liebe und Weisheit. Ja? So würde ich meinen Weg gehen mit diesem Gebet und nach und nach da eintauchen.

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Tatsächlich ist es auch auf dem buddhistischen Weg so, dass wir oft Mühe haben, ohne ein Gegenüber zu beten, und dann stellen wir uns die Erwachten, also Buddha Shakyamuni und andere erwachte Meister vor und wenden uns an sie – wobei dann am Ende des Gebetes die, die scheinbar außerhalb waren, sich in Licht auflösen und mit uns verschmelzen, wodurch die Projektion des scheinbar ande-ren wieder nach Hause geholt wird. Ich weiß nicht, ob ich das – ich sag das einfach mal, ich glaube, mit Christus und mit Gott ließe sich das genauso machen. Ich glaube, man könnte auch Christus sich zum Beispiel vorstellen, und am Ende des Gebetes ihn sich in Licht auflösen lassen, dass er in unser Herz eintritt. Aus buddhistischer Sicht finde ich das vertretbar! Frage: Ich weiß auch nicht – wie soll ich denn beten, was? Wie soll ich das formulieren? Die Anlei-tung weiß ich, die Erleuchteten und so, aber es ist nicht so klar im Satz gefasst! Lhündrup: Ja, wenn du Sätze möchtest, dann gibt es auch Sätze. Aber mir liegt es sehr am Herzen, jetzt euch nicht unbedingt Sätze zu geben, wir haben ja sogar kleine Gebetstexte, da kannst du rein-schauen, vielleicht kann jemand dafür sorgen aus der Freiburger Gruppe, ihr einen zu geben? Worum es mir geht, ist, dass jeder aus dem eigenen Herzen heraus sein Gebet findet. Also bei mir hört sich das dann manchmal so an: Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt beten soll, dann stammle ich da ir-gendwie, und dann aus dem Gestammel allmählich, klärt sich das. Ich glaube, Beten hat im Wesentli-chen damit zu tun, sich zu erlauben, ruhig mal zu stammeln und unbeholfen zu sein. Dann: Ihr erwach-ten Meister – ich weiß ja gar nicht, ob es euch gibt.... ja, so anzufangen. Und dann: Lieber Gott, auch bei dir weiß ich nicht, ob es dich gibt... Alle anzurufen und zu sagen, also ich hab nichts anderes außer euch, wo ich mein Vertrauen rein setzen kann, darum wende ich mich jetzt mal an euch. Erleuchteter Geist, falls es dich gibt ... Mit all den Zweifeln - es ist so unausgegoren, zunächst. Und das darf so sein! Wenn ich euch jetzt was anderes vorschlagen würde, würde es mir so vorkommen, als würde ich euren Geist manipulieren und euch wieder auf eine andere Schiene bringen. Jetzt waren wir zunächst als Kinder vielleicht auf der christlichen Schiene, dann setzt man sich einfach auf die buddhistische Schiene, aber kommt dann irgendwann an den gleichen Punkt an. Für mich ist es natürlich viel einfacher, euch zu sagen: „Bis zum Erwachen nehme ich Zuflucht zu Buddha, Dharma, Sangha. Möge ich durch die Verdienste der Praxis von Freigebigkeit und derglei-chen zum Wohle aller Wesen Buddhaschaft verwirklichen.“ Das ist so ein Gebet. „Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glückes besitzen.“ Usw. Ist ein anderes Ge-bet. Es gibt wunderschöne Gebete. Aber man sucht sie sich einfach raus, die Gebete, die uns anrühren, und die haben eigentlich die Auf-gabe, uns zu zeigen, wie man betet. Es sind wie Lehrbeispiele. Das Herzensgebet kann niemand erset-zen durch einen geschriebenen Text. Manchmal kann ein Text den Geist öffnen, aber wenn er dann zur Routine wird, ist er vielleicht nicht mehr so stark. Wer würde denn gerne mal in einen solchen Gebetstext reinschauen, wie wir ihn hier haben? Kannst du ihnen grad die Texte mal geben? Frage: (zum Beten)... ich such und denk, ich bin ja nur am Stammeln – wenn du meinst, das ist okay...? Lhündrup: Ich glaub, da passiert viel mehr als bei den glatten und runden Gebeten. Es geht ja drum, dass etwas passiert mit uns, wenn wir beten, dass sich etwas öffnet, und das geht nur, wenn wir ganz in Kontakt sind mit dem was ist, wirklich spüren, und das ist anfangs ja nicht so klar. Ich spreche jetzt auf Tibetisch mal eine Widmungsformel, einige im Raum kennen die, das hat den Vorteil, sie können einfach mitsingen, und die anderen können sich entspannen. 2. Tag Unterweisungen

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Lasst uns wieder so wie gestern die persönliche Zufluchtsmeditation machen. Für die, die gestern nicht da waren, wiederhole ich es noch mal. Zuerst, wie bei allen Meditationen, Kontemplationen, müssen wir uns sammeln. Das heißt: wir spüren unseren Körper, wir spüren, ob die Sitzhaltung uns angenehm ist --- Und dann beginnen wir mit Gedanken wie: was hat mich hierher geführt? Warum bin ich jetzt hier? Und weiten das aus auf die Frage: Was ist mir eigentlich wichtig im Leben? Was ist mir das Aller-wichtigste im Leben? --- Welchen Sinn möchte ich dem heutigen Tag geben? Welchen Sinn möchte ich diesem Leben geben? Was möchte ich, das mich durch den Tod hindurch in die Zeit danach begleitet, in zukünftige Leben? Was sind die Qualitäten, die mir besonders wichtig sind? --- Was bedeutet Erwachen für mich? Wenn ich das für mich ganz persönlich ausdrücke, was ist mir da wichtig? --- Welche Richtung möchte ich meinem Leben geben? Was ist für mich eine sichere Richtung, eine Zu-flucht? In welche Qualitäten setze ich mein Vertrauen? --- Möge jedes Wort, jede Handlung heute – nach Möglichkeit auch jeder Gedanke, möge mich jeder dieser Gedanken, Worte und Handlungen in diese Richtung führen, in diese Qualitäten hinein, in das, was ich als meine Zuflucht empfinde. --- In der buddhistischen Tradition wird dies als bodhi oder Buddha beschrieben, das Erwachen oder der Erwachte, als Dharma, als die Wahrheit, die befreiende Wahrheit, und die Lehre, die zu dieser Wahr-heit hinführt, und als Sangha, all die Helfer auf dem Weg, die Gemeinschaft. Damit wird versucht zu beschreiben, dass es in diesem Leben um das Aufwachen geht, das völlige Erwachen der in uns schlummernden Qualitäten; dass dies notwendigerweise mit einem Verständnis der Wahrheit oder Wirklichkeit einhergehen muss; dass es dafür Unterweisungen gibt, die uns helfen, und dass es Men-schen gibt, die uns auf diesem Weg weiterhelfen, aber die dann auch, wenn wir in der Lage sind, diese Hilfe zu geben, unsere Hilfe brauchen, Freundschaft. Sangha bedeutet Freundschaft. Spirituelle Freunde. ---- Buddha, Dharma, Sangha stehen für Erwachen, Verständnis der Wahrheit, der Wirklichkeit, und Freundschaft, wahre Freundschaft. --- Wie wir das genau leben, möge jeder für sich selbst entscheiden und herausfinden, letzten Endes füh-ren alle Qualitäten ins Erwachen. --- Ob wir Freigebigkeit nehmen oder Liebe oder Bescheidenheit, was auch immer, all diese Qualitäten tragen zum Erwachen bei. --- Zum Abschluss dieser Zufluchtsmeditation fassen wir den Entschluss, heute und morgen und nach Möglichkeit unser ganzes Leben und all unsere Leben in Zukunft für diese Qualitäten einzusetzen, die uns so sehr am Herzen liegen. Das ist damit gemeint, wenn auf Tibetisch gesagt wird: Kyab su tschio, eine sichere Richtung einschlagen, sich in die Zuflucht hinein begeben. Es geht darum, tatsächlich etwas zu tun. ---- Als Ausdruck von diesem Entschluss möchte ich mit euch den Text teilen, den wir vor uns liegen ha-ben. Wie ich gestern schon beschrieb, erzählte, stammt dieser Text aus einer mündlichen Überlieferung. Er wurde erst im 14. Jahrhundert niedergeschrieben, die Quellen gehen aber zurück in die Hochblüte des indischen Buddhismus, und man nimmt an, dass Atisha diese Übertragung von seinem Lehrer Maitri

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Yogin erhalten hat. Deswegen hieß es oben in der Anrufung „Guru Maitri“, der Meister, der die Liebe ist. In tieferem Sinn ist die Liebe selbst der Meister, und in der äußeren Bedeutung bezieht sich das hier auf Maitri Yogin, der diesen Ansatz lebte und lehrte, über die letztendliche Wirklichkeit den Zu-gang zu Bodhicitta zu finden. Ihr erinnert euch an die Erklärung über die Tiefgründige Sichtweise von gestern. Wir gehen in diesem Text den Weg, aus der Schau der Wirklichkeit heraus zu einem Verständnis des Leidens aller Lebewe-sen zu finden und damit das Mitgefühl zu nähren - im Unterschied zu dem anderen Ansatz des Weiten Verhaltens, wo wir zunächst über das Leid kontemplieren und dann unser Herz weiten und alle Lebe-wesen mit aufnehmen: unser eigenes Leid, das Leid unserer Eltern kontemplieren, bis wir merken, dass alle Lebewesen unsere Eltern gewesen sein könnten und sie damit auch einbeziehen in unsere Liebe. Dann dringen wir weiter vor mit der Kraft der Liebe und entdecken, dass dieses Leid eigentlich nicht zu sein hat, dass es keinen Wesenskern hat, dass es in seiner tiefsten Natur keinerlei wirklichen Bestand hat. Dann kommen wir so über den Weg der Liebe, des Mitgefühls, zur Weisheit. Hier gehen wir den anderen Weg. Wir haben deswegen im Einleitungssatz gelesen: „Alle Phänomene sind der eigene Geist. Damit sind sie völlig erfasst und so sollte man sie praktizieren.“ Das war quasi unsere Erklärung: Ja, ich bin bereit, alles als meinen eigenen Geist zu betrachten. Alles findet in meinem eigenen Erleben statt. Ich laufe nicht davon. Das was als Schwierigkeiten, als Prob-leme in meinem Leben auftaucht: ich weiß, es findet im eigenen Geist statt. Dort habe ich die Mög-lichkeit, etwas zu tun, einen anderen Umgang damit zu pflegen. Der Absatz danach ist eine sehr gedrängte Zusammenfassung von wesentlichen Unterweisungen, die hier die Funktion einer Einführung haben. Ich lese das gerade noch mal vor als Erinnerung. All das ist Vorbereitung dafür, um das, was nachher kommt, umsetzen zu können. Lasst uns das noch mal lesen mit dem Gedanken, Frage an uns selbst: Bin ich schon dabei, das zu praktizieren, was da steht? „Die Linie mündlicher Übertragung ist der Weg der (Hingabe zum) Meister. Sei dir deshalb bewusst, dass alle Verehrungswürdigen in den drei Zeiten in ihrer wahren Natur das illusorische Spiel des Meisters sind, und übe Geistestraining, indem du den Meistern Verbeugungen sowie äußere, innere und geheime Opferungen darbringst und Gebete sprichst. Gib dich den Meistern in die Hand und praktiziere (alle ihre Unterweisungen) angefangen von der Vergänglichkeit bis hin zur letztendlichen Wirklichkeit.“ Das ist ein Lebensprogramm. Da kann ich auch von mir nicht sagen, dass ich alles so praktizieren würde. Ich praktiziere es, so gut ich kann, aber da lässt sich noch viel entwickeln! Das ist der Hintergrund – sich darum zu bemühen, diese Öffnung gegenüber den erwachten Meistern zu entwickeln, die Öffnung gegenüber der erwachten Dimension, die wir die Einheit von Mitgefühl und Weisheit nennen. Diese Motivation sollte auf jeden Fall in unserem Geistesstrom vorhanden sein. Das ist die notwendige Voraussetzung, um diese Praxis auszuführen und dieses Geistestraining prakti-zieren zu können. Äußere, innere und geheime Opferungen auszuführen bedeutet – ich wiederhole das noch mal - : Al-les, was wir äußerlich, innerlich und auf der allerinnersten Ebene, der Geistesebene, zur Verfügung haben, in den Dienst unseres spirituellen Weges zu stellen. Opfern bedeutet Hergeben aus der Sicht der Ichbezogenheit und Einbringen aus der Sicht des spirituel-len Weges – wir bringen alles ein in den spirituellen Weg. Es ist nicht mein, sondern es gehört dem Erwachen aller Lebewesen. Opfern bedeutet, dass ich alles, was ich bin, was ich habe, einbringe in den Weg des Erwachens. Da-mit wird es noch kostbarer. Wenn ich es bei mir behalte, nutzt es maximal mir, und selbst bei mir ent-faltet es nicht ganz seine Kraft, weil ich daran festhalte. Das würgt dem, was ich da an Qualitäten ha-be, was ich an Besitz habe, eigentlich die Luft ab. Es kann sich nur entfalten, wenn es geteilt wird und in den Dienst von etwas Höherem gestellt wird.

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Mit dieser Einstellung, alles einzubringen in den Weg des Erwachens, geben wir uns kompetenten Lehrern in die Hand – das war dieses Beispiel mit der Nasenleine – und praktizieren ihre Unterwei-sungen mit dem Wunsch herauszufinden, ob das, was sie uns lehren, tatsächlich heilsame Auswirkun-gen auf uns selbst und andere hat - wir testen die Unterweisungen. So weit waren wir gestern gekommen. Und jetzt fahre ich fort mit dem nächsten Absatz: „Erlange Gewissheit in der reinen Sichtweise, dass sämtliche Phänomene von Samsara und Nir-wana – so wie der Himmelsraum – schon immer jenseits von Entstehen und Vergehen und frei von begrifflichen Begrenzungen sind.“ Das ist eine Instruktion zum Entwickeln tiefster Weisheit, zum Hervorbringen von wahrem Seinsver-ständnis. Es geht darum, Gewissheit zu erlangen, nicht nur eine Ahnung, nicht nur einen Glauben. Es geht darum, durch die eigene Erfahrung zu einer Gewissheit zu gelangen in der Sichtweise, also im Verständnis, welches rein ist. Wenn das Wort ‚rein’ in buddhistischen Texten auftaucht, bedeutet es immer ‚nicht ichbezogen’ oder ‚nondual’. Reine Sichtweise ist eine nonduale Sichtweise, eine Sicht-weise, die nicht aus dem Ich heraus, aus dem Subjekt heraus geboren ist. Wenn wir uns total entspannen, wenn es uns möglich wäre, uns total zu entspannen, dann würde diese Ichbezogenheit von uns abfallen. Das tut sie tatsächlich in tiefer Meditation – die ständigen Gedanken-formen von ‚Ich bin’, ‚Ich will’, ‚Ich will nicht’, ‚was erlebe ich jetzt’ – all das fällt weg. Es wird viel einfacher in unserem Geist. Wir sind nicht mehr in diesen Komplikationen verstrickt, in ‚Ich und du’, ‚Ich und andere’ zu denken. In dieser völligen Einfachheit zeigt sich uns das Wesen der Dinge in ihrer Einfachheit. Wir entdecken, dass – was auch immer erfahrbar ist, was erlebt wird, was auch immer auftaucht im Bewusstsein, sei es Samara, also Ausdruck von Verstrickung, oder Nirwana, Ausdruck von Befreiung - alles ohne Aus-nahme ist der eigene Geist, so wie es in dem einleitenden Satz stand, und alles hat die Natur des Him-melsraumes. In der Meditation geht es hier darum, hinein zu schauen in diese Erfahrung. Dazu braucht es eine ge-wisse Geistesruhe. Es ist notwendig, den Geist soweit zu beruhigen, dass eine einzige geistige Bewe-gung wahrnehmbar wird. Für mich zum Beispiel war der Punkt, an dem das passierte, als in meiner Praxis ein Ärger stark bewusst wurde als einzelne Geistesregung, und ich dann in den Ärger hinein schauen konnte. Der Ärger, der dabei war, mich zu packen – das was der Meditierende dann macht, ist, dass man nicht dem Ärger folgt, sondern sich den Ärger selbst mal anschaut. Normalerweise, wenn uns etwas ärgert, sind wir ja ärgerlich über etwas, wir sind mit dem Objekt ver-strickt: „was du da gesagt hast“ oder – ja? Es nervt mich was, und dann bin ich immer damit beschäf-tigt, was mich ärgert. Der Blick in einen Gedanken hinein, in eine Geistesregung hinein lässt das Ob-jekt los und schaut sich den Ärger mal als solchen an. Was ich dann entdecke, und das ist bei allen geistigen Erfahrungen dasselbe: das was da eben so solide als Ärger erfahrbar war, ist jetzt eine Offenheit. Ich entdecke da nichts an sich, was greifbar wäre, ich lande – und das Ich löst sich darin auch auf – es entsteht eine Erfahrung von unglaublichem Raum. Als mir das zum ersten Mal passiert ist, musste ich unglaublich lachen. Der Ärger war weg wie nichts, und ob meiner eigenen Illusion, den für so wirklich gehalten zu haben und jetzt mich im offenen Raum zu finden, musste ich einfach lachen! Es war so überraschend! Es war völlig überraschend. Ich wün-sche euch diese Überraschung! Je stärker die Emotion, desto größer die Überraschung. Denn die Emotion ist ja nur deshalb so stark, weil wir so fest dran geglaubt haben. Wenn wir dann reinschauen können, und sich das so im Nu völ-lig auflöst, ohne ein Decrescendo wie etwa in der Musik - das ist nicht, dass es langsam abklingt und weniger wird -, sondern wenn wir mal richtig geschaut haben, ist es – zack – völlig weg. Im Nu weg.

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Da ist nicht ein Abschwellen einer Emotion, sondern da ist eine Illusion, die sich im Moment selbst völlig auflöst. Das ist die Entdeckung von diesem offenen Raum. Diese Entdeckung können wir bei allen geistigen Regungen machen. Das ist ihre wahre Natur. Äußer-lich haben sie ihre verschiedenen Manifestationen, so wie wir hier mit unseren verschiedenfarbigen und -förmigen Kleidern sitzen, das ist so die äußere Erscheinungsform. Und innerlich haben sie alle keine Substanz. Dieses Nicht-Substanzhafte wird beschrieben als Himmelsraum, natürlich ist kein Himmel da, aber dieses Nicht-Substanzhafte ist gemeint. Das haben alle geistigen Erscheinungen ge-meinsam. In dieser Dimension geht uns auf, was als nächstes im Satz gesagt wird: dass es schon immer so war und immer so sein wird, dass diese Dimension kein Entstehen und kein Vergehen hat. Dies ist jenseits linearen Zeitgeschehens, diese Dimension lässt sich nicht mehr beschreiben im Sinne von „da gebo-ren, dort gestorben, hier entstanden, hat sich dort aufgelöst“, denn das was geboren wurde, hat sich schon aufgelöst in diesem direkten Blick, und diese Offenheit scheint immer da zu sein. Sie ist immer erfahrbar für alle Menschen, die diese Praxis ausführen, immer erreichbar. Es ist diese nicht fassbare, tiefste geistige Dimension, in der wir uns alle gleich sind. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass ihr alle die absolut identische Erfahrung machen werdet, wenn ihr diese Unterweisung praktiziert, wenn ihr zu dem Punkt kommt, wo ihr direkt hinschauen könnt. Ich selbst habe diese Gewissheit erfahren und erfahre sie und gehe davon aus, dass das für alle so ist. Das ist eine innere Gewissheit, die entsteht, dass es gar nicht anders sein kann. Denn das was da auftaucht, ist nicht erzeugt. Es ist nicht produziert. Es ist nicht durch das eigene Wol-len und Verlangen – mit Wollen und Verlangen zu praktizieren, bringt nicht diese Erfahrung hervor! Diese Erfahrung ist eine Erfahrung des völligen Überraschtseins im Loslassen, im völligen Loslassen. Oder in der direkten Schau. Das sind verschiedene Arten das auszudrücken. Frage: Kannst du bei der Gelegenheit das Verhältnis erläutern zwischen diesem Wollen und Verlan-gen, was du jetzt eben als nicht hilfreich beschrieben hast, und Sehnsucht und Hingabe, die als durch-aus hilfreich beschrieben wird – das kann man ja manchmal leicht verwechseln als Anfänger. Lhündrup: Ja. Die Sehnsucht und Hingabe ist etwas, was diesem ichbezogenen Praktizierenden er-möglicht loszulassen. In dem Moment, wenn ich zum Beispiel alle meine innere Kraft darauf ausrich-te, hingebungsvoll zu beten, und dann aus der Kraft der Hingabe heraus der Lama in mich verschmilzt – da ist ein Moment des Loslassens. Ich bin aus meinem normalen Bezugsrahmen herausgenommen. Ich habe alle Kraft in eine Herzensöffnung gelegt, die sich noch eines Bezugspunktes bedient hat, und dann löst sich dieser Bezugspunkt auf und - dann sitze ich da und da ist nur noch Herzensöffnung. Was wir Mitgefühl und Hingabe nennen, sind Formen der Herzensöffnung, die uns aus dieser sich um sich selbst drehenden Ichbezogenheit herausführen, und dann wird der Hingabe und dem Mitgefühl der Bezugspunkt entzogen. Das ist ganz wichtig, dass wir nicht in der Hinwendung bleiben, in der Anbetung, sondern dass der Bezugspunkt dann auch aufgelöst wird. Dadurch kommt es zur Erfahrung von Weite, von Offenheit. Das normale Wollen und ‚Ich will’ und ‚Ich möchte eine ruhige Meditation’ und ‚Ich werde jetzt den Geist beruhigen’ und ‚Ich möchte jetzt Offenheit’ – da landen wir immer in Formen von Weite und Offenheit, die noch diesen Beigeschmack von konstruiertem Erfahren haben. Das merkt der Meditie-rende auch. Das ist noch nicht die reine Sichtweise. Frage: (schlecht zu verstehen) Ist es nicht auch so, dass diese Sehnsucht schon das Wissen um diese Weite ist, das sich aber noch nicht verortet hat? (...)… die noch nicht konkret ist, aber sie führt da-hin… Lhündrup: Angelika sagte, dass diese Sehnsucht ja auch schon Ausdruck davon ist, dass wir – ich kann das vielleicht so ausdrücken – wie eine Ahnung haben von dem, was da zu entdecken ist. Das möchte ich unterstreichen. Eigentlich fühlen wir diese Sehnsucht nur, weil wir schon verbunden sind

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mit dieser Dimension. Wir erahnen sie, aber wissen nicht genau, wie wir den Zugang dazu finden können. In früheren Begegnungen habe ich euch manchmal als Beispiel erzählt, so wie ich das in meinem ei-genen Geist erlebt habe, dass diese Ahnungen am stärksten für mich spürbar waren in dem Bedürfnis zu verschmelzen. Das Bedürfnis zu verschmelzen mit einer Partnerin oder einem Partner, ein Bedürf-nis nach völliger Einfachheit, wie eine innere Ahnung, dass es solch eine innere Einfachheit, Offenheit gibt. Aufgrund dieses Ahnens entsteht eine Sehnsucht, also ein Streben, ein Sehnen, und daraus speist sich eigentlich der spirituelle Weg. Der ist gespeist von dieser Ahnung, und dann suchen wir. Wir suchen im Rahmen all dessen, was uns zur Verfügung steht. Es gibt ja so viele spirituelle Rich-tungen, es gibt Bücher, es gibt alles Mögliche, was uns inspirieren kann. Und dann suchen wir, wo wir dieser Ahnung näher kommen, wo sich dann mehr in uns öffnet. Das ist eigentlich die Geschichte unseres inneren Weges, da lang zu gehen, wo wir mehr in Kontakt kommen mit diesen erahnten inne-ren Dimensionen. Dann versuchen wir es mal nur mit stiller Meditation, dann gehen wir in den Gottesdienst und beten, dann lesen wir inspirierende Werke, dann sagen wir; ach, all das ist Quatsch, ich muss mich auf meinen eigenen inneren Geist verlassen, dann geht’s da wieder nicht weiter, dann denke ich: Ach, vielleicht versuchen wir es doch, und dann lesen wir Krishnamurti oder wir lesen irgendeinen Meister, der uns sagt: Ja, du kannst alles in dir finden, aber hör mal gut zu. Trotzdem. Ja? So gehen wir unseren inneren Weg und schauen, wie wir das in uns klären können, und entdecken Meditation und merken: Meditation und Gebet ist vielleicht noch hilfreicher als nur meditieren oder nur zu beten, dann merken wir, ja, ein bisschen lesen ist schon auch gut, und dann vielleicht mal sich ein bisschen austauschen mit Menschen, die den Weg schon ein bisschen gegangen sind, tut auch gut, und dann gehen wir ins Retreat zum Beispiel, und da merken wir, ja, nur im Retreat sitzen bringt es ja auch nicht, man braucht schon auch den Austausch, man muss auch teilen, und ... Ja, so. Immer gehen wir den Weg an unserem Ahnen entlang, wir lassen uns von unseren... ja, von unserem inneren Spüren lassen wir uns führen. Und das kann uns auch niemand ausreden. Wenn da ein Lehrer kommt und sagt, du sollst nicht auf deine inneren Ahnungen hören, auf dein Spüren, auf das, was deine tiefste Sehnsucht ist - im Grunde genommen bringt uns so jemand nur von unserem Weg ab. Wir müssen immer im Einklang mit diesem tiefsten inneren Spüren gehen. Nur dann wird sich unser Weg entwickeln. Wenn es zum Beispiel hier im Saal jemanden gibt, der ganz stark spürt, dass da im christlichen Glau-ben noch etwas ist, dass da eine Ahnung ist, dass da für jemanden die Nahrung kommt, dann ist es wichtig dort hin zu gehen, um zu spüren, um zu testen. Oder – oder – oder – die Beispiele könnt ihr selbst nehmen, wo ihr spürt, dass da etwas aufzulösen ist oder dass da Nahrung kommen könnte. Ich bin überzeugt, dass einige hier sitzen, die zum Beispiel spüren, dass sie sich mehr ihren Eltern zuwenden möchten. Mutter und Vater, dass da eine Ahnung ist, dass der spirituelle Weg sich eigent-lich nicht voll entfalten kann, ohne dass dieser Ahnung gefolgt wird, sich ruhig auch mal mehr auf die Eltern einzulassen. Das sind so Ahnungen, und denen sollten wir folgen. Und dann: all das was wir verstehen, immer wieder zusammenbringen in eine möglichst einfache tägliche Praxis, damit wir jeden Tag in der Zu-

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flucht weitergehen, in dem weitergehen, was für uns die Lebensrichtung ist. Immer wieder all die ver-schiedenen Erfahrungen bündeln und sagen: Was ist jetzt das Wichtigste von all dem? Okay – und dann: da geht’s lang. Ob ich mich jetzt um Kranke kümmere oder um mich selbst oder um Gesunde oder um meine Eltern oder meditiere – alles geht in diese Richtung. Bei allem geht es darum, was mir die wichtigsten Qualitäten sind. Hier diese Unterweisung, mit der wir uns jetzt gerade befassen, spricht vom Entwickeln der Weisheit. Das war der erste Satz, dass es tatsächlich darum geht, diesen offenen Geistesraum zu entdecken, der „frei von begrifflichen Begrenzungen“ ist. Das war das, was ich noch nicht erklärt habe. Das bedeutet: frei vom Zugriff des Intellekts. „Begriffliche Begrenzungen“ sind all die Annahmen über die Wirklichkeit, die wir begrifflich formu-lieren, die der Intellekt formuliert, die aber doch nur Hypothesen sind. Wenn wir eine Hypothese für die Wirklichkeit halten, engen wir die Wirklichkeit ein. Eine Annahme ist nur eine Annahme. Wenn wir uns begrifflich festlegen und zum Beispiel einen Gedanken entwickeln: „Die Wirklichkeit ist leer“ mit doppeltem „e“, ja, die buddhistische Auffassung von der Leerheit. Unsere Annahme über die Wirklichkeit als leer wird vermutlich, nachdem sie erst mal ein paar Hindernisse auf die Seite ge-räumt hat, irgendwann zu einem Hindernis werden. Denn auch das sind nur Worte. Das was eigentlich leer ist, ist in Wirklichkeit nämlich sehr voll. Wenn das Leersein zu einem Hindernis wird, die Fülle der Erfahrungen wahrzunehmen, wird es zum Hindernis. So ist es mit allen Konzepten. Alle Begriffe können uns helfen – und können auch wieder zum Hin-dernis werden. Deswegen geht es darum, diesen Geistesraum zu erfahren, frei von begrifflichen Be-grenzungen, frei von der Sucht, alles benennen und erfassen und beschreiben zu wollen, diesen unbe-nennbaren Geistesraum zu erfahren. Der nächste Satz heißt dann: „Übe dynamischen Ausdruck frei von Blockaden und meditiere“ und da ist es wichtig einzufügen: „(Liebe und Mitgefühl) in drei Weisen“ - das wissen die tibetisch Praktizierenden, dass wenn davon gesprochen wird, „in Bezug auf Lebewesen zu praktizieren, in Bezug auf die Natur der Dinge und frei von jeglichem Bezug“ - dass das die klassischen drei Formen sind, wie man Liebe und Mitgefühl praktiziert. Deswegen musste das in der Klammer noch rein, weil ihr das ja nicht wissen könnt. Dieser Satz nimmt dann Bezug auf Liebe und Mitgefühl. Liebe und Mitgefühl nennt man den dynami-schen Ausdruck dieses offenen Geistesraumes. Denn der geistige Raum, der sich uns da auftut, in völ-liger Einfachheit, der ist nicht statisch, der steht nicht still, das ist nicht ein unbewegter Geistesraum, sondern in dieser Einfachheit ist Bewegung! Und diese Bewegung des nicht ichbezogenen Geistes nennt man Liebe oder Mitgefühl. Das ist der natürliche Ausdruck des offenen Geistes. Jeder Meister in dieser Welt, der den offenen Geistesraum freigelegt hat, ist zugleich auch liebevoll und mitfühlend, weil keine Ichbezogenheit da ist. Aggressivität, mangelnder Respekt und dergleichen Verwirrungen entstehen nur aufgrund von Ichbezogenheit. Wenn die fortfällt, kommt es nicht zu ag-gressivem Verhalten, kann es nicht zu mangelndem Respekt kommen, kann es nicht dazu kommen, dass man sich verletzend verhält, denn das tut man nur aufgrund von Selbstschutz, Selbstbezogenheit, Ich-Liebe, das sind die Kräfte, die zu solchem Verhalten führen. Wenn die wegfallen, ist unser Geist ganz natürlich liebevoll und mitfühlend. Da braucht man nichts extra zu tun dafür. Wir nennen das die Buddhanatur. Wir nennen das: das, was ist, wenn die Ichbezogenheit wegfällt. Das kann man auch anders nennen. Man könnte das auch Gott nennen, Gott in uns oder die Christusnatur, man könnte das Tao nennen... Die Bezeichnungen dafür sind so viele! Manche Menschen haben selbst ihre Bezeichnungen dafür gefunden. Das müsst ihr wissen, wie ihr das nennt, das Reine in unserem Geist, das was frei ist von Verhaftungen.

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Worum es geht ist, sich dann darin zu üben, diesen dynamischen Ausdruck zuzulassen, diese Herzens-bewegung zuzulassen und da nicht Blockaden zu setzen, da nicht gefangen zu bleiben in einer immer noch ichbezogenen Praxisform. Frei von Blockaden geht es darum, diesen dynamischen Ausdruck des Geistes zuzulassen und zu-nächst mal in Bezug auf Lebewesen zu praktizieren. Das werden wir in diesen Tagen tun. Wir werden das Geistestraining üben, so wie die letzten Jahre auch, mit konkreten Personen, angefangen bei uns selbst, Mutter, Vater, die nächsten Freunde, die besten Feinde, wir werden sie alle einladen und mit ihnen üben. Dann dehnen wir das aus und üben etwas aus der Ahnung heraus, dass das Leid eigentlich dadurch entsteht, dass wir der wahren Natur der Dinge nicht gewahr sind. Das nennt man „Liebe und Mitgefühl in Bezug auf die Natur der Dinge“. Wir nehmen Bezug auf unser aufkeimendes Verständnis, dass in ihrer wahren Natur alle Erscheinungen nicht substantiell, nicht dinglich sind, und verstehen daraus den großen Irrtum aller Lebewesen: den vermeintlich existierenden Problemen solche Wirklichkeit beizu-messen, dass sie total fest werden, wie feste Gegenstände, und wir meinen, feste solide Probleme zu haben. Dann meditieren wir damit und versuchen, das etwas aufzulösen. Die dritte Form von Liebe und Mitgefühl frei von jeglichem Bezug - das allerdings ist sehr schwer zu praktizieren – ist eigentlich sehr leicht zu praktizieren, aber es ist sehr schwierig zu praktizieren, weil das ist die Erfahrung nondualer Liebe, nondualen Mitgefühls. Also eine Liebe frei von Ich und Du. Ein Mitgefühl frei von Ich und Du. Frei von Bezug zwischen Subjekt und Objekt. Das ist der offene Geistesraum selbst, der von Liebe und Mitgefühl durchdrungen ist. Diese Praxis werden wir hauptsächlich in den Praxissitzungen mit Lodrö und mit Rabjam ausführen, und ich möchte euch sehr ermuntern, diese für mindestens genauso wichtig zu nehmen wie die begriff-lichen Erklärungen, die ich jetzt gebe. Das geht ja über Begriffe, über intellektuelles Verstehen hinaus. Wir hören zwar mit dem Herzen zu, aber was versteht, ist unser begrifflicher Geist. Das müssen wir in der Erfahrung verankern. Eigentlich zählt nur das. Letzten Endes zählt nur das, was in der Erfahrung ankommt. Alles andere werden wir schnell vergessen. Was uns transformiert ist das, was in der Erfah-rung erlebbar wird. Das ist es, was uns transformiert. Alles andere – sind schöne Gedanken, die so durchrauschen. „Kultiviere die (unten erklärten)“ - hab ich noch eingefügt – „drei Gleichheiten“ - die brauchen wir jetzt auch nicht zu besprechen, die kommen später – „und bringe die drei Qualitäten hervor, - stets frei von Unterscheidungen zu sein: bei Nah- und Fernstehenden“, - frei von Unterscheidungen zu sein „bei (dem Erweisen von) Respekt, - sowie“ frei von Unterscheidung im Hinblick auf – „gut und schlecht.“ Das sind drei Qualitäten, die sich durch zunehmendes Geistestraining einstellen, dass wir nicht mehr in den Unterscheidungen verweilen: oh, dich kenne ich, du bist meine Freundin – oh, dich kenne ich nicht, das macht einen Unterschied. Dass unsere Herzensöffnung frei wird davon, wie gut wir jeman-den kennen, wie nah uns jemand ist, wie lieb uns jemand ist; dass die Herzensöffnung sogar bestehen bleibt, wenn uns jemand gar nicht wohlgesonnen ist oder gerade sehr kritische Gedanken uns gegen-über hat oder uns sogar ablehnt; dass unsere Herzensöffnung immer gleich bleiben darf. Wir bleiben frei von Unterscheidung. Frei von Anhaften an denen, die uns nahe stehen und frei von Ablehnen ge-genüber denen, die uns gerade etwas kritisieren oder nicht mögen. Beim Erweisen von Respekt ebenso. Wir möchten gerne respektvoll behandelt werden. Dann üben wir uns darin, anderen Respekt zu erweisen. Aber wir machen das lieber bei Menschen, die den Respekt verdienen, so heißt es ja. Im Geistestraining erweisen wir jedem Respekt, auch dem, der sich daneben benimmt, auch dem, der sich völlig unwürdig benimmt oder schlimme Dinge tut: Wir erweisen der Buddhanatur im anderen Respekt, nicht dem äußeren Verhalten. Wir erweisen dem letzten, dem kleinsten Insekt ebensolchen Respekt, wir erweisen der Natur Respekt, der Erde, dem Wasser, der Luft, der Nahrung, den Steinen, wir erweisen allem Respekt, frei von Unterscheidungen.

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Ihr werdet sehen, wie heilsam das ist. Ich selbst habe erst in den letzten Monaten einen inneren Pro-zess durchgemacht, wo ich endlich all das, was ich mit Menschen gelernt habe, konsequent auch auf die Natur ausgeweitet habe. Der Natur, die wir erst mal als Nicht-Lebewesen einstufen, weil Bäume nicht sprechen können und weil Gräser nicht in dem Sinne Wesen sind, die das Erwachen erlangen können. Aber wenn man die Unterweisungen Buddhas studiert, da ging es darum, keinen einzigen Grashalm unnötig zu knicken! Keinen Ast unnötig abzusägen! Keinen Baum unnötig zu fällen. Ein Respekt bis ins letzte hinein, ein völliger Respekt für das, was uns umgibt. Wir können uns bedienen, wir können uns nähren lassen von der Natur, aber: völliger Respekt für alles, was uns umgibt. Das ist alles damit gemeint, wenn wir beim Erweisen von Respekt keine Unterscheidung mehr ma-chen. Eine dankbare, würdigende, schätzende Grundhaltung all dem gegenüber, was uns umgibt und was wir selbst auch sind, Respekt auch uns selbst gegenüber, Wertschätzung. Der dritte Aspekt dieses Freiwerdens von Unterscheidungen bezieht sich auf Gut und Schlecht. Das sind ja unsere normalen Worte, die wir benutzen, wenn wir das für gut halten und das für schlecht. Damit ist hier gemeint: gute und schlechte Bedingungen für uns selbst. Wenn wir irgendwo hinkom-men und es wird uns nicht der Diwan angeboten, sondern wir müssen auf dem Boden schlafen, oder wir kriegen nicht tolle Nahrung, sondern etwas, das wir als schlecht einstufen. Wir werden nicht gut behandelt, sondern schlecht behandelt. Wir sind nicht mehr der Lhündrup, dem alle zuhören, sondern da wird einem über den Mund gefahren, da wird man gar nicht wahrgenommen – ja? Tolle Erfahrung. Geistestraining bedeutet, dass das Herz gleich offen bleibt, egal welche Erfahrung man da macht. Das ist ganz wichtig. Das wird eine solche Auswirkung aufs Leben haben, wenn sich diese Qualitäten ein-stellen – das Leben wird so leicht, so einfach. Mir geht es gut, mir geht es schlecht. Damit ist normalerweise gemeint: Ich bin glücklich oder ich habe Schmerzen. Mit geht es schlecht – ich habe grad eine Trennung hinter mir. Mir geht es schlecht, ich habe gerade starke körperliche Beschwerden. Mir geht es schlecht, weil ich mich schwach fühle. Darin frei zu bleiben bedeutet, dass der Geist glücklich sein kann, obwohl wir schwierige Bedingun-gen vorfinden. Das habe ich als lebendes Beispiel bei unserem Lehrer Gendün Rinpoche ständig vor Augen gehabt. Ich habe ihn ja als Arzt begleitet in den letzten Jahren seines Lebens, wo sich viele Zeichen des Alters bei ihm einstellten, es ging ihm nicht gut. Bis hin zur Halbseitenlähmung kurzzeitig mal, wo ihm das ganze Gesicht herunterhing, und so weiter – aber der Geist war völlig frei! Völlig frei von Beeinflus-sungen durch diese äußeren Schwankungen. Da konnte ich das erleben, was das bedeutet, wenn je-mand frei wird von diesen Schwankungen. Das ist uns auch möglich. Aber wir müssen daran arbeiten. Wir müssen den Weg gehen, um diese innere Freiheit zu entwickeln. Um das zu tun, schulen wir uns in dem, was das Hauptthema dieses Textes sein wird: „Schule dich zudem im Äußerst Kraftvollen Geist, im Unerschütterlichen Geist und im Vajragleichen Geist.“ Das sind drei Aspekte der Geisteshaltung auf dem Weg der Bodhisattvas, auf dem Weg derjenigen, die sich einsetzen möchten für das Erwachen aller fühlenden Wesen. Frage: Der Unterschied zwischen Gut und Schlecht, Nah und Fern – der ist mir nicht ganz klar. Lhündrup: Nah und Fern bedeutet Freund und Feind, personenbezogen, und Gut und Schlecht ist eine persönliche Einschätzung. Eigentlich bedeutet das alles dasselbe! (Kleine Pause) Es geht in diesem Text um eine Einführung in drei Geisteshaltungen, und die erste davon ... (Hier ist leider eine Unterbrechung in der Aufnahme).

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1. Der äußerst kraftvolle Geist „Der äußerst kraftvolle Geist besteht einfach in der Geisteshaltung des Großen Fahrzeugs, d.h. so wie ein jüngerer (Bodhisattva-) Bruder danach zu streben: ‚Möge ich all meinen älteren Brü-dern’ - und Schwestern – ‚in all ihren Handlungen gleich werden, indem ich wie sie das Rad des Dharmas drehe und die verschiedenen Aktivitäten der Erwachten ausführe.’ Diesen Herzens-wunsch hervorzurufen nennt man ‚Gleichheit mit allen’.“ Gendün Rinpoche hat uns das manchmal so erklärt, dass – wenn man zu Anfang in die Sangha kommt, in die Gemeinschaft der Praktizierenden, dann erlebt man zum Beispiel Dharmalehrer oder ältere Praktizierende oder einen Meister, die uns inspirieren. Wir sind ja wie Brüder und Schwestern in einer Sangha, eine Gemeinschaft besteht aus Gleichwertigen, und da gibt es aber Ältere und Jüngere: also welche, die uns inspirieren, weil sie schon Qualitäten freigesetzt haben, wären in dem Fall die Älteren. Dann den Wunsch zu entwickeln, solche Qualitäten auch freizusetzen und so wie dieser Mensch, der mich inspiriert, auch zum Wohl der Lebewesen, der Menschen, der Tiere und der unsichtbaren Lebe-wesen – so wie sie das ‚Rad des Dharmas’ drehen zu können – das heißt, die hilfreichen Unterweisun-gen weiter geben zu können. Dieser Wunsch darf sein und ist sogar sehr förderlich, wenn es nicht zu einer neuen Form von Ich-Ambition wird, sondern einfach Ausdruck der Inspiration ist, eines Tages so wie unser Lehrer auch hilfreich sein zu können – und so wie andere, die uns inspirieren. Das ist ganz normal, das ist in der Natur der Dinge! Im täglichen Leben ist das für uns selbstverständlich: Irgendwann sind wir mal zur Schule gegangen – und heute sind wir Lehrer in der Schule. Wir haben eine Lehre gemacht, und jetzt sind wir Meister. Wir haben eine Ausbildung gemacht, und jetzt sind wir Ausbildende. Das ist ganz normal. Und im Dharma ist das auch nicht anders. Wir gehen in die Lehre, und dann teilen wir das, was wir gelernt haben und lernen dabei ständig weiter. Es scheint so zu sein, dass auch Meister nie auslernen. Das ist mit inbegriffen, dieses Wissen darum, dass niemand je ausgelernt hat. „Der äußerst kraftvolle Geist“, diese Geisteshaltung, besteht also darin, den äußerst kraftvollen Wunsch zu machen, so zu werden wie die älteren Brüder und Schwestern. Damit ist nicht ausge-schlossen, sich zu sagen: So wie die Buddhas und Bodhisattvas, die uns besonders inspirieren. Denn prinzipiell sind wir gleich. In der Natur unseres Geistes besteht kein Unterschied zwischen uns und einem Buddha. Wir haben dieselbe Geistesnatur. Nur haben wir die noch nicht so freigelegt. Das ist der große Unterschied. Das was dazu führen wird, dass sich der Weg vollzieht und wir eines Tages wirklich hilfreich sein können, ist dieser Wunsch, dass sich der Weg vollzieht, eines Tages tatsächlich so hilfreich sein zu können. Wenn dieser Wunsch nicht entsteht, vollzieht sich der Weg langsamer oder gar nicht. Und wenn er zu einer ichbezogenen Ambition wird, dann wird genau dieser Wunsch zur Blockade. Es ist da wieder der Unterschied zwischen einer inneren Ausrichtung und einer Ambiti-on. Da ist eine feine Trennlinie. „Auch Buddha Shakyamuni brachte diesen äußerst kraftvollen Herzensgeist hervor, indem er sich wünschte, all die Lebewesen, die schlecht handeln, einen üblen Charakter haben und noch keine Schüler der Buddhas der drei Zeiten sind,“ - also der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – „zur Schulung zu bringen. Daraufhin“ - das heißt, nachdem er diesen Herzenswunsch hervorgeru-fen hat - „nahm er unermessliche Schwierigkeiten auf sich.“ Damit ist gemeint, er nahm in einem Leben ums andere die Schwierigkeiten auf sich, sich speziell den Lebewesen zuzuwenden, die besonders schwierig sind. Das ist das Spezielle am Bodhisattva-Weg, dass wir nicht nur mit denen arbeiten, die besonders leicht sind, mit denen es besonders einfach ist, sondern auch mit Situationen arbeiten, in denen es schwierig ist, dort wo normalerweise andere gar

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nicht hingehen, die wir meiden würden, wenn es uns darum ginge, eine ruhige Kugel zu schieben. Bodhisattvas schieben keine ruhige Kugel! Die kümmern sich um das, wo andere ihre Finger von las-sen würden. Wenn man das ein Leben lang tut, bringt das erst mal die Erfahrung eines Lebens. Wenn man das mehrere Leben tut, dann sammelt sich die Erfahrung des Umganges mit Schwierigkeiten an und dann wird es leichter, mit Schwierigkeiten umzugehen, die einem vorher fast nicht zu bewältigen schienen. Dann geht man in noch schwierigere Bereiche und entwickelt weitere Qualitäten, bis jemand in der Lage ist, mit total schwierigen Menschen umzugehen und total schwierigen Situationen, wo man sich nur denkt: Wie hält der das eigentlich aus? Oder wie hält sie das eigentlich aus? Wie ist das überhaupt möglich, so einem Menschen gegenüber noch Mitgefühl zu empfinden? Ich erzähle gerne die Situation, wo der 16. Karmapa die Nachricht erhielt von dem Tod von Mao Tse Tung. Ihr wisst, dass Mao dafür verantwortlich war, dass die Chinesen in Tibet eingefallen sind. Ihr wisst vielleicht nicht, dass der Dalai Lama Mitte der 50er Jahre zusammen mit dem 16. Karmapa nach Peking gereist war. Sie haben Mao persönlich aufgesucht und versucht, das Unheil abzuwenden. Sie kannten Mao persönlich und wussten von all den Gräueltaten, von all den Millionen von Menschen, die da gestorben sind. Als Mao starb, war Jubel, war Freude in Rumtek im Kloster, und Karmapa sagte: ja spinnt ihr denn? Was macht denn ihr? Das ist kein Grund zur Freude, das ist ja das Schlimmste, was Mao überhaupt passieren kann. Karmapa hat sich selbst sofort in Meditation gesetzt und hat versucht, den Geist von Mao zu begleiten auf dem schwierigen Weg nach dem Tod. Denn das was da auf ihn wartete, war sicher nicht ohne. Und hat seinen Mönchen untersagt, sich zu freuen über den Tod eines Widersachers, eines schlimmen Diktators. Wenn es Karmapa möglich gewesen wäre, hätte er sich auch schon zu Lebzeiten sehr viel mehr ge-kümmert – wie sich frühere Lehrer auch um die chinesischen Kaiser gekümmert haben, die oft nicht einfach waren, oder aber wie Atisha, auf den diese Unterweisung zurückgeht, sich seinen schwierigs-ten Begleiter mit nach Tibet genommen hat, damit er sich auf jeden Fall immer um diesen Menschen kümmern konnte und selbst für seine Praxis nie einen Mangel an Schwierigkeiten haben würde. Ihr kennt das ja gut, der Humor der Tibeter fügt dann an: Als er in Tibet ankam und die Tibeter ken-nen lernte, wusste er, dass er sich hätte sparen können, seinen schwierigsten Begleiter mitzunehmen – weil die waren schwierig genug! Frage: Er hat es ja nicht nur für sich gemacht, sondern für seinen Begleiter! Lhündrup: Er hat es eben auch für seinen Begleiter gemacht. Und er ist dann den Rest seines Lebens in Tibet geblieben und ist dort gestorben. Das ist damit gemeint, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Wir nehmen die Schwierigkeiten auf uns, wo wir meinen, damit wachsen zu können und dort hilfreich sein zu können. Wenn wir das Leben um Leben machen, dann vollzieht sich der Weg eines Bodhisattvas, wo wir in der Lage sind, immer hilf-reicher zu sein, so wie unsere älteren Brüder und Schwestern. „Vom Großen Mitfühlenden (Avalokiteshvara),“ - also Chenresi auf tibetisch – „als einem der Meister der drei Familien“ - der drei Bodhisattva-Familien – „heißt es, dass er als Verkörperung des Mitgefühls aller Erwachten der drei Zeiten erscheint und die Dreitausender-Universen mit seinen Ausstrahlungen füllt, wobei er unter anderem alle Bereiche des Daseinskreislaufs mit unermesslichen Wellen des Mitgefühls durchströmt.“ Avalokiteshvara, Chenresi, ist die Verkörperung des Mitgefühls aller Buddhas. Er wird oft so darge-stellt wie links auf dem Bild mit den vier Armen, die für die vier Qualitäten Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut stehen, mit einem Juwel in der Hand, das den Herzensgeist der Erwachten darstellt. Avalokiteshvara ist unter den drei Bodhisattva-Familien die Hauptfigur, man kann sagen die Hauptikone, der Familie, in der das Mitgefühl im Vordergrund steht.

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Manjushri mit seinem Flammenschwert ist derjenige, der hauptsächlich den Weisheitsaspekt verkör-pert, die Weisheit, die alle Unwissenheit durchtrennt, die alle verkehrten Annahmen über die Wirk-lichkeit durchschneidet, die alle Ichbezogenheit an der Wurzel durchtrennt – das ist mit dem Schwert gemeint. Vajrapani, der ist euch weniger bekannt - aber es gibt eine Form, die ihm sehr ähnlich ist, unten rechts auf dem Altar - ist dieser zornvoll dargestellte Aspekt. Das ist die Bodhisattva-Familie der Kraft oder des Schützens. Das sind diejenigen, die in besonders gefährliche Situationen gehen und mit großer Kraft den Weg des Erwachens schützen für alle Lebewesen. Da könnte man jetzt viel drüber sagen, wie diese drei Familien entstanden sind, wie man davon be-gonnen hat zu sprechen im dritten, vierten, fünften Jahrhundert. In Indien sind diese Bodhisattva-Familien immer mehr ins Bewusstsein gerückt, als drei Familien, zu denen Praktizierende einen inne-ren Zugang haben. Es mag zum Beispiel sein, dass jetzt unter uns hier im Raum vielleicht viele sind, die sich unmittelbar mit der Familie des Mitgefühls verbunden fühlen und da am stärksten abzurufen sind und damit ihren Einstieg in die spirituelle Praxis finden können. Aber ich bin auch überzeugt, dass einige hier sind, die den Zugang mehr über den Weisheitsaspekt, den Verständnisaspekt finden und darüber abzurufen sind bzw. so ihren Weg gehen. Und manche sind Schützernaturen, sind Beschützer, sind mehr in diesem Kraftaspekt. Aber alle diese Aspekte sind in jedem von uns vorhanden und keiner ist getrennt vom anderen. Das ist einfach das Spiel der Energien, manchmal ist mehr Mitgefühl im Vordergrund, manchmal mehr der Weisheitsaspekt und manchmal mehr der kraftvolle schützende Aspekt. Die sind alle der Ausdruck desselben erwachten Geistes. Hier heißt es also vom großen Mitfühlenden, dass er „als Verkörperung des Mitgefühls aller Erwach-ten der drei Zeiten erscheint, und die Dreitausender-Universen mit seinen Ausstrahlungen füllt“. Damit ist gemeint, dass das erwachte, erleuchtete Mitgefühl keine Grenzen kennt. Ein Dreitausender-Universum entspricht dem, was wir als unser Universum betrachten mit seinen zehn Milliarden Ga-laxien, die dann wieder Untersysteme haben mit Sonnensystemen, Gestirnen usw. Ein solches Univer-sum nennt man in der buddhistischen Ausdrucksweise ein Dreitausender-Universum. Davon gibt es wiederum unzählige, über das Universum hinaus, die uns durch die astronomischen Forschungen be-kannt sind. In all diesen Universen ist das erwachte Mitgefühl präsent und aktiv und erfasst alle Berei-che des Daseinskreislaufs mit „unermesslichen Wellen des Mitgefühls“. Nicht nur mit Wellen, also mit Gedanken, gedanklichen Wellen, sondern auch mit Aktivitätswellen. Wenn es die Möglichkeit gibt, manifestiert ein Bodhisattva ganz konkrete Handlungen mit dem Kör-per und mit der Rede, um Wesen tatsächlich zu helfen. Überall da, wo wir nicht mit unseren Worten und Handlungen hin können, dorthin schicken wir zumindest unsere Gedanken. Wir schicken unsere liebevolle Herzensöffnung in all die Bereiche, in die wir jetzt nicht persönlich gehen können. Da wo wir persönlich hingehen können, da handeln wir konkret. Ja, meine Zeit ist um! Ich denke, ich mache hier einen Schlussstrich für heute und mache dann morgen weiter.

Lasst uns gemeinsam eine Widmungsmeditation machen. Eine Widmungsmeditation besteht darin, alles Freudige, alles Heilsame, alles was uns jetzt genährt hat und was andere genährt hat, all das Gute, das entstanden ist durch diesen Austausch in den letzten eineinhalb Stunden zu verbinden mit allem anderen Guten und Heilsamen in dieser Welt – und es her-zuschenken.

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Möge was immer an Heilsamem entstanden ist, allen fühlenden Wesen zugute kommen. Möge es ih-ren Weg des Erwachens unterstützen, möge es sie stärken und dazu beitragen, sie alle zu befreien aus was für Verstrickungen auch immer, dass alle den Geist des Erwachens, der völligen Freiheit und des tiefsten Friedens erfahren. Zum Schluss dieser Widmung machen wir eine innere Bewegung von: das sei jetzt alles hergeschenkt, wir schicken es ins Universum hinaus und ruhen dann im Loslassen in völliger Natürlichkeit. --- Durch das Ruhen in Natürlichkeit enteignen wir die heilsame Handlung – das heißt, sie gehört nicht mehr mir, dem Ich. Da ist niemand, der jetzt gut oder schlecht praktiziert hat. Wir enteignen das. Was immer Gutes daran sein mag, sei allen Lebewesen geschenkt. Und dann sind wir ganz normal einfach der, der wir sind und – das ist es. Das ist so, wie wenn wir jemandem ein Geschenk machen, ja, nehmen wir mal an, ich würde dir was schenken, hier, ja, danke gesagt, ja, nichts für ungut! Und dann einfach sagen: weiter geht’s, das Le-ben geht weiter, nicht sich die heilsame Handlung selbst zu Buche schreiben. Einfach so – da – ist gut. 3. Tag Wir machen eine Zufluchtsmeditation. Für jemanden, der sich bereits klar darüber geworden ist, was seine innere Ausrichtung ist, ist die Zu-fluchtsmeditation zu Beginn einer Meditationspraxis im Grunde genommen einfach das Einladen die-ser inneren Ausrichtung in den gegenwärtigen Moment. Wir erinnern uns an die drei Juwelen, an das, was wir als unser Ziel verstehen. Was auch immer Erwachen für uns bedeutet, wir erinnern uns daran, das ist das erste Juwel: das Juwel des Erwachens oder das Buddhajuwel. Das zweite Juwel ist das Juwel des Weges: des Weges, der zum Erwachen führt, und auf diesem Weg wird uns vieles klar. Das ist das Entdecken der Wirklichkeit, der Wahrheit – so wie die Dinge halt sind. Das nennt man ihre Wirklichkeit oder die Wahrheit. Das ist das zweite Juwel. Das zweite Juwel ist die Wahrheit, die befreiende Wahrheit, der Weg. Das dritte Juwel – weil es ebenfalls schwer zu finden ist – sind kompetente Helfer: Eine Gemein-schaft, die in der Lage ist, uns auf diesem Weg des Freilegens tiefen Verständnisses, tiefer Liebe, zu helfen und uns so zum Erwachen begleitet oder geleitet. Es gibt Sangha, es gibt Gemeinschaft, die mit uns auf dem Weg ist, und es gibt auch die erwachten Meister, die bereits am Ziel angelangt sind oder nicht mehr weit vom vollkommenen Erwachen entfernt sind. Lasst uns jetzt einen Moment nehmen und jeder für sich die drei Juwelen in sein Leben einladen. Ich erinnere mich daran, was Erwachen für mich bedeutet, und lade es ein, jetzt in meinem Herzen Platz zu nehmen, sich einzufinden. Dann als zweiten Schritt lade ich das Juwel des Dharma ein, mir den Weg zu erhellen. Möge die Wirk-lichkeit, so wie die Dinge sind, immer deutlicher werden, immer klarer. Wenn ich das Juwel des Dharma einlade, muss ich Scheuklappen fallen lassen. Um Dinge zu entde-cken, die ich noch nicht kenne, ist es wichtig, neu hin zu schauen, auf neue Art zu schauen. Dann lade ich als Drittes das Juwel der Sangha ein. Die Sangha, die Gemeinschaft all derer, die mich auf dem Weg unterstützen, die den Weg kennt. Und auch dafür muss ich Platz machen. Das heißt, ich muss mich auch führen lassen, muss mich öffnen für Unterstützung. ----

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Die drei Juwelen Buddha, Dharma, Sangha in unser Leben einzuladen bedeutet also, Raum zu ma-chen, dass sich das Erwachen zeigen kann – dass sich die Wirklichkeit zeigen kann, so wie ich sie vielleicht vorher noch nie gesehen habe – dass ich authentische Begleiter, Lehrer finde, Helfer, von denen ich mich dann aber tatsächlich ein wenig führen lasse. So öffne ich mich für die drei Juwelen: das Ziel, den Weg, und die Helfer als Beginn einer jeden Me-ditationssitzung. ---- Das beschließe ich mit dem Wunsch, dass alle Lebewesen Zuflucht finden mögen, dass sie ihre drei Juwelen finden mögen – und schließlich das Erwachen erlangen. Nun gehen wir zu dem Text, den wir in den letzten beiden Tagen schon besprochen haben. Wir sind in dem Kapitel über die Äußerst Kraftvolle Geisteshaltung und hatten dort bereits die ersten beiden Absätze besprochen. Wir hatten über Avalokiteshvara, den großen Mitfühlenden, als Beispiel mitfühlenden Wirkens gesprochen – und nun kommt im nächsten Absatz Vajrapani zur Sprache. „Als Vajrapani in einem früheren Leben der Bodhisattva ‚Halter der Macht’ (auf Sanskrit Vegadharin) war, sagte er sich, dass es nicht dem großen Fahrzeug entspricht, (schnellstmög-lich) ein Buddha zu werden (Da muss man verstehen: schnellstmöglich ein Buddha zu werden, bevor die anderen Lebewesen Buddhas geworden sind). (Seitdem ihm dies klar wurde -)Seither bleibt er unentwegt als Bodhisattva im Daseinskreislauf, hilft den Lebewesen in ihrem Leid, nimmt un-ermessliche Schwierigkeiten auf sich und erfreut die Buddhas durch Zeichen seiner Verehrung. Da er die Qualitäten der Buddhas vervollkommnet hat, wurde er zum Halter der Geheimnisse sämtlicher Erwachten. Er unterwirft Mara, schützt vor Hindernissen und vollbringt auf vielfäl-tige Weise eine äußerst kraftvolle Aktivität.“ Von diesen drei Bodhisattva - Familien, von denen wir gestern sprachen, ist dies die Familie der Kraft oder der Macht. Der Bodhisattva Vajrapani wird als jemand sehr Kraftvolles beschrieben. Auch er hat schon, wie es heißt, unzählige Leben hinter sich, seitdem ihm klar wurde, dass es ihm nicht darum geht, selbst schnellstmöglich ein Buddha zu werden. Sondern er möchte sicher gehen, dass er so lange im Daseinskreislauf bleiben kann, wie es noch welche gibt, die seine Hilfe brauchen. Wenn wir uns das auf unsere Situation übertragen – was bedeutet das? Dann können wir uns sagen, wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt, dann bleiben wir einfach so lan-ge, bis die Schwierigkeiten beseitigt sind. Nehmen wir an, wir haben ein Wochenende auf einer Hütte verbracht und es geht dann noch darum aufzuräumen: ja, wir bleiben da, bis alles aufgeräumt ist. Und wenn wir hier zum Beispiel in einem Haus zusammen sind: wir bleiben da, wir stehen zur Verfü-gung, bis der Letzte satt ist – satt innerlich und äußerlich. Oder in eurem Beruf: wir bleiben da, bis der letzte Kunde oder der letzte Schüler zufrieden gestellt ist – in dem Rahmen, der sinnvoll ist natürlich; denn sie können ja auch noch am nächsten Tag kommen. Die Bodhisattvas - ihr Hauptanliegen ist, Samsara aufzuräumen, nicht eine Hütte, nicht ein Haus, nicht im Beruf, sondern ihre Berufung ist, alle Daseinsbereiche aufzuräumen, das heißt zu leeren, sodass alle Lebewesen aus Leid befreit sind. Der Wunsch ist, immer wieder zu kommen und auch dem letzten Lebewesen noch zu helfen, nirgendwo ein Lebewesen ohne Hilfe hängen zu lassen. Da die Vorstellung von Buddhaschaft damit verbunden ist, dass man dann selbst zum offenen Geistes-raum wird – und gerade im Theravada Buddhismus nicht damit die Vorstellung verbunden ist, wieder und wieder zu kehren in neue Leben, um weiter zu helfen – hat sich im Mahayana Buddhismus die

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Formulierung eingeprägt oder wird einfach sehr oft benutzt, die Buddhaschaft aufzuschieben und so-lange kein Buddha zu werden, bis alle Wesen befreit sind. Man nennt das: die Bodhisattvas auf der 10. Bodhisattva-Stufe. Das sind diejenigen, die zwar alle inneren Fähigkeiten entwickelt haben, aber im Daseinskreislauf bleiben, um diese Arbeit fortzusetzen. Obwohl das für uns, die wir hier zusammen sitzen, vielleicht ein etwas zu hoch gestecktes Ziel ist, weil wir noch nicht gelernt haben, uns selber aus der Patsche zu ziehen, so können wir uns doch davon inspirieren lassen. Denn der Weg der Befreiung geht viel schneller, wenn wir uns nicht nur um unsere eigene Befreiung kümmern. Es ist soviel wirksamer, wenn wir von Anfang an uns immer gleichzeitig auch um alle anderen kümmern, denen wir begegnen – und dies im Rahmen unserer Möglichkeiten gleich von Anfang an tun. Diese Haltung wird sich dann ausweiten, unsere Kräfte werden viel schnel-ler wachsen, als wenn wir uns nur um uns selbst kümmern. Aus eigener Erfahrung kennt ihr ja wohl Menschen, vielleicht habt ihr es selbst erlebt, die depressive Phasen im Leben erfahren haben. Eine Depression ist eine Zeit, wo wir sehr stark auf uns selbst zu-rück geworfen sind. Es ist ein Kennzeichen von depressiven Stimmungen, dass wir mit uns selbst be-schäftigt sind; wir sind in einer schlimmen Tiefstimmung, wo wir eigentlich ausschließlich mit uns selbst beschäftigt sind. Als Begleiter in solchen Situationen, bei Menschen, die durch solche Phasen durchgehen, konnte ich viele Male sehen, wie hilfreich das ist, wenn das erste Törchen aufgeht, wo man wieder jemanden anderes wahrnimmt und beginnt, sich um andere zu kümmern, obwohl es einem selbst gar nicht so gut geht. Ihr wisst, dass alle – das therapeutische Hündchen, die therapeutische Katze, es braucht gar kein Mensch zu sein, nur dass man sich einfach um jemanden kümmert. Dieses Sich Kümmern um andere setzt Kräfte frei, die nicht freigesetzt werden, wenn wir uns nur um unser eigenes Wohlergehen küm-mern. Diese grundlegende Wahrheit steckt auch in dem Wissen um das Bodhisattva Gelübde. Erstmal ge-schieht wirklich viel mehr für andere, wir sind viel mehr bereit, auf andere zuzugehen – und obendrein tut’s uns auch noch selber gut. Das mag uns jetzt vielleicht etwas überraschen, wir möchten uns doch nur für andere einsetzen, damit es ihnen gut geht, aber es ist leider eine Lebenstatsache oder ein Glück, dass es uns selbst dabei auch noch gut geht. Wir können uns gar nicht wirklich von Herzen um andere kümmern, ohne dass unser eigenes Herz aufgeht und wir dadurch mit inneren Räumen in Berührung kommen, wie einfach Freude, Glück und Dankbarkeit; oft sind wir einfach dankbar, auch helfen zu können, dankbar, da sein zu können, dank-bar, solch einen tiefen Austausch erlebt zu haben mit jemandem. Das ist gar nicht so, als würden wir da helfen. Je mehr wir auf eine einfühlsame Art und Weise helfen, desto mehr kommt es uns vor, als würden wir gar nicht helfen, als wären wir ständig die Beschenkten. Weil wir nicht dabei sind, aus dem Ich heraus zu geben, sondern wir sind einfach da, es fließt, wir hören zu, wir tauschen uns aus, tun selbstverständlich das, was notwendig ist, und fühlen uns beschenkt. Das Leben beschenkt uns mit ganz reichen Kontakten. Das fortzusetzen, bis auch dem Letzten und Schwierigsten geholfen wurde, das ist das Bodhisattva Gelübde. Vajrapani ist ein Beispiel für solch einen Bodhisattva, der unablässig zur Verfügung steht, um Menschen und Lebewesen in allen Daseinsbereichen auf dem Weg des Erwachens zu helfen. Übrigens sind Bodhisattvas nicht sektiererisch. Bodhisattvas manifestieren sich nicht nur in buddhisti-schen Ländern oder in buddhistischen Kreisen. Manche Bodhisattvas sagen auch: Nie wieder ein bud-dhistisches Zentrum! Da geh ich dann lieber zu ganz normalen Leuten! Ist viel einfacher! Bodhisattvas gehen überall hin, völlig ohne Unterscheidungen zu machen. Was wir gestern schon ge-sehen haben: ohne Unterscheidung nah- und fernstehend, keine Unterscheidung, was den Respekt angeht, was die Hilfestellung angeht, keine Unterscheidung, was Religionszugehörigkeiten angeht - es geht nur darum, sich dort einsetzen, wo es hilfreich ist. Jeder schaut halt, wo er hilfreich sein kann, wo seine Kräfte am sinnvollsten eingesetzt werden können.

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Ein weiteres Beispiel, das dritte jetzt in dieser Reihe, ist der edle Manjushri. Manjushri steht für die Bodhisattva - Familie, die den Weg über die Weisheit geht. Da sind die Weisheitskräfte im Vorder-grund. „Als der Edle Manjushri zum ersten Mal den Herzensgeist (Bodhicitta, den Geist des Erwachens) hervorbrachte, versprach er, alle Lebewesen zur Buddhaschaft zu bringen und solange selber die Aktivitäten eines Bodhisattvas auszuführen. Er legte das Gelübde ab, sie alle zur Erleuch-tung zu führen und selber solange kein Buddha zu werden, wie es in den zehn Richtungen (also in allen Richtungen des Universums) noch irgendein Lebewesen gibt, das noch nicht die Bud-dhaschaft erlangt hat. Er gelobte, bis zum Ende für jedes einzelne fühlende Wesen da zu bleiben und selbst für ein einziges unter ihnen nicht die Hölle unsäglicher Qualen und dergleichen Leid zu scheuen. Auf diese Weise würde er die Aktivität der Buddhas ausführen und selber dabei ein Bodhisattva bleiben. Er sagte: ‚Buddha zu werden, bevor dieses Gelübde erfüllt ist, wäre als würde ich die fünf Verbrechen mit unmittelbarer Folge begehen und die Tathagatas betrügen’. Dies sind die Pfade seines Strebens.“ ‚Pfade seines Strebens’ ist die genaue Übersetzung von dem, was wir normalerweise ‚Wunschgebet’ nennen. Der Pfad eines Strebens ist eine Verpflichtung, das zu tun, was man in einem Gebet ausge-drückt hat. Das ist ein Unterschied zu dem Gebet, was wir vielleicht früher als Kinder im christlichen Glauben kennen gelernt haben – denn die meisten von uns sind ja wohl doch damit groß geworden: Wir haben Wünsche gemacht in unseren Gebeten. Auf ganz einfache Art: Möge dieses und jenes geschehen, lie-ber Gott, kümmere dich drum, dass alle genug zu essen haben und dass es ihnen gut geht usw., wir haben Wünsche gemacht. Das ist die normale Art zu beten, die in der ganzen Welt am meisten verbrei-tet ist. In einem Gebet, so wie es die buddhistische Tradition lehrt, reicht das nicht. Der Wunsch, das Streben, das was unsere Vision ist von dem, wie es sein könnte, ist nur der erste Schritt. Wir wünschen zum Beispiel: Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Was das eigentlich bedeutet ist: Ich werde alles tun, damit sie glücklich sind und die Ursachen des Glücks erwerben. Ich werde selber alles dafür tun. Das heißt, ein Gebet in der buddhistischen Tradition geht immer mit einer Verpflichtung einher. Des-wegen nennt man das einen Pfad, einen Weg. Der Weg ist immer, das umzusetzen, was wir beten. Das Gebet führt zu einer Umsetzung des Gebets. Und wir sind die allerersten, die betroffen sind. Wir war-ten nicht auf jemand anders, der das für uns tut, sondern wir bringen auf jeden Fall schon mal unsere Energie ein. Dadurch kommen im Universum eine Menge Kräfte in Gang, die uns auf diesem Weg unterstützen. Wir dürfen auch einfach mal um Hilfe bitten, ohne uns für irgendetwas zu verpflichten, aber das ist die Form des Gebetes, wo es beim Wünschen bleibt, und die tatsächlich uns nicht so tief transformiert, wie wenn wir sagen: Ja, ich möchte, dass alle Menschen auf der Welt genug zu essen haben – und ich setz mich dafür ein. Das ist anders! – Ich wünsche mir, dass alle Wesen den Dharma lernen, erfahren können – und ich setze mich dafür ein. Das ist ganz was anderes. Das ist nicht so ein hohler Wunsch, so eine Blase, die wir da kreieren, die über uns schwebt, lauter gute Wünsche. Ich darf da vielleicht den berühmten Jesus von Nazareth zitieren: „An den Taten sollst du sie erken-nen!“ Ja – kennt ihr doch, den Spruch. Am Handeln erkennen wir die Menschen, die wahre Qualität der Menschen, nicht am Wünschen. Die Wünsche sind nur das, was dem Handeln vorausgeht. Frage: ... (Schlecht zu verstehen) Lhündrup: Ja, die Schwierigkeit ist folgende: je umfassender die Verwirklichung wird, desto schwerer ist es, in eine konkrete Existenz zu schlüpfen, in einen konkreten menschlichen Körper, zum Beispiel. Die Bodhisattvas sagen: Wir müssen bis zum Schluss uns die Fähigkeit bewahren, uns an den Orten

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manifestieren zu können, wo die Lebewesen sind, die abgeholt werden. Also – wenn Buddhaschaft bedeuten würde, einfach in einen offenen Geistesraum zu gehen, darin aufzugehen und sich dann nicht mehr konkret zu manifestieren, um helfen zu können – das möchten sie vermeiden. Frage: Die Möglichkeit hat Buddha nicht mehr? Lhündrup: Ja, ein Buddha, heißt es, wirkt dann in einem reinen Feld noch für eine Weile weiter. Wie zum Beispiel Buddha Amithaba für unglaublich lange Zeit in diesem reinen Bereich weiterwirken wird, den wir Dewachen nennen oder das Land der Freude. Aber dann irgendwann wird es nicht mehr möglich sein, auch diese subtile Präsenz noch aufrecht zu erhalten, die sehr kraftvoll ist, kraftvoll und subtil. Das ist dann der Übergang ins Parinirwana, ins vollkommene Nirwana. Dieses Parinirwana versuchen die Bodhisattvas hinauszuschieben und machen deshalb immer wieder ganz viele Wünsche, die Fähigkeit weiter zu behalten, sich konkret zu manifestieren. Für uns jetzt auf der ganz praktischen Ebene ist es mehr so etwas, was wir einfach hören und mal zur Kenntnis nehmen. Wir werden keine Mühe haben, wieder einen Körper anzunehmen nach diesem Tod, weil wir noch ganz schön viel Anhaften übrig haben. Also die Kräfte reichen durchaus aus dafür, aber so als Vorbereitung könnten wir das schon mal mit uns tragen! Dass wir uns zwar lösen aus allen Anhaftungen, aber nach Möglichkeiten schauen, in diesem Universum auch aktiv zu sein. Das hat zur Folge, dass man zwar sagen kann, okay, ich verbringe einen Großteil meines Lebens in Zurückzie-hung, aber dann kommt wieder eine Zeit, wo ich mich engagiere, konkret auf und in der Welt. Oder ich verbringe sogar ein ganzes Leben in Zurückziehung, aber ich werde das nicht alle Leben tun, son-dern – wenn ich die notwendigen Kräfte entwickelt habe, tatsächlich damit zum Wohle der Wesen wirken. Im Grunde genommen geht es darum, alle fühlenden Wesen als unsere große Familie zu betrachten und zu sagen: Bevor nicht auch der letzte meiner Brüder, die letzte meiner Schwestern alle Unterstüt-zung bekommen hat, werde ich nicht fortgehen. Es ist eigentlich diese Grundhaltung, alle, denen wir begegnen, alle die es gibt, als unsere Familie zu betrachten. Mit dieser Haltung allen zu begegnen – und der Rest ist einfach die Folge davon, ist die logische Folge -, wenn man diese innere Haltung hat, dann ergibt sich alles andere wie von selbst. Ich unterrichte hier zum Beispiel immer mit dem Blick auf die Kirche gegenüber. Das ist ja eine sehr spannende Situation, ja, es hat zwei Kirchen gegenüber! Das ist unsere Familie, ja? Ist Teil unserer Familie. Der Nachbar rechts und das Haus links und dann das Landratsamt – ist alles Familie. Ist nicht ausgeschlossen, gehören mit dazu. Wenn es irgendwann Kontakt gibt, wird sich diese Haltung be-merkbar machen, indem wir einfach offen und freundlich sind und – so ein Kontakt ist etwas ganz Selbstverständliches. Es wird niemand ausgegrenzt. Es gibt keine Feinde per se, es gibt nur Menschen, die sich missverstehen. Daran müssen wir arbeiten, dass wir uns immer besser verstehen. Ich lese jetzt noch mal innerlich den Absatz durch und schaue, was ich vielleicht noch erklären müss-te. Ja, da ist dieser Satz, dieser unglaubliche Satz, und das ist genau das, was den Unterschied ausmachen soll in diesem Text: „und selbst für ein einziges unter ihnen nicht die Hölle unsäglicher Qualen und dergleichen Leid zu scheuen.“ Darauf kommt es dem Autor hier an, das noch mal zu unterstrei-chen, und alles andere war schon gesagt worden. Es geht um die zusätzliche Ausrichtung zu sagen: Und selbst in den Bereich größter Qualen bin ich bereit zu gehen, mich dort zu manifestieren, dort das Leben zu teilen, um – sei es auch nur ein einziges – Lebewesen daraus zu befreien. Wollen wir uns das eben mal übersetzen auf unsere Lebenssituation? Unter den Menschen, jetzt, auf dem Planeten? 6 Milliarden ungefähr. Da gibt es Orte, wo wir nicht gerne hingehen würden. Da gibt es Familien, wo wir nicht gerne hingehen würden, nicht gerne geboren werden würden. Da gibt es Län-der, Landstriche, Bereiche auf dieser Erde –, würde uns schwer fallen. Diese Haltung jetzt mal ganz konkret umzusetzen, bedeutet, vielleicht sogar zu sagen: wo sind eigentlich die Bereiche in Freiburg, die ich vermeide? Die ich fast wie aus meinem Herzen ausgeschlossen habe. Und wir brauchen nicht direkt dorthin zu gehen, das ist nicht damit gemeint, aber sie einzubeziehen ins Herz und zu sagen:

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Wenn ich dann mal in der Lage bin und es sich ergibt, werde ich mich auch um diese Menschen küm-mern. Gerade dort, wo es für mich schwierig ist, habe ich ja auch sehr viel zu lernen. Dorthin zu gehen, wo es so schwierig wird, das ist die Geisteshaltung der Bodhisattvas. Es ist so, dass jemand, der diesen Weg des Erwachens geht, das Loslassen lernt, das Herz öffnet, dem wird es, wenn er intensiv prakti-ziert, in diesem Leben schon deutlich besser gehen. Er wird selbst recht glücklich sein, sogar sehr glücklich, und dann könnte man es sich da ganz bequem einrichten. Man könnte ja sagen: okay, jetzt geht’s mir gut, ich habe auch liebe Freunde, jetzt machen wir uns keinen Stress, ja, wir lassen es uns jetzt mal gut gehen. Mit diesen Freunden treffe ich mich regelmäßig und wir machen schöne Dinge zusammen, wir unterstützen uns gegenseitig. Das wäre so eine selbstgenügsame Haltung. Der Bodhisattvaweg sprengt diese Haltung, bereitet uns jetzt schon, wo es uns gar nicht so super geht, darauf vor, wenn es soweit ist, dass wir etwas überschüssige Kraft haben, dass wir uns gleich den nächsten Herausforderungen stellen und dorthin gehen, wo es schwierig ist. Es ist etwas vom Schöns-ten überhaupt, wenn man merkt, dass Menschen, denen es rundum gut geht, sich um andere kümmern. Dass die da sind, dass die ihre Ressourcen zur Verfügung stellen, und nicht ausblenden, was anderswo passiert. Sie ziehen sich nicht in ein Ghetto zurück, was beschützt wird, wo sie ihre Schützer rundher-um aufbauen, sei es mit Zäunen, sei es ohne Zäune, und dann leben sie in einem künstlichen Ghetto. Das ist nicht unser Weg. Der Weg des Erwachens geht immer dorthin, wo die nächste Herausforde-rung auf uns wartet. Im Moment mögt ihr zwar sagen: mein Leben ist mir Herausforderung genug! Das ist okay. Irgendwann wird diese Herausforderung gemeistert sein. Da wird dann neue Kraft ent-stehen, neuer Raum entstehen. Dann gehen wir einen Schritt weiter. Das tut ihr ja schon in euren Beru-fen. Das tut ihr ja schon mit euren Kindern. Da gibt es ja vieles, was uns immer wieder über unsere Grenzen hinaus herausfordert. Ihr kümmert euch vielleicht auch um eure Eltern, usw. Genau solche Situationen, davon spreche ich. Das was wir normalerweise uns nicht wünschen, was wir uns nicht einladen würden, das ist des Bodhisattvas erster Wunsch. Der erste und wichtigste Wunsch ist, die Fähigkeiten zu entwickeln, selbst denen, die so schwer zu erreichen sind, wie in den Bereichen unsäg-licher Qual, und speziell auch dort hilfreich sein zu können. Jetzt kommen wir in der Darstellung dieser verschiedenen Bodhisattva-Beispiele zu Bodhisattva Sa-mantabhadra. Das ist der nächste Abschnitt. „Noch kraftvoller als sie alle ist der (Pfad des Strebens des) Bodhisattva Samantabhadra,“ also ist die Art, wie der Bodhisattva Samantabhadra seine Wünsche umsetzt. „Denn dieser nahm, als er zum ersten Mal den Herzensgeist hervorbrachte, alle nur möglichen Herzensanliegen sämtlicher Buddhas der drei Zeiten in seine Herzenswünsche auf. Beim Aus-führen der Aktivitäten der Bodhisattvas schultert er ausnahmslos alle Schwierigkeiten der Bodhisattvas aller drei Zeiten, mit dem Wunsch, alle Lebewesen überall, was immer die Gren-zen des Weltalls sind, ohne Ausnahme zur Buddhaschaft zu führen. Er gelobte, als Bodhisattva die Aktivitäten aller Buddhas der drei Zeiten zu vervollkommnen und in den Gefilden“ also das sind die reinen Gefilde „eines jeden Buddhas deren unvorstellbares Wirken auszuführen und dabei – und sei es auch nur für ein einziges Lebewesen – für unermess-liche Weltzeitalter die Leiden der Hölle unsäglicher Qualen und dergleichen zu erdulden und die Handlungen aller Buddhas der drei Zeiten auszuführen. Er sagte: ‚Ich werde die Geisteshaltung hervorbringen, welche die Bodhisattvas der drei Zeiten noch nicht entwickelt haben, und die Aktivitäten ausführen, die ihnen zu schwierig sind, um so die Lebewesen zur Buddhaschaft zu führen, die (sogar) von jenen aufgegeben wurden, die gro-ßes Mitgefühl besitzen und geschickt in Mitteln sind.’ So erzeugte er den Herzensgeist und brachte dann mit so vielen Ausstrahlungskörpern, wie es Partikel im Universum gibt, vor jedem Buddha äußere, innere und geheime Opferungen dar. Mit jedem Körper reinigte er zudem un-ermessliche Gefilde. Ebenso praktizierte er Pfade des Strebens, die schwer anzuleitenden Lebe-wesen zu schulen, deren Verhalten schwer zu bezähmen ist.

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Diese drei Abschnitte führen uns ein in das, was den Bodhisattva Samantabhadra ausmacht und damit der Kernpunkt dieses Textes ist: das Geistestraining des Bodhisattva Samantabhadra. Wenn wir uns anschauen, was da steht, dann haben wir einen jungen Bodhisattva vor uns, der sozusa-gen die Ärmel hochkrempelt und sagt: Also, was immer die Bodhisattvas und Buddhas der drei Zeiten, also der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alle, noch nicht geschafft haben, ich packe es an. Was ihre Herzenswünsche sind, seien meine Herzenswünsche. Was ihr Wirken in den reinen Gefilden ist, sei mein Wirken. Wenn man das aus einem christlichen Blickpunkt anschaut, könnte man denken, das ist Hybris, ist Anmaßung. Ja? Was fällt denn dem ein? Stellt der sich über all diese Buddhas und Bodhisattvas? Meint er, er wäre besser? Meint er, er könnte das? Dies ist nicht das Denken von Samantabhadra. Das Denken von Samantabhadra ist: Was auch immer an Hindernissen im eigenen Geist vorhanden ist, was bewirkt, dass man irgendeinem Lebewesen nicht helfen kann, möge sich all das auflösen! Und vor nichts zurückzuschrecken! Das heißt, alle Begren-zungen im Geist, in der Motivation, zu sprengen. Das ist die eigentliche Botschaft hier. Beschränkende Gedanken aufzulösen, damit die Motivation allumfassend wird und nichts mehr ausschließt. Wäre ja schön, wenn ich jetzt gerade eure Gedanken lesen könnte, aber – es gibt ja in jedem von uns auch so einen Zauderer, jemanden, der zurückschreckt vor großen Aufgaben; also die einem vorkom-men, als wären es große Aufgaben. Zaudern, das verkaufen wir manchmal als Realismus, auf dem Boden der Dinge stehen. Und eigentlich, das was wir da als unser Krisenmanagement verkaufen, ist nur Ausdruck dessen, dass wir unser Herz nicht aufkriegen. Speziell natürlich im Umgang mit zwi-schenmenschlichen Situationen. Was dieser Text, diese Unterweisung, hier anspricht, ist, dass wir uns erlauben sollten, zumindest gelegentlich mal eine Vision zu entwickeln frei von Zaudern, frei von Hemmungen, frei von selbst auferlegten Gedanken wie „Kann ich nicht, darf ich nicht, haben schon andere versucht – ist doch unmöglich“, diese Art von Gedanken. Dass wir es einfach mal wagen, eine allumfassende Vision zu entwickeln, die durch nichts gebremst ist. Dann können wir ja immer noch auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und sagen: „Und jetzt? Was ist konkret möglich? Was ist jetzt als nächster Schritt möglich? Das müssen wir: Wir müssen die Vision dessen, was sein könnte, austesten in der Wirklichkeit. Aber wenn wir schon gar keine Vision mehr haben, wenn wir uns schon gar nicht mehr erlauben, frei und umfassend zu denken, dann man-gelt es uns an Kraft für die kleinen Dinge im Alltag. Wir finden plötzlich nicht mehr die Kraft, weil wir uns in vielen Situationen schon durch unser Denken die Kraft abstellen. Wir erlauben uns gar nicht mehr, uns vorzustellen, wie das sein könnte, wenn jetzt diese Situation – meine Arbeitssituation zum Beispiel oder die Situation in der Familie oder eine Gemeinde, Stadt meine ich jetzt, Dorf, Städtchen, Stadt ... – wie das aussehen könnte, wenn das alles blüht, wenn alle Qualitäten angesprochen sind. Damit ein Lebensprojekt, damit unser Leben seine ganze Kraft entwickelt, braucht es eine nährende Vision. Es braucht eine Vision, die uns Kraft gibt. Und worum es hier geht, ist eine Vision, die nicht nur diesem Leben Kraft gibt, sondern allen zukünf-tigen Leben ebenfalls. Wer sich darauf einlassen kann, was hier angesprochen wird, und sagen kann: Tatsächlich, in diesem Leben und in allen folgenden Leben möchte ich alles daransetzen, alle Lebewesen zum Erwachen zu führen. Wer sich darauf einlassen kann, der hat ein sehr inspirierendes Projekt! Eine große Vision! Und wenn man sich immer wieder an diese große Vision erinnert, dann kommt daraus die Kraft für die kleinen Schritte. Viel mehr Kraft, als wenn wir uns sagen würden: Backen wir mal kleine Brötchen, ohne überhaupt an große Brötchen zu denken. Backen wir nur noch kleine Brötchen, dann werden die kleinen Brötchen immer kleiner. Weil wir realistischer werden. Wenn Schwierigkeiten auftauchen: statt die Kraft der Vision zu verstärken, backen wir einfach kleinere Brötchen!

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Der Bodhisattva geht damit anders um. Wenn eine Schwierigkeit auftaucht, dann brauchen wir neue Kraft. Wir müssen irgendwie die Freude, den Enthusiasmus wieder freisetzen, um die Schwierigkeit überwinden zu können. Das heißt, der Bodhisattva widmet sich der Vision, die die notwendigen Kräfte freisetzt, um diese Schwierigkeiten zu überwinden, während der so genannte Realist seine Vision zu-rückschraubt, Kurskorrektur, und kleinere Brötchen backt. Aber er bleibt dann leider meistens bei den kleineren Brötchen. Das ist sein Problem. Das macht ihn auch unglücklich auf die Dauer. Zum Beispiel haben wir eine Vision von einer Paarbeziehung. Wir wünschen uns, die Paarbeziehung sollte so aussehen. Dann kommt die Realität. Da gibt es zwei Möglichkeiten. An sich zu arbeiten, die Kräfte freizusetzen, um diese Vision dann doch noch Wirklichkeit werden zu lassen, was ich euch allen wünsche, oder man richtet sich mit der Realität ein, gibt seine Vision auf und sagt: Meine Frau ist halt so, mein Mann ist halt so, jetzt leben wir mal damit, er muss mich akzeptieren, wie ich bin, ich akzeptiere ihn so, wie er ist, und dann hört die Arbeit an sich selbst immer mehr auf. Man schränkt sich ein. Etwas schläft ein. Wenn es dann nur einschläft, na ja, okay, aber meistens gibt es dann Zoff und die Beziehung geht auseinander. Die Energien ziehen sich zurück. Wir haben den Kontakt zu unserer Vision verloren, und wir haben vielleicht auch einen Fehler gemacht: wir haben nicht sauber unterschieden zwischen Vision und dem, was jetzt die nächsten Schritte sind; das darf man nicht verwechseln. Jemand, der eine Vision für Wirklichkeit hält, der ist ein Träumer. Das ist ein Nur-Idealist. Damit kommen wir nicht weit. Wir dürfen nicht enttäuscht sein, wenn in einer Beziehung sich die Vision nicht einstellt. Das geht ja gar nicht, weil unsere Vision wahrscheinlich so schön ist, so wunderbar, dass sie mit dem Karma der beteiligten Personen nicht unbedingt viel zu tun hat, also mit den Tenden-zen, dem, was wir in unserem Geist so an Emotionen haben: Stolz, Machtstreben, Eifersucht, Begier-de, Ablehnung... Diese Kräfte sind ja auch da, und die Vision ist, so miteinander zu leben, dass sich diese Kräfte allmählich erschöpfen, auflösen, und dass wir der Vision dessen, was eine liebevolle Be-ziehung ist, näher kommen. Enttäuscht zu sein, weil die Vision noch nicht Wirklichkeit ist, bedeutet, dass wir uns getäuscht haben. Wir haben eine Vision für Wirklichkeit gehalten, aber es war nur ein Traum. Wenn die Erfahrung uns zeigt: Hör mal, hier das entspricht nicht deiner Vorstellung dessen wie du es gerne hättest, und es ist wichtig, das ganz direkt und klar anzuschauen und zu fragen: Und jetzt? Was mache ich damit? Wie kann ich mich an die Vision annähern? Welche Kräfte braucht das? Welches sind jetzt die Kräfte, die ich freisetzen muss? Das ist die Arbeit, die ein Bodhisattva immer macht. Man kann sagen, der Trick der Bodhisattvas ist, dass sie einfach auf der Suche sind nach der allergrößten, umfassendsten Vision, die es überhaupt gibt. Für alle. Das ist, was hier zum Ausdruck kommt. Das wird die „äußerst kraftvolle Geisteshaltung“ genannt, weil wer immer diese Vision im Herzen trägt, hat ganz viel Kraft, um die vielen kleinen Schwierigkeiten des Alltags zu überwinden. Und er weiß, es braucht Ausdauer. Es braucht unglaubli-che Ausdauer, um diese Vision umzusetzen. Das ist nicht mit ein paar Jahren Anstrengung getan, das ist nicht mit einem Leben Anstrengung getan, es braucht Ausdauer von Leben zu Leben zu Leben... um diese Vision umzusetzen. Das bringt ganz viel Geduld! Das bringt Geduld, Ausdauer bei der Ar-beit am Wesentlichen, am Essentiellen. Ich hatte diesen Text für dieses Jahr ja schon ausgesucht, bevor Karmapa diesem Haus den Namen „Haus freudiger Ausdauer“ geschenkt hat. Das ist ein Text, den wir vor sechs Jahren etwa von Khenpo Chödrak Rinpoche gelehrt bekommen haben. Für mich ist das eine Unterweisung, die diese allumfas-sende Bodhisattva-Vision sehr schön anspricht. Heutzutage erscheint es mir auch sehr wichtig, dieses Zusammenspiel zwischen Vision und Bewältigen der Wirklichkeit zu klären und anzusprechen, wie das geht, dass eine Vision keine Träumerei wird und dass der Realismus keine Einengung wird, keine Beschränkung auf immer weniger. Wenn es übrigens da heißt, dass Samantabhadra mit so vielen Ausstrahlungskörpern, wie es Partikel im Universum gibt, jedem Buddha Opferungen dargebracht hat, dann ist damit gemeint, dass er das in

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meditativer Versenkung praktiziert hat. Er hat sich das vorgestellt und es wurde geistige Wirklichkeit, dass er sich mit jedem Buddha, wo auch immer, verbunden hat, dessen Unterweisungen zugehört hat, ihm seinen Respekt bezeigt hat, und überall mithilft in dem, was man das Reinigen der Gefilde nennt. Dies ist ein Ausdruck, den möchte ich euch gerne mal erklären. Gefilde zu reinigen – für die, die hier und da mal buddhistische Texte lesen, ihr seid vielleicht schon mal diesem Begriff begegnet: Aus der Sicht eines Erwachten ist der Geist eines jeden Lebewesens ein Reines Gefilde. Also – wir sitzen hier im Raum mit 50, 60 oder noch mehr Reinen Gefilden. Der Geist eines jeden ist ein Reines Land. Denn aus der Sicht der Erwachten sind wir potentielle Erwachte, und wenn man tief genug schaut, kann man den Buddha in uns jetzt schon sehen. Aus dieser Sicht heraus ist unser Geist bereits rein. Dieses Reine Gefilde wird noch gereinigt, damit es wirklich zu dem erwacht, was es potentiell ist – das nennt man das Reinigen der Gefilde. Das bedeutet, es ist die Arbeit der Buddhas und Bodhisattvas, mit den verschleierten Lebewesen, um die – wie könnte man sagen – die Wolken aus dem Reinen Gefilde zu vertreiben, um die Schleier zu lüften, um die Schranken aufzulösen, die Beschränkungen im Geist aufzulösen, dass ein jeder wirklich zu dem werden kann, was er oder sie zutiefst ist. Das nennt man das Kultivieren oder Reinigen von Gefilden; damit ist die Arbeit mit dem Geist eines jeden Lebewesens gemeint. Die Äußerst Kraftvolle Geisteshaltung schreckt vor nichts zurück. Aber sie ist auch weise – das heißt, sie geht nicht das noch zu Schwierige als Erstes an, sondern ein Bodhisattva geht immer das an, was jetzt ansteht und was im Rahmen der Möglichkeiten liegt. Wenn wir uns zum Beispiel jetzt vornehmen würden, ich möchte, wenn ich diesen Körper verlasse, in den Höllenbereichen wiedergeboren werden in unsäglichen Qualen, um dort zu helfen, wären wir vermutlich etwas überfordert. Wir sind wie Sozialarbeiter, die in Brennpunkten eingesetzt werden. Aber wenn es zu stark brennt, dann sind wir nicht in der Lage, wirklich hilfreich zu sein. Dann zehrt uns das auf, dann sind wir bald selbst ausgebrannt, und es hat niemandem etwas genutzt. Ein Bodhisattva, der vor so einer Situation steht, wo er jetzt gerade nicht helfen kann, macht Wünsche, später helfen zu können, macht Wünsche, bis dahin die Kräfte entwickelt zu haben, die notwendig sind, um in solch einer Situation hilfreich zu sein. Samantabhadra „gelobte, sämtliche Aktivitäten der Buddhas auszuführen und in jedem Mo-ment die Aktivitäten aller Buddhas der drei Zeiten zu vervollkommnen. Er sagte: ‚Buddha zu werden, bevor diese Wünsche vollkommen erfüllt sind, wäre so, als würde ich die Tathagatas der drei Zeiten betrügen.’ Dies sind die Pfade seines Strebens. Solch eine Haltung des Herzens hervorzubringen gleicht dem Himmelsraum; Worte können sie nicht erfassen.“ Worum es mir jetzt geht, ist nur, dass wir vielleicht erahnen, wie unermesslich weit diese Geisteshal-tung ist - dass wir es nur für einen Moment erahnen, erspüren – eine Liebe, ein Mitgefühl, das keinerlei Grenzen mehr kennt, das vor nichts mehr zurückschreckt, das keine Schwierigkeiten scheut ---Liebe und Mitgefühl, die so weit sind wie der Himmelsraum und die alle Erfahrungsbereiche um-fassen, alle Lebewesen umfassen, alle Situationen --- nichts ist mehr ausgeschlossen. --- Nur wenn wir nicht mehr in Ichbezogenheit verstrickt sind, ist es möglich, solch eine Geistesweite tatsächlich dann auch zu leben. Die Lehrer fahren fort und sagen: „Lasst uns eine (solche) Geisteshaltung hervorbringen, die noch weiter und größer ist als die der Buddhas und Bodhisattvas.“

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Das sagen sie nur so, weil, wenn das noch eine Beschränkung wäre zu sagen: Ich entwickle dieselbe Geisteshaltung wie die Buddhas und Bodhisattvas, wenn sich das noch als Beschränkung auf unseren Geist auswirken würde, dann sollten wir uns wünschen, eine noch größere, weniger beschränkte Geis-teshaltung hervorzubringen. Es ist so ein bisschen asiatische Logik. Wir würden es im Westen vielleicht nicht ganz auf dieselbe Art ausdrücken. Wir denken hier, dass man die Buddhas und Bodhisattvas noch übertreffen möchte, um alle Begrenzungen zu sprengen. Wenn ein Ausdruck wie: „so wie alle Buddhas und Bodhisattvas der Vergangenheit...“ eine Beschränkung in unserem Geist bewirkt, dann müssen wir halt auch die noch sprengen, auflösen… und sprechen dann von all dem unermesslichen Wirken aller Buddhas und Bodhisattvas und noch mehr, wenn es nötig ist. „Auf dieser Basis“ - auf der Basis einer solchen Ahnung, eines solchen Erspürens von dem, was es ausmacht, solch eine Geisteshaltung zu entwickeln, auf dieser Basis - „wird der Geist des Erwachens zunächst entstehen, dann auf ihr verweilen und schließlich ins Erwachen münden. Verzage nicht.“ Dieses ‚Verzage nicht’ ist für mich die Rückkehr aus der Vision in die gelebte Wirklichkeit. In der gelebten Wirklichkeit sind wir oft verzweifelt, sind wir oft entmutigt, finden wir oft nicht die Kraft, den nächsten Schritt zu tun. Und dieses ‚verzage nicht’, damit kommt zum Ausdruck, dass die Lehrer, die diese Unterweisung geben, genau wissen, wie groß die Diskrepanz ist zwischen der Vision und der gelebten Wirklichkeit. Und sie lassen uns diese Vision spüren, erahnen, und dann sagen sie: Ja, wenn du diese Vision erahnen kannst, erspüren kannst, dann – was als nächstes passieren wird, ist, dass du tatsächlich Bodhicitta entwickelst, dass du tatsächlich den Geist des Erwachens hervorrufst, der darin besteht zu sagen: Die-ses Leben und alle folgenden Leben werde ich mich für das Erwachen sämtlicher Lebewesen einset-zen. Das nennt man: das erste Mal den Geist des Erwachens, das Bodhicitta, in sich zu spüren, wenn dieser Entschluss, dieses Streben in uns herangereift ist. Diese große weite Geisteshaltung, sozusagen das Super-Mega-Bodhicitta von Samantabhadra, von dem wir gerade gesprochen haben, das wird uns geschildert, damit es uns inspirieren möge, den ersten Schritt zu gehen, zu sagen: Ich stelle mein Leben in den Dienst von allen. Das ist der erste Schritt. Dann der zweite ist zu sagen: und auch alle folgenden Leben in den Dienst von allen zu stellen. Und das nennt man das Entstehen von Bodhicitta. Auf dieser Basis einer solchen Vision, getragen von einer solchen Vision völliger Selbstlosigkeit wird sich das Bodhicitta weiter entwickeln, es wird sich entfalten. Es wird getestet werden in Situationen, wir werden uns immer wieder an die ursprüngliche Vision zurückerinnern, wir werden es bekräftigen, es wird neue Kraft zufließen, wir werden Qualitäten freisetzen, und so entwickelt sich Bodhicitta und wird immer stabiler, kontinuierlicher und – erprobter! Es ist dann ein erprobtes Bodhicitta, nicht mehr nur Absicht, sondern bereits Anwendung. Wir erproben es in der Anwendung, und dadurch wächst es. Es entwickelt sich so dieser selbstlose Geist, authentischer Geist von Liebe und Mitgefühl, der von Weisheit durchdrungen ist – und das mündet schlussendlich ins Erwachen. Das löst schlussendlich alle Begrenzungen der Ichbezogenheit auf, alles Haften. Das nennen wir dann Erwachen, wenn alle Quali-täten zum Vorschein gekommen sind. „Da diese Geisteshaltung die Verbindung ist zu Leid, das Joch für Glück, die Eskorte für Ängst-liche, die Medizin für Krankheiten und Dämonen und das Mittel, unsere emotionale Verblen-dung einzuebnen, übe dich in ihr wie die Buddhas und Bodhisattvas und führe folgende Visuali-sation aus.“ Das machen wir dann morgen, die Visualisation, aber ich erkläre euch jetzt noch diesen Absatz.

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Diejenigen, die ein gutes Gedächtnis haben und vielleicht auch den Text vom letzten Jahr noch mal in die Hände genommen haben, die dürften in diesem Absatz all die Unterweisungen von Serlingpa wie-der erkennen: „Da diese Geisteshaltung die Verbindung ist zu Leid, das Joch für Glück, Eskorte für Ängstliche, die Medizin für Krankheiten und Dämonen und das Mittel, unsere emotionale Verblen-dung einzuebnen“. Aber für die, die nicht da waren und die nicht so ein Gedächtnis haben, für die erkläre ich es noch einmal. Wer diese Geisteshaltung in sich hervorruft, wer mit dieser inneren Haltung in Berührung ist, sich davon durchfluten lässt, wird nie den Blick abwenden von all den Schwierigkeiten, dem Leid, das es in dieser Welt gibt. Der wird den Blick ausdehnen vom persönlichen, dem eigenen Leid, auf das Leid derer, die uns umgeben, weiter ausweiten auf den Tierbereich, nicht nur den Menschenbereich, und noch weiter ausweiten in all die anderen Bereiche, zu denen wir jetzt keinen unmittelbaren Zugang haben. Diese Geisteshaltung ist wie ein Spürsinn, eine Antenne dafür, wahrzunehmen, wo wir noch hilfreich sein können, damit sich noch etwas entspannt, damit etwas weniger Leid da ist, etwas weniger An-spannung da ist. Wir entwickeln dank dieser Geisteshaltung einen Spürsinn dafür, wo noch Anspan-nung besteht und wie wir hilfreich sein können, diese Anspannung aufzulösen. Diese Bodhicitta Geisteshaltung ist ebenfalls das „Joch für Glück“. Wenn wir das zum ersten Mal hören, wird es uns überraschen – Joch für Glück? Das Glück muss doch nicht unterjocht werden. Was gemeint ist, ist, dass wir im Glück, wenn es uns gut geht, schnell mal die anderen vergessen, dass wir von einer Welle der Euphorie fort getragen werden und dass wir lernen müssen, mit Glück gut umzu-gehen. Es ist eine besondere Aufgabe der Bodhisattvas, denn das persönliche Leid hört bald auf. Wer sich wirklich auf den Weg der Bodhisattvas begibt, wird bald nicht mehr mit starken emotionalen Schwankungen zu tun haben und wird sehr viel Freude in seinem Leben erfahren. Dann ist es eine große Herausforderung, in dieser Freude nicht stolz zu werden, nicht sorglos zu wer-den, nicht mangelndes Einfühlungsvermögen zu haben, sondern weiter im Kontakt zu bleiben mit anderen, denen es nicht so gut geht, die es nicht so leicht haben; bescheiden zu bleiben, auf dem Bo-den zu bleiben, nicht abzuheben – all das nennt man das Joch fürs Glück. Das Glück darf schon bleiben, es muss nur eingebunden werden in die Bodhisattva Praxis, in die Liebe und das Mitgefühl. Wenn Glück ein bloßer Überschwang ist, dann ist es doch wieder nur einfach Ich-bezogenheit. Es ist einfach eine Phase guten Karmas, die wir ausleben und nicht nutzen. Wenn wir eine Weile in unserem Leben etwas leichtere Bedingungen haben, dann sollten wir sie nutzen, um in dieser guten Phase weiter an uns zu arbeiten und mehr für andere zu tun. Diese Bodhicitta Geisteshaltung ist die Eskorte für Ängstliche. Das lässt sich leicht verstehen. Da brauche ich glaube ich nicht viel zu sagen. Das Leben macht uns oft Angst, und jemand, der diese Geisteshaltung in sich trägt und davon durchdrungen ist, hat einfach nicht diese Angst vor Schwierig-keiten und kann anderen auch eine gute Eskorte sein. Jetzt kommt die Medizin für Krankheiten und Dämonen. Ich hab die Dämonen extra mal stehen las-sen, manchmal übersetze ich das einfach als körperliche und geistige Krankheiten. Die Krankheiten sind die körperlichen Krankheiten und die Dämonen die geistigen Krankheiten – aber es ist mit dem Wort dön auf tibetisch mehr gemeint als nur psychiatrische Geisteskrankheiten. Da ist auch tatsächlich gemeint, dass wir aufgrund der Verbindung mit nicht sichtbaren Wesen in starke Schwankungen ge-langen können und sich dadurch psychiatrische Krankheitsbilder entwickeln. Aber darum geht es hier jetzt erst mal gar nicht, das Wichtige ist: Bodhicitta ist das Heilmittel für kör-perliche Krankheiten und für geistiges Leid. Wer Bodhicitta im Herzen trägt, ist auch geschützt vor all diesen Einflüssen, die man dämonische Einflüsse nennt. Bodhicitta ist tatsächlich von einer solchen Reinheit, dass negative Energien sich da gar nicht einhaken können. Körperliche Krankheit, also all das, was nicht durch unsere normale zivilisierte Unvernunft entstanden ist, sondern das, was wir als eine karmische Krankheit betrachten, das ist entstanden durch Ichbezogenheit.

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Aber vieles in unserem Leben, was wir an jetzigen Krankheiten haben, entsteht einfach durch unsere Ernährung, durch mangelnde Bewegung, durch die Spannungen, die wir jetzt in uns tragen, die dann wieder ichbezogen sind... Zum Beispiel, wenn ihr jetzt gerade einen Schnupfen habt oder so – da wür-de man nicht sagen, dass Bodhicitta das Heilmittel für den Schnupfen ist. Es hilft, damit besser umzu-gehen, aber es heilt ihn nicht. Der Schnupfen ist vermutlich die Folge von nicht ganz so toller Ernäh-rung über Weihnachten, Wechsel von heiß und kalt, bisschen geschwitzt haben und dann ins Kalte gegangen sein, bisschen Zugluft, bisschen übermüdet, Ansteckung – und dann haben wir halt den Schnupfen. Da würde man nicht sagen, Bodhicitta ist das Heilmittel dafür. Aber bei anderen Krankheiten, da gibt es jetzt nicht solche klaren Auslöser, da kann man tatsächlich sehen, dass sie einen Zusammenhang mit unseren Emotionen haben. Nicht nur Emotionen in diesem Leben, auch schon von früher. Da ist Bodhicitta tatsächlich das Heilmittel. Jemand, der Bodhicitta tatsächlich wach in seinem Herzen trägt, kann auch nicht verrückt werden. Das muss man auch wissen. Das ist der beste Schutz überhaupt. Aber es muss wach sein! Es ist nicht eine Erinnerung an ein Bodhicitta, das ich früher mal hatte - es muss jetzt aktiv sein, weil das führt uns immer wieder raus aus den Mustern der Ichbezogenheit, die uns in psychisches Leid hineinführen. Und: Bodhicitta ist das „Mittel, unsere emotionale Verblendung einzuebnen“. Das war der Titel von unserem letztjährigen Text, das Einebnen aller Emotionen und Vorstellungen. Wenn wir vom Geist des Erwachens sprechen, von Bodhicitta, dann gibt es das relative Bodhicitta, das ist der Geist von Liebe und Mitgefühl, und es gibt das letztendliche Bodhicitta, die Weisheit, das Er-kennen der letztendlichen Wirklichkeit. Beide zusammen bewirken, dass sich Emotionen in unserem Geist nicht halten können. Diesen Herzensgeist zu entwickeln, wo Liebe und Weisheit eine Einheit bilden, ist das universale Antidot oder Heilmittel für alle emotionale Verstrickung. Wer den schnellen direkten Weg gehen möchte im Auflösen emotionaler Verstrickung oder Verblen-dung, also mangelnder Weisheit, Blindheit, der tut gut daran, alle Energie dahinein zu setzen, dieses Bodhicitta zu stärken, diesen Geist des Erwachens zu stärken. Um das dann zu tun, werden wir uns ab morgen mit einer Übung befassen, die eine kleine Lodjong Meditationsübung ist, die ihr dann auch zuhause weiter ausführen könnt. Das werde ich dann morgen früh erklären. Habt ihr jetzt dazu Fragen? Habt ihr Bemerkungen zu all dem, was jetzt gesagt wurde? Frage : Zur Auslegung des Textes – so wie ich ihn gelesen habe, wäre ich nie darauf gekommen, dass man ihn so verstehen kann! Du hast an einer Stelle das Wort ‚Hybris’ hereingebracht, das ist das was vom Text her zuerst mal sehr massiv da reinkommt, und was mir dazu einfiel: die drei anderen Bodhi-sattvas findet man im Himalaja überall – Samantabhadra ist ikonographisch überhaupt nicht reprä-sentiert. Vielleicht hat das was zu tun mit dem riesengroßen Anspruch, der für mich da auch immer noch drin ist, auch nach deiner Interpretation. Lhündrup: Der große Anspruch ist da drin. Ich glaube der Grund, dass man den Bodhisattva Sa-mantabhadra nicht so oft dargestellt findet, ist, weil er sich ikonographisch zum Adibuddha Sa-mantabhadra weiterentwickelt hat, zum Symbol dessen, was Buddhaschaft überhaupt ist. Samantab-hadra hat als Inspiration für die Praktizierenden diese Entwicklung vollzogen und wird jetzt zum Bei-spiel als Zentrum des Zufluchtsbaumes der Nyingma-Linie immer wieder dargestellt – und der Bodhi-sattva Samantabhadra steht nicht mehr so im Vordergrund. Frage: So rum ist die Entwicklung, nicht vom Adibuddha zum... Lhündrup: Nein, nein, so rum. Heute Nachmittag, im ersten Teil des Nachmittags, will ich wieder versuchen, mit euch eine Kon-templation wie gestern zu machen, wo wir hoffentlich dann auch wieder ein bisschen in den Austausch kommen; wo jeder ein bisschen teilen kann von dem, was dabei entsteht. Ich weiß noch nicht genau,

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wie das entstehen wird, aber – wenn ihr jetzt ein bisschen erschlagen seid – dann könnt ihr vielleicht heute Nachmittag nach einer kleinen Verdauungspause noch Dinge fragen oder anmerken. Frage: Aber auch große Meister haben doch Krankheiten? Lhündrup: Ja, stimmt völlig. Große Meister, zumindest die, die ich beobachtet und behandelt habe, haben Krankheiten. Wobei es mir da so scheint, dass fast alle diese Krankheiten mit ihrem Leben in diesem Umfeld zu tun haben, mit dem, was sie essen, mit der mangelnden Bewegung, mit der Art, wie sie ihren Lebensrhythmus führen – und dass es sich dabei nicht um karmische Krankheiten handelt. Wenn man sich das anschauen möchte, dann sollte man in die Kindheit und Jugend der Meister gehen und schauen, was sie dort aufzuarbeiten hatten. Da gibt es dann vielleicht auch einiges, was sie zu durchleben hatten, weil sie in früheren Leben auch mit mangelndem Bodhicitta gelebt haben, hier und da. Von Gendün Rinpoche, den ich in einer Phase am Ende des Lebens betreut habe, wo er doch recht viele körperliche Symptome hatte, dann ja schließlich auch gestorben ist: aber Gendün Rinpoche kannte zum Beispiel bis zum Alter von 50 Jahren nicht einmal, was Fieber ist. Er wusste nicht einmal, was Fieber ist! Er war nie krank, er hatte nie einen Schnupfen, nie einen Husten, er hatte keine einzige schwere Erkrankung – außer einmal, als er mit einem Freund und Gönner Tonglen praktiziert hat. Aber er hat mir gesagt, dass er sich immer gewünscht hat, mal zu wissen, was andere erleben, wenn sie Fieber haben und wenn es ihnen schlecht geht. Sein Karma war so rein und so kraftvoll, dass er als Yogi nur mit der Mönchsrobe bekleidet, ohne Untergewand, in den Höhlen des Himalajas lebte und einfach nicht krank war. Das nennt man: nicht mehr aufgrund von karmischen Erkrankungen Sachen durchleiden zu haben. Als dieser gesunde Mann dann durch den Himalaja in die Dschungel in den Ausläufern des Himalaja floh und dann von 5500, 6000 Metern auf 2000, 1500 Meter Höhe immer tiefer runter kam und mit subtropischen Bedingungen konfrontiert war, da ist er gestochen worden und hat Malaria gekriegt; danach fing eine Kette von körperlichen Beschwerden an, denen er vorher überhaupt nicht ausgesetzt war. Ab da kannte er dann, was andere schon viel früher kennen lernen. Frage: Könntest du bitte erklären, was ein Adibuddha ist? Lhündrup: Ein Adibuddha ist ein Urbuddha, ist der Prototyp, der Urtyp eines Buddhas. In unserer Linie haben wir im Zentrum unseres Zufluchtsbaumes den Urbuddha, den Adibuddha Dorje Chang oder Vajradhara. Der ist blau und gekleidet in Tücher und mit Schmuckstücken, die die Fülle der Qua-litäten darstellen. Die Fülle der Qualitäten ist Ausdruck der Natur des Geistes. Samantabhadra ist dieser selbe blaue Urbuddha, aber völlig ohne Schmuck. Er wird immer nackt dar-gestellt als Ausdruck dafür, dass die letztendliche Dimension durch nichts beschreibbar ist, durch nichts zu erfassen ist. Er ist einfach nur wie der Himmelsraum. Das nennt man den Urbuddha Sa-mantabhadra. Wir sprechen die Widmungsgebete auf der letzten Seite unseres Heftes. 4.Tag Zu den Meditationen, Kontemplationen, zur Zuflucht, zu den drei Juwelen: es ist mir ein Anliegen, dass jeder, der hier teilnimmt und dann nach Hause kommt, in der Lage ist, sich auf solche Art und Weise mit den drei Juwelen zu verbinden. Das ist das eigentliche Anliegen. Und jetzt bitte ich euch, innerlich mal zu schauen, ob die bisherigen drei Meditationen, die wir dazu gemacht haben, sich bei euch bereits soweit verankert haben, dass ihr euren eigenen Weg finden könn-tet in der Kontemplation, Meditation der drei Juwelen.

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Schaut doch mal, was da an offenen Fragen auftaucht und wieweit ihr euch innerlich mit so etwas wie Zuflucht verbinden könnt, wenn ihr jetzt, statt die Zufluchtsformel zu beten, für euch selbst den Sinn der Zuflucht, den Sinn der drei Juwelen, kontempliert. --- Bitte schließt das nun allmählich ab; wir werden das nochmal mit gemeinsam durchgehen. Sagt mir doch mal, an welchen Punkten ihr vielleicht Schwierigkeiten habt oder wo ihr Unklarheiten habt. Bitte jetzt vor allem die, die schon die ersten drei Tage im Kurs mit dabei waren. Das ist selbst-verständlich, dass es für die, die heute zum ersten Mal da sind, schwierig ist, aber – gibt es da noch Dinge, die ihr ansprechen wollt, klären wollt? Frage: … die drei Tage unterschiedlich? Lhündrup: Ja, bewusst, die könnt ihr zu einem verschmelzen. Nein, da braucht ihr nicht eine Reihen-folge, einen Unterschied draus machen. Ich hab euch nur verschiedene Zugänge zur Zuflucht eröffnet an den drei Tagen. Ja, da müsst ihr euren eigenen Zugang finden. Frage: Die Sangha: ich kann das nicht so einordnen, ob das wirklich die Menschen sind, die den glei-chen Weg gehen, oder sind es auch die Menschen, die einen auf dem Weg konfrontieren, also mit de-nen man diese Störgefühle hat, diese Auseinandersetzungen. Gehören die nicht auch ein Stück weit zur Sangha, weil sie fördern einen ja schließlich auch auf dem Weg… Lhündrup: Ja, verstehe ich sehr gut. Auf eine Art sind diejenigen, die uns konfrontieren, unsere besten Helfer. Aber wir rechnen sie nicht als Juwel der Sangha. Wenn wir von der Sangha als Juwel spre-chen, dann sind das die, die selbst wirklich den Weg kennen und uns auf dem Weg führen können. Zum Beispiel können wir sagen, wir sind Sangha in dem Sinne von Mahasangha, also große Sangha. Die große Sangha sind alle Praktizierenden. Wir sind nicht das Juwel Sangha. Da sind wir noch zu verwirrt. Um zum Juwel der Sangha gerechnet zu werden, darf man nicht mehr so verwirrt sein, dass man andere auf den falschen Weg führt. Deswegen spricht man da von der höchsten Sangha, das sind die Buddhas selbst; von der nahen Sangha, das sind die Bodhisattvas, die dem vollkommenen Erwa-chen schon nahe sind, und da sprechen die Texte oft von der monastischen Sangha, wobei nicht ein einzelner Mönch oder Nonne die Sangha darstellt, sondern nur wenn vier von ihnen zusammen sind. Damit ist Irrtum ausgeschlossen. Wenn vier vollkommen rein Praktizierende, auch wenn sie noch nicht wirklich zur Erkenntnis der Natur der Dinge durchgedrungen sind, zusammen sind, dann kann man das als Juwel der Sangha betrachten. Das ist so die Buchdefinition. Frage: … (nicht zu verstehen) Lhündrup: Das Problem, dem du begegnest, spricht das Thema von gestern Abend an: die Integration in den Alltag von dem, was wir Zuflucht nennen. Wir können das so angehen, indem wir in den Mo-menten der Sammlung morgens oder abends zuhause diese Zuflucht in unserem Geist vertiefen, ver-ankern. Und dann verknüpfen wir all das, was wir da erfahren an Vertrauen, an Ausrichtung, mit – wie würden das die modernen Psychologen auf deutsch sagen: mit Codewörtern - Buddha, Dharma, Sangha sind Codewörter, wie so Passwörter im Computer oder ein Codewort, mit dem sich der Sesam öffnet. Wir verbinden das, was wir erfahren mit einem Wort, mit einem Gebet auch, einem Mantra, einer kurzen Formel – und dann im Alltag, wenn wir unterwegs sind, wenn wir dann sagen: oh, ich nehme Zuflucht zu den Buddhas, ich nehme Zuflucht zu Buddha, Dharma, Sangha, dann rufen wir uns mittels dieser Wörter das Erlebte wieder ins Bewusstsein. Das geht ganz schnell, weil wir uns gut darin geübt haben. Genauso wie du den Namen von Sohn oder Tochter, oder Eltern, also wenn du den Namen deiner Mutter sagst, oder Mutti oder wie du sie auch nennst, oder Mama: in dem Moment taucht ja alles auf, du brauchst nichts dazu zu tun. In dem Moment, wo du den Namen eines vertrauten Menschen aus-

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sprichst, taucht alles auf, ohne dass du dich anzustrengen brauchst. Für mich ist es zum Beispiel so, wenn ich das Wort Buddha ausspreche, dann taucht alles auf, was ich in diesen vielen Jahren um den Begriff Buddha herum meditiert und kontempliert und erfahren habe. Das braucht es, um im Alltag die Zuflucht stark zu machen. Wir müssen uns im Alltag mit ganz kur-zen Gedanken einen Anstoß geben können, um uns wieder zu verbinden. Und in der Praxis, wenn wir viel Zeit haben, dann gehen wir in die Tiefe, gehen tief in die Erfahrung hinein, in das Vertrauen, das wir brauchen, das wir abrufen wollen im Alltag. Ich gehe zum Beispiel in eine schwierige Konferenz, ein schwieriges Gespräch, und bevor ich reingehe, sag ich noch: Ihr Bud-dhas, bitte steht mir bei. Einfach nur das. Oder ich nehme Zuflucht zu Buddha, Dharma, Sangha. So eine ganz kurze Formel, die mich aber mit all dem verbindet, was an Verständnis, an Vertrauen durch die persönliche Praxis schon entstanden ist. Deswegen mache ich mit euch diese Meditationen, wir drehen uns in der Meditation um diese drei Begriffe: Buddha, Dharma, Sangha. Wenn die tief verstanden und tief erfahren werden, das findet ihr Zugang zu einer Kraft, die ihr benutzen könnt. Es gibt zum Beispiel Gebete in der tibetischen Tradition, wo man sagt: Durch die Kraft der Wahrheit des Buddha, durch die Kraft der Wahrheit des Dharma, durch die Kraft der Wahrheit der Sangha möge es so und so sein, mögen sich diese Hindernisse auflösen, möge mein Geist frei werden von Hinder-nissen. Man ruft diese Kraft direkt an in solchen Gebeten, aber man muss natürlich diese Ausdrücke, die man da benutzt, verbunden haben mit etwas Wesentlichem, mit einem wirklichen Inhalt. Auf deutsch erscheint es mir sinnvoll, es mit dem Begriff Erwachen zu verbinden. Erwachen erscheint mir ein sehr guter Begriff, weil das die genaue Übersetzung von Bodhi ist, den Buddha als Begriff benutzt hat, um den Unterschied zu beschreiben von wie er vorher war und wie er durch diese tiefe Seinserkenntnis geworden ist. Und Dharma, das was da wirklich befreit, ist die Erkenntnis von dem, wie die Dinge sind, also die befreiende Wahrheit, es ist der Zugang zur Wirklichkeit. Deswegen: Zuflucht ist Dharma, ist nicht die Texte, nicht die Worte, sondern die Wahrheit, auf die sie hinweisen. Deswegen „Wahrheit“ als deut-sche Übersetzung für Dharma. Sangha bedeutet Gemeinschaft, und zwar edle Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Edlen, derer, die wirklich den Weg kennen und die ihre Ichbezogenheit schon weitgehend gereinigt haben. Wenn wir damit arbeiten können, dann haben wir in Situationen, wo es wichtig ist, einen ganz schnel-len Zugang. Man kann das auch mit dem Mantra OM MANI PEME HUNG zum Beispiel machen. Mantras entfal-ten diese Kraft auch durch denselben Prozess. Die Kraft von Mantras kommt daher, dass über Jahr-hunderte und Jahrtausende hinweg Praktizierende ihre tiefsten Erfahrungen, ihre tiefsten Herzensöff-nungen verbunden haben mit dieser Mantrapraxis. Das wird von Generation zu Generation weiterge-geben. Das sind auch wie Codewörter. Es sind wie Schlüsselwörter, die uns zum Beispiel bei dem Mantra OM MANI PEME HUNG direkten Zugang zu den Vier Unermesslichen ermöglichen, zu Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut, als Ausdruck der Einheit von Liebe und Weisheit aller Buddhas. Ein Mantra ist solch ein Zugangstor, ein Eingangstor, um in Verbindung zu treten mit tiefen inneren Ebenen in uns. Und weil so viele andere vor uns schon dieses Tor genutzt haben, ist es relativ leicht, damit zu arbeiten. Wir müssen uns immer noch selbst das Tor erschließen, aber wir können relativ leicht dieses Tor öffnen, weil – man nennt das die Segenskraft. Segenskraft bedeutet, die Kraft der Erkenntnis und der Öffnung, die bereits mit diesem Mantra oder diesem Gebet stattgefunden hat. Das schwingt mit: wenn Menschen diesem Mantra neu begegnen,

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dann begegnen sie gleichzeitig auch all dem, was in diesem mitschwingt – denn eigentlich sind es ja nur Aneinanderreihungen von Silben, sie sind aber so gefüllt mit Segen. Sie haben einen Ursprung aus dem Herzen, aus dem Mund von erwachten Meistern und sind ganz rein praktiziert worden über so lange Zeit hinweg und haben dadurch eine zusätzliche Kraft aufgebaut. Wenn ich zum Beispiel in einer schwierigen Situation bin, brauche ich nur OM MANI PEME HUNG, das verbindet mich mit so viel, und gleich sind die Schleier weniger in meinem Geist, gleich ist mein Herz ein bisschen offener, das geht so schnell. Aber es braucht die Meditationspraxis, es braucht die Arbeit des sich damit Verbindens. Frage: …so eine Untergliederung: Sachen die ich schnell erreichen kann, und Sachen, die ich viel-leicht noch lange zu bearbeiten habe und die vielleicht bis ins nächste Leben dauern. Das war für mich ganz wichtig, weil ich alles schnell, sofort erreichen will! Und ich glaube, dass ich den Geist jetzt besser ruhig halten kann oder eine bessere Untergliederung habe. Lhündrup: Ja, du hast die Ziele ein bisschen gegliedert, strukturiert, du hast langfristige und mittelfris-tige Prioritäten. Frage: Ja, das war für mich ganz arg wichtig, und ich hoffe, dass ich das mitnehmen kann. Lhündrup: Falls es anderen ähnlich geht: das ist sehr hilfreich. Wenn wir unsere langfristigen Prioritä-ten klar haben, können wir bei den kurz- und mittelfristigen Dingen oftmals eine gewisse Flexibilität entwickeln, weil wir das langfristige Ziel nicht vergessen! Dann können wir zwar Kompromisse ma-chen: jetzt, heute, und in den nächsten Monaten und Jahren, aber wir verlieren nicht die Ausrichtung auf unser langfristiges Ziel. Frage: Ja, so geht’s mir mit dem Buddha, da hab ich früher gedacht: ja, Erleuchtung, erreichen - aber wann, weiß man nicht. Lhündrup: Das ist sicherlich wahr… Frage: (französisch und leider nicht zu verstehen) Lhündrup: Sie fragte danach, ob es einen Unterschied macht, wenn sie sich die Zuflucht auf Franzö-sisch sagt, oder ob man da das Tibetische und Sanskrit nehmen sollte. Das Tibetische und Sanskrit sind nicht per se kraftvoller. Der Grund ist, dass das für uns am kraftvollsten ist, mit dem wir uns am meisten verbinden können. Wenn ihr euch mit den deutschen Ausdrücken stärker verbinden könntet, dann würde sich eine größere Kraft im eigenen Geist entwickeln. Wenn dann eine Zeit kommt, wo ihr spürt, es ist möglich, sich auch mit den tibetischen oder Sanskrit Formeln oder Ausdrücken zu verbinden und die beginnen, euch anzurühren, dann könnt ihr einen Transfer machen von dem, mit dem ihr euch auf deutsch verbunden habt, ins Tibetische oder Sanskrit hinein. Es ist möglich, alle Praktiken auf Deutsch zu machen. Es ist überhaupt kein Problem. Ich habe es viel-leicht schon mal erwähnt, aber ich habe mein ganzes erstes Dreijahresretreat ausschließlich auf deutsch und auf englisch gemacht. Das war für Gendün Rinpotsche überhaupt kein Thema. Wir haben selbst die tägliche Mahakala Puja auf Deutsch gemacht. Nur um das zu sagen, es ist überhaupt kein Problem. Die Erfahrungen, die Verständnisse stellen sich genauso ein, wenn man auf Deutsch oder Englisch praktiziert. Man braucht halt gute Übersetzungen, damit man sich keine Fehler einliest, keine Missverständnisse. Ich habe dann auf Tibetisch umgestellt, viele Jahre auf Tibetisch praktiziert, und gerade bin ich selbst dabei, einen Teil meiner Praxis wieder auf Deutsch zu machen, weil es Bereiche gibt, die da in mir stärker angesprochen werden. Probiert einfach mal aus, was euch am meisten entspricht.

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Dann lasst uns jetzt zum Abschluss des Austausches zur Zuflucht nochmal die Meditation gemeinsam machen. Wenn wir die Ausrichtung auf die drei Juwelen kontemplativ angehen, dann ist das Erste zunächst, sich den zentralen Begriff ins Bewusstsein zu rufen: Buddha, Erwachen. Was bedeutet das für mich? --- Ja, Erwachen, das ist das Ziel des Weges überhaupt. Das höchste vollkommene Erwachen, wo alle Schleier aufgelöst sind. Wo alle Qualitäten hervorgekommen sind. Das ist es. Das ist das Ziel meines Lebens – und aller zukünftiger Leben. Das wünsche ich auch allen anderen Lebewesen, dass sie das in sich erfahren dürfen. So spricht man mit sich selber, formuliert das eigene Verständnis, und danach schließt man diese Kon-templation ab und sagt sich innerlich: Ja, ich richte mich ganz und gar auf das Erwachen als Juwel der Zuflucht aus. Dann lassen wir den Geist auf dem Juwel des Dharma ruhen. Dharma – was bedeutet das? Jetzt gerade heute für mich: Was ist Dharma als Zuflucht? Dharma als Weg, Dharma als Wahrheit. Dharma als Verständnis. Die Erkenntnis aller Erwachten, ausgedrückt in Worten. Auch hier schließen wir die Kontemplation wie mit einem Schlusssatz ab: Ja, ich richte mich ganz und gar auf die Erkenntnis der Wirklichkeit aus. Dort ist meine Zuflucht. Dann nehmen wir den Begriff Sangha und lassen uns den auf der Zunge zergehen. Was ist Sangha? In wie fern ist das eine innere Ausrichtung oder eine Zuflucht? Welchen Helfern möchte ich mich anvertrauen? Und auch da schließe ich die Kontemplation mit einem Satz ab, der ausdrückt, dass ich mich innerlich ganz auf diese Zuflucht ausrichte. Buddha, Dharma und Sangha als Zentrum meines Lebens. Erwachen, Kenntnis der befreienden Wahrheit und die Gemeinschaft der Helfenden. Und damit kommen wir dann zu unserem Text. (Anmerkung bei der Abschrift: Es fehlt Teil 2 vom 4.Tag) Meditation 2 ... Bei dieser Meditation wird recht viel visualisiert. Es geht viel um Lichtstrahlen, die irgendwohin ge-hen und etwas tun und wieder zurückkommen, verschmelzen und erneut ausgehen… Lichtstrahlen sind Gedanken. Wenn ihr das zum Beispiel nicht so sehen könnt, wenn das nicht so visuell wird bei euch, dann könnt ihr euch einfach vorstellen, dass das durch die Kraft der Gedanken passiert. In den Visualisationen sind die Gedanken wie Lichtstrahlen, die zu jemandem hingehen – ich würde zum Beispiel dir, Christa, einen Gedanken schicken. In der Visualisation ist das ein Lichtstrahl, der zu dir geht, und wenn du antwortest, kommt Licht von dir zurück. Das ist eine Form von Kommunikation; eine Form sich vorzustellen, wie der Geist sich ausweitet und alle Universen durchdringt wie Licht, das unbegrenzt überall hingehen kann, dann kommt es zurück… Man kann dem Licht auftragen, eine Aktivität auszuführen. Ich kann zum Beispiel mit meinen Gedanken dort hinten hingehen und sagen: Licht dahinten in die Ecke – und da wird’s jetzt ganz hell! Das ist einfach eine Vorstellung, wir arbeiten mit unseren Vorstellungen. Darum macht euch keine Knoten im Hirn, wenn ihr das nicht so wie einen Film seht – das braucht es gar nicht. Es braucht bloß

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das Gefühl zu entstehen, dass es passiert. Wenn ihr vielleicht nicht so visuell veranlagt seid, dann seht ihr das vielleicht nicht so wie auf einer Leinwand – das ist auch nicht der Sinn der Sache, sondern möglichst, dass dieses Gefühl der Verbundenheit entsteht, dass unser Geist sich aus seiner Enge be-freit, dass er hinausgeht, dass wir in der Vorstellung zu allen Lebewesen gehen. Da brauchen wir uns die Lebewesen gar nicht vorzustellen. Wir erlauben einfach dem Geist sich auszudehnen und mal alle einzubeziehen. Das kriegt man visuell gar nicht hin, wenn man das versuchen wollte. Aber in der Vor-stellung, vom Gefühl her, lassen wir das zu, und das Licht, das wir visualisieren, ist eine Hilfe für die-se Vorstellung. Darum lasst es einfach entstehen und ich mache jetzt diese ganze Reise mit euch, und immer, wenn es euch zu viel wird, dann lehnt ihr euch zurück und achtet ein bisschen auf den Atem und entspannt euch. Dann klinkt ihr euch wieder ein, wenn der Geist wieder bereit ist für neue Abenteuer – und ent-spannt euch so. Ihr braucht euch da wirklich keine Gewalt anzutun. Ich versuche, so gut es geht, euch zu führen. Setzt euch bequem hin, sodass ihr eine Weile achtsam sein könnt.

(Anmerkung zur Abschrift: Hier folgt der Original-Text von Samantabhadra zwischen Lhündrups Kommentaren. Der Original-Text ist weiterhin durch Fettschrift hervorgehoben, aber vom Lama nicht

immer wörtlich übernommen worden. Auf der MP3 als „Meditation 2“) Wir selbst sind in gewöhnlicher Form, das heißt, wir sind gerade so wie jetzt, brauchen nichts zu verändern. Wir haben unseren normalen Körper. In unserem Herzen entsteht der Klang A. Wir können das A auch sehen. Das A verwandelt sich in eine flach liegende Mondscheibe. Aa – große Öffnung. Dann eine hell leuchtende Mondscheibe, auf der die weiße Silbe MAM steht. Dieses MAM, dieses M verbindet uns mit dem Geist aller Munis, aller Buddhas, aller Mächtigen. Es ist unsere Buddhanatur. Ein leuchtendes lebendiges MAM. Es vibriert strahlend weiß. Es ist das Bodhicitta, der Geist des Erwachens. Unser tiefstes Wesen. Dieses MAM ist wie eine Sonne, von der jetzt in alle Richtungen Licht ausgeht, das zunächst einmal unseren ganzen Körper füllt. Es strahlt durch unseren Körper hindurch hinaus und füllt den ganzen Raum. Alles wird leuchtend hell. Es strahlt hinaus außerhalb des Hauses, füllt natürlich das ganze Haus, den Garten, die Nachbarhäuser, die Straße, nach oben und unten, in die Erde hinein, in den Himmel hoch, hinter uns, vor uns, rechts und links. Unser Geist weitet sich aus und mit ihm weitet sich das Licht aus. Es geht hin zu allen Lebewesen. Wir geben dem Licht den Auftrag, seinen Weg zu finden, hin zu jedem einzelnen Lebewesen. Strahlt hinaus, ihr Lichtstrahlen, geht hinaus, strömt überall hin, wo immer es Lebewesen gibt, fühlende Wesen, auf diesem Planeten, in diesem Planeten, über diesem Planeten, auf den anderen Planeten dieses Sonnensystems,

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über dieses Sonnensystem hinaus die gesamte Galaxie der Milchstraße und die anderen unzähligen Galaxien dieses Universums. Strahlt hinaus, geht hin zu allen fühlenden Wesen. Geht über dieses Universum hinaus in alle Universen, wo immer es fühlende Lebewesen gibt. Feine Lichtstrahlen, die wie Freunde hingehen zu jedem einzelnen Lebewesen und ihm die Botschaft der Liebe bringen. Lichtstrahlen – als würden sie sagen: Ich bin dein Freund, deine Freundin. Komm, lass mich dein Schicksal mittragen. Wir stellen uns vor, dass die Lichtstrahlen ganz fein und behutsam das Karma aller Wesen auf-sammeln, die Handlungen, das Wirken aller Wesen, die Muster, die Schleier, all das wird aufgesam-melt. All die Emotionen, die ihren Geist trüben, die Begierde, Hass, Unwissenheit, Stolz, Eifersucht, und Geiz – und all die Kombinationen von diesen ichbezogenen Emotionen, all die Verwirrung, all die Verblendung, alles wird aufgesammelt. Die Lichtstrahlen sind wie reinigend, sie nehmen in ihre reinigende Kraft all das auf, was Lebewesen belastet, was immer ihnen körperliche Schwierigkeiten macht, was immer ihre Kommunikation stört, was immer ihren Geist trübt. Körper Rede Geist. All das wird gesammelt. Was immer Menschen, Tiere und andere Lebewesen an schädlichen Handlungen ausgeführt haben, alle Verbrechen, aller Mangel an Respekt, alle ihre Widerstände, die Handlungen, wo sie die lehrende Wahrheit, den Dharma, respektlos behandelt haben, verleumdet haben, sich selbst vom spirituellen Weg abgeschnitten haben – all das sammeln die Lichtstrahlen und bringen es zu uns zurück. Wie ein feiner Regen kommen die Lichtstrahlen, beladen mit all dem Karma aller Wesen, zu uns zurück und verschmelzen in das MAM in unserem Herzen, in diese große, offene, liebevolle Wei-te, in den Bereich, wo sich die Mondscheibe befindet, mit der Quelle all diesen Lichtes. Wir wiederholen das, gehen nochmal hinaus zu allen Lebewesen, und nochmals sammeln die Licht-strahlen ganz fein und behutsam alles ein, was die Lebewesen belastet. Sie kommen zurück, und all diese Belastungen verschmelzen in die offene Weite unseres Herzens. Wärme und Liebe bleibt bei allen Lebewesen, sie werden nicht verlassen von dem Licht. Ich entwickle den Gedanken in meinem Herzen: An ihrer Stelle bekenne ich alle schädlichen Hand-lungen, was immer aus Ichbezogenheit in diesem Weltall jemals begangen wurde, getan wurde, alle ichbezogenen schädlichen Handlungen bekenne ich, im Namen aller Lebewesen. Ja, wir sind sehr verwirrt, aus Verwirrung haben wir so manches Leid verursacht, großes Leid. Und wieder gehen die Lichtstrahlen hinaus zu allen Lebewesen und sammeln all das ein, was noch an Folgen dieser schädlichen Handlungen übrig geblieben ist, all die Folgen von den Hand-lungen, die sie jetzt als Kälte und Feuer erfahren, als Hunger und Durst, Alleinsein und Getrenntsein, Verwirrung, Stumpfsinn, Aufgewühltsein des Geistes, Streit, Krieg, Kampf, die Leiden von Geburt, Alter, Krankheit und Tod, das Leid, dem zu begegnen, was man sich gar nicht wünscht und das Leid, von dem getrennt zu werden, was man sich wünscht, was man liebt…

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Alle die Folgen des schädlichen Handelns kehren zurück mit den Lichtstrahlen in unser Herz, diese große Herzensweite, die keine Grenzen kennt, grenzenlose Liebe, grenzenloses Mitgefühl, grenzenlose Freude, grenzenloser Gleichmut. All das Licht kehrt zurück in die Buddhanatur, in das MAM in unserem Herzen. Immer wieder strahlt es aus, geht in die Bereiche hinein, an die wir noch nicht gedacht haben. Es ist so, als würden sich die Lichtstrahlen vorstellen bei allen Lebewesen, sagen: ich bin dein Freund, deine Freundin, komm, lass mich teilen mit dir all das, was du erfährst, gib es her, finde Zugang zu deiner Buddhanatur. In Wirklichkeit kannst du ganz frei und liebevoll sein. Schau mal, welches Licht in dir ist. Und so berühren die Lichtstrahlen das Licht im Herzen der anderen. Uns selbst wird ganz warm im Herzen. Wir verbinden uns mit allen, ohne künstliche Schranken aufrecht zu erhalten. Wellen der Liebe und Wellen des Mitgefühls gehen hin zu allen Lebewesen, ohne Unterschied, zur kleinen Ameise im Vorgarten genauso wie zu dem großen Vogel in den Bergen, zu den Menschen, die jetzt Krieg führen, zu den Menschen, die jetzt Not leiden, zu denen, die alles haben und unglücklich sind und auch zu denjenigen, die sich jetzt glücklich fühlen und noch so viel Karma haben, das auf sie war-tet, zu allen fühlenden Wesen, ohne Unterschied, geht dieses Licht. Alles Schädliche und Nichtheilsame von Körper, Rede und Geist wird aufgenommen und löst sich auf in der Weite des nicht haftenden Bewusstseins. Wie feiner Regen, wie eine Dusche, verschmelzen die Lichtstrahlen in uns, von allen Seiten kommen sie, bis jede Pore unserer Haut mit dem Leid der Wesen gefüllt ist. Wir können sie spüren, in uns. Wir fühlen sie. Wir fühlen sie, wie sie verbrennen in Höllenfeuern, wir fühlen sie, wie sie es kalt haben, Schnee und Eis, wir fühlen ihren Hunger, wir fühlen ihren Durst, ihr Alleinsein, ihre Qualen, ihre Ausweglosigkeit, ihre Trauer, ihren Hass, wir fühlen all das Schwierige, alles, was das Leben schwer macht, so als wären wir durchtränkt mit dem Leid aller Wesen. Dann denken wir: Wenn die Lebewesen hierdurch Freiheit von Leid erlangen, macht es wirklich großen Sinn, all dies auf mich zu nehmen. Wir machen den Wunsch, dass diese Gedanken, diese Meditation sie tat-sächlich von Leid befreit, dass es für sie tatsächlich leichter wird. Dann denken wir, stellen uns vor: „Mit völligem Vertrauen in die fühlenden Wesen als meine Herren, als Zeugen und Richter nehme ich das Gelübde, mich für sie einzutauschen. Ich werde all ihr Leid zu meiner Praxis ma-chen und alle Lebewesen ins Glück führen.“ Das ist das B�dhisattva-Gelübde. Ja, ich werde mich einlassen auf die Schwierigkeiten, die Wesen überall im Universum erfahren. Wo es nur möglich ist, werde ich mich für sie eintauschen, ihnen abnehmen, was ich abnehmen kann, und sie ins Glück führen, ins wahre Glück, ins letztendliche Glück.

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Mit diesem Bodhisattva-Gelübde ist die erste große Phase dieser Meditation beendet. Es ist hier ein guter Ort, um ein wenig einfach zu ruhen, zu atmen, zu verdauen. Während all dieser Zeit bleibt die Mondscheibe in unserem Herzen mit dem aktiven Bodhicitta als die Silbe MAM. Alles ist willkommen. Alles darf sein. Schmerzen dürfen sein, auch die Freude, dass all dies zum Vor-schein kommt und sich löst. Alles darf sein. Jetzt kommt nochmal eine Welle von Bodhisattva - Aktivität. Wir stellen uns vor, wie erneut Licht ausströmt, das nun zu all den erwachten Meistern geht, zu Buddha Shakyamuni und zu allen Lamas und Meistern in den vielen verschiedenen Linien und Traditionen. Es geht zu den Yidam - Meditationsgottheiten, zu all den großen Praktizierenden auf dem Weg der Hörer, das heißt zu denen im südlichen Bud-dhismus, im nördlichen Buddhismus, zu all den großen Meistern auch aller anderen Traditionen, all derer, die wirklich um das Erwachen der fühlenden Wesen bemüht sind, zu all denen, deren Herz mit Bodhicitta gefüllt ist, mit großer Liebe, großem Mitgefühl. Die Lichtstrahlen berühren ihren Geistesstrom ganz fein, genauso wie vorher, und verbinden sich mit all den Hindernissen, denen sie auf dem Weg begegnen, all den Schwierigkeiten, denen sie begegnen, während sie versuchen, den Lebewesen zu helfen, alles was bewirkt, dass ihre Herzenswünsche nicht völlig verwirklicht werden können, alle äußeren und inneren Blockaden und alles Schwierige. Mit dem Wunsch, dass ihre Aktivität der Befreiung zur Vollendung kommen kann, sammeln die Lichtstrahlen alle Hindernisse auf, ganz sanft, und verschmelzen wie ein feiner Regen in unse-rem Körper. Wir entwickeln Freude in diesem Moment, die Freude, so heilsam und segensreich aktiv sein zu kön-nen. Wir denken: Wie heilsam und segensreich ist es doch, all dies auf mich zu nehmen. Dabei stellen wir uns vor, wir wären wie Samantabhadra. Welche Freude, selbst die Bodhisattvas, selbst die Erwachten noch in irgendeiner Weise in ihrer Akti-vität und in ihrer Praxis zu unterstützen. Die Lichtstrahlen gehen erneut von uns aus, gehen wieder zu all diesen Meistern und Meisterinnen, den großen Erwachten im Universum, und bringen ihnen Opferungen dar, Dankesgaben, Gaben der Unterstützung. Wir können uns vorstellen, dass wir ihnen unseren Körper darbringen, unsere Energie, unsere Präsenz, allen Besitz, alles, was uns zur Verfügung steht und alle Wurzeln des Heilsamen, das heißt, alle positive Kraft, die wir je durch heilsames Handeln ange-sammelt haben. All das stellen wir ihnen zur Verfügung. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass Buddha Shakyamuni oder ein anderer Meister vor uns ist, und dass wir uns genau das mit einem Meister vorstellen, was simultan mit allen anderen Erwach-ten im Universum passiert. Licht strahlt aus und geht zu dem Meister/der Meisterin unserer Wahl – sei es Tara, sei es Tschenresi, sei es Buddha Shakyamuni, sei es auch ein christlicher vollkommen Erwachter, sei es egal welche Tradition des Universums.

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Die Lichtstrahlen gehen hin und sagen: Ja, mit allem, was ich bin und habe, mit allem, was mir zur Verfügung steht, möchte ich deine Aktivität unterstützen. Und auch hier, von dieser Aktivität, kehren die Lichtstrahlen zurück, beladen mit Segen, durchtränkt von Segen, und verschmelzen in unseren Körper. Erfüllt von Segen verweilen wir in entspannter Meditation. Wir ruhen uns aus, wir entspannen uns, das Herz bleibt aktiv, die Mondscheibe ist immer noch da. Das Bodhicitta MAM ist weiter vorhanden. Dann lassen wir das MAM sich in Regenbogenlicht auflösen – wie eine Sternschnuppe, die noch ein-mal ihren großen Glanz verströmt, lösen sich die Mondscheibe und das MAM auf und wir bleiben in der Weite sitzen, brauchen an gar nichts Besonderes mehr zu denken. Dann öffnen wir unsere Augen und kehren wieder hier in den Saal zurück. Die Visualisation, die dann folgt, machen wir morgen. Das war jetzt Samantabhadra Tonglen, die Pra-xis des Annehmens und Gebens auf der allerhöchsten Ebene. Allerhöchste Ebene in dem Sinne: völlig grenzenlos. Ihr habt gemerkt: normalerweise macht man Tonglen nicht mit den erwachten Meistern, die haben es wirklich nicht nötig. Aber im Samantabhadra Tonglen, aufgrund dieses Bodhisattva Ver-sprechens, alle Schwierigkeiten anzugehen, die sich den Buddhas und Bodhisattvas stellen, da geht man mit der Tonglen Praxis sogar auf diese Ebene. Und kein einziges Lebewesen irgendwo wird aus-geschlossen. Das braucht ihr jetzt nicht zu eurer täglichen Praxis zu machen. Aber ihr habt mal einen Geschmack bekommen und ihr könnt davon anwenden, was euch gut tut, was ihr spürt. Ich denke, in der Arbeit mit euch, mit Rabjam und Lodrö, ihr macht sehr viel mehr den konkreten Austausch mit einzelnen Menschen. Habt ihr das bisher so gemacht? Ja. Die konkrete Arbeit mit Menschen, die wir kennen, oder Tieren, die wir kennen, das was wir konkret erfahren können, ist immer das Zentrum der Tonglen Praxis und der Lodjong Praxis. Diesen Ausflug, den wir jetzt gemacht haben – solche Ausflüge sind manchmal total gut, um sich zu lösen aus dieser Ich-und-Du-Praxis im Tonglen, um den Geist noch viel weiter zu dehnen. Aber es ist nicht angebracht, nur das zu praktizieren. Da kann man abheben, da kann man so in Sphä-ren des Mitgefühls gehen, und dann im Konkreten – wie sieht es dann aus? Wir bleiben beim Konkreten, und gelegentlich machen wir solch eine ganz weite Meditation, wo wir den konkreten Fall des einzelnen Lebewesens mal hinter uns lassen und uns auf alles einlassen, was es gibt. Habt ihr das verstanden, dieses Wechselspiel? Das war jetzt Samantabhadra Tonglen. Tag 5 Heute machen wir zu Beginn der Unterweisung die traditionelle Zuflucht, das Gebet, wie es auch in dem Text der allgemeinen Wunschgebete steht. Und dabei üben wir uns darin, das Verständnis von Zuflucht, das wir entwickelt haben, wachzurufen in dem Moment, wo wir die… Ich kann es auch auf Deutsch machen; wenn ich den deutschen Text vor mir liegen hätte, dann könnte ich das machen. In dem Fall, dass ihr es nicht auswendig könnt, hört ihr einfach zu und meditiert die Bedeutung der Worte. Und die, die den Text haben, können mitsprechen.

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Bis zur Erleuchtung nehme ich Zuflucht zum Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft. Möge ich durch die Verdienste der Praxis von Freigebigkeit und der anderen befreienden Qualitäten zum Wohle der Wesen Buddhaschaft verwirklichen. (3x) Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen sie frei von Leid und dessen Ursachen sein. Mögen sie nie von der wahren leidfreien Freude getrennt sein. Mögen sie bei Nah und Fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen. (3x) Kostbarer strahlender Wurzellama, der du auf einem Lotus und Mond über meinem Kopf sitzt, nimm mich in deiner großen Güte an und gewähre mir die Verwirklichung von Körper, Rede und Geist der Erleuchtung. Wir fahren fort mit einer Kontemplation-Meditation.

Wir spüren uns, diesen ganzen Menschen, der wir sind, Körper, Bewusstsein und die Motivation in unserem Herzen, zum Wohle aller Wesen zu wirken.

Im Herz ist eine flachliegende strahlende Mondscheibe, und darauf ist eine Silbe, aufrecht stehend: MAM, ein weißes MAM, das leuchtet wie eine Sonne. Die Lichtstrahlen füllen unseren ganzen Kör-per. Sie gehen hinaus und füllen den ganzen Raum und gehen zu allen Buddhas und Bodhisattvas.

Angekommen überall dort in allen Universen bei den Buddhas und Bodhisattvas, verwandeln sie sich in kleine Opfergöttinnen, machen Verbeugungen, bringen Opferungen dar, unzählige Blumen, Lichter, Speisen, unzählige Verbeugungen, Musik, Lobpreisungen, wunderbare Gegenstände, Juwelen, Gold, Schmuck, was auch immer, als Ausdruck unserer tiefen Dankbarkeit und Verehrung.

Dann kehren die Lichtstrahlen mit dem Segen der Buddhas zurück und verschmelzen in unser Herz.

Von dort strahlen sie wieder aus und gehen zu allen Lebewesen. Sie gehen zu den Lebewesen, als würden gute Freunde/Freundinnen zu Besuch kommen. Ganz sanft wecken sie die Lebewesen aus dem Schlaf der Unwissenheit. Die Lichtstrahlen sind wie liebe Freunde, die ihr Herz berühren, und sagen: Wach auf zu deiner wahren Natur! Wir stellen uns vor, wie sich alle fühlenden Wesen ihrer wahren Natur bewusst werden.

Die Lichtstrahlen kehren wieder zurück, durchtränkt von Liebe, Segen, Mitgefühl und der Dankbarkeit und Freude, zum Herz des Erwachens gefunden zu haben. Und wie die Lichtstrahlen in unser Herz zurückkehren, können wir für einen Moment große Sorglosigkeit erfahren, eine große Weite des Geis-tes. Lasst uns für eine Weile in dieser Weite des Herzens verweilen.

Bleibe immer in dieser Dimension, die so weit wie der Himmel ist, ohne sie je zu verlassen. Bei allem was wir tun, bleiben wir stets der Buddhas gewahr, der Meister und Meisterinnen, deren Führung, deren Liebe, deren Segen uns begleitet. In all unseren Handlungen mit Körper, Rede und Geist bringen wir stets unsere Verehrung dar: den Erwachten, den Buddhas, Bodhisattvas. Und mit Körper, Rede und Geist bringen wir ebenfalls ständig unsere Liebe, unser Mitgefühl für alle Lebewesen zum Aus-druck.

In dieser Praxis der Herzensweite wenden wir uns besonders denen zu, die durch große Schwierigkei-ten hindurchgehen. Wir laufen nicht vor ihnen fort. Da gibt es solche, die uns ständig Schwierigkeiten bereiten. Licht geht aus von unserem Herzen zu denen, die besonders schwierig sind in unserem Le-ben.

Da gibt es sichtbare Kräfte, also Menschen, vielleicht auch Insekten oder Tiere, die uns Angst einflö-ßen, die uns stechen oder beißen wollen. Da gibt es unsichtbare Kräfte, wo wir gar nicht wissen, wo die genau sind, wo die herkommen, die wir nur so ganz dumpf spüren, dass uns eng wird ums Herz, dass wir plötzlich ärgerlich oder ängstlich werden.

All diesen Kräften, sichtbaren und unsichtbaren, schicken wir unser Licht. Dieses Licht bringt ihnen Opfergaben dar. Wir üben uns in Freigebigkeit gegenüber denen, die uns hinderlich sind, die uns of-fenbar schaden oder schaden wollen. Wir fragen sie: Was möchtest du eigentlich? Was willst du? Was steckt hinter deinem Verhalten?

Manche möchten einfach, dass wir ihnen endlich mal zuhören. Manche möchten, dass wir sie in Ruhe lassen. Und manche möchten, dass wir unsere Schulden bei ihnen begleichen. Schulden? Vielleicht wissen wir gar nicht, was für Schulden wir mit ihnen haben.

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Die erwachten Meister sagen uns, dass Menschen, die gereizt auf uns reagieren, oftmals in früheren Leben von uns schlecht behandelt wurden. Wir nennen sie unsere „karmischen Gläubiger“. Diesen karmischen Gläubigern schulden wir etwas. Das war uns bisher gar nicht bewusst.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zumindest durch das Licht, zumindest in der Vorstellung, ihnen zurückzugeben, was wir ihnen schulden. Wir stellen uns vor, dass wir allen, die uns Schwierigkeiten bereiten, genau das geben, was sie brauchen, was wir ihnen weggenommen haben.

Wir haben ihnen vielleicht die Frau weggenommen, den Mann getötet, den Mann weggenommen, die Kinder, das Haus abgebrannt, wir haben sie vielleicht betrogen, Pferde gestohlen, Kühe gestohlen, ihre Felder verwüstet, haben sie vielleicht beleidigt, respektlos behandelt, haben sie vielleicht geschlagen, geknechtet, wir haben sie vielleicht sogar umgebracht.

Und jetzt geben wir ihnen in unserer Vorstellung Häuser, unzählige Häuser, wir geben ihnen Arzneien, gute Nahrung, in Hülle und Fülle! Wir geben ihnen Kinder, Frauen, Männer, Felder, Wiesen, Wälder, wunderbare Quellen mit sauberem Wasser, Reichtümer, Schmuck.

Wir sprechen angenehme freundliche Worte zu ihnen voller Respekt. Wir sind höflich ihnen gegen-über. Wir verneigen uns innerlich vor ihnen. Wir sagen, es tut mir leid, dass ich nicht bewusst war, dass noch eine Schuld offen steht. Ich habe aus Emotionen gehandelt, aus Profitgier, Ichbezogenheit, ich war blind, ich habe nie verstanden, warum du so ärgerlich auf mich bist. Jetzt verstehe ich es bes-ser, und ich opfere dir genau das, was du möchtest.

All diese Opferungen, die ich dir jetzt darbringe in meiner Vorstellung, die Hilfe, die ich dir auch kon-kret leisten möchte, so gut ich kann in diesem Leben: nimm all dies zum Begleichen meiner Schuld. Als Lösegeld.

Wenn dir das nicht reicht, dann stelle ich mir jetzt vor, dass ich dir meinen Körper darbringe. Ich be-sinne mich auf meine wahre Natur, auf die Buddhanatur, und ich weiß, dass dieser Körper nur ein vorübergehendes Zuhause ist. Ich bringe dir diesen Körper dar.

Ich kann es nicht in der konkreten Wirklichkeit machen, aber in meiner Vorstellung bringe ich dir mein Blut dar, meine Knochen, mein Fleisch… Nimm meinen Kopf, nimm meine Augen, nimm meine Arme… Nimm meine inneren Organe… Nimm in Hülle und Fülle. Mögest du völlig gesättigt sein.

Nimm so viel wie du magst. Trage es fort mit dir. Wenn du in Eile bist, nimm es grad so, wenn du Zeit hast, iss es gekocht, gebraten… Möge es ein Freudenfest für dich sein, ein Fest der Freude, der Genug-tuung, und schließlich der Zufriedenheit.

Möge all dies unsere karmischen Bande aus der Vergangenheit besänftigen und lösen und bereinigen. Viel karmische Schuld habe ich auf mich geladen. Möge sie beglichen sein durch diese großen Opfe-rungen.

Möge die karmische Schuld sich auflösen, indem ich mir meiner Ichbezogenheit bewusst werde und mein Handeln ändere, indem ich mein Denken ändere.

Ich bringe euch die Opferung meines Körpers dar, meine Energie, meinen Lebenssaft, meine Vitalität – all das, was ich euch zerstört und geraubt habe, all das bringe ich euch dar, tausendfach und hundert-tausendfach.

Mögen damit die karmischen Bande der Vergangenheit gelöst sein.

Möget ihr zu Helfern der Praxis werden.

Möge ich ein Helfer eurer Praxis sein, eures Weges zum Erwachen.

Wir stellen uns vor, dass all diejenigen, die uns übelwollen, jene, die uns schaden, jene, die voller Ra-che und Groll an uns denken, durch den Verzehr dieser Opferungen, das Genießen all der wunderbaren Geschenke, die wir ihnen machen, dass sie besänftigt werden, dass ihr Geist sich in Freude auftut, in Dankbarkeit, endlich gehört zu sein, gesehen zu werden, verstanden zu werden.

Wir spüren ihre Freude, und ihre Freude ist unsere Freude.

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Wir können jetzt im Geist nochmal die Menschen durchgehen, die Lebewesen, von denen wir ganz konkret wissen, dass sie uns übelgesinnt sind, und uns vorstellen, dass wir ihnen mit dieser Haltung begegnen und dass sich dadurch ihre Haltung auflöst und ändert.

Karmische Gläubiger werden zu Freunden. Dank ihnen finden wir zur größtmöglichen Herzensöff-nung. Sie sind bereits jetzt die größten Helfer auf dem Weg. Wir danken euch.

Nochmals gehen die Lichtstrahlen zu all den ehemals hindernden Kräften. Wir teilen ihre Freude, wir schenken ihnen nochmals alles, was sie sich wünschen.

Dann löst sich die Vorstellung auf. Wir kehren zurück ins Herz und bleiben sitzen mit angerührtem Herz, mit weitem Geist.

Wir atmen sanft. Wir lassen uns nähren von dieser warmen Herzensenergie. Spüren den Körper. Wir nehmen wieder wahr, wo wir im Raum sitzen, die Menschen um uns herum, und wir denken kurz da-ran, dass auch wir miteinander karmische Schuldner und Gläubiger sind.

Möge durch das Entstehen von Bodhicitta in unserem Herzen alle karmische Schuld beglichen sein. Indem wir uns wirklich darauf einlassen, jedem einzelnen, dem wir begegnen, zu helfen, zu unterstüt-zen, können wir dadurch karmische Bande reinigen und zu Freundschaftsbändern umwandeln. Dadurch entsteht Sangha. Dadurch entsteht Gemeinschaft.

Das ist das Ende dieser kleinen Kontemplation.

Ihr habt es sicherlich gemerkt: das war der folgende Abschnitt im Text, den man nur erfassen kann, wenn man ihn kontempliert, meditiert. Anders ist es nicht möglich.

Ihr wisst es vielleicht nicht: es gibt eine Praxis, die heißt Tschöd – das Durchtrennen der Ichbezogen-heit, indem man den eigenen Körper darbringt. Das, was wir hier praktiziert haben, ist das Lodjong-Tschöd, das Tschöd des Geistestrainings. Ohne Instrumente, ohne Gesang, nur als eine Meditation des Ausstrahlens von Licht, des Darbringens von Opferungen, des Darbringens des eigenen Körpers – und sich dann wieder sammeln in der Meditation.

Wenn es mal vorkommt, dass ihr an einem Ort seid, wo ihr euch nicht wohl fühlt, das kann auf Reisen mal passieren, das kann aber auch bei euch zuhause sein, es kann euer Keller sein, es kann euer Dach-boden sein, es kann ein Zimmer in euerm Haus sein, es kann auch in Gegenwart von Menschen sein, wo ihr euch nicht wohl fühlt – dann ist das die beste Meditation, die man ausführen kann, um diese Kräfte innerlich in unserem eigenen Geist und äußerlich zu beruhigen. Im Anschluss an solch eine Visualisation/Meditation ist es besonders sinnvoll, wenn man dann noch OM MANI PEME HUNG praktiziert, wenn man dann noch weiter in Mitgefühl verweilt und die Tschenresi Praxis daran anschließt – oder sie vielleicht vorher macht. Egal wo ihr seid, in der Natur, in Häusern, mit Menschen zusammen: diese Praxis ist das Allerkraft-vollste überhaupt, um Hindernisse aufzulösen. Frage: … Lhündrup: Wieso nicht?

Ja, wenn du weitermachst und dich weiter schützt, dann verstärkst du nur solches Verhalten, dann wird es wieder welche geben, die sich nicht gehört fühlen. Diese Frage – ist das denn echt? – ist die zentrale Frage. Für mich war das jetzt echt, als ich das mit euch gemacht habe. Ihr seid soweit gefolgt, wie ihr könnt.

Und wenn ihr das irgendwo in einer Situation macht, dann bitte: macht nur das, was echt ist. Nur das hilft. Nur das was echt ist. Weil die sind ja auch nicht dumm. Die gucken sich dann an, sagen, ja, der Dirk, ne, der hat wieder große Gedanken, aber… Es hilft also gar nichts.

Unsere Widersacher kennen uns hervorragend. Die sehen sofort, was bei uns echt ist und was nicht echt ist. Wenn jemand ein feines Gespür dafür hat, dann die Leute, die uns auf dem Kieker haben. Die

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haben ein feines Gespür dafür, was bei uns echt ist und was nicht. Und manche sind so kritisch – bis wir da mal authentisch und echt sein können mit denen, das braucht so viel! Da machen wir schon Anstrengungen, und dann ist immer noch so ein bisschen was Künstliches dabei – die wehren das ab und sagen: nein, will ich nichts von haben, will keine Geschenke von dir, nichts!

Kennt ihr die Situation zwischen Vater und Sohn zum Beispiel – also ältere Kinder, wenn die Eltern den Kindern mal was Gutes wollen, und die Kinder sagen: nee! Komm mir nicht so! Du änderst dich nie! – oder umgekehrt.

Authentisch werden! Diese Tschöd-Praxis, dieses Lodjong bedeutet, total authentisch zu werden. Es wirklich zu tun. Hier jetzt mal in der Vorstellung, aber das hat natürlich Auswirkungen aufs Handeln. Das muss Auswirkungen aufs Handeln haben! Wir können in der Vorstellung weiter gehen, als wir es im Handeln tun können, aber das Handeln muss sich in dieselbe Richtung entwickeln. 38.00 in 5/1

Frage: … oder muss man da auch mal einen Riegel vorschieben und sagen, wie bei Kindern, da…

Lhündrup: Du antwortest auf Projektionen mit Projektion. Das, was wir jetzt gemacht haben war eine reine Projektion. Ihre Wut ist nicht wirklicher als unser Mitgefühl. Unser Mitgefühl ist nicht wirkli-cher als ihre Wut. Wir begegnen uns auf derselben Ebene.

Frage: … aber bei Menschen ist das anders.

Bei Menschen ist das genauso. Das ist ja eine wichtige Frage. Es mag sein, dass du jetzt gerade die Ebene der Vorstellung mit der Ebene des konkreten Handelns verwechselst. Nehmen wir mal an, der Nachbar von gegenüber würde uns übelwollen. In unserer Vorstellung bringen wir ihm alles dar. In unserem Handeln sind wir so freundlich und so offen wie möglich, aber es ist klar, an der Grund-stücksgrenze hört sein Einfluss auf. Da ziehen wir einen Riegel vor, so wie du sagst. Dieser Riegel wird freundschaftlich gezogen, der wird warm gezogen. Aber es ist klar, es ist eine Grenze.

Wir müssen im konkreten Handeln Grenzen setzen können, weil es sonst nicht zum Nutzen des ande-ren wäre. Wir dürfen dem anderen nicht erlauben, schädliche Handlungen auszuführen, die wieder zu neuem negativem Karma für diese Person führen. Das dürfen wir nicht. Das wäre kein Mitgefühl.

Aber die Art, wie wir das tun, ist nicht das „wir“, das „ich“ schützen wollen, sondern wir wollen den anderen davor schützen, schädlich zu handeln. In unserer Vorstellung brauchen wir solche Riegel gar nicht zu ziehen. Denn: Wo ist das Ich? Was gibt’s da zu schützen? Wenn wir in dieser offenen Geis-tesweite sind, was gibt es da noch zu schützen? Da können wir alles geben, da gibt es keine Grund-stücksgrenzen, keine Territorien, da können wir alles geben. Selbst unseren Körper. Das können wir im Konkreten aber so nicht. Ich habe während der Meditation etwas gemacht, vielleicht habt ihr das gemerkt. Da war erst das Aus-strahlen von Licht zu den Buddhas, das kam zurück mit dem Segen; Ausstrahlung von Licht zu den Lebewesen, zurück mit Dankbarkeit, Liebe, Mitgefühl, und dann nochmal Besinnung auf das Bodhici-tta im Herzen. Dann haben wir die ganzen Opferungen dargebracht an die hindernden Kräfte, und dann, bevor ich zu der entscheidenden Opferung des Darbringens des eigenen Körpers kam, habe ich noch mal einen Satz gesagt: Wir besinnen uns auf das Bodhicitta im Herzen, wir verbinden uns ganz mit unserer wahren Natur – und dann bringen wir den Körper dar. Denn der Körper ist nicht unsere wahre Natur! Um das Tschöd ausführen zu können, muss man in einem Geisteszustand sein, wo man selbst spürt, dass der Körper eigentlich nur das Gewand, das Gehäuse ist für dieses Leben. Es ist nicht unsere wahre Natur. Frage: Aber ist ein Teil davon? Lhündrup: Er ist durchdrungen davon, aber es ist – weißt du, er wird wieder zu Erde, zu Staub, er hat keinerlei Bedeutung, dieser Körper. Er ist einfach nur jetzt das Zuhause. Der Körper hat sich geformt aus den Elementen, aus dem Blut unserer Mutter, aus der Nahrung, die wir genossen haben, seitdem wir Säuglinge sind – und daraus formt sich dieser Körper. Aber er wird wieder zu dem, was er war, nämlich zu Erde. Er ist an sich wirklich einfach nur ein vorübergehender – ein Werkzeug, kannst du sagen, ja. Ein tolles Werkzeug. Deswegen, da wir dieses Werkzeug brauchen, können wir jetzt nicht

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einfach diesen Körper gerade so hergeben. In unserer Vorstellung geht das, aber gerade so – ist es besser, das nicht zu tun. Da die meisten aber in ihrer Projektionswelt leben – die Wesen leben alle in Projektionen, alle leben in ihrem Film. Es reicht, ihnen in diesem Film alles zu geben. Wir gehen mit ihnen in ihren Film, und in ihrem Film bekommen sie all das. Das braucht von uns aber eine Herzensgröße, eine große Weite, uns einzulassen auf den Film der anderen. Denn normalerweise sagen wir: Was bist du eigentlich so sauer? Ich will dir nur Gutes. Wir lassen uns nicht ein auf den Film der anderen, wir wehren uns gegen den Film der anderen. Was soll das, was soll dein Hass, was soll deine Wut, was bist du mir so übel gesonnen, was läuft da eigentlich? Guck doch mal deine Projektionen an, du siehst ja gar nicht, wer hier ist. Wir versuchen immer, dass der andere seinen Film auflöst und zurücknimmt, um in unseren Film hereinzukommen, der aus unserer Warte total klasse ist. Ja! Unser Film ist der beste Film, und der Film der anderen – irgendwas ist Murks, weil die mich nicht so mögen, wie ich das gerne haben würde. Was wir im Lodjong machen, und deswegen ist diese Form von Tschöd auch eine Form von Tonglen – in der Praxis des Annehmens und sich Austauschens, Annehmens und Gebens, da lassen wir uns auf den Film der anderen ein. Wir gehen hinein in ihr Erleben. Ihr Erleben zählt, und wir versuchen, aus ihrem Erleben heraus die Lösungen zu finden, die in ihrem Erleben angemessen sind. In ihrem Erleben kann es für einzelne angemessen sein, unser Blut zu schlürfen. Das bringen wir ihnen dar, und in ih-rem Erleben ist das befriedigend. Da fühlen sie sich verstanden. Andere möchten sich Schmuck um den Hals hängen, andere möchten in einem Palast leben, andere möchten wieder ihre Hütte haben, die wir ihnen auf dem Russlandfeldzug zerstört haben – was auch immer. Wir haben ja schon irre viel Kriege hinter uns, wir waren Männer, wir waren Frauen, wir sind vergewaltigt worden, wir haben vergewaltigt, wir haben uns die Häuser abgebrannt, wir haben uns die Felder zerstört - - - wir haben ALLES schon gemacht! Das hat solche karmischen Schulden . Wie viele Male wir wohl schon gemordet haben! Und jetzt wundern wir uns, wenn uns ein Unfall passiert. Wir wundern uns, dass Leute ärgerlich sind auf uns. Wenn wir sehen könnten, so wie die erwachten Meister sehen können, dann wüssten wir, warum die einzelnen auf uns so ärgerlich sind. Weil: wir haben irgendetwas nicht bereinigt. Frage: Kann es sein, dass manche chronischen Schmerzen keine organische Ursache haben, sondern dass irgendwie damit zusammenhängt, dass so ein Geistwesen… Lhündrup: Das gibt es. Frage: Und in so einem Fall wäre es gut, dem alles zu schenken in der Vorstellung? Lhündrup: Ja, das wäre auf jeden Fall gut. Es ist nicht immer der Fall, wenn man chronische Schmer-zen hat, aber – das gibt es. Es gibt’s zum Beispiel, dass sich – also Gendün Rinpoche hat uns davon erzählt – durch eine solche Form von Praxis Krebs aufgelöst hat. Oder andere Krankheiten. Es ist möglich. Man muss die karmi-schen Bande reinigen. Frage: Kann das sein – also normalerweise ist ja die Praxis, dass man allen möglichen Wesen alles Gute schenkt - kann das auch sein, dass man so einen Winkel von sich selbst entdeckt, wo man denkt: dem müsst ich vielleicht auch was opfern? Lhündrup: Völlig richtig. Weißt du, diese Frage nach dem Winkel in uns, den wir nicht berücksichtigt haben, das ist genau auch die Projektion, die wir haben, von dem, was uns scheinbar als hindernde Kräfte in den Sinn kommt. Eigentlich sind das unsere eigenen nicht berücksichtigten Winkel. Da ha-ben wir den Räuber in uns… usw. Wir haben Winkel in uns, die voller Aggressivität stecken. Entwe-der öffnen wir uns dem eigenen inneren Winkel, der noch schwieriger zu sehen ist als die äußere Ag-gressivität. Wenn wir uns den äußeren Angreifern öffnen, öffnen wir uns gleichzeitig auch der eigenen inneren Aggressivität. Wenn wir uns der eigenen inneren Aggressivität oder Begierde oder was auch immer öffnen, dann öffnen wir uns auch im Außen. Außen und Innen, das spielt dann immer zusam-men.

(Anmerkung: Die Begriffe ‚Schatten‘ und auch ‚Licht‘ werden später näher definiert.)

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Im Außen lehnen wir rigoros die Menschen ab, die mit unseren ‚Schatten‘ zu tun haben. Wenn wir unsere eigenen ‚Schatten‘ annehmen, können wir auch die im Außen annehmen, aber wenn wir sie im Außen annehmen möchten, müssen wir gleichzeitig auch unsere inneren ‚Schatten‘ annehmen. Das geht nicht anders. Frage: Und wenn ich den ‚Schatten‘ eigentlich selbst noch gar nicht richtig greifen kann, nur merke, da ist was, und ich krieg das nicht gereinigt oder so, könnte das die Methode sein? Lhündrup: Das hilft. Wahrscheinlich wird der ‚Schatten‘ dann doch irgendwann bewusst. Wenn du dir Zeit und Raum gibst zu sein, zu meditieren, ohne alles zuzuschütten, dann wird der ‚Schatten‘ bewuss-ter. Für mich ist es eine starke Praxis; immer wenn ich Menschen als schwierig erlebe, dann nehme ich das eigentlich als Zeichen dafür, dass in mir sich etwas nicht geöffnet hat, dass sie in mir einen ‚Schatten‘ anrühren. Das heißt, dank der Begegnung mit anderen Menschen kann ich mehr darüber erfahren, was in mir an Muster noch nicht aufgelöst worden ist. Das Auflösen der Muster zeigt sich dann darin, dass man auch dem Menschen, den man vorher als schwierig erfahren hat, wieder offen begegnen kann und das Problem sich aufgelöst hat. Wenn ich eine große Abneigung gegenüber jemandem habe, da hab ich einen dicken Schatten. Sagt man nicht auf Deutsch, man hat einen Schatten weg? Der nächste Absatz im Text sagt: Manche meinen, dies sei nicht der rechte Zeitpunkt, um so das Geben zu praktizieren. Aber es wird erklärt, … das heißt: die Meister sagen … dass wenn wir diesen unreinen Körper behalten, dies so sei, als wären wir nackt und würden Dornen tragen, und dass es glücklicher macht, ihn herzugeben. Im Anschluss an diese Visualisation, auf Mitte von S.3 nimmt der Text Bezug darauf, dass es unter den buddhistischen Meistern eine Diskussion gab, wann der richtige Zeitpunkt ist, Tschöd zu prakti-zieren, dieses Hergeben des Körpers – so wie Dirk das sagte: wenn ich doch gerade erst mal dabei bin, meine eigene Beschränkungen herauszufinden, ist es dann nicht zu früh, so etwas zu praktizieren? Einige Meister sind der Überzeugung: ja, es ist zu früh. Man sollte noch ein bisschen warten, bis das Bodhicitta stärker wird. Andere sagen: ja, kannst du weitermachen, okay, du kannst da zögern, aber es ist so, als würdest du nackt mit Dornen herumlaufen. Du musst noch viel Leid erfahren – je länger du das hinauszögerst, die volle Bereitschaft zu entwickeln, den eigenen Körper zu geben, alles zu geben, desto länger wird das Leid! Du verlängerst dein Leid! Da haben sie auch Recht. Beide Seiten haben Recht, im Sinne von, man kann sagen, warte noch ein bisschen ab, und dann kann man aber auch sagen: So bald du es spürst, dass du bereit bist, einen Schritt weiter zu gehen, bitte geh ihn, denn dein eigenes Leid verkürzt sich dadurch. Je mehr du bereit bist dich einzulassen, desto weni-ger ‚Schatten‘ bleibt. Du bringst ‚Licht‘ in die ‚Schatten‘ hinein. Wenn du aber dein Territorium wei-terhin abgrenzt, dann kommt in diesen abgegrenzten Bereich auch kein ‚Licht‘. Frage: Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es ja auch nicht der Punkt, dass ich etwas tue, etwas mache so sehr - wir sagen zwar: ‘Gib deinen Körper‘, aber ich muss ja im Grunde vielleicht die Be-reitschaft haben, dass das geschieht, aber wenn ich gebe, gibt das Ego, eigentlich kann das Ego das ja nicht. Lhündrup: Ja, du hast Recht. Das ist völlig richtig. Wir lassen es geschehen. Wir breiten den Körper sozusagen aus: Hier, nehmt euch, was ihr wollt. Wir lassen es zu. Das Ich kann so eine Opferung nicht vollziehen. Die Opferung geschieht aus dem Bodhicitta heraus, aus der Geistesweite, die nicht mit dem Körper identifiziert ist. Daraus geschieht die Opferung. Frage: Also eine Art aktives vorsätzliches Loslassen? Lhündrup: Ja, ein Nicht-Mehr-Identifiziert-Sein, das dann diese Gabe möglich macht. Lodrö: Soweit ich weiß, bezog sich diese Diskussion, ob man seinen Körper geben kann oder nicht, nicht so sehr auf die Praxis von Tschöd, … es geht um das tatsächliche Hergeben vom eigenen Auge … später Reue empfunden, dass man nicht in der Lage war, Bodhicitta aufrecht zu halten … daher

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wird tatsächlich davor gewarnt, Körperteile herzugeben, wenn man noch nicht ein verwirklichter Bodhisattva ist. Lhündrup: Ich fasse nochmal kurz zusammen,– es war hinten schlecht zu verstehen: Was Lodrö sagte, bezieht sich auf das konkrete Hergeben des Körpers, denn Praktizierende wären unter Umständen motiviert, ihren Körper materiell, konkret herzugeben – also eine Hand, ein Arm, sich töten zu lassen, sich der Löwin zum Fraß vorzuwerfen, der hungrigen Tigerin… Diese Art von tatsächlichem Opfern von sich selbst, seinem Leben, seinem Körper, könnte bereut werden, wenn man noch nicht die Ver-wirklichung der Selbstlosigkeit erfahren hat, der Leerheit. Reue würde dazu führen, dass das Ganze quasi den Bach runtergeht, dass Zweifel an der Handlung entstehen, und dass die ganze positive Kraft dieser Handlung in Frage gestellt wird. Deswegen wird ein konkretes Geben des eigenen Lebens nicht empfohlen für all die, die noch nicht eine stabile Ver-wirklichung der Natur des Geistes erlangt haben. Das ist die Diskussion, die hier auch mit dem Absatz angesprochen ist. In der Visualisation gilt das Gleiche. Man sollte eine solche Visualisation, die man ausgeführt hat, nicht nachher bereuen. Das heißt, wir sollten immer authentisch bleiben und mit dem gehen, was wir als richtig erleben, als richtig erfahren, um nachher nichts zu bereuen, auch wenn wir es uns nur vor-gestellt haben. Auch da müssen wir innerlich konsequent dazu stehen können. Das gilt für alle spirituelle Praxis! Wir machen kein Gebet, wir machen keinen Wunsch, wir üben kei-ne Vorstellung, hinter der wir nicht stehen. Nur so sind wir sicher auf dem spirituellen Weg. Frage: … (nicht verstehbar) … und hinterher, kommt dann: Ja, hättest du das mal nicht gemacht … das eine kommt so mehr aus dem offenen Herzen, das andere kommt … , dass ich Anerkennung möch-te … Lhündrup: Hmm, ein ‚Schatten‘. Ein ‚Schatten‘, der noch nicht integriert ist. Da müssen wir sehr vor-sichtig sein. Das können wir mal machen, aber wir dürfen nicht laufend solche Handlungen ausführen, wo dann nachher Gefühle entstehen: Ach, hättest du das mal besser nicht getan. Wenn wir das laufend machen: nehmen wir mal an, wir hätten unser ‚Dharma-Ich‘, das will Tschöd praktizieren oder Tonglen oder stellt sich vor, den Krebs auf sich zu nehmen und Kopfschmerzen und und und, dem anderen Gesundheit zu schenken, und ja, man stellt sich das vor, und: das samsarische Ich hat Angst! Hat Angst vor Krebs, hat Angst vor Kopfschmerzen, hat Angst vor Verlust… Wenn wir das ständig so machen, werden die widerstreitenden Kräfte in unserem Geist immer stärker. Das wird sich zuspitzen, bis zu einer Revolte, wo diese Seite, die nicht berücksichtigt wird, dazu füh-ren wird, dass man alle Dharmapraxis sein lässt, abhaut, irgendwo sich eine Beschäftigung, Freund-schaftskreis und so was sucht, wo diese Seite möglichst nicht stimuliert wird. Und dann kommt die Zeit, wo man hiermit wieder genug hat, man sucht die anderen. Dann macht man wieder denselben Fehler. Aber jetzt: bin ich ganz gut, jetzt nehme ich die Mönchsgelübde, und dann bin ein ganz guter Praktizierender, ich gehe jetzt ins Retreat, Dreijahresretreat. Dharma-Ich wieder, super stark. Wieder diese widerstreitenden Kräfte. Integration ist das nicht. Das darf man mal machen, dann muss man wieder gucken: ‚Schatten‘ integrieren. Wenn einige von euch zum Beispiel sagen: okay, fünf Abende in der Woche mache ich meine Dharmapraxis, zwei Abende schau ich Fernsehen. Oder gehe auf die Party. Das kann ein sehr weiser Kompromiss sein. Okay, am Fernsehen ist grundlegend nichts Nicht-Heilsames. Man kann so oder so Fernsehen schauen. Beim Vortrag kamen so Bemerkungen über das Fernsehschauen, als ob das der große Teufel wäre. Das ist es ja überhaupt nicht. Es ist nur das viele Fernsehschauen und was man sich da anschaut, was den großen Unterschied macht.

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Zu versuchen, dort wo man meint, da seien ‚Schatten‘ in mir aktiv, im Hauruck-Verfahren alles auf die helle Seite des Lebens herüberzuziehen – das klappt nicht. Das geht ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate, manchmal ein paar Jahre – und irgendwann…: kommt der Gegenschlag, wie eine Welle, und man muss dann viel mehr als zuvor von den Seiten ausleben, die man nicht berücksichtigt hatte. Das können wir vermeiden, indem wir Schritt für Schritt vorgehen. Wenn man kein Interesse mehr hat, sich solche Filme anzuschauen, bestimmte Filme, von denen man merkt, das tut mir nicht gut, das ganz normale tägliche Programm im Fernsehen ist nicht so wahnsinnig toll. Da ist zum Beispiel ein erster Schritt, um den ‚Schatten‘ zu integrieren. Der erste Schritt, den ich bei vielen gesehen habe, ist zu sagen: Nee, einfach so auf gut Glück Fernsehgucken, das tue ich mir nicht mehr an. Ich schaue nur noch DVDs an, nur noch Filme, die mir von mehreren Leuten empfohlen werden. Da habe ich meinen Spaß dran. So kann ich zum Beispiel eine Tendenz, ein Bedürfnis von mir integrieren, leben lassen, ohne großes Risiko. Mit jedem Lebensbereich muss man schauen, wie man damit geschickt umgeht, auf eine heil-same Art, sodass man nicht verdrängt. Ja, da kann man sagen, da gibt’s dann jemand, der sagt, ich habe den Lhündrup gehört, ich werde jetzt Vegetarier. Okay, dann wird man Vegetarier. Von heute auf morgen. Ob das gut geht? Wenn das schon wirklich reif war, wenn ich mit meinem Verständnis schon an den Punkt gekommen bin, wo es jetzt nur noch eine kleine Bemerkung brauchte und die Erkenntnis wird stark und man weiß, das ist es, wie ich leben möchte – dann kann es gut gehen. Aber wenn das doch wieder nur eine spirituelle Ambition ist, wo man meint, man würde der Erleuchtung näher kommen, wenn man Vege-tarier wird: „Ich bin Vegetarier auf dem Weg zur Erleuchtung“, dann kommen wir vielleicht auf dem Weg zur Erleuchtung an ein Schild, wo es heißt: Kein Durchgang für Vegetarier! Ich erinnere euch daran, dass der Buddha kein Vegetarier war! Der Buddha war Vegetarier überall dort, wo er eingeladen war, wo die Leute wussten, dass sie für ihn kochen. Aber wenn der Buddha beim Almosengang an ein Haus kam, wo es Fleischsuppe gab, dann nahm er die Fleischsuppe, so wie sie war, ohne sich das Fleisch rausklauben zu lassen. Er lehnte das Fleisch nicht ab, denn er wollte nicht, dass es die Menschen schwierig haben, bloß weil ein buddhistischer Mönch an die Haustür klopft. Er war Vegetarier von der Einstellung her, aber er wollte nicht den Menschen das Leben schwer machen. Darum nehmen buddhistische Mönche alle Nahrung an, die ihnen dargebracht wird. Aber wenn jemand weiß, dass buddhistische Mönche ins Haus kommen, wird vegetarisch gekocht, weil man das dann schon vorher weiß. Wenn man das nicht weiß, kocht man so, wie die Familie halt isst, und dann wird mitgegessen. Ganz einfach. Pragmatisch. Der Buddha selbst wollte, dass nie ein Tier für ihn umgebracht wird. Für ihn. Wenn es schon so war, dass es schon getötet war, dann machte er Gebete dafür und – okay, keine Schwierigkeit jetzt für die Menschen aufgrund dessen, dass da ein Mönch an die Tür kommt. Aber das eigentliche Thema war ja das Dharma-Ich, spirituelle Ambitionen, und ‚Schatten-Ich’, sams-arische Ambitionen. Da müssen wir geschickt mit umgehen, sonst zerreißen uns diese Kräfte. Das ist Sprengstoff. Wenn wir da versuchen, so ganz schnell gut zu werden, und heile und sauber und wun-derbar - das können wir, auf die Dauer schaffen wir das, aber wenn wir das mit zu viel Wollen hin-kriegen wollen, wird uns das zerreißen. Frage: Also kann man auch sagen, dass ein respektvolles Verhalten… Lhündrup: Auf jeden Fall. Frage: Also Respekt auf allen Ebenen … Lhündrup: Ja, auf jeden Fall. Unsere Schattenseiten brauchen größten Respekt und taktvollen Um-gang. Frage: Ist es nicht mit Bedürfnissen ganz ähnlich? Ich habe gelesen in einem Buch über Gewaltfreie Kommunikation, da ging es um Bedürfnisse. Am Ende stand, dass selbst der Buddha nicht gewollt

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hätte, dass man ihn ignoriert, dass der Buddha jemand gewesen sei, der sagte, Bedürfnisse haben ihre Berechtigung und sind sogar ein Geschenk. Siehst du das auch so? Lhündrup: Ja! (Du wirst doch nicht dem Buddha widersprechen!) Wenn du schon Buddha zitierst! Die Antwort ist: Was wir eben mit ‚Schatten‘ benannt haben, beinhaltet unsere Bedürfnisse, die wir viel-leicht nicht wahrhaben wollen. Bedürfnisse – das kann man dann anschauen, was von den Bedürfnissen bleibt, wenn der Geist sich aus Ichbezogenheit löst, aber Bedürfnisse sind oft das, was Menschen weghaben wollen, wenn sie sich auf einen spirituellen Weg begeben. Deswegen, aus der Sicht des spirituellen Egos, ist das wie eine Schattenseite. Eigentlich ist an einem Bedürfnis nichts Schattenhaftes. Es darf voll im Bewusstsein sein, und dann müssen wir schauen, wie wir es auf die intelligenteste Art und Weise befriedigen, die-ses Bedürfnis. Spirituelle Praxis führt zu umfassender Zufriedenheit. Kein Bedürfnis muss geleugnet werden. Das ist gemeint mit dem Juwel in den Händen von Tschenresi, das er vor dem Herzen hält. Dieses Juwel ist unser Geist, ist der erwachte Geist. Es ist ein wunscherfüllendes Juwel. Damit wird beschrieben, dass in der Erfahrung der Natur des Geistes alle Bedürfnisse, alle Wünsche erfüllt sind. Das ist gemachte Erfahrung, das ist gelebte Erfahrung von allen, die zu dieser Erfahrung vorgedrungen sind. Sie brau-chen da nichts mehr zu verleugnen, nicht mehr abzutrennen, abzuschneiden. Das ist wichtig, dass alle das gut hören: Der spirituelle Weg führt zur Auflösung überflüssiger Bedürf-nisse und erfüllt alle anderen! Das ist tiefste Zufriedenheit, und man nennt das Nirwana, Friede. Nir-wana heißt Friede, völliger Frieden im Geist. Ein Frieden, der weit jenseits von dem Frieden ist, den wir uns jetzt überhaupt nur vorstellen können. Völliger, umfassender Frieden. Und das geht nur, wenn nichts mehr verdrängt ist. Frage: Manchmal ist es leicht, Bedürfnisse von der Egohaltung in die ichlose Haltung umzuwandeln. Ich kann Fernsehgucken, mir was reinziehen, mich ablenken, mich unterhalten, ich kann aber auch Mitgefühl entwickeln beim Fernsehgucken. … Lhündrup: Ja, ja. Genau. Wir können oft dieselbe Handlung mit einer anderen Geisteshaltung durch-dringen – und schon kommt sie auf den Weg. Frage: Zum Thema Bedürfnisse. Die englische Sprache unterscheidet zwischen den „needs“ und den „wants“, das finde ich sehr aufschlussreich und auch recht hilfreich, zwei Begriffe zu haben in der Sprache für das, was egoistische Wünsche, Begierden sind und für das was tatsächlich … Lhündrup: Also in dem Fall wären die „needs“ eigentlich die Grundbedürfnisse des Menschen, und die „wants“, das wären die aufgesetzten, die zusätzlichen Wünsche oder Bedürfnisse. Frage: Ich beobachte, dass wir Ideale, die wir selbst haben, auf andere übertragen… Dass ich zum Beispiel das Ideal habe, ökologisch korrekt zu leben… dann übertrage ich das auf alle Menschen, die in den Aldi gehen und jeden Tag Fleisch kaufen, ja, gegenüber denen verliere ich die Achtung. … In der Haltung liegt ganz viel Respekt, und … Lhündrup: Völlig richtig, ja. Er hat ziemlich klar gesprochen, ich glaube, ihr habt gehört, ja? Lasst uns hier abschließen, Pause machen. Wir legen jetzt für kurze Zeit mal einen etwas schnelleren Gang ein. Okay? Sammeln wir uns noch einen kleinen Moment und verbinden uns wieder mit der tiefsten Motivation, warum wir jetzt hier sind. Und dann richten wir den Blick wieder auf den Text, wo es heißt: Sprich dann die folgenden Wünsche: „Nun, da ich die beiden unermesslichen Ansammlungen von positiver Kraft und zeitlosem Ge-wahrsein erworben habe, … …also das bedeutet, dass mehr positive Kraft und mehr Gewahrsein entstanden ist durch die Meditati-onen, die wir gerade ausgeführt haben

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… mögen sich die beiden Ansammlungen durch die Kraft meiner reinen Geisteshaltung und den Segen der Meister unermesslich vermehren … Das bedeutet, dass ich den Wunsch mache, jetzt wo soviel Heilsames sich in meinem Herzen breit gemacht hat, möge das nie mehr aufhören, möge diese Kraft weiter wirken in meinem Geistesstrom und sich immer weiter vermehren – … und so die Herzenswünsche aller Edlen … – das heißt aller Erwachten, aller verwirklichten Meister – … vervollkommnet werden. Denn wenn dieses starke Bodhicitta, dieser Herzensgeist, sich ausweitet, dann kommt es ganz natürli-cherweise dazu, dass wir die Handlungen der Bodhisattvas ausführen und so die Herzenswünsche aller Buddhas und Bodhisattvas verwirklichen. Möge dies das Leid der Lebewesen auflösen und mögen sie alle vollkommenes Glück erfahren!“ Vollkommenes Glück ist Glück frei von jeglichem Anhaften, also das Glück des Erwachens. Wenn du Essenzmantras rezitierst… wie zum Beispiel OM MANI PEME HUNG oder andere Mantras … oder die ‚heftige‘ Aktivität ausführst, … zum Beispiel wie Mahakala, der da hinten rechts auf dem Altar steht, der wird ja abgebildet beim Aus-führen der ‚heftigen Aktivität‘. Eigentlich ist das nur Tschenresi, Avalokiteshvara, in anderer Manifes-tation. Aber es ist eine ‚heftige Aktivität‘, die keinen Zweifel daran lässt, wo der Weg zum Erwachen langgeht. Für die, die anders nicht hören wollen. Falls es jemals so sein sollte, dass du selbst diese ‚heftige Aktivität‘ ausführst, was ich eigentlich nicht annehme, dass das je der Fall sein wird, dann … visualisiere dich als Yidam-Gottheit und mache durch eine Vielfalt furchterregender Wunder die Körper von allen Übelwollenden dem Staube gleich. Es heißt: Die Körper werden dem Staube gleich, der Geist wird vollkommen befreit. Das ist eine Akti-vität, die eigentlich nie im Menschenbereich ausgeführt wird. Eigentlich geht es hier um die schützen-de Aktivität wie zum Beispiel Mahakala oder Vajrapani, was sich größtenteils, eigentlich fast immer, auf unsichtbare Wesen, also die nicht für normale Augen sichtbaren Wesen bezieht. Nur dort, weil die eine Existenz haben, in der sie einen Lichtkörper haben, allerdings einen dunklen Lichtkörper, nur dort geht es darum, Wesen tatsächlich diese Grenzen zu setzen, diese heftige und zornvolle Aktivität aus-zuführen und ihren Geist in Dharmadhatu, die Dimension der Wahrheit, zu befreien. Das ist nicht et-was, das normalerweise im Menschenbereich ausgeführt wird. Ich habe schon mal in diesem Kurs das Beispiel erwähnt, als Mao starb und der 16. Karmapa sich sofort in Meditation begab, um den Massenmörder Mao auf dem Weg im Bardo zu führen. Der 16. Karmapa hat sich sofort in Samadhi begeben, um zu schauen, ob für Mao noch irgendetwas Hilfrei-ches getan werden konnte. Und er hat damals wie auch früher schon in seinem Leben gesagt, dass selbst bei so jemandem wie Mao diese ‚heftige Aktivität‘ nicht in Frage kommt. Es kommt nicht in Frage, jemanden wie Mao durch eine spirituelle Aktivität einfach umzubringen und den Geist vom Körper zu trennen. Das kommt nicht in Frage, weil solch eine Aktivität nur ausgeführt wird, wenn der gesamte Dharma auf dem Planeten in Gefahr ist. Und das war durch Mao nicht gegeben. Ja, also nur um euch zu sagen, dass dieser Abschnitt eigentlich irrelevant für uns ist. Das ist damit gemeint.

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Aber wenn wir praktizieren, ist es gut, sich als Yidam zu visualisieren, die Mantras zu nutzen, um uns damit mit dem Mitgefühl aller Buddhas zu verknüpfen, und dabei zu kontemplieren, was der nächste Satz sagt: Kontempliere dabei, dass alle Lebewesen ins Gewahrsein der Allbewusstheit geführt werden. Das ist, was wir tatsächlich machen können in unserer täglichen Tschenresi Praxis, Tara Praxis, was auch immer. Wir können uns vorstellen, dass durch die Aktivität, die da in unserer Visualisation statt-findet, alle Lebewesen in die Allbewusstheit geführt werden – was ein Synonym für Buddhaschaft ist. Wenn dich etwas im Innersten trifft (z. B. Krankheit) … Wir gehen zum Arzt, nichtsahnend, Mammographie, und kommen zurück: Sieht nach Krebs aus. Okay, und dann kommt die Diagnose. Das ist, was man meint mit: Wenn dich etwas im Innersten trifft. – Gehst zur Arbeit, kriegst die Kündigung. Arbeitslos. Trifft uns im Innersten. … oder du der Magie ausgesetzt bist … Das ist auch wenig unser Problem – aber es gibt Länder, wie zum Beispiel Griechenland, wo noch viel Schwarzmagie praktiziert wird, auch in Tibet war es gang und gäbe. Ich weiß nicht so viel von ande-ren Ländern, aber es gibt Länder, von denen man das hört. Auch in Brasilien hat man immer wieder damit zu tun, dass Menschen noch Schwarzmagie praktizieren und es ihnen eine Freude ist, anderen Schaden zu bereiten durch negative motivierte Gebete oder Meditationen. Dann heißt es: Bleibe frei von aller Furcht und kultiviere die Gewissheit, dass alles ohne Ursprung ist; Hindernde Kräfte erwischen uns nur, wenn sich Furcht in unserem Geist ausbreitet. Wenn wir es schaffen, angstfrei zu bleiben, kann uns nichts etwas anhaben. Aber Ängste sind jetzt schon in unse-rem Geist. Also richtig angstfrei zu bleiben ist ein – puh, das ist schwierig. Ein weiter innerer Weg muss sich da vollziehen, um angstfrei zu sein. Aber der beste Umgang mit Schwierigkeiten ist, schnell sich irgendwohin zu begeben, wo wir uns entspannen können und so angstfrei wie möglich werden. Da sammeln sich dann wieder unsere Weisheitskräfte, da haben wir wieder Zugang zur Frische unse-res Geistes und finden die besten Lösungen. Wenn wir in der Angst sind, sind wir verspannt, und un-ser Verstand arbeitet nicht gut. Der ist von Angst verschleiert. Wer Angst hat, kann nicht gut nachden-ken, kann schon gar nicht gut spüren. Wir spüren nur unsere Angst. Darum ist der erste Rat: Bleibe frei von aller Furcht – oder befreie dich von aller Furcht und kultiviere die Gewissheit, dass alles ohne Ursprung ist – und das ist Weisheit. Damit ist gemeint: zum Beispiel – ich habe die Krebsdiagnose bekommen. Das Gespenst des Todes und des Schmerzes zeichnet sich ab am Horizont. Hinein zu schauen: was ist das, der Tod? Was ist der Gedanke an den Tod? Was sind Gedanken an Schmerzen? Was ist Schmerz? Tief hinein zu schauen und die Gewissheit zu entwickeln, dass all das die Natur des Geistes hat, dass all das erscheint und vergeht, von Moment zu Moment – und wenn ich der Natur des Geistes gewahr bin, löst all das sich in der Natur des Geistes auf. Das ist der Rat hier, das ist der Rat auf der höchsten Ebene. Auf der Ebene schaffen wir es vielleicht nicht zu praktizieren. Wir können das etwas runterschrauben. Die erste Stufe zum Beispiel wäre, sich daran zu erinnern, dass ALLES vergänglich ist und dass Leben immer weiter geht – aber vergänglich. Es gibt kein Leben ohne Vergänglichkeit. Leben bedeutet, dass wir sterben. Aber nach dem Tod geht’s weiter, der Geistesstrom geht weiter. Denkt im Sterben daran, dass ohnehin alles vergänglich ist und dass jetzt das passiert, was die Natur aller Dinge ist – nämlich dass sie auseinander fallen. Alles was zusammengesetzt ist, wird auseinander fallen. Das ist umso schmerzhafter, je mehr wir uns widersetzen, je mehr wir im Kampf sind. Heilungskräfte werden aktiviert, wenn wir herausfinden aus der Furcht, hineinfinden in Herzensöffnung, in Geistesöffnung – da werden Heilungskräfte aktiviert. Aber auch der heilste Mensch muss sterben. Da gibt es keinen Weg drum herum. Und an irgendetwas muss man sterben.

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Hier geht es darum zu erkennen, dass alles ohne Ursprung ist! Ohne Ursprung – das bedeutet: nicht geboren. Was nicht geboren ist, kann auch nicht sterben. Diese Erkenntnis ist auch gemeint mit ‚ohne Ursprung‘. Das heißt, dass wir mit unserem Bewusstsein hineinfinden in diese Dimension, die jenseits von Zeit ist, jenseits von linearer Zeit. In dieser Dimension sind alle hindernden Kräfte befreit. Erkenne sämtliche Erscheinungen als Spiegelbilder … als Projektionen, als Erscheinungen im Geist, so wie wenn du ins Wasser schaust und darin den Mond siehst oder in einen Spiegel schaust und darin etwas siehst: Das ist nicht das Wahre! Alle Erscheinun-gen sind Abbilder, sind Spiegelbilder in dem Sinne: Es ist nicht das Wahre. Was ist eigentlich das Wahre? Den Blick darauf zu richten und tiefer zu gehen, tiefer hinein zu schau-en in die Erscheinungen, ihre wahre Natur zu erkennen, ist der beste Schutz und ist die höchste Form von Bodhicitta Praxis. Diese Erkenntnis des Erkennens aller Erscheinungen ist das, was wir Lebewe-sen schenken können. Aus dieser Erkenntnis heraus verweilen wir dann, wie es heißt: … und weile ausgeglichen im Samadhi der Liebe. Der Samadhi der Liebe ist das Verweilen in der Erkenntnis der Natur der Dinge im Hinblick auf all jene, die diese Erkenntnis noch nicht verstanden haben – und ihnen öffnet sich das Herz ganz von selbst, da ist niemand, der das Herz öffnet – und dieses Gewahrsein umfasst sie alle und hilft ihnen allen, zu diesem Gewahrsein zu finden. Samadhi der Liebe bedeutet nicht, dass wir einen sentimentalen Meditationszustand erfahren. Samadhi der Liebe ist unermessliche, grenzenlose Liebe. Zu Anfang ist es so, dass tatsächlich auch ein warmes Herz dabei gespürt wird, aber nachher löst sich auch die Empfindung des warmen Herzens auf. Es breitet sich überall hin aus, der ganze Körper fließt, alles strömt, alles ist harmonisch, und auch die Grenzen des Körpers lösen sich auf. Auch der Körper wird nicht mehr als getrennt von der Umgebung erfahren. Samadhi der Liebe bedeutet, dass alle Grenzen im Bewusstsein sich auflösen. Das ist der eigentliche Samadhi der Liebe. Frage: …( Nicht zu verstehen) Lhündrup: Ja. Es ist jenseits von aktiv und passiv. Es ist einfach so. Es ist die Einheit von Liebe und Weisheit. Frage: Verzeihung, mit Erscheinung, begrifflich, ist hier gemeint: äußere und innere Phänomene? Lhündrup: Ja, äußere und innere Phänomene, alle gedanklichen Bewegungen, alles was im Geist wahrnehmbar wird – das sind Erscheinungen. Frage: Und auch die äußeren Phänomene, was man sieht, wenn man was wahrnimmt, der Gegenstand selbst? Lhündrup: Ja, genau. Was auch immer – was weiß man schon über den Gegenstand, außer dass er im Geist auftaucht? Ja? All das sind Erscheinungen. Sämtliche Phänomene. Das Wort, das hier im Tibeti-schen gewesen sein dürfte, ist entweder Nangwa oder Tschö – das sind also alle Phänomene. Falls emotionale Verblendung in deinem Geist auftaucht, … Das heißt, irgendeine verwirrende, verschleiernde Emotion - … erkenne ihr wahres Wesen als ursprungslos, … Eine Emotion hat dieselbe Natur wie alles andere. Ihre wahre Natur ist ursprungslos, ist ungeboren. Dieselbe Geistesnatur wie alles andere. … und emotionale Enge wandelt sich in zeitloses Gewahrsein. Durch diese Erkenntnis. Das alles sind jetzt Unterweisungen zum letztendlichen Bodhicitta, zum höchsten Geist des Erwa-chens, zur Praxis der Weisheit.

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Was immer für widrige Umstände oder Probleme auftauchen, übe deinen Geist in den Metho-den, die beiden Ansammlungen zu vollenden. Die beiden Ansammlungen sind positive Kraft und zeitloses Gewahrsein. Denken wir doch gerade mal schnell an eine von den Schwierigkeiten in unserem Leben, ja. Denkt gerade mal an eine Schwierig-keit. Was für eine Wahl haben wir da? Wie können wir uns verhalten? Wir haben die Möglichkeit, mit Liebe und Mitgefühl mit diesen Schwierigkeiten umzugehen - das nennt man das Entwickeln von positiver Kraft - irgendwie heilsam da hineinzuwirken in diese Schwie-rigkeit. Oder wir haben die Möglichkeit, über die Weisheit tiefer zu erkennen, was eigentlich los ist. Wir brau-chen gar nicht zu wirken, sondern erkennen. Dadurch löst sich die Schwierigkeit auf. Wir haben diese beiden großen Möglichkeiten. Das nennt man die beiden Ansammlungen in dem Sin-ne, dass jedes Mal, wenn wir entweder über Liebe und Mitgefühl positive Kraft entwickeln oder über Gewahrsein unsere Erkenntnis vertiefen, eine Verstärkung dieser Kräfte in unserem Geist stattfindet. Das nennt man das Erwerben der Ansammlungen. Es ist ein nicht ganz stimmiger Begriff, eigentlich geht es um das Verstärken von Kräften und von Einsicht. Das ist damit gemeint. Die vielen Situationen, in denen wir voller Liebe und Mitgefühl heilsam gewirkt haben, vermehren die Ansammlung von positiver Kraft. Die vielen Situationen, in denen wir erkannt haben, dass all das Erscheinungen im eigenen Geist sind und dass es sich um dieselbe Natur der Erscheinungen des Geis-tes handelt wie überall, das ist das Vermehren oder die Ansammlung von Gewahrsein, ein Vermehren, ein Anwachsen der Weisheit. Das sind die Methoden, die die beiden Ansammlungen vollenden, das sind die Methoden, die uns helfen, Liebe und Mitgefühl freizusetzen, die Methoden, die uns helfen, karmisch heilsam zu handeln, die Methoden, die uns helfen, genauer hinzuschauen, um was es sich eigentlich handelt, die Methoden, die uns helfen, zu meditieren, zu kontemplieren, Methoden sind all die geschickten Mittel, das Gelernte zum Einsatz zu bringen. Mit dieser Haltung erfreue dich an Nahrung, Kleidung und Unterkunft als Helfer im (Entwi-ckeln von) Bodhicitta. Nahrung, Kleidung, Unterkunft, das sind unsere materiellen Grundbedürfnisse. Jeder braucht das. Alles, selbst diese rudimentären Bedürfnisse, können zum Weg des Erwachens genutzt werden. Wir können uns freuen daran, dass wir Essen, dass wir eine Unterkunft haben, dass wir Kleider haben. Wir können dankbar sein, wir können sie teilen mit anderen, wir können anderen das ebenfalls wünschen. Wir sagen: Danke dafür, dass ich das alles habe, denn es ermöglicht mir, zum Wohle anderer aktiv zu sein. Das ist die Art und Weise, wie selbst die rudimentärsten Dinge in unserem Leben zu Helfern im Entwickeln von Bodhicitta werden. Das lässt sich mit allem machen. Danke für mein Auto, das ermöglicht mir, nach Freiburg zu fahren. Danke für diejenigen, die meinen Sprit zahlen… Was auch immer. Das ist das Materielle. Und dann: die sozialen Kontakte. Meine besten Freunde, meine Familie, all die, die mir helfen… Wenn wir dankbar werden, kommt alles auf den Weg des Erwachens. Dankbarkeit ist der Schlüssel, wie wir all das, was wir für so selbstverständlich halten, nicht mehr als selbstverständlich betrachten, sondern sagen: Danke! Denn es könnte ja auch anders sein – und durch das Danken wird es Teil des Weges zum Erwachen. Wenn diese Menschen, die hier sitzen, sich entschlossen haben, Körper, Rede und Geist ganz und gar dem Weg des Erwachens zu widmen, dann werden ihre Kleidung, ihre Nahrung, ihr Zuhause Teil des Weges zum Erwachen. Ihr Haus ist das Haus, in dem der Weg des Erwachens gegangen wird. Ihre

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Kleidung ist die Kleidung, in der der Weg des Erwachens praktiziert wird. Und beim Essen von Nah-rung wird dieser Körper genährt, der notwendig ist, um die Bodhisattva - Aktivität auszuführen. Alles hängt zusammen. Es gibt nichts mehr im Leben, das nicht von Bodhicitta durchdrungen wird. Alles wird erfasst vom Geist des Erwachens. Alles wird zum Werkzeug. Frage: Heißt das im Kontext mit dem Satz davor, wenn ich Probleme habe und mir irgendwas als schier unmöglich erscheint, diese Brustkrebs-Krankheitsgeschichten zum Beispiel, dass ich dann sa-gen soll: Okay, ich habe da Probleme, und ich versuche da auf diese Weise damit umzugehen, und ansonsten schraube ich erst mal meine Erwartungen soweit runter und bin einfach dankbar dafür, dass ich lebe, Nahrung und Unterkunft habe?? Ja? Ist das so gemeint? Lhündrup: Ja, du kannst es schon mal so angehen. Ja, so kannst du es angehen. Und du wirst ganz große Freiräume entdecken. Du wirst dann merken, indem du es erst mal so akzeptierst und dankbar dafür bist, dass du im Moment noch lebst, und den Dharma kennst und praktizieren kannst. Da wirst du entdecken, dass wir als Krebskranke doch noch ungeahnte Freiräume haben – die uns völlig entge-hen, wenn wir in der Angst sind, beschäftigt mit dem Krebs. In dem Moment entgehen uns diese Frei-räume. Wir müssen sie uns wieder eröffnen. Das heißt nicht, dass der Krebs dadurch zum Stillstand kommt. Wir müssen trotzdem die Therapien machen, und es kann sein, dass wir daran sterben. Aber – das ist nicht das ganze Leben! Frage: Einfach die Dankbarkeit, ein sauberes Bett zu haben, fantastische Therapien, das ist wirklich eine Hilfe,…(nicht zu verstehen) Lhündrup: Dankbarkeit für die kleinen Dinge, ein sauberes Bett zu haben, Leute, die sich um mich kümmern, eine gute Therapie… Frage: ist es nicht so … wenn man soviel Angst hat, dass das das Leben verkürzt, wenn man soviel Angst hat, dass es einen einengt? Lhündrup: Auf jeden Fall. Leider wirkt Angst, so wie du sagst, hemmend auf den normalen Fluss un-serer Energien. Wenn wir voller Angst sind und die Energien nicht gut fließen, dann wird es wohl so sein, dass es eher lebensverkürzend wirkt. Das ist wohl richtig. Angst ist aber auch kein Feind. Angst bedeutet, dass da etwas aktiv wird in uns – wir hatten es ja vor-her vom Schatten, wo wir nicht hingucken wollen – da wo Angst ist, wollen wir meistens nicht hingu-cken. Es geht darum, da hinzugucken. Nicht einfach zu sagen: Ich will jetzt positiv denken, und dann die Angst wegschieben, sondern wir müssen das positive Denken in die Angst bringen. Schauen, wo kommt sie eigentlich her, wovor habe ich Angst, wovor laufe ich davon? Da sind ja Gespenster: der Tod, die vielen Schmerzen, die mit Krebs einhergehen zum Beispiel – ja, alles, was man schon gehört hat – das muss man sich ja anschauen. Angst ist für einen Dharmapraktizierenden wie eine blinkende Ampel: Guck mal, guck mal, guck mal! Hier, da ist Ichbezogenheit, da will was angeschaut werden. Frage: Gibt es eine spezielle Praxis bei Angst? Lhündrup: Die spezielle Praxis bei Angst ist, nicht wegzulaufen, sondern sich umzudrehen und der Angst ins Gesicht zu schauen. Wie du das dann konkret machst, wirst du selbst herausfinden müssen, aber - das ist die Praxis. Manchmal laufen wir noch lange weiter und wissen schon: Eigentlich sollte ich mich umdrehen, und wir laufen trotzdem noch weiter, wollen uns nicht umdrehen. Irgendwann haben wir den Mut hinzu-schauen. Irgendwann ist es soweit, dass wir hinschauen können. Und dann machen wir eine wichtige Entdeckung. Bemühe dich, so dass alle Lebewesen, die dich sehen, von dir hören, an dich denken oder über dich sprechen, die drei Schleier auflösen und die Ursachen für das Verwirklichen der drei Bud-dhakörper schaffen.

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Die drei Schleier sind die emotionalen Schleier, die Gewahrseinsschleier und normalerweise die kar-mischen Schleier. Die Fußnote erklärt das ja. Wenn eine Fußnote zu lang wird, dann schiebt sie das Programm auf die nächste Seite! Was hier gemeint ist, ist nicht, dass wir besonders studieren müssen, um zu wissen, was die drei Schleier sind, denn das bedeutet, dass alle Schleier aufgelöst werden. Es ist nur eine Art und Weise zu sagen: alle Schleier. Und was mehr noch gemeint ist, ist, dass wir zu jemandem werden, der bei anderen Menschen soviel Vertrauen auslöst, soviel Inspiration, allein schon, wenn wir an ihn denken. Wenn ich zum Beispiel an meinen Lehrer Gendün Rinpoche denke, dann erlebe ich so etwas, wie dass das Denken an ihn in mei-nem Geist Klarheit hervorruft, dass die Schleier weniger werden. Ich kann nicht behaupten, dass sie sich auflösen, aber für den Moment, wo ich an ihn denke, entsteht eine Herzensweite, eine Inspiration, und es kommen wieder neue Kräfte zum Vorschein. Das ist das, was passiert, wenn wir an so eine Person denken, die ein richtiger Bodhisattva geworden ist, die das wirklich verkörpert. Das löst bei uns etwas aus, und wenn ich jetzt an das Wirken von Gendün Rinpoche denke – entschuldigt, weil ihr ihn ja wahrscheinlich nicht kennen gelernt habt – am Ende seines Lebens verbrachte er einfach die meiste Zeit damit, in seinem Zimmer in Le Bost zu sit-zen und – nur da zu sein. Da zu sein. Er rannte nicht rum, um überall Bodhisattva - Aktivität auszufüh-ren. Die Bodhisattva - Aktivität, zu der er am Ende seines Lebens fand, war mehr so wie eine Sonne, die strahlt. Er hatte vorher viele Reisen gemacht, er war bestimmt 10, 15 mal nach Deutschland gekommen, nein, viel häufiger noch, fünfmal nach Griechenland, mehrmals nach England, nach Italien, nach Spanien, überall war er rumgereist. Das war eine aktive Zeit der Bodhisattva - Aktivität, und später war es so, dass Menschen ihm einfach begegneten, von ihm hörten, manche lasen bloß ein kleines Gedicht von ihm, eine kleine Passage seiner Unterweisungen, manche besuchten ihn, manchen erschien er in Träumen – die träumten von ihm, ohne ihn je gesehen zu haben! Ganz konkret, und konnten ihn dann auf einem Foto wieder erkennen – spontane Aktivität eines erwachten Bodhisattvas. Das ist hier gemeint. Gendün Rinpoche hat uns darin ermutigt, dass wir uns üben sollten, unseren Geist so weit zu befreien, zu schulen, dass wir so werden wie unsere Meister; dass eine spontane Akti-vität zum Wohle der Wesen sich vollzieht, die gar nicht mehr aus dem Ich heraus motiviert ist, wo es gar nicht darum geht, viel zu tun, sondern einfach immer nur das zu tun, was gerade der nächste Schritt ist. Damit schaffen wir für uns selbst und für alle anderen die Ursachen für das Verwirklichen der drei Buddhakörper. Diese Kayas, die Buddhakörper, sind Aspekte des Erwachens eines Buddhas. Wir schaffen die Voraussetzung dafür, - dass der Geist in völlige Offenheit eintritt, Dharmakaya, der Wahrheitskörper, - dass die Dynamik dieses Geistes spontan für alle Wesen aktiv ist, das ist der Freudenkörper, der Sambhogakaya, - und dass sich dieses Erwachen konkret zum Wohle anderer manifestiert in einem Körper, den man sogar anfassen kann, das ist der Nirmanakaya, der Ausstrahlungskörper, die konkreten Manifestatio-nen des Erwachens. Wir arbeiten also an uns, so dass alle, die mit uns in Kontakt kommen, inspiriert sind auf ihrem Weg zum Erwachen und von uns Unterstützung erfahren. Wir dürfen darauf vertrauen, dass das ganz spon-tan passiert. Da braucht man sich kein Programm zu machen. Es geht darum, immer diese Sonne in unserem Herzen wach zu halten, bis wir ganz zur Sonne werden, bis wir ganz zu Bodhicitta werden und es gar nichts anderes mehr gibt. Alles andere ist gereinigt, alles andere hat sich aufgelöst. Um das Wohl der Wesen zu bewirken heißt es dann: Nimm alle schwierigen Umstände als den perfekten Weg (des Geistestrainings) des Erwachens und praktiziere die Handlungen Samantabhadras.

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Ist ja schon ein starkes Stück, aber zum Glück sind wir jetzt schon am vierten, fünften Tag der Unter-weisungen, und da lässt sich so etwas schon noch verstehen. Unsere Schwierigkeiten sind also der perfekte Weg. Das ist übrigens kein Witz und kein Hohn. Das ist nicht einfach so daher gesagt. Die Lehrer, die das unterrichten, praktizieren das aber auch! Sie laufen nicht vor Schwierigkeiten davon. Sie wissen: die Schwierigkeiten SIND der Weg, wo auf die allerperfekteste Weise all unsere Qualitä-ten stimuliert werden. Gerade dort, wo es schwierig wird, ist der perfekte Weg. Es gibt auch andere Wege, zum Teil sind es Umwege, zum Teil sind es einfach Wege, die uns weniger stimulieren. Wir können Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, wir müssen aber auch wissen, dass wir dann weniger stimuliert werden. Das ist auch okay, man darf auch das mal runterschrauben, wir dürfen die Schwierigkeiten auch mal runterschrauben, wir dürfen das! Aber wir wissen auch, dass wir dann einfach aus der Zone der maximalen Stimulation herausgehen und uns eine kleine Pause gönnen oder eine etwas weniger schwierige Zeit. Das dürfen wir! Wir können auch nicht immer am Anschlag sein, wir brauchen Momente, wo wir wieder mal durchatmen können. Die optimale Stimulation ist immer so, dass wir es gerade noch schaffen, dass wir es schaffen, damit umzugehen und das zu integrieren in den Weg. Schwierige Umstände praktizieren wir als den perfek-ten Weg und praktizieren dabei die Handlungen Samantabhadras. Da wisst ihr jetzt, was damit ge-meint ist: Alle die Handlungen sämtlicher Buddhas und Bodhisattvas in die Tat umzusetzen, all die Herzenswünsche umzusetzen, das was vorher schon erwähnt wurde, in der Praxis anzuwenden. Das bedeutet konkret, die sechs Paramitas zu praktizieren, die sechs befreienden Qualitäten: Freige-bigkeit, heilsames Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit. Sie alle haben eine gemeinsame Wurzel, das ist Liebe und Mitgefühl. Das ist die gemeinsame Wurzel der sechs befreienden Qualitäten. Das ist mit den Handlungen Samantabhadras gemeint. Kontempliere dabei den Gedanken… genauso wie Samantabhadra „Ich werde die Herzensanliegen, erwachten Aktivitäten, Pfade des Strebens und äußerst kraft-vollen Handlungen sämtlicher Buddhas und Bodhisattvas der drei Zeiten vollenden!“ Das war die Beschreibung der äußerst kraftvollen Geisteshaltung. Die unerschütterliche Geisteshaltung ist diese selbe Geisteshaltung, die wir jetzt beschrieben haben mit noch einer zusätzlichen Qualität, die jetzt beschrieben werden soll. Die unerschütterliche Geisteshaltung kennzeichnet folgende Einstellung: „Wenn andere beim Fischen, Bestellen der Felder und auf Handelsreisen schwerste Bedingungen wie Hitze und Kälte aushalten, wieso sollte unsereins dann dergleichen nicht zum Wohl der Lebewesen ertragen?“ Mit dieser Haltung wirke (unerschütterlich) für das Wohl der Lebewesen. Dabei ist es wichtig, dich nicht beeinflussen zu lassen von Negativität, Emotionen, weltlichem Denken, Einstellungen des geringeren Fahrzeugs und Haften an dinglicher Wirklichkeit, sondern unerschütterlich zu bleiben… frei von allen weltlichen Gedanken, weltlichen Einstellungen, frei von dem Irrglauben an die ver-meintliche Wirklichkeit der Dinge - und die Allbewusstheit zu verwirklichen. Das ist mit unerschütterlich gemeint. Das nennt man die unerschütterliche freudige Ausdauer. Man nennt sie auch die rüstungsgleiche freudige Ausdauer. Die Rüstung hier, das, was wirklich unerschüt-terlich macht, ist, immer das Wohl aller Lebewesen im Geiste zu behalten und im Herzen zu tragen. Immer sich mit der höchsten Weisheit zu verbinden. Liebe und Weisheit, das sind die beiden Kräfte, die wirklich unerschütterlich machen. Alles andere ist bloß Anstrengung in Geduld. Unerschütterlich ist das nicht. Aber Geduld ist das Trittbrett zur Unerschütterlichkeit. Wer wirklich unerschütterlich ist, hat nicht mehr das Gefühl, Geduld zu üben. Weil der Geist unerschütterlich ist, braucht man keine

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Geduld mehr. Ein Buddha übt keine Geduld. Das braucht er nicht zu üben, weil der Geist unerschüt-terlich ist. Darum üben wir uns erstmal in Geduld und streben diese unerschütterliche Geisteshaltung an. Aber vielleicht darf euch das auch ein Hinweis sein, manchmal fragt ihr euch vielleicht: Ja, warum bin ich jetzt so gelassen? Wie kommt es eigentlich, dass ich in dieser Situation jetzt plötzlich so gelassen bin? Und nicht mal Geduld zu üben brauche! Das bedeutet, dass das, was eine scheinbar schwierige Situation ist, uns gar nicht erschüttert hat. Es hat uns vielleicht nicht erschüttert, weil wir nicht an bestimmten Vorstellungen festhalten, weil wir keine anders lautenden Pläne hatten, weil wir die Menschen, die sich da verrückt aufführen, verstehen können, weil unser Geist in Mitgefühl weilt. Darum, merkwürdigerweise, brauchen wir gar keine Ge-duld zu üben. Manche Eltern erleben das mit ihren Kindern, dass sie so manches ganz einfach ausführen können; freudige Ausdauer und Geduld stellen sich wie von selbst ein, weil die Liebe so groß ist, weil die Lie-be, die Hinwendung zu den Kindern so groß ist. Da werden viele Dinge so leicht. Da braucht man die Mutter gar nicht zu fragen: Wie machst du das eigentlich, so viel Geduld? Wie machst du das eigent-lich, nachts aufzustehen? Die Mutter sagt dann manchmal – manche Mütter brauchen viel Geduld und müssen viel Ausdauer üben – aber manchmal ist es auch so: Nein, das geht einfach so. Das geht ein-fach! Da denke ich gar nicht drüber nach. Das ist gemeint mit dieser Dimension von Unerschütterlichkeit: Das geht einfach. Das ist spontan so, weil alles im Herzen zu Liebe geworden ist und weil das Verständnis der Wirklichkeit vollkommen geworden ist, vollständig geworden ist. Dann ist der Geist unerschütterlich. Dann sind Geduld und freudige Ausdauer einfach da. Tag 6 Wir kommen mit unseren Erklärungen jetzt zu der dritten Geisteshaltung, dem vajragleichen Geist. Die vajragleiche Geisteshaltung ist, von jetzt an bis zur Erlangung der Buddhaschaft Bodhicitta zu meditieren, ohne sich von irgendwelchen abschweifenden Gedanken unterbrechen zu lassen. Wenn wir von Vajra sprechen: ihr wisst, das ist dieses kleine Szepter, das wir bei der Praxis mit der Glocke in der Hand halten, Vajra und Glocke – wobei Vajra für geschickte Mittel steht und Glocke für Weisheit. Aber hier, wenn wir von Vajragleicher Geisteshaltung sprechen, dann bedeutet Vajra unzer-störbar oder nicht zu stören, durch nichts zu beeinflussen und bezieht sich in der indischen Mythologie auf das Szepter Indras, der als einer der mächtigen Götter in Indien und auch jetzt als einer der Be-schützer des Dharma ein Szepter hat, von dem es heißt, dass er damit selbst den Berg Meru spalten kann. Dieser Vajra ist einfach in Indien ein Wort, mit dem man die stärkste Kraft verbindet, das was völlig unbeirrbar ist und alles andere besiegen kann. Das ist es, was hier mitschwingt. Vajra bedeutet ja nicht Diamant, obwohl Diamant auch eine sehr harte Substanz ist, aber Vajra ist noch viel härter als Diamant, kann auch ganze Planeten spalten. Aufgrund dieser Bedeutung von Vajra spricht man von der Meditation eines Bodhisattvas auf der zehnten Stufe, der in tiefe Versenkung geht und Buddhaschaft erlangt. Diesen Samadhi, diese tiefe Versenkung, wo der Bodhisattva in die Buddhaschaft eintritt, nennt man den vajragleichen Samadhi. Von diesem vajragleichen Samadhi habt ihr vielleicht gehört oder auch Bilder gesehen. Das sind auf den traditionellen Darstellungen diese Szenen, wo Buddha Shakyamuni unter dem Bodhibaum sitzt – und dann kommen all die Attacken von Mara, zum Beispiel Pfeile, die abgeschossen werden. Wenn man sich das Bild genauer anschaut, dann kommen die Pfeile in die Nähe von Buddha Shakyamuni und dann sieht man nur noch Blumen. Die Pfeile verwandeln sich in Blumen. Oder Verführung durch

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wunderschöne Göttinnen, Ausstrahlungen von Mara. Oder angsteinflößende Dämonen, die versuchten, ihn aus seiner tiefen Versenkung zu rütteln. Was damit gemeint ist, ist, dass in dieser vajragleichen Meditation all die letzten Schatten, alle Knöp-fe, die noch irgendwie gedrückt werden könnten, alles noch mal ausprobiert wird, alles kommt noch-mal auf den Prüfstand. Ist die Gelöstheit schon überallhin eingezogen? Gibt es noch irgendetwas, was diesen Praktizierenden aus der Ruhe bringen könnte, was ihn ablenken könnte? Denn Maras Anliegen in der Legende ist, dass er den Buddha von der Buddhaschaft abhalten möchte, weil er weiß, wenn das passiert, dann habe ich in der Welt nicht mehr das größte Sagen. Da gibt es dann jemanden, der stärker ist. Deswegen bietet er nochmal alle Kräfte auf. Auf der inneren Ebene ist das natürlich die Begegnung mit den allerletzten Schatten, den allerletzten Anhaftungen, all das, was noch aufgelöst werden muss, um in völlige Freiheit zu treten. Ja, man kann die Dinge äußerlich und innerlich darstellen. Deswegen ist hier die vajragleiche Geisteshaltung damit verbunden, sich von nichts, was auch immer, unterbrechen, ablenken zu lassen. Was wir hier abschweifende Gedanken nennen, ist der Versuch einer anderen Übersetzung vom tibeti-schen Wort nam tog, auf englisch oft als „discursive thoughts“ übersetzt. Nam tog sind all die über-flüssigen Konzepte, all die Gedanken, die nicht im Einklang mit der Wirklichkeit sind. Das ist nam tog. Also vajragleiche Geisteshaltung würde für uns bedeuten, in unserer Praxis, Meditation, wo auch im-mer wir sind, eine Geisteshaltung zu kultivieren, die sich nicht vom Wesentlichen, vom Eigentlichen ablenken lässt. Das Wesentliche ist Bodhicitta. Bodhicitta bedeutet, in Liebe und Weisheit zu verweilen, oder in Mit-gefühl und Weisheit. Liebe und Mitgefühl werden auch Methode genannt und geschickte Mittel, weil wir über Liebe und Mitgefühl hineinwirken in die Welt und geschickt sind in den Methoden, anderen zu helfen. Ob nun der Liebesaspekt stärker ist oder der Weisheitsaspekt, spielt keine Rolle, da, wie der nächste Satz sagt: Da zudem Methode und Weisheit untrennbar sind, entwickeln sich beide Qualitäten… also Liebe und Mitgefühl, was hier Methode genannt wird, und Weisheit ganz von selbst, wenn wir eine von ihnen praktizieren – … und da sie sich beide entwickeln, praktizieren wir so ihre Einheit. Die Praxisaufgabe hier für uns ist, stets unabgelenkt im Bodhicitta zu verweilen. Dafür müssen wir natürlich erst einmal das Bodhicitta kennen gelernt haben, wir müssen es spüren, müssen wissen, wie es sich anfühlt, wir müssen wissen, was damit gemeint ist. Das ist im Moment für euch vielleicht die größte Hürde: nicht genau zu wissen, was bedeutet das ei-gentlich, im Bodhicitta zu verweilen, im Geist des Erwachens. Da braucht es vorbereitende Übungen, da braucht es Schritte, um dahin zu kommen, um diesen Geist des Erwachens in uns freizulegen, dass er zu einer meditativen Dimension wird in uns, die wir kontaktieren können. Dann geht es darum, darin unbeirrt zu verweilen. Daraus entsteht dann der ganze Weg. Der ganze folgende Weg ergibt sich dann aus dieser Praxis des Verweilens im Bodhicitta. Dabei brauchen wir keine Sorge zu haben, dass relatives Bodhicitta und letztendliches Bodhicitta viel-leicht extra praktiziert werden müssen, mal das eine und mal das andere. Wenn wir im Bodhicitta sind,

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egal ob relativ oder letztendlich, wir praktizieren immer Liebe und Weisheit zugleich, da die beiden nicht trennbar sind. Beim vollkommenen Erwachen also bei der Buddhaschaft ergeben sich die Qualitäten und Ausmaße des Buddhagefildes aus den jetzigen Fähigkeiten, Kräften und besonderen Pfaden des Strebens. Also nochmal anders ausgedrückt: Wenn ein Lebewesen Buddhaschaft erlangt, dann ist sein Geist völlig frei von allen Schleiern und alle Qualitäten kommen zum Vorschein, und dieser Buddha ver-weilt dann ständig im Samadhi, ständig im Gewahrsein der Wirklichkeit. Dieses Feld der Präsenz eines Buddhas nennen wir ein Buddhagefilde, ein Reines Land. Wenn wir einem Buddha begegnen, dann treten wir unweigerlich ein in sein Reines Land. Das ist, sagen wir, die Ausstrahlung, die ein Buddha um sich herum hat. Jeder Buddha hat ein Reines Land, jeder Buddha hat ein reines Gefilde. Man braucht jetzt nicht zu denken, dass es materielles Land wäre, wie so ein Planet, auf dem sich der Buddha befinden würde, sondern es ist diese Dimension der geistigen Ausstrahlung eines Buddhas. In klein oder schon sehr berührend in groß konnten wir das immer beobachten, wenn wir mit Gendün Rinpoche in Kontakt kamen. Heute können wir das spüren, wenn wir mit Karmapa oder anderen Meis-tern in Kontakt kommen. Wenn wir in ihre Nähe kommen, manchmal auch nur, wenn wir an sie den-ken, ist es, als würden wir in einen Bereich eintreten, und obwohl wir normalerweise wirklich keine berühmten Meditierer sind, fällt es aber in ihrer Nähe so leicht! Es fällt so leicht, dass der Geist sich öffnet, es fällt so leicht, Bodhicitta zu spüren. Das ist das Eintreten in ihren Reinen Bereich. Was zum Beispiel Buddha Shakyamuni angeht, heißt es: sein Reiner Bereich ist der Menschenbereich, also hier auf der Erde. Der ist nicht woanders, er hat es möglich gemacht, dass man ihm hier begegnet. Amithaba ist ein anderer Geistesbereich. Wir nennen diesen Bereich Dewachen oder Sukhavati. Jeder Buddha hat so ein Feld der Ausstrahlung um sich herum. Was dieses Feld der Ausstrahlung charakte-risiert, sind die Fähigkeiten, Kräfte und Pfade des Strebens, die der Bodhisattva, bevor er Bud-dhaschaft erlangt hat, entwickelt hat. Der Einflussbereich eines Buddhas ist nicht geprägt von Ichbezogenheit. Er ist geprägt von all den Wünschen, von all der geistigen Energie, die entwickelt wurde auf dem Weg der Bodhisattvas, was für Wünsche, was für Anliegen da auftauchten im Geist des Bodhisattvas, wie er gerne den Wesen hilf-reich sein möchte. Zum Beispiel hat derjenige, den wir heute den Buddha der Medizin nennen, Sangye Menla, auf seinem Weg immer wieder Wünsche der Heilung gemacht; dass es durch sein Erlangen der Buddhaschaft möglich wäre, dass Wesen im Kontakt mit ihm Heilung erfahren. Das sind spezielle Wünsche, die er gemacht hat, für die er sich dann auch in jedem Leben eingesetzt hat. Er hat deswegen speziell in die-sem Bereich Qualitäten. Das ist hier gemeint, dass die Qualitäten und Ausmaße des Buddhagefildes sich aus den jetzigen Fä-higkeiten und Kräften, das heißt aus den Fähigkeiten und Kräften des Bodhisattvas jetzt auf dem Weg zum Erwachen ergeben werden, und aus den besonderen Pfaden des Strebens: das heißt nicht nur die allgemeinen Wünsche, alle Wesen zum Erwachen führen zu können, sondern die spezifischen Wün-sche, die ein Bodhisattva auf dem Weg macht: zum Beispiel besonders heilen zu können, oder Tara: in jeder konkreten Situation sofort anwesend sein zu können, helfen zu können, oder Tschenresi: durch die Kraft des Mitgefühls und der Vier Unermesslichen jedem Wesen helfen zu können, sich aus Samsara zu befreien, oder Amitabha, dessen spezieller Wunsch es war, dass sein Reines Gefilde besonders leicht zu kontak-tieren ist, dass es besonders leicht ist, dorthin zu finden, es keine großen Anstrengungen braucht. Dass

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solch eine Ausstrahlung entsteht, dass es ganz leicht ist, einen Buddha wie Amitabha zu kontaktieren, dafür braucht es eine immense Vorbereitung. Amitabha musste sein eigenes Erwachen, seine eigene Erleuchtung unzählige Leben aufschieben, um die nötige Kraft aufzubauen, dass es dann so leicht wird, sein Gefilde zu kontaktieren. Jene (Lebewesen), die deine Liebe jetzt erfasst, werden in der Zukunft deine Schüler sein. Immer wenn wir voller Liebe meditieren und uns einlassen auf ein Lebewesen, aber auch, wenn wir uns mit Ärger einlassen, wenn wir ärgerlich werden auf jemanden, entstehen Bande. Das eine sind emotionale Bande, Bande der Anhaftung und Abneigung, da haben wir unzählige Bande… Wenn man mal visualisieren würde, was uns hier an Banden verknüpft – das wäre ein Knäuel! Die besten Bande oder Bänder, die wir knüpfen können, sind Verbindungen der Liebe, Verbindungen des Vertrauens. Wo wir von unserer Seite aus solche Verbindungen eingehen, werden uns diese Le-bewesen wieder begegnen in zukünftigen Leben, und weil wir ihnen bereits früher mit Liebe und Ver-trauen begegnet sind und mit einer voll unterstützenden Geisteshaltung, wird sich in späteren Leben wieder Vertrauen bei ihnen einstellen. Sie werden Vertrauen haben in uns als einen Begleiter auf dem spirituellen Weg. Falls wir in der Zwischenzeit die Qualitäten entwickelt haben, dass wir tatsächlich Lehrer sein können, dann können sie unsere Schüler sein. Das wünschen wir uns! Das wünschen wir uns, mit möglichst vielen Lebewesen ein solches Band zu haben. Wenn ihr das versteht, dieses Gesetz, dieses Prinzip, dann versteht ihr, warum große Lehrer wenig Kleingruppenarbeit machen, wenn man es mal so ausdrücken kann, sondern immer diese Ermächti-gungen geben, wo Momente des Vertrauens und der Inspiration entstehen und Tausende von Men-schen Zugang finden können zu solch einem Lebewesen. Dieses Band wird später reif, sei es noch in diesem Leben oder in späteren Leben, und wird zu erneu-ten Begegnungen führen, wo sich dann dieses Band aufgrund des Vertrauens und der Liebe, die bereits zwischen diesen Menschen geflossen ist, vertiefen kann. Wir machen also Wünsche, möglichst viele Begegnungen zu haben, die von Herzensöffnung geprägt sind, auch wenn wir jetzt gerade gar nicht viel für andere tun können, aber wir wissen: das sind hilfrei-che Bande, die wir nutzen können für später. Als Meister der Illusion kultiviere deshalb nur Bodhicitta, praktiziere mit Schwierigkeiten und schule dich auf den Wegen, bis du in der himmelsweiten Dimension vollkommen erwachst und mit Ausstrahlungen die fühlenden Wesen aus dem Daseinskreislauf befreist. Dies ist einfach Weite, die Weite zum Objekt hat. „Als Meister der Illusion“, diesen Ausdruck kennt ihr vielleicht aus den Lodjong Merksprüchen: Handle zwischen den Sitzungen wie ein Meister der Illusion. Trungpa Rinpoche sagt zwar: „Like a child of illusion“ – aber das hat nichts mit Kind zu tun, sondern es ist ein Meister der Illusion gemeint – das tibetische Wort heißt Kyebu, das sind Meister, große Wesen – jemand, der die Illusion meistert und sie durchschaut! Der einzige, der bei einem Zauberkunststück nicht getäuscht ist, ist der Zauberer selbst. Das ist mit Meister der Illusion gemeint. Das heißt, wir begegnen Menschen, begegnen auch Tieren und – das sind Situationen, und wir sind uns bewusst, dass alles, was sich jetzt abspielt, Projektionen im Geist von mir selbst und von anderen sind; dass ihnen keine bleibende Wirklichkeit anhaftet, sondern nur diese momentane Wirklichkeit. Wir arbeiten mit den entstehenden Projektionen auf eine heilsame geschickte Art, liebevoll, mitfüh-lend. Als Meister der Illusion sind wir sehr weise und wir kultivieren nur Bodhicitta. Wir wissen, dass die Illusionen, die Projektionen, die Erscheinungen im Geist aller Lebewesen nur dann zum Weg der Be-freiung beitragen, wenn sie von Bodhicitta geprägt sind, von Liebe und Mitgefühl, Weisheit. Als

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Meister der Illusion ist es auch leicht, mit Schwierigkeiten zu praktizieren. Wir gehen auf die Schwie-rigkeiten zu und lernen darin auch, die Schwierigkeiten als Illusion zu erfahren, das heißt, auch nur als eine weitere Arbeit mit Projektionen. Und wir schulen uns auf all den verschiedenen Wegen, den fühlenden Wesen zu helfen, bis wir voll-kommen erwachen in der himmelsweiten Dimension. Dieser Begriff Himmelsweite ist einer der Lieb-lingsausdrücke in der Mahamudra Tradition. Der Himmel ist ein gutes Beispiel dafür, wie etwas zu sein scheint, aber nicht fassbar ist, und wie es keine Mitte des Himmels zu finden gibt. Versucht mal, die Mitte des Himmels zu finden! Wo ist die Mitte des Himmels? Der Himmel hat we-der Zentrum noch Grenzen. Dieses Mittelpunktlose, Grenzenlose, nicht zu Greifende ist ein sehr gutes Bild für den erwachten Geist. Wenn der Geist völlig in dieser mittelpunktlosen Weite aufgeht, das ist gemeint mit Erwachen. Unser Weg geht so weit, dass wir völlig darin aufgehen, bis sich dieses Ich-Pünktchen auflöst. Wir sind so ein i-Punkt – wir versuchen immer, so eine Mitte herzustellen. Wo ist denn eigentlich diese Mitte? Wenn wir diese Mitte versuchen zu finden, dann landen wir in diesem mittelpunktlosen offenen Raum. Das ist das Einzige, was wir finden können, aber immer wieder keh-ren wir zurück und meinen: aber Ich! Und wir haben dieses Gefühl einer Mitte. Dieses Gefühl einer Mitte, die wir verteidigen müssen, ist Ursache von Leid, von allem Leid! Wenn wir entdecken, dass es da im scheinbaren Zentrum gar nichts zu verteidigen gibt, gehen wir auf in der himmelsweiten Weite. Anstrengungslos, durch die innewohnende Dynamik des Geistes selbst, da gibt es gar nichts zu tun, entsteht das, was man Ausstrahlung nennt. Ausstrahlung ist so ein Begriff für das, was wir gestern und vorgestern geübt haben: den Lichtstrahl in unserer Vorstellung, gehen die Gedanken zu den Buddhas, zu den Lebewesen; ich denke, du sitzt jetzt gerade vor mir, meine Gedanken gehen zu dir, meine Aufmerksamkeit richtet sich auf dich – es ist wie wenn Lichtstrahlen ausgehen. Und die manifestieren etwas: das ist Dynamik des Geistes, die etwas manifestiert. Man nennt das die Ausstrahlung. Das kön-nen mal konkrete Ausstrahlungen sein, das können Worte sein, Gedanken, Vorstellungen – all das sind die Ausstrahlungen der Aktivität eines Bodhisattvas. Und damit befreien wir die fühlenden Wesen aus dem Daseinskreislauf. Aber: „Dies ist einfach Weite, die Weite zum Objekt hat.“ Das ist ein fantastischer Satz in dem Text. Weite, die Weite zum Objekt hat – ist ja paradox, ist ein Absurdum. Der Bodhisattva, der hilfreich ist in Samsara, in diesem Daseinskreislauf, ist selbst in mittelpunktloser Weite und fällt auch nicht in die Illusion zu meinen, dass die Lebewesen, um die er sich kümmert, irgendetwas anderes wären als eben-falls mittelpunktlose Weite. Die Weite des Gewahrseins hat als Objekt die ebensolche Weite im Geist der anderen. Unterschiedslo-se Weite! Aus der Sicht des Bodhisattvas ist es völlig klar, dass all das, was im eigenen Geist erkannt wird, verwirklicht wird, erfahren wird, eben auch die Natur des Geistes der anderen ist, und dass es nur gilt, damit Bezug aufzunehmen. Dieses Bezug Aufnehmen ist gar nicht von einem Mittelpunkt zu einem anderen Mittelpunkt, sondern ist von Weite zu Weite und darin lösen sich alle Grenzen auf und es wird ein bezugsloses Mitgefühl, eine Liebe, Mitgefühl ohne Bezug. Das ist die eigentliche Aktivität der Buddhas. Das ist Weite mit Weite als Objekt. Die eine Weite ist der Bodhisattva, die zweite Weite sind die Lebewesen. Aber sie sind von gleicher Natur. Buddhas und fühlende Wesen unterscheiden sich nur durch den Grad ihres Anhaftens. Bei den einen ist die Illusion verschwunden, da ist kein Anhaften mehr, bei den anderen ist die Illusion noch vorhanden, die Täu-schung ist vorhanden und sie haften. Aber die Natur des Geistes ist dieselbe, nicht nur die gleiche! Sie ist dieselbe. Ist so in der Weite himmelsgleichen Raumes die Gewissheit entstanden… Die Gewissheit darum, was die Natur der Dinge ist. …erkenne das illusorische Spiel der Projektionen… der Erscheinungen, die Dynamik des Geistes,

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… und übe dich in dem äußerst kraftvollen Bodhicitta dynamischen Ausdrucks frei von Blocka-den. Das Bodhicitta wird dadurch äußerst kraftvoll, dass es nicht mehr von einem persönlichen Willen oder Wollen geprägt ist. Jedes Wollen erzeugt Blockade. Ichbezogenheit erzeugt Blockade. Vorstellungen davon, dass es da konkret jemanden zu befreien gibt, erzeugt Blockade. Vorstellungen, dass es Samsara konkret gibt, erzeugt Blockade. Vorstellungen, dass es Nirvana konkret gäbe, erzeugt Blockade. All das sind Blockaden, Fixierungen im Geist. Wir fixieren uns auf vermeintlich Existierendes: Ich und andere, Leid und Befreiung… und verheddern uns dann in ichbezogenem, von Wollen getriebenen Handeln. Was es braucht, ist das Loslassen in diese Weite, die Erkenntnis und das Gewahrsein – und dann die spontane Aktivität dieses dynamischen Gewahrseins wirken lassen, zulassen, einfach zulassen, dass sie sich ausdrückt, wie eine Sonne, die einfach scheint. Der Rest geschieht spontan. Das nennt man die spontane Aktivität eines Buddhas. Die beiden illusionsgleichen Ansammlungen… Jetzt geht’s auch den Ansammlungen an den Kragen! Ansammlungen von positiver Kraft und Ge-wahrsein, auf die ja so gepocht wird, das ist das Zentrum des Weges eines Bodhisattvas! Verdienste ansammeln, Weisheit entwickeln! Auch die haben keine letztendliche Existenz, keine wirkliche Sub-stanz, existieren nicht als etwas Konkretes. Sie sind einfach das zunehmende Fortfallen von Blocka-den, von Beschränkungen, von Fixierungen. Das nennt man heilsam, wenn Fixierungen aufgelöst wer-den. Diese beiden illusionsgleichen Ansammlungen … so zu erwerben ist die „Einheit“ (von Mitgefühl und Weisheit). Es sind viele Formen von Einheit hier gemeint, aber die zuerst gemeinte ist hier Mitgefühl und Weis-heit. Wenn uns der eigentliche Punkt innerlich aufgeht, sagen die Meister, vergeht uns der Überdruss mit Samsara und wir sind nicht mehr weit von Nirvana. Moment mal, wir sollten doch eigentlich Überdruss mit Samsara haben. Versteht ihr, warum uns der Überdruss vergeht? Weil wir es nicht mehr ablehnen. Wir erkennen die illusorische Natur von all dem, was Samsara ist, und brauchen deswegen nicht mehr vor den Erscheinungen Samsaras zu flüchten. Aber wir haften auch nicht an. Es gibt dort nichts an Glück zu finden, es gibt niemanden, der in Sams-ara Bestätigung und Glück finden könnte. Aber wer die Erscheinungen, die Projektionen, als solche erkennt, ist nicht mehr gebunden, weder in Anhaftung noch in Abneigung. So wie mit einem Traum. Wenn wir einen Traum als Traum erkennen, sind wir an ihn überhaupt nicht mehr gebunden, null ge-bunden, keinerlei Anhaftung oder Ablehnung. Wir sind nicht mehr weit von Nirvana – das ist nett ausgedrückt. Es ist da noch ein Weg zu gehen, das Nirvana wird sich nie wirklich zeigen, solange es noch in der Dichotomie oder als Kontrapunkt von Samsara verstanden wird. Beide Vorstellungen müssen sich auflösen. Man kann nicht Nirvana erlan-gen. Wer sollte denn was erlangen? Und wer sollte sich woraus befreien? Das ist zum Ende des Weges offenbar die große Erkenntnis, die auftaucht, dass Nirvana einfach immer schon war. Das ist die grundlegende Dimension des Geistes. Rabjam, leider nicht zu verstehen. Lhündrup: Wenn Samsara und Nirvana als untrennbar verwirklicht werden, dann lösen sich die Ge-genkräfte auf, dann wird nicht mehr von einer Polarität gesprochen. Nun bist du frei von Hoffnung und Furcht. Das ist das Ende des Weges, da ist Mahamudra verwirklicht, da ist das Erwachen verwirklicht.

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Da du den Wahrheitskörper erkennst, den Dharmakaya, die eigentliche Natur des Geistes, und hier ist damit gemeint: frei von allen Schlei-ern, nicht nur mal so eine kurze Ahnung - … wird dir selbst ein Gang in die Hölle unsäglicher Qualen als das Land Wahrer Freude (Sukhavati) erscheinen. Es wird nochmal einer oben drauf gelegt! Ja? Kriegt ihr das mit? In der ersten, der äußerst kraftvollen Geisteshaltung, als Samantabhadra erwähnt wurde: der war bereit, unzählige Leben, egal wie viele es braucht, auch nur für ein einziges Wesen in der Hölle unsäglicher Qualen zu sein. Das erschien einem als die unglaubliche Bereitschaft, unsägliche Qualen auf sich zu nehmen. Jetzt geht es noch eine Stufe weiter. Es geht darum, eine Verwirklichung zu entwickeln, in der selbst größte Qualen den Geist nicht mehr zu irgendeiner Form von Enge bringen, von Abwehr, von Zusammenziehen, von Angst… Und dann ist überall – wenn das der Fall ist, dass der Geist immer so offen bleibt – dann ist überall, wo wir hingehen Dewachen, Sukhavati, das Land wahrer Freude. Frage: Ist da im Prinzip das Gleiche gemeint wie oben mit dem unerschütterlichen Geist oder gibt es da noch eine Differenzierung? Lhündrup: Ja, jetzt sind wir bei dem unerschütterlichen vajragleichen Geist. Mit vajragleichem Geist ist jetzt gemeint der Eintritt in die Buddhadimension. Das ist die höchste Ausformung des unerschüt-terlichen Geistes. Da du die Nicht-Zweiheit von Samsara und Nirvana erkennst, … Das ist genau das, was Rabjam gerade sagte - … bist du frei von Gedanken des Annehmens und Ablehnens. Das heißt, es zieht sich nichts mehr zusammen. Da du Buddhas und Lebewesen als untrennbar erkennst, … Das heißt von selber Natur. … ist das Haften an gut und schlecht aufgelöst. Da du alle Phänomene in ihrer Gleichheit er-kennst, … Das heißt gleich in ihrer wahren Natur. … bist du frei von voreingenommenem Glauben an höher und niedriger. Ohne irgendwo hinzu-gehen, bist du zu Nagarjunas Herzenswünschen gelangt! Nagarjunas Herzenswünsche sind die Verwirklichung der Leerheit aller Phänomene, der mittelpunkt-lose Himmelsraum als Beispiel für eine Erkenntnis jenseits aller Extreme, wo auch die extreme Hal-tung aufgegeben wird, Nirvana existiere als etwas, Samsara existiere als etwas, ein Buddha existiere. All diese Haltungen, wo an eine fixe, statische Existenz geglaubt wird: diese irrigen Anschauungen werden aufgegeben. Die weite, dynamische Geistesdimension, die keinen zentralen Ich-Punkt hat, wird erkannt. Möchtest du zu solchen Dharmas gelangen,… Dharmas beinhaltet hier Verständnis, Erkenntnis der Wirklichkeit, aber auch Fähigkeiten – möchtest du solche Fähigkeiten verwirklichen wie als Buddha, auf solch anstrengungslose spontane Weise zum Wohle der Wesen aktiv sein zu können, dann … erwirb durch dein Handeln die Ansammlungen… Wohlgemerkt! So illusorisch wie sie sind, wir brauchen sie! … und trainiere den Geist in der inneren Ausrichtung. Das ist Bodhicitta, in der Ausrichtung, in dieser Geisteshaltung.

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Vielleicht noch eine kleine Zwischenbemerkung zu dem Wort illusorisch oder illusionsgleich, traum-gleich. Wenn wir das so normalerweise hören: Etwas das traumgleich ist, ist es nicht wert, dass wir uns dafür einsetzen. Wir denken so, weil wir das Wort traumgleich in Beziehung setzen zu dem, was vermeintlich wirklich ist. Deswegen, wenn wir von etwas sagen, es ist traumgleich, dann ist es damit abserviert. Etwas Illusorisches, darum kümmern wir uns nicht. Nun ist aber ALL unser Erleben traumgleich! All unser Erleben sind Erscheinungen im Geist, die nicht andauern! Die sich manifestieren und sich in etwas anderes wandeln, immer wieder, eine Erfah-rung nach der anderen. Es ist durchaus sinnvoll, in diesem Spiel der Erfahrung in eine Richtung zu gehen, in der weniger Leid entsteht, weil wir ja nicht erkannt haben, dass das Leid, das wir erfahren, traumgleich ist. Wenn wir das erkannt hätten, wäre es ja kein Problem. Aber es ist leichter, das zu erkennen, wenn unser Geist schon im Heilsamen verweilt. Gendün Rinpoche sagte das immer so: Wir müssen den Alptraum zu einem guten Traum machen und den guten Traum als solchen erkennen. Einen Alptraum als Traum zu erkennen, ist sehr schwer. Im Nachhinein erkennen wir jeden Alptraum als Traum, aber wenn wir drin sind, sind wir so gefangen, wir haben keine Weite, keine Distanz. Ein Alptraum packt uns oder wir sind gepackt, wir packen den Alptraum, sind völlig identifiziert. Im Alptraum zu erwachen ist quasi unmöglich. Deswegen müssen wir erst in Geistesräume mit mehr Weite gelangen, das sind die heilsamen Träume, und diese dann als Träume erkennen, als das Spiel unseres Geistes. Dann erkennen wir auch die Alpträume als Spiel un-seres Geistes. Wer das durch und durch erkannt hat, kann in die schlimmsten der Alpträume gehen, das sind diese Höllenbereiche. Das sind lang anhaltende Alpträume, Psychosen, aber dann nicht im Menschenbe-reich, sondern tatsächlich ohne einen menschlichen Körper in Bereichen, wo sich diese Alpträume ständig wiederholen, wo man gar nicht herausfindet. Ein Buddha kann da hinein wirken, ohne in den Alpträumen gefangen zu werden, ohne sich zu identi-fizieren. Das ist damit gemeint: möchtest du zu solchen Dharmas, zu solchen Erkenntnissen, Fähigkeiten, ge-langen, erwirb die Ansammlungen und trainiere deinen Geist. Mache dies zu deinem Hauptanliegen und praktiziere es wie versessen. Im Tibetischen steht tatsächlich: wie versessen. Es ist illusorisch – aber: alle Kraft voraus! Illusorisch bedeutet nicht, es sein zu lassen! Es bedeutet, sich mit einer gewissen Entspanntheit, mit einer inneren Gelöstheit, einzulassen und den Weg zu gehen, aber voller Kraft. Ich glaube, der Sport könnte dort als Beispiel gelten, wenn wir Anstrengungen machen – wenn wir uns in der Anstrengung verkrampfen, kriegen wir vielleicht einen Sehnenriss. Oder wenn wir uns bei einer geistigen Anstrengung verkrampfen, blockiert der Geist plötzlich. Zum Beispiel bei einer Klausur, bei einer Prüfung: wir sitzen in einer Prüfung, und alles sollte jetzt zum besten Ergebnis führen, alle unse-re Kräfte sollen zur Verfügung stehen, aber es ist ein Übermaß an Wollen, an Anstrengung da. Das blockiert den Geist. Plötzlich sitzen wir da und nichts fällt uns mehr ein. Ich wäre deswegen beinahe durch eine meiner mündlichen Prüfungen gefallen. Zum Glück war der Prüfer so nett und ließ erst die anderen drum herum ihre Antworten zu ihren Fragen sagen und kam dann nochmal auf mich zurück. Und ich hatte es immer noch nicht kapiert, hatte immer noch nicht die Lösung zu der Frage, die mir gestellt wurde, bis zum letzten vor mir, und immer noch nicht, als der fertig war. In dem Moment, wo mich der Prüfer wieder anschaute: „Und jetzt Sie, Herr Borghardt“, erst in dem Moment fiel es mir ein! Keinen Moment zu früh! Gemeint ist hier volle Kraft, aber auch völlige Entspannung zugleich. Es ist eine uns paradox erschei-nende Kombination von Qualitäten, dass man alles geben kann und trotzdem völlig entspannt bleibt. Das müssen wir natürlich lernen. Das können wir nicht von heute auf morgen. Wir müssen lernen, ein bisschen Anstrengung zu machen, ein bisschen mehr zu geben - und zugleich zu entspannen. Meistens machen wir das so, dass wir uns zuerst ein bisschen anstrengen, und dann wieder entspannen. Wieder

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ein bisschen anstrengen, wieder entspannen… Wir pendeln so hin und her, bis wir ein gutes Maß ent-spannter Anstrengung finden. Bis das, was wir Anstrengung nennen, immer anstrengungsloser geht, immer freudiger. Wir entdecken Kräfte wie Freude, Liebe, Mitgefühl, Vertrauen – ja, solche Kräfte, die unser Handeln anstrengungslos machen. Buddhas sind völlig anstrengungslos geworden und können Tag und Nacht zum Wohl der Wesen wir-ken, ohne dass es ihren Geist ermüdet. Das ist etwas, was man durchaus beobachten kann. Bei diesen großen Meistern, die ja keine Buddhas sind in dem Sinne, aber die Bodhisattvas auf der zehnten Bodhisattva-Stufe sind, da merkt man, dass diese unglaubliche Reserven haben, unglaublich präsent sein können, mit einer Kreativität, mit einer Spontaneität, weil sie sich selbst nicht auf der Bremse stehen. Sie sind nicht verfangen in Ichbezogenheit. Das ist ermüdend, alles immer mit dem Ich zu checken: Wie geht es MIR dabei? Und: was passiert mit MIR? Und: wie wird es MIR in Zukunft ge-hen? Und: Mögen die mich oder mögen die mich nicht? All das macht das Leben so – so kompliziert. Bist du einmal hiermit verbunden, Das heißt, bist du mit dieser inneren Ausrichtung, mit diesem Hauptanliegen, was wir Bodhicitta nen-nen, verbunden … wird es dich nicht enttäuschen und du wirst es allmählich verwirklichen. Hier gehen die Unterweisungen jetzt wieder aus dem letztendlichen Bereich runter zu uns in unseren Bereich hinein, da wo wir jetzt gerade stehen, und sagen: Jetzt habt ihr mal gehört, wie es sein könnte. Worum es jetzt geht, ist, das nie zu vergessen, euch damit zu verbinden. Dann wird es stärker werden, es wird sich entfalten, und es wird euch nicht enttäuschen. Das ist etwas, worauf ihr bauen könnt. Jetzt kommt noch ein kleiner Abschnitt über das Geistestraining, das wir nie vergessen sollten. Wie geht das zu Hause weiter? Jetzt gucken wir mal, ob uns vielleicht im Text was Interessantes dazu ge-sagt wird. Es geht darum, das Geistestraining nie zu vergessen. Das ist überhaupt das Allerallerwichtigste. Ihr erinnert euch, dass der Buddha Shakyamuni als den einen Weg des Erwachens das vierfache Kultivie-ren von Achtsamkeit gelehrt hat, Sati auf Pali, smrti auf Sanskrit, auf Tibetisch dren-pa. Das Pali, das Sanskrit und das Tibetische bedeuten alle: Sich erinnern, nicht vergessen. Das ist, was eigentlich mit Achtsamkeit gemeint ist: sich erinnern, immer am Ball bleiben, nie vergessen. Wir müssen irgendwie in unserem Alltag Möglichkeiten finden, uns immer an das Wesentliche zu erinnern, es irgendwie hinkriegen, Bodhicitta wach zu halten im Herzen und achtsam zu sein mit Körper, Rede und Geist. Die meisten Tibeter sind da einen ganz pragmatischen einfachen Weg gegangen. Die haben gesagt: Das ist alles in OM MANI PEME HUNG enthalten – ich praktiziere einfach das Mantra des Bodhicit-ta, das Mantra von Avalokiteshvara, Tschenresi, die Einheit von Liebe und Weisheit oder Mitgefühl und Weisheit, ausgedrückt in den sechs Silben von OM MANI PEME HUNG oder PAD ME HUNG. Das ist ein Weg, der gut funktioniert, wenn wir es schaffen, es nicht in bloßes Gebabbel abdriften zu lassen – wenn wir über die Straße gehen, im Auto sitzen, irgendwo in einen Raum eintreten und OM MANI PEME HUNG ist in uns aktiv und wir sind bewusst, dann ist Bodhicitta aktiviert in uns. Manchmal können wir es uns noch bewusster machen, manchmal läuft es einfach so mit und absor-biert vielleicht 20, 30 % unserer Achtsamkeit. Aber – das ist ein guter Weg, um Bodhicitta nie zu ver-gessen. Wir müssen nur darauf achten, dass wir nicht völlig achtlos das Mantra rezitieren und irgen-detwas anderes mit Körper, Rede und Geist sonst noch machen – das würde nicht denselben Erfolg haben. Aber zum Beispiel in einer schwierigen Konferenz zu sitzen und innerlich OM MANI PEME HUNG zu rezitieren und dabei den anderen zuzuhören und auch was zu sagen dann, das ist sehr hilfreich. Auto zu fahren mit OM MANI PEME HUNG ist sehr hilfreich. Es ist eine der Möglichkeiten. Ihr müsst für euch herausfinden, was für euch die Stütze ist. Jedes andere Mantra ist auch gut. Und jetzt kommen wir zu den Dingen, die es braucht als Geisteshaltung, um das nicht zu vergessen.

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Frage: Das OM MANI PEME HUNG, aus welchem Grund wird es meistens sehr schnell gesprochen? Ich hab das Gefühl, wenn ich es langsam spreche, kann ich mich eher auf den Klang einlassen. Lhündrup: Dann solltest du es langsam sprechen. Bei anderen fließt es halt wie ein Bach: Om mani peme hung om mani peme hung … es fließt. Frage: Es gibt manchmal Leute, die schnell ihre Millionen zusammenkriegen wollen… Lhündrup: Ja, ja, das sind die Schlimmsten! – Mach dir aber keine Sorgen um die anderen. Es fließt; lass es fließen und sei bewusst. Wenn es langsamer fließt, dann fließt es langsamer. Und manchmal fließt es schneller. Manchmal wird es gesungen und manchmal geht das OM MANI PEME HUNG ins Schweigen, dann wird es ganz still, und es ist wie wenn nur noch die Energie des OM MANI PEME HUNG weiterwirkt im Herz. Es ist noch da, aber es wird gar nicht mehr gesprochen, es wird gar nicht mehr gedacht – es schwingt noch weiter. Es gibt soo viele Möglichkeiten! Und keine ist verkehrt. Frage: … ( nicht zu verstehen) Lhündrup: Das ist nur der Spiegel für bestimmte Muster. Versuchs doch mal andersrum mit Freude! OMA MANI PEME HUNG OM AMNI PEME HUNG OM … dann machst du den Lichtschalter an, oh, lieber Baum, OM MANI PEME HUNG… Hallo liebes Auto, OM MANI PEME HUNG, geht die Tür auf, OM MANI PEME HUNG… Ja? Machs doch einfach so! Wo ist der Stress? Einfach Freude. Einfach Teilen, einfach – was auch immer die Handlung ist, einfach schenken, opfern. Frage: Versuchen auf gar keinen Fall achtsam zu sein?! … Lhündrup: Es hat auch eine wörtliche Bedeutung. Für die erste und die letzte Silbe ist die wörtliche Bedeutung irrelevant. OM ist eine Anrufung des Geistes aller Erwachten, das ist einfach eine Anru-fung und ist ein Klang: aoum, das ist ein Klang, der alle Vokale außer dem i in sich vereint und ein-fach Geistesweite ausdrückt. MANI bedeutet Juwel, PADME oder PEME bedeutet Lotus. Derjenige, der Juwel und Lotus hält, ist Avalokiteshvara. Und HUNG ist die Silbe der Aktivität. Das heißt, wenn ich das übersetze: OM, möge der durch die Weisheit aller Buddhas erwachte Geist die Aktivität HUNG von dem, der Juwel und Lotus hält, sich überall manifestieren. Das ist die wörtliche Übersetzung, die der 15. Karmapa in seinem Kommentar gibt. Wir können uns das noch etwas tiefer anschauen. Juwel ist der wunscherfüllende Juwel unseres Geis-tes, ist die Natur des Geistes, und Lotus, PADMA, steht für die Reinheit des Bodhicitta, die makellose, unbefleckte Reinheit des liebevollen offenen Geistes. Wir können sagen: Möge sich dieser erwachte Geist, der wie ein Juwel, wie ein Lotus ist, überall manifestieren und alle Wesen erreichen. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, es auf eine andere Weise zu verstehen, und da beschreibt der 15. Karmapa den Ursprung dieser Silben, dass diese Silben mit den Vier Unermesslichen verbunden sind, wie die vier Arme von Avalokiteshvara, und sie stehen für Liebe, Mitgefühl, Freude, und Gleichmut. Die Silben OM MANI PEME HUNG stehen ebenfalls dafür. Das ist keine wörtliche Be-deutung mehr, sondern eine symbolische Bedeutung. Im Text heißt es nun: Um nun in allen zukünftigen Leben den Geist des Erwachens nicht zu vergessen, … Es geht also darum, in allen zukünftigen Leben – in diesem Leben, das setzt der Autor sowieso voraus, das wir das irgendwie hinkriegen - aber was bewirkt jetzt, dass wir es auch in zukünftigen Leben spon-tan wieder finden, dass wir diese Geisteshaltung wieder finden? … übe dich darin, die vier negativen Handlungen aufzugeben und die vier positiven Handlungen auszuführen. Ich habe sie unten aufgeführt, in der Fußnote: Wir geben es auf, einen Lehrer oder Verehrungswürdigen zu betrügen, in anderen Reue zu erzeugen über etwas, was nicht zu bereuen ist,… Also über eine heilsame Handlung,

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… aus Abneigung und Wut ungehobelt und schlecht über einen Bodhisattva zu reden, der den Geist des Erwachens erweckt hat, und wir geben es auf, Lebewesen zu täuschen oder zu hintergehen. Also Respekt. Was wir stattdessen kultivieren, sind die vier positiven Handlungen: Niemals bewusst zu lügen, auch wenn es das eigene Leben kostet, alle Wesen in Tugend sowie in heil-samen Handlungen des großen Fahrzeugs anzuleiten, … also in heilsamen Handlungen, die dem Wohl aller dienen, … Bodhisattvas als unsere Lehrer betrachten und ihre Qualitäten in den zehn Richtungen zu preisen und allen Wesen mit einer wahrhaft altruistischen Geisteshaltung zu begegnen, frei von Hintergedan-ken und Scheinheiligkeit. Das lässt sich doch einrichten! Frage: Was machen wir, wenn wir Lebewesen nicht als Bodhisattvas erkennen? Lhündrup: Ja, dann betrachten wir am besten alle als Bodhisattvas und verhalten uns so respektvoll allen Lebewesen gegenüber. Das ist die klassische Antwort, aber das wusstest du ja schon! Die Erklä-rungen hierzu stehen im 10. Kapitel vom Kostbaren Schmuck der Befreiung, da werden diese vier etwas näher erklärt. Wer das genauer lesen möchte, kann dort nachschauen. Es ist tatsächlich so: Wenn wir das eine aufgeben können und das andere kultivieren, wenn wir also immer aufrichtigen Herzens, wahrheitsgemäß, liebevoll anderen begegnen, immer nur auf ihr langfris-tiges Wohl aus sind, dann wird diese Haltung, die wir jetzt ganz stark kultivieren, bewirken, dass wir auch in einem nächsten Leben ganz von selbst so handeln. Ich nehme an, ihr kennt Kinder. Da fällt auf, wie stark sie diese Haltung in sich haben, obwohl drum herum die Geschwister es nicht im gleichen Maße haben. Es gibt Kinder, die aus sich heraus unglaub-lich fürsorglich sind, unglaublich freigiebig, und wahrheitsgemäß die Dinge ausdrücken. Das sind Menschen, die das aus früheren Leben mitbringen. Es ist ganz berührend, wenn man so etwas sieht, wie Kinder sich schon ganz früh an eigenen inneren Werten orientieren, obwohl die Umgebung das in dem Maße gar nicht so tut. Im Kindergarten, in der Grundschule fangen sie schon an, sich ganz be-wusst für andere einzusetzen, sie zu verteidigen, für Schutz zu sorgen, dafür zu sorgen, dass sie ge-recht behandelt werden, dass jemand, der nichts zu essen hat in der Pause, was vom Pausenbrot ab-kriegt usw., all die vielen kleinen Handlungen, die ein Kind schon ausführen kann. Solche Menschen werden ganz natürlicherweise, sobald sie nur ein kleines Bisschen von Bodhicitta hören, sagen: hui, das ist sie, das ist die Richtung, da möchte ich hin! Kindern geht das Herz auf, Ju-gendliche beschäftigen sich dann damit und das sind dann die Erwachsenen, die tatsächlich direkt wieder Zugang zu den Bodhisattva Unterweisungen finden und auf ihrem Weg weitergehen. Deswegen ist das ein Mittel, um das Geistestraining auch in zukünftigen Leben nicht zu vergessen. Um die Lebewesen nie aufzugeben, löse die vier Ursachen auf, die zum Aufgeben des Geistes-trainings führen (und kultiviere ihr Gegenteil). Diese vier sind: Gib den Gedanken auf: „Die Lebewesen sind zu viele, ich kann nicht ihr aller Wohl bewirken.“ Es ist der vermeintliche Realist, der hier spricht... Denke stattdessen: „Je mehr sie sind, desto mehr wächst mein Bodhicitta.“ Das ist eine andere Form von Realismus! – Darin scheinen sich doch welche wieder zu erkennen! Gib falsches Verhalten auf: Es ist zwar nicht möglich, physisch (mit allen Lebewesen) Freund zu sein, handle aber ständig so und sammle sie geistig um dich.

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Tolle Lösung! Wir sind doch so beschränkt in dem, was wir tatsächlich an direktem Kontakt leben können. Ich zum Beispiel schaffe es gerade mal – ich werde heute noch ein paar Gespräche führen – gerade mal, ein Mal mit denen von euch, die es sich wünschen, ein Viertelstündchen, halbes Stünd-chen zusammen zu sein und mich auszutauschen. Es ist nicht möglich, Freund zu sein, physisch, ist das nicht möglich. Aber – wir können es geistig machen, im Geiste können wir das kultivieren. Da sind keine Schranken gesetzt! Das sage ich so einfach. Es ist gar nicht einfach. Damit das Herz wirklich aufgeht und wir anderen geistig ein Freund sein können, muss viel passieren, wirklich viel, dass wir in der Lage sind, Men-schen wirklich einzubeziehen, WIRKLICH einzubeziehen, die wir kaum kennen oder die wir noch gar nicht kennen. Wenn es dann noch darum geht, Tiere einzubeziehen – das ist ja noch unermesslicher. Es ist gemeint, das nicht mal nur so zu denken: Ich bin der Freund aller Lebewesen, sondern es tat-sächlich zu sein. Das zeigt sich darin, wenn wir wieder mal einem neuen Menschen begegnen, den wir noch nicht kennen, was dann unsere spontane Geisteshaltung ist. Denn wären wir schon Freund, hätten wir spontan sofort ganz freundschaftliche Gefühle im Herzen. Wenn wir erst zögerlich abwarten und gucken – dann wissen wir, dass wir noch einen Weg zu gehen haben. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen – manche Menschen sind uns sofort sympathisch. Es geht vor allem darum, dort hinzuschauen, wo wir merken, dass uns jemand mal nicht sofort sympathisch ist. Also: Wenn wir dieses Verhalten aufgeben, in Freund und Feind zu unterscheiden, sondern alle als Freunde um uns sammeln, wenn uns das Schicksal der Chinesen in einem kleinen Dorf am Mekong oder von Afrikanern in der Dürre oder von unseren Nachbarn, die wir gar nicht kennen, wirklich am Herzen liegt, wenn wir wünschen, dass es ihnen gut geht, wirklich gut geht, das ist gemeint mit, sie geistig um mich zu sammeln. Das Dritte ist: Gib samsarische Sichtweisen auf. Es gibt viel Leid und da es so viel gibt, ist es notwendig, alle daraus zu befreien und hinüberzuführen. Was wir da aufgeben, ist die Sichtweise, dass Samsara toll ist, dass es in Samsara wirkliches Glück zu finden gibt, was nicht der Fall ist. Es gibt überall offenkundige oder subtile Formen von Leid und es gibt so unglaublich viel davon, alle Lebewesen sind so naiv und merken es zum Teil gar nicht. Es ist wirklich wichtig, ihnen zu helfen, sich daraus zu befreien und sie hinüber in die Befreiung zu führen, sie aus dem Ozean der Unzufriedenheit, der Ichbezogenheit zu befreien. – Die vierte Ursache, die wir auflösen müssen, um das Geistestraining nicht zu aufzugeben, ist: Gib auf… Das heißt: Gib Festhalten auf, indem du die Leerheit siehst… Leerheit bedeutet: die illusorische Natur der Dinge, den ständigen Wandel, dass es nichts gibt, was konkret für immer als solches existiert - Das, was leer ist, nicht als solches zu erkennen und an Dinglichkeit festzuhalten, führt zu vielfäl-tigem Leid. Bedenke dies voller Mitgefühl. Das ist auch eine wunderbare Art und Weise, das auszudrücken. Worum es hier geht, ist ja Weisheit. Es geht ja um eine Erkenntnis. Es geht darum zu erkennen, was die wahre Natur der Dinge ist, dass sie nicht so dinglich sind, wie sie zu sein scheinen. Diese Weisheitskontemplation/ - Meditation, hier heißt es dann: Bedenke dies voller Mitgefühl. Wir meditieren die Weisheit mit Mitgefühl. Wir machen uns Gedanken um die wahre Natur der Dinge, weil wir hilfreich sein wollen, nicht nur uns selbst, auch anderen. Auch wenn es uns jetzt gut geht, wenn wir gerade eine Phase guten Karmas erfahren, kontemplieren wir voller Mitgefühl und kontemp-

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lieren die Ursachen für Leid, die in mangelndem Gewahrsein liegen. Mangelndes Gewahrsein ist die Wurzel von Leid. Je gewahrer, je bewusster wir werden, die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, desto weniger Leid ist da. Bedenke dies voller Mitgefühl, wie es allen nicht erwachten Lebewesen mangelt an diesem tiefen Ge-wahrsein. Frage: … (nicht zu verstehen) Lhündrup: Ja, das was keinen Wesenskern hat, nicht als ohne Wesenskern zu erkennen. Das bedeutet, wenn du so in dich selbst hinein schaust, da ist ja dieses Gefühl von einem Ich, das dich begleitet. Tatsächlich lässt sich das Ich aber nicht finden. Dieses Nicht-Finden-Können von einem Ich nennt man die Leerheit unseres Geistes. Das nicht zu erkennen, das ist der Grund, das ist damit gemeint. Frage: Wie erkennt man, was ich nicht erkenne? Also ich erkenne, dass es das Ich nicht gibt. Lhündrup: Etwas nicht zu erkennen – der Satz ist, wenn ich ihn vereinfache: Das nicht zu erkennen, führt zu Leid. Das ist die Grundstruktur. Das nicht zu erkennen, führt zu Leid. Worum geht es? Das was leer ist, nicht als leer, nicht als solches zu erkennen, führt zu Leid. Frage: Irgendwie verstehe ich das nicht. Lhündrup: Vielleicht kannst du dir den Satz einfacher daneben schreiben: Erkenne tatsächlich all das, was leer ist, als leer. Das ist gemeint. Der Satz im Tibetischen ist in der Negation formuliert, um zu sagen: Das nicht zu erkennen, führt zu Leid. Ja? Da steckt soviel drin, in dem Satz, man hätte den Satz vielleicht noch ein bisschen vereinfachen sollen. Ich erkläre nochmal kurz, was mit Leerheit gemeint ist. Wahrscheinlich ist es das Wort, was auch noch ein bisschen Verwirrung auslöst. Das ist immer mein Lieblingsbeispiel. Ich suche dich, bei dir zuhause, gehe in dein Zimmer, mach auf, du bist nicht drin. Ich sage: Das Zimmer ist leer. Du bist nicht da. So einfach ist das mit der Leerheit. Du schaust in deinem Geist und suchst dieses Ich. Du guckst überall, du suchst nach diesem Ich und kannst es nicht finden. Da sagst du: Okay, der Geist ist leer. Das Zimmer ist leer. Das ist einfach damit gemeint. Und das nicht zu erkennen, ist Ursache von Leid. Das zu erkennen, ist Befreiung, weil wir dann nichts mehr zu verteidigen haben. Löse so die vier Ursachen für das Aufgeben (des Geistestrainings) auf und schenke den Lebewe-sen ein immer größeres Mitgefühl. Wir haben also hier in diesen Punkten, in diesen letzten kleinen Absätzen, ein ganzes Praxispro-gramm. Schaut nochmal kurz hin, um das Praxisprogramm zu entdecken. Es geht darum, diese vier negativen Handlungen aufzugeben und die positiven zu kultivieren, und es geht darum, bestimmte Denkstrukturen anzugehen, und zwar alles, was uns beschränkt - weil wir denken: ich kann mich nicht um alle Lebewesen kümmern, die sind zu viele - diese Haltung aufzulösen und zu sagen: okay, ja, zu allen Lebewesen, je mehr es gibt, desto stärker kann mein Bodhicitta an ihnen wachsen. Je mehr Schwierigkeiten, desto besser. Beschränke dich auch nicht durch die Unmöglichkeit, allen ein Freund sein zu können – physisch, in direktem sozialem Kontakt -, sondern arbeite mit deinem Geist, mach die Arbeit in deinem Geist. Was physisch möglich ist, das entscheidet das Leben ohnehin von selbst. Wenn die Geisteshaltung schon da ist, ergibt sich der Rest wie von selbst. Arbeite an deiner Geisteshaltung. Täusche dich nicht über Samsara – ist der dritte Punkt. Täusche dich nicht. Samsara ist keine Quelle von Glück, sondern wird immer nur Leid sein. Es ist tatsächlich möglich, nicht nur sich selbst, sondern andere daraus zu befreien. Vergiss das nie! Wie du dich befreist und andere befreist, ist, indem du das verstehst, was man die Leerheit nennt, die Abwesenheit eines Ichs, das Nicht-Ich, das Nicht-Selbst. Erkenne das und kontempliere es voller Mit-

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gefühl. Denke daran, dass aus dem Haften an einem vermeintlichen Ich für alle Lebewesen Leid ent-steht. Bedenke voller Freude, dass hieraus auch für alle Lebewesen Befreiung entstehen kann, wenn sie es verstehen. Mit immer größerem Mitgefühl arbeite an deinem eigenen Verständnis und hilf ande-ren, zu diesem Verständnis zu kommen. Von jenen, die so für alle den ausgleichenden Geist des Erwachens kultivieren,… … der, wo alle Lebewesen gleich sind, wo ausgeglichen wird, wo zwischen Samsara und Nirvana die Polarität aufgelöst wird, zwischen mir und anderen, zwischen Helfer und denen, denen ich helfe… all das, das nennt man den ausgleichenden Geist des Erwachens. Von jenen heißt es: „Wenn der Geist des Erwachens in ihnen entsteht, werden diese Gefesselten in den Kerkern Samsaras augenblicklich von den Göttern und Menschen dieser Welt als ‚Kinder der Zur-Freude-Gegangenen‘ verehrt.“ Also: Wir sind gemeint! WIR sind gemeint! Wir sind im Kerker von Samsara. Golden angestrichen. Aber – ist nicht so toll. Wir sind wirklich Gefangene unserer Ichbezogenheit. Aber in dem Moment, wo tatsächlich der Geist des Erwachens in uns entsteht, werden wir von Göttern und Menschen geprie-sen als Kinder der Buddhas. Wir sind in dem Moment, wo dieses Bodhicitta, diese offene weite liebe-volle Geisteshaltung in uns entsteht, verbunden mit den Buddhas. Wir werden wie zu ihren Kindern, wir sind zwar noch ganz klein, aber wir sind bereits Teil derselben Familie. Wir treten ein in den Geist des Erwachens. Solche Bodhisattvas … solche kleinen Bodhisattvas, wie wir es sind… … üben sich darin, wenige Begehren zu haben und zufrieden zu sein. Sie üben sich im Wahren der Achtsamkeit und Sorgfalt so wie der Edle Katyayana. Das war ein enger Schüler von Buddha Shakyamuni, der berühmt war für seine ununterbrochene Achtsamkeit. Immer achtsam, in jeder Situation, und er war ein Lehrer in der Sangha, der den anderen zeigte, wie sie ihre Achtsamkeit vertiefen konnten. Ein Meister auch der tiefen meditativen Versen-kung. Das bedeutet hier für uns: Wir üben uns darin, wenige Begehren zu haben und zufrieden zu sein – und wir üben uns in Meditation, in allen Lebensbereichen achtsam zu sein, auf dem Kissen und in der Ak-tivität. Auf diese Weise sind Praktizierende der illusionsgleichen Aktivität frei von Anmaßung … Sie sind ganz auf dem Boden, ganz achtsam, sie sind da, sind präsent, es gibt niemanden in ihnen, der stolz sagt: Ich bin der große Helfer der Wesen. Frei von Anmaßung. … und wirken… in Klammern: für das Wohl anderer, sie wirken in dieser Welt, … als wären sie nur Spiegelungen. Damit ist gemeint: Sie nehmen sich selbst nicht für ernst, nicht für so wichtig. Sie gehen durch diese Welt in dem Bewusstsein, dass all das nur vorübergehende Bilder im Geist sind, all diese Erfahrungen und Worte. Die Worte sind wie Echos, sie fließen – und sie sind schon wieder vergangen. Die Hand-lungen, die Bewegungen, die Gedanken, alles entsteht und vergeht wie Spiegelbilder in einem Spiegel. Sie reflektieren immer gerade das, was die Bedürfnisse der Lebewesen sind. So wie die Hand, die den eigenen Mund füttert, erwarten sie nichts zurück. Wie illusorische Per-sonen erhoffen sie sich keine positiven Früchte … Das heißt, sie denken nicht einmal mehr daran, dass sie dadurch ihr eigenes Erwachen verwirklichen. Auch bei den anderen sind sie nicht fixiert darauf, dass es den anderen jetzt sofort besser gehen muss, später besser gehen muss, dass sie dankbar sind… Sie geben einfach das Beste, das Natürliche, das was sich spontan manifestiert. Und sie

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… geben ohne zu zögern alles her – Körper, Besitz und Wurzeln des Heilsamen. Man sollte sa-gen: Sie sind wie die Buddhas. Gib also mit reiner Geisteshaltung wirklich (alles) her. Da müsste man dann einfügen: wirklich ‚alles‘, denn das ist, was hier gemeint ist. Gib dich her, gib alles her, gib wirklich her! Sei Freigiebigkeit – das Tibetische meint das. Sei es! Gib her! Lass los! Stell alles in den Dienst! Auch wenn die Zeit jetzt noch nicht reif sein mag, tatsächlich (alles) zu geben… dieses oder jenes zu geben ist uns vielleicht jetzt im Moment noch nicht möglich, … wird dies in Zukunft der Fall sein und du wirst als Bodhisattva mühelos und spontan die Ak-tivitäten eines Buddhas ausführen. Im vollkommenen Erwachen verwirklichst du mit dem Wahrheitskörper den eigenen Nutzen… das ist das Aufgehen in diesem weiten Geistesraum, … und durch die beiden Formkörper… durch die Dynamik des Geistes als die Freudenkörper, das heißt die spontanen Lichtkörper-Manifestationen eines Buddhas und durch die konkrete Präsenz in der Welt als Ausstrahlungskörper, durch diese beiden Formkörper … entsteht in den reinen, unreinen und gemischten Gefilden der Nutzen Anderer, solange bis Samsara geleert ist. Reine Gefilde sind zum Beispiel Dewachen, Sukhavati, unreines Gefilde ist unser Menschenbereich, und ein gemischtes Gefilde ist Shambala, wo die Lebensbedingungen und die Lebewesen dem Men-schenbereich sehr ähnlich sind, aber doch mit völlig reiner Motivation gelebt werden. Das nennt man einen gemischten Bereich. Das heißt hier einfach, dass in allen Bereichen ohne Ausnahme dieser Nut-zen für andere bewirkt wird solange, bis Samsara geleert ist. ITHI. Dies wurde als geheime Unterweisung versteckt. Diese Unterweisungen wurden geheim gehalten bis ins 14. Jahrhundert. Sie wurden in einem Kreis von Schülern jeweils an diejenigen weitergegeben, die davon Nutzen haben konnten. Das dürft ihr euch zum Schluss so als Erleichterung nochmal merken: Lasst euch diesen Text einfach eine Inspiration sein. Er darf nicht den Druck einer Bodhisattva-Haltung verstärken in eurem Geist. Das darf nicht der Fall sein. Lasst es einfach eine Inspiration sein - zum Beispiel zu sagen: Sieh mal an, was da andere so lehren und gedacht haben und wie die sich füh-len - ist ja ein Ding. So einfach könnt ihr mit dem Text umgehen! Ist ja ein Ding – ist ja echt inspirie-rend. Mal gucken, vielleicht lese ich ihn später nochmal. Wenn ihr jetzt hingeht mit einer großen Motivation, aber auch mit etwas zu viel Ambition, und meint, ihr wollt jetzt ganz schnell so werden, wie das da beschrieben wird, dann könnte ein spiritueller Druck entstehen, der euch eigentlich eher beklemmt macht, eher das Herz wieder enger macht. Achtet darauf, dass das nicht der Fall ist, lasst es einfach mal so sein. Das sind Samen. Das ist auch der Grund, warum ich euch diesen Text gelehrt habe. Das sind Samen, die in unserem Geist gesetzt werden. Dass ihr überhaupt hierher gekommen und jetzt bis zum Schluss dieser Unter-weisung geblieben seid und euch diese Samen mal in den Geist habt setzen lassen sozusagen, das ist großartig. Denn immerhin habt ihr ja zugehört und mitgedacht, mitgefühlt! Das bedeutet, ihr habt euch geöffnet und da entsteht eine Verbindung zu dieser Unterweisung. Die Samen werden aufgehen, wenn wir ihnen einfach Raum geben. Auch ich kann das nicht alles praktizieren, was da drinsteht. Es ist ja nur eine Richtung, in die wir gehen, und da müssen wir einfach sehen: Buddhas sind wir halt noch nicht! Wir sind kleine Bodhisatt-vas, wir gehen erste Schritte und da ist es toll zu wissen, was unsere großen Brüder und Schwestern –

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was die für eine Geisteshaltung entwickelt haben! Es ist toll, das zu spüren, zu wissen, um ein Vorbild zu haben. Dieses Vorbild darf uns keine Last sein, sondern nur eine Inspiration. Das ist ganz wichtig, denn oft geht es uns gerade in den anderen Hals, und dann kriegen wir Atembeschwerden! Es wird einfach zu viel, als ob das von uns verlangt würde. Es ist nur eine Einladung! Eine Einladung, die in völliger Freiheit ausgedrückt wird, die uns geschenkt wird, eine Einladung, in diese Geistesräume vorzustoßen. Diese Unterweisungen wurden von Djowo Atisha an den segensreichen Gönpawa gegeben und von ihm weiter an Rintschen Nasurpa… das ist übrigens auch ein Lehrer von Gampopa gewesen. Weitergegeben an … Gyergom Sangye Wön, Sang Gönpa, Khenpo Tschödän, Lopön Shakya Taschi, Gyama Ta-schi Gyaltsän, Buddharatna, Kirtishila, Jayabhadra, Punyaratna und Mipham Tschödje. Dieser Mipham Tschödje war ein Meister, ein Kadampa Lehrer des 14. Jahrhunderts, und einer dessen Schüler hat offenbar diesen Text aufgeschrieben. Wir haben den Text erhalten von Khenpo Chödrak Rinpotsche, Khenpo Tschödrak Tempel, der ihn uns Lamas vom Dhagpo Kagyü Mandala gelehrt hat, und er selbst hat die Übertragung von Dilgo Khyentse Rinpotsche erhalten. Damit die Übertragung vollständig ist, gebe ich euch auch den Lung, die rituelle Lesung für diesen Text auf Tibetisch. Ich will euch nochmal kurz erklären, was ein Lung ist, eine rituelle Lesung. Als Buddha Shakyamuni im vierten, fünften vorchristlichen Jahrhundert lehrte, war es noch nicht gang und gäbe, Unterweisungen aufzuzeichnen. Das Buddhawort wurde von seinen Schülern auswendig gelernt und rezitiert, und dann bei Bedarf wurden die Unterweisungen von Buddha Shakyamuni wie-derholt an Schüler der neuen Generation. Das was wir heute rituelle Lesung nennen, war damals die auswendige Rezitation der Unterweisungen Buddhas. Die Sanghas, die Gemeinschaften, hatten sich organisiert und spezialisiert, indem die Ge-meinschaft, die zum Beispiel in dem Ort lebte, sich spezialisiert hatte, ein bestimmtes Paket von Un-terweisungen mit Sicherheit und wortgetreu lebendig zu halten. Es gab manche Mönche oder Nonnen, die die gesamten Unterweisungen des Buddhas, die heute im Pali Kanon stehen, auswendig konnten. Als das nicht mehr der Fall war, das war im ersten vorchristlichen Jahrhundert, da lebten noch einige Meister, die die gesamten Lehren auswendig konnten, aber es wurden immer weniger. Die Fähigkeit, soviel Wissen, soviel Text, soviel Sprache auswendig und wortgetreu zu bewahren, nahm ab. Man begann dann aufzuzeichnen. Der Pali Kanon wurde über eine Spanne von etwa 70 Jahren am Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bis Ende des ersten christlichen Jahrhunderts aufgezeich-net, der Sanskrit Kanon kam etwa 50 Jahre später zur Aufzeichnung. Aber die Praxis des Aussprechens des Buddhawortes, des erwachten Wortes, hat nie aufgehört. Das heißt, das, was da aufgezeichnet wurde, war nur eine Gedächtnisstütze. Es wurde weiter laut gespro-chen, laut rezitiert – denn Bücher gab es ja nicht wie heute, das war noch etwas äußerst Seltenes. Diese Tradition des Aussprechens des Buddhawortes hat sich bis in unsere Zeit fortgesetzt. All die Unterweisungen Buddhas, die wir, was den Sanskrit Kanon angeht, im Kangyur der Tibetischen Tradi-tion aufbewahren, werden bis heute als rituelle Lesung auch weiter vermittelt. Autoren von wichtigen Texten haben nicht nur den Text niedergeschrieben, sondern immer ihren Schülern auch den Text vorgelesen, wobei ebenfalls noch etwas Besonderes passiert. Wenn ein Text gelesen wird, schwingt nochmal etwas anderes mit, als wenn er erklärt wird oder nur trocken gelesen wird. Wenn eine rituelle Lesung stattfindet, verbindet sich der Lesende nach Möglichkeit mit dem Sinn der Worte, aber auch mit dem tieferen Sinn, mit der Segensübertragung.

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Einen solchen Lung, eine solche Lesung zu geben, ist in unserer Tradition gleichzeitig auch die volle Erlaubnis, diesen Text zu studieren und zu seinem eigenen zu machen, zu seiner eigenen Praxisgrund-lage zu nehmen. Deswegen schließe ich jetzt damit ab, dass ich euch diese Lesung gebe, die ich selbst von Khenpo Tschödrak erhalten habe und die er von Dilgo Khyentse Rinpotsche erhalten hat, und damit diese Übertragung abzuschließen.